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Ein entlaufener Lehrling

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Textdaten
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Autor: Hermann von Schmid
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Titel: Ein entlaufener Lehrling
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 13, 15, 16
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[13]

Ernst Possart als Richard der Dritte.
Originalzeichnung von Eduard Grützner in München.

[15]
Ein entlaufener Lehrling.


Von Herman Schmid.



Eines unserer guten deutschen Sprüchwörter sagt: „Was ein guter Haken werden soll, das krümmt sich bei Zeiten.“ Es würde nicht schwer sein, in allen Kreisen des Lebens Belege für diesen Satz zu finden; in keinem derselben aber kommen sie wohl häufiger und entschiedener vor, als wenn – um beim Gleichnisse zu bleiben – das junge Häkchen zu einem Anker werden soll, der ein neu ausgerüstetes Fahrzeug auf dem anscheinend so glatten und doch so sturmreichen Meere der Künste zwischen Klippen und Untiefen hindurch begleiten und in dem endlich erreichten Hafen festhalten soll. Die Natur des Künstlers aller Gattungen hat etwas von der Seidenraupe an sich, welche lediglich in dem Drange, ein frei schwebender Schmetterling zu werden, freiwillig ihren Cocon durchbohrt, ehe es dem Aufseher gelungen ist, den Schmetterlingstrieb in ihr zu tödten und sie dahin zu bringen, sich für den gewöhnlichen Bedarf des Lebens ruhig abhaspeln zu lassen. Der praktische Seidenzüchter hat deswegen doch kein Recht, geringschätzig auf die durchbohrten Cocons herabzusehen, weil sie ihm höchstens Floretseide liefern; denn eben die ausgekrochenen Schmetterlinge sind es, welche wieder Eier legen und so den Bestand des ganzen Raupenstaates unterhalten.

Ein schönes Beispiel einer jungen Kraft, die in den Verhältnissen, in denen sie eingesponnen lag, nicht zu bestehen vermochte und sie daher schon frühzeitig aus innerem Drange zerbrach – ist der Schauspieler Ernst Possart, ein Meister im Fache der Charakterdarstellung und gegenwärtig eine der ersten Zierden des Münchener Hoftheaters.

Zu einem praktischen Berufe bestimmt, brachte er es schon in den Knabenjahren dahin, dem ihm innewohnenden Triebe zur Schauspielkunst Nahrung und Raum zu verschaffen, und als das gewöhnliche Leben ihm die Flügel verschneiden wollte, brach der kaum gereifte Jüngling seine Bande und seinem unauslöschlichen Feuereifer gelang es, als er kaum das erste Mannesalter erreicht hatte, sich auf eine Kunststufe zu schwingen, welche ihn berechtigt, mit den ersten Größen seines Faches um die Palme zu ringen.

Ernst Possart, geboren zu Berlin am 11. Mai 1841, stammt aus einer bürgerlichen Familie, deren Lebenskreisen die Bühne ebenso fern lag, wie ihre Anschauungen sich von derselben abwendeten; dennoch glimmte in der Brust des Sohnes ein Funke für dieselbe, und als der Knabe nach Beendigung des Gymnasialunterrichts als Lehrling in einer Buchhandlung untergebracht war, fand der Funke Zeit und nach der Art des Geschäftes wohl auch Nahrung, im Stillen fortzuglimmen. Der verborgene Brand sollte eben zum Ausbruche kommen, und der Lehrling war bereits im Begriffe, Eltern und Haus, Lehrherrn und Geschäft in heimlicher Flucht zu verlassen.

Die Dazwischenkunft eines Freundes verhinderte die Explosion. Es war dies der rühmlichst bekannte Schauspieler Kaiser (zuletzt Director des großherzoglich Badischen Hoftheaters in Karlsruhe), welcher mit dem Vertrauen auch das Geheimniß des Knaben errang und ihn dadurch von seinem Vorhaben abbrachte, daß er ihm, gegen das Gelöbniß, letzteres nicht auszuführen, heimlichen Unterricht zusagte und ertheilte. Das Liebhabertheater Urania in Berlin, an welchem schon manches schöne Talent sich die ersten Sporen verdiente, war der Deckmantel für die damit verbundene Beschäftigung.

Endlich waren die Tage der Freiheit gekommen; die Lehrzeit war zu Ende, und Lehrherr und Eltern sahen Possart im Geiste schon wieder in das Geschäft eintreten und sich erst so recht breit darin festsetzen; auch der heimliche Lehrer rieth dazu – vermuthlich um nicht die ganze Verantwortung für ein etwa verunglücktes Menschenleben auf sich zu nehmen. Die Nothwendigkeit der Entscheidung trat mit ihrem ganzen unabweisbaren Ernste an den jungen Mann; entschlossen warf er seine Würfel und ging über seinen Rubikon – er entfloh und ließ sich am Theater in Breslau engagiren, begleitet von dem Schmerz und Unwillen der Seinen.

Aber der Trost hierfür sollte als Lohn der Entschlossenheit nicht ausbleiben und der frühgekrümmte Haken sich bewähren als festgehärteter Stahl.

Durch das Entweichen eines anderen Schauspielers kam der junge Künstler in eine unerwartet reiche und verschiedenartige Beschäftigung und wurde erst so recht eigentlich über sich selbst dahin klar, daß das sogenannte Charakterfach die Sphäre sei, auf welche ihn seine Anlagen mit Vorzug verwiesen. Er gefiel als Narciß außerordentlich und erlebte die gewiß seltene Genugthuung, daß seine Darstellung des Inders Matali in dem Gottschall’schen Trauerspiele „Der Nabob“ den im Theater anwesenden Mörder des Schleifermeisters Anger, den Sergeanten Geisler, derartig im Innersten traf, daß der Verbrecher nach der Scene, in welcher Matali, von Gewissensbissen gequält, sich selber ersticht, plötzlich aufsprang und verwirrt und entsetzt das Theater verließ, um am anderen Tage sich reuevoll dem Gerichte zu stellen.

Nach kürzerer fortbildender Thätigkeit an den Bühnen in Bern und Hamburg kam Possart zum Gastspiele nach München, um in das Charakterfach einzutreten, eine schwierige Aufgabe, denn einer seiner Vorgänger war seit Jahren der Hamburger Karl Jost gewesen, ein unvergessener Meister aus der alten Schule strenger, aber schöner Natürlichkeit. Desto bedeutsamer war der Erfolg, welchen Possart gleich mit der ersten Rolle als Franz Moor errang: es war ein vollständiger Sieg, der augenblicklich klar machte, daß in dem jungen Manne wieder eine künstlerische Kraft ersten Ranges gewonnen sei.

Seitdem hat Possart unter stetem und steigendem Beifall des Münchener Publicums nicht nur die gesammten größeren und kleineren Rollen seines Faches mit Auszeichnung gespielt, er hat auch vieles Angrenzende sich annectirt, und seine Leistungen sind dadurch nicht blos der Zahl nach, sondern auch nach der inneren Bedeutsamkeit gewachsen, so daß man jede seiner neuen Rollen mit Recht als eine neuerklommene Stufe des Fortschritts bezeichnen kann. Scharf sich ausprägende Menschen sind es in Scherz und Ernst, die seinem Naturell am besten zusagen und in denen er den Dichter schauspielerisch in einer Weise zu ergänzen versteht, daß vor den Augen des Zuschauers eine volle Persönlichkeit erscheint, welche ganz das Werk des Dichters und doch die eigentliche Schöpfung des Schauspielers ist. Franz Moor’s zähnefletschende Bosheit und Richard des Dritten kaltberechnende Tücke gelingen ihm ebenso sicher, wie die sonnenklare Ruhe Nathan’s oder der Humor eines Shakespeare’schen Narren. Zwei seiner großartigsten Leistungen sind Hamlet und Lord Byron’s Manfred, welch letzterer hauptsächlich durch ihn (mit Schumann’s Musik) in München zu wiederholter, höchst beifälliger Darstellung kam. In Beiden kommt die Tiefe und der Gedankenreichthum des glücklosen Ringens eines an und in sich untergehenden Gemüthes sowohl rhetorisch, wie schauspielerisch zur vollsten Geltung, und es gelingt dem Darsteller, zwischen idealer Zeichnung und realer Farbengebung jene glückliche Mitte zu treffen, mit welcher immer und überall die Linie der Schönheit zusammentrifft. Daher kommt es auch, daß Possart mit nicht eben großen persönlichen Mitteln doch gewaltige Wirkung zu erzielen vermag.

Wenn man auch, namentlich beim ersten Anblicke, sich mitunter von der Art seiner Auffassung befremdet fühlt, wird man doch augenblicklich eben durch diese Eigenthümlichkeit gefesselt und ihr zu folgen genöthigt, und selbst wenn man nicht damit [16] einverstanden sein kann, muß man immerhin anerkennen, daß, was der Künstler giebt, vollkommen berechtigt und durch scharfsinniges Studium aus dem Wesen der Dichtung abgeleitet worden ist. Wie als Charakteristiker und in der Kunst der Maske ist Possart auch als Rhetoriker von eminenter Bedeutung, und nur dadurch ist es ihm möglich, eine Gestalt wie Byron’s Manfred (welche für ein Drama doch nur höchst dürftig geformt und wegen der sich keineswegs steigernden Wiederholungen sehr monoton ist) so herauszuarbeiten, daß man sie wie wirkliches Leben zu ergreifen vermag.

Lange Zeit bekleidete Ernst Possart auch die Stelle eines Regisseurs und wußte in dieser Periode durch außerordentliche Sicherheit und rasche Eleganz den Vorstellungen ein eigenthümliches Gepräge zu geben. Die Ueberlast der Geschäfte hieß ihn um Befreiung von derselben nachsuchen, und der König entsprach der Bitte, damit unter dem Regisseur nicht der Schauspieler Schaden leide.

Jetzt lebt er nur seiner ausübenden Kunst, daß er aber darüber der anordnenden Bühnenthätigkeit nicht völlig untreu geworden, beweist, nebst seiner unlängst im Buchhandel erschienenen Bearbeitung von Shakespeare’s „Lear“, die vor Kurzem auf Anregung seines kunstsinnigen Chefs, des Freiherrn von Perfall, mit ihm getroffene Vereinbarung, nach welcher Possart in Zukunft, ohne mit Bureauarbeiten überladen zu sein, doch alljährlich eine Anzahl hervorragender Dramen in Scene setzen wird. Eines der ersten hiervon soll das Schauspiel „Gelbe Rosen“ von Arthur Müller sein, dem talentvollen Dichter so vieler beliebter Bühnenstücke („Gute Nacht, Hänschen“, „Die Verschwörung der Frauen“), welcher so früh den Faden seiner Schöpfungen mit eigener Hand durchschnitt. Possart war mit Müller in innigster Weise befreundet und hat von ihm die Aufführung dieses letzten Werkes wie eine Art Vermächtniß übernommen, das er in seltener, über den Tod hinausreichender Freundestreue zu erfüllen gedenkt.

Ein in den letzten Wochen am Stadttheater in Berlin durchgeführtes längeres Gastspiel hat durch einen nahezu beispiellosen Erfolg dem Künstlerschaftsdiplome Possart’s ein neues glänzendes Siegel der Anerkennung aufgedrückt; nicht nur, daß das Publicum sich zu den Vorstellungen drängte und sie mit endlosem Beifalle begleitete, auch die Kritik traf in seltener Einstimmigkeit in dem Ausspruche zusammen, daß in Possart ein Schauspieler ersten Ranges aufgetreten war. Das Gastspiel umfaßte eine ansehnliche Reihe von Charakterrollen, worunter sowohl die kleineren, wie Hans Jürge oder der alte Fritz in „Königs Befehl“, wie die größeren eines Franz Moor und Richard des Dritten neben der vollendeten Meisterschaft der individuellen Erscheinung und Durchführung, wie der Eigenthümlichkeit und Schärfe der Auffassung in gleich hohem Grade die seelisch-dichterische Durchdringung und Vertiefung der Gestalten bewundern ließen. Dies war namentlich in der Rolle Nathan’s der Fall, wo Possart nicht, wie andere Künstler, den jüdelnden Geschäftsmann darstellt, der nebenher auch in Lebensklugheit macht, sondern – gewiß nach Lessing’s Intention! – den Weisen, der zufällig zugleich Jude und Kaufherr ist. Die durchschlagendste Wirkung erzielte er jedoch mit der Rolle des Advocaten in dem Schauspiele „Das Fallissement“ von Björnstjerne Björnson, wo er den heimlich bankerotten Kaufmann in einer ergreifenden Scene mit furchtbarem Ernste, aus welchem doch das wärmste Gemüth durchblickt, gewissermaßen zwingt, wahr zu sein und seine Lage offen einzugestehen. Mit dieser Rolle hat Possart – um ein in der Theaterwelt übliches Sprüchlein zu gebrauchen – „den Apfel abgeschossen“; ihr verdankt das Stück unstreitig zum größten Theile seinen in ähnlicher Weise lange nicht dagewesenen Erfolg. Da das Stück vorher in München gegeben und zuerst zur Geltung gebracht wurde, Possart aber die Rolle dort spielte, gebührt ihm der Ruhm, dieselbe – wie man in Frankreich zu sagen pflegt – eigentlich „geschaffen“ zu haben. Das vielbesprochene Stück des norwegischen Dramatikers, das als allgemein bekannt vorausgesetzt werden darf, ist so recht ein gelungener Griff an das Ader- und Nervengewebe der Gegenwart, aber auch Possart’s Advocat Berend ist eine Schöpfung, welche, obwohl auf breiter realistischer Darstellung beruhend, doch an die besten idealen Bestrebungen der früheren Schauspiel-Traditionen anknüpft.

Die Züge des „entlaufenen Lehrlings“, welcher so bald ein Meister geworden, giebt in unserer heutigen Nummer der berühmte Genremaler und Schöpfer der so humoristischen Mönchsbilder, Eduard Grützner in München, in der Scene aus „Richard dem Dritten“ wieder, in welcher der heuchlerische Bösewicht, zwei Bischöfe an der Seite, im Gebet die Bürgerschaft empfängt, welche ihm die Krone anbieten soll.

Grützner hat in diesem Bilde ein kleines Meisterwerk charakterisirender Kunst geliefert. Der ränkevolle und ehrgeizige Throncandidat, in jedem Zoll, in jeder Linie eine infernalische Erscheinung, und ihm zur Seite die beiden Fanatiker der Kirche – das ist ein leben- und charaktervolles Kleeblatt, welches durch die realistische Kraft der geistigen Gestaltung nicht minder packend wirkt, wie durch die künstlerische Feinheit der technischen Durchführung, welche unser Meister ihm hat zu Theil werden lassen.