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Ein Deutscher (Die Gartenlaube 1861)

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Textdaten
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Autor: Otto Ruppius
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Titel: Ein Deutscher (Die Gartenlaube 1861)
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 10–35, S. 144-548
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Roman aus der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg
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Ein Deutscher.[1]

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.

An der Quarantaine vor New-York lag der Dreimaster Adelheid von Bremen mit 274 Einwanderern. Er war zu spät angekommen, um der Prüfung der Gesundheitsbeamten unterworfen zu werden, und so war jetzt die warme, sternenhelle Nacht über dem Schiffe aufgestiegen. Von den Passagieren schliefen nur wenige. Die Meisten von ihnen hatten beim Anblick der nahen Küste schon Nachmittags eine Generalreinigung mit sich vorgenommen, hatten die Koffer geöffnet und sich in sonntäglichen Staat geworfen, damit sie mit Anstand ihren Fuß an das neue Land setzen könnten; jetzt mochte fast Niemand noch einmal die alten Schlafplätze aufsuchen, und wo ein freier Raum auf dem Verdeck war, lag Gruppe an Gruppe bei einander, die Männer rauchend und die oft ausgesponnenen Pläne und Hoffnungen noch einmal durchsprechend, die Frauen mit ihren Kindern beschäftigt oder mit erhöhtem Interesse der Weisheit der Männer lauschend.

Unweit der beschränkten Kajüte, welche die Wohnung des Capitäns bildete, hatte sich eine kleine Anzahl junger Leute gelagert. „Immer nur laufen lassen, was sich nicht halten läßt,“ sagte eine joviale Stimme, wie in Fortsetzung des stattgefundenen Gesprächs, „es soll mir nicht einfallen, mir schon einen halben Gedanken über das, was dem Menschen hier passiren kann, zu machen; ich sage, wir kommen morgen hier noch einmal zur Welt, und Keiner weiß mehr von dem, was aus ihm werden wird, als das Wickelkind in der Wiege. – Immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt, Herr Professor,“ wandte er sich mit erhöhtem Tone und einem launigen Augenzwinkern nach einem jungen Manne, der, etwas abseits auf das Verdeck gestreckt, eine einsame weibliche Gestalt an der Brüstung des Schiffes zu beobachten schien, und unter dem leichten Gelächter der Uebrigen fuhr der Angeredete, wie auf unrechten Wegen ertappt, in die Höhe. „Predigt der Kupferschmied einmal wieder?“ lachte er, als wolle er eine leichte Verlegenheit verbergen.

„Ja wohl, aber immer nur tauben Herzen!“ erwiderte der Andere, „ich denke, wir probiren es jetzt einmal mit dem Singen und lassen unser Lied los; ’s ist gerade eine Nacht, wie dafür gemacht!“

Der abseits Liegende richtete sich auf und warf einen Blick über das Verdeck. „Ich denke selbst, es ist jetzt die rechte Stimmung dafür da, und es muß gut in der Stille klingen,“ sagte er. „Los denn, wir sind ja bei einander!“

Die Umliegenden erhoben sich und formirten einen Halbkreis; der junge Mann gab mit leiser Stimme den Ton, bezeichnete ein paar Taktschläge mit dem Finger, und in kräftigen Accorden begann es nach Mendelsohn’s Weise „wer hat dich du schöner Wald“:

Sei gegrüßt, Amerika,
Vaterland, das wir erkoren,
Gieb uns, was wir fern verloren,
Sei mit deinem Segen nah!
Sei gegrüßt, sei gegrüßt,
Sei gegrüßt, Amerika!

Schon bei dem Beginne des Quartetts waren die Gespräche unter den übrigen Gruppen verstummt, und in prachtvoller Wirkung zogen die Klänge durch die nächtliche Stille über die schlummernden, unbewegten Wasser; die einsame Mädchengestalt an der Brüstung hatte sich langsam umgewandt und lauschte, den Kopf leicht geneigt, bis die Schluß-Accorde des zweiten Verses verklungen waren; dann wandte sie den Blick nach dem Lande, auf welchem sich aller Orten schimmernde Lichter erkennen ließen, und blieb wieder so unbeweglich, als sie es bis jetzt gewesen.

„Jawohl, gegrüßt wäre es; jetzt wollen wir auf den Dank warten,“ sagte der als „Kupferschmied“ Bezeichnete, als die Sänger auseinandertraten; „ich hole meine Matratze herauf und mache mir es bequem, bis wir das neue Vaterland bei besserem Lichte besehen können.“ Er verschwand, und die Uebrigen, von dem geäußerten Gedanken sichtlich angesprochen, beeilten sich, lachend seinem Beispiele zu folgen. Nur der zuletzt Herbeigetretene nahm langsam seinen frühern Platz wieder ein, wo sich von dem einzelnen Mädchen ein Theil ihres mattbeschienenen feinen Gesichtes beobachten ließ. Wie heute, hatte er sie an manchem Abende der langen Reise, wenn der größte Theil der Passagiere schon schlief, stehen sehen, und es hatte ihm Vergnügen gemacht, aus diesen jugendlichen, bleichen Zügen ganze Geschichten herauszulesen. Sie war die Einzige auf dem Fahrzeug, welche trotz des engen Zusammenlebens in Zwischendeck und „Steerage“ noch heute allen Uebrigen so fremd gegenüberstand, als am Tage der Ausfahrt; sie hatte sich in Bremen einer Familie, welche Steerage-Passage genommen, angeschlossen gehabt; von dieser aber wußte auch Niemand mehr über sie, als daß sie Mathilde Heyer heiße und zu Verwandten gehe, welche irgendwo in New-York wohnen sollten; im Zwischendeck, wo jede Besonderheit sofort ihre Bezeichnung fand, war sie nur als das „gnädige Fräulein“ bekannt; weiter indessen war der Spott nicht gegangen, da selbst auf rohere Gemüther das bleiche schöne Gesicht in seiner Zurückhaltung einen eigenthümlichen Einfluß ausübte. Der jetzige Beobachter hatte, wie alle übrigen jungen Leute, beim [146] Anfang der Reise ein reges Interesse an der ungewöhnlichen Erscheinung genommen, er hatte aber, als er bei Andern jede versuchte Annäherung vereitelt sah, sich fern gehalten und „bewunderte von Weitem, ganz Ritter Toggenburg,“ wie der Kupferschmied sich ausdrückte. Er mußte jetzt unwillkürlich lächeln, als er sich seiner augenblicklichen Stellung inne ward,

Blickte nach der Liebsten drüben,
Blickte stundenlang,

und doch konnte er sich nicht helfen, in dieser geheimen Beobachtung einen ganz eigenthümlichen Genuß zu finden.

Da richtete sich das Mädchen aus ihrer gebeugten Stellung auf und warf einen Blick auf ihre Umgebung; bei dem Anblicke des jungen Mannes, welcher allein an die Kajütenwand gelehnt dasaß, schien sie einen Augenblick zu zaudern, that dann aber einige Schritte ihm entgegen. „Herr Reichardt –!“ sagte sie halblaut.

Der Angerufene war im Nu auf seinen Füßen.

„Ich möchte mir eine Frage erlauben,“ sagte sie halblaut nach ihrem früheren Platze zurücktretend. „Wir werden morgen früh in New-York sein, und ich muß einen ziemlich entfernten Theil der Stadt aufsuchen, weiß aber kaum, wie ich meinen Weg dahin werde finden können. Sie sprechen bereits geläufig englisch, wie ich gehört habe –“

„Ich stelle mich mit allen meinen schwachen Kräften vollkommen zu Ihrer Disposition, Fräulein!“ erwiderte er eifrig, und die Nacht verbarg die in seinem Gesichte aufsteigende Röthe.

Ein Gepolter unterbrach das Gespräch. Aus der Luke zum Zwischendeck wälzten die Sänger ihre Matratzen herauf, und mit einem eiligen: „Ich rechne auf Sie!“ fühlte der junge Mann seine Hand gefaßt – nur leicht wie die Lüftchen um sie, nur einen einzigen Moment, aber er meinte die Berührung in allen Nerven zu spüren. Dann war sie wie ein Schatten an der Brüstung hingeglitten und verschwunden.

„Jetzt, ehrenwerther Professor, sprechen wir noch ein Wörtchen,“ sagte der Kupferschmied, zwei Matratzen zu Boden werfend, während die Uebrigen sich an der andern Seite der Kajüte Raum für ihr Lager suchten; „hier habe ich für Ihre Bequemlichkeit mit gesorgt, und nun sagen Sie mir, was Sie morgen nach der Landung zu thun gedenken. Sie sind zwar mit Ihrem blondwallenden Haare und rothen Backen noch etwas sehr jung gegen mich, aber ich habe mir so eine Idee gemacht, daß Sie gerade deßwegen Glück haben müssen in Amerika, und da ich vor der Hand meinem künftigen Schicksale durchaus nichts vorschreiben will, so habe ich beschlossen, mich Ihnen anzuschließen, bis unsere Wege von der unbegreiflichen Macht, die wir nicht kennen und nicht erklären können, von einander geschieden werden.“

„Kupferschmied, Sie fangen wieder an zu predigen!“ unterbrach ihn der Andere, sich behaglich auf die hingeworfene Matratze streckend.

„Ruhig! Des Menschen Bestimmung zeigt sich am ersten, wenn das volle Herz aus ihm spricht – und ich will Ihnen sagen, daß ich Sie lieb habe, Reichardt. Sie sind allerdings Kaufmann und haben noch andere Kunstfertigkeiten, wozu der Kupferschmied schlecht paßt; Sie können aber nicht sagen, was aus mir noch Alles werden kann – immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt! Sie wissen ja! – und so sagen Sie mir, ob Sie schon einen bestimmten Plan für Ihr erstes Unterkommen haben, damit ich mich danach richten kann!“

„Wir werden uns jedenfalls in irgend ein Gasthaus werfen müssen, zu der Auswahl ist aber morgen noch Zeit,“ erwiderte der Jüngere gähnend – „aber warten Sie, Meißner,“ unterbrach er sich, „wir wollen im Shakespeare-Hotel zusammentreffen; ich werde erst nach einigen Stunden bei Ihnen sein können – das Warum lassen Sie sich einmal nicht kümmern – und dann mögen wir berathen, was weiter werden soll!“

„Ich glaube wahrhaftig, der Mensch hat schon eine Bestellung in der neuen Welt!“ rief der Kupferschmied kläglich, „ich würde mich kaum wundern und hätte auch nichts dawider – immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt! – im Shakespeare-Hotel also, gut, und bis dahin gute Nacht!“ Er legte sich auf die Matratze zurück, und nach Kurzem deutete ein gewichtiges Schnarchen den Ernst an, mit welchem er sich dem Schlafe übergeben.

Reichardt sah noch eine Weile in den sternbesäeten Himmel über sich und grübelte, warum das „gnädige Fräulein“ gerade ihn, der ihr doch die wenigsten Aufmerksamkeiten erwiesen, zu ihrem Begleiter auserwählt, bald aber wurden seine Gedanken verworren und auch über ihn war der Schlummer gekommen, ehe er es nur vermuthete. – –

Am andern Morgen um zehn Uhr lag das Schiff im New-Yorker Hafen, und in buntem Gewühle, an allen Seiten bepackt, strömten die Einwanderer an’s Land. Während der ganzen morgendlichen Fahrt hatte sich Reichardt in der Nähe von Mathilde Heyer gehalten, ohne sich indessen bemerkbar zu machen; er sah, daß das Mädchen noch bleicher war als gewöhnlich, daß oft, wenn sie den Blick nach dem Lande wandte, es wie eine peinliche Spannung durch ihre Züge ging, und erst, als sie während des Durcheinanders der Schiffsbevölkerung von ihren bisherigen Begleitern Abschied nahm und, ihren Koffer fassend, einen suchenden Blick um sich warf, trat er heran, trug ihr Gepäck zu dem seinigen und reichte ihr dann den Arm. „Wir werden jedenfalls einen Wagen in der Nähe finden, der Sie schnell nach irgend einem Stadttheile bringt; natürlich begleite ich Sie!“ sagte er. „Wollen Sie Ihren Koffer gleich mit sich nehmen, so laden wir ihn auf!“

„Lassen Sie Alles vorläufig, bis ich sichere Auskunft erlangt habe!“ erwiderte sie und drückte seinen Arm leise, als wolle sie ihn zur Eile treiben. Reichardt schuf Bahn durch das Gewühl der Menschen; als er aber die Landungsbrücke erreicht hatte, brummte eine Stimme in seine Ohren: „Der Toggenburg ist gegen den Schiller’schen Text – aber nur immer laufen lassen. Drei Stunden werde ich im Shakespeare warten!“

Es hatte unter den landenden Zwischendeck-Passagieren wohl noch selten ein so bemerkenswerthes Paar das Ufer betreten, als Reichardt mit seiner Begleiterin. Beide mochten von gleichem Alter sein; während aber unter seinem Pariser Hute üppiges dunkelblondes Haar hervorquoll und ein Gesicht einsäumte, dessen märchenhafte Frische nur durch ein Paar blitzender, leicht zusammengezogener Augen einen Anstrich männlicher Bestimmtheit erhielt, bildete ihr Kopf in der Blässe des feingeschnittenen, von reichen schwarzen Flechten eingerahmten Gesichtes den lebendigsten Gegensatz. Und während in der Kleidung des jungen Mannes trotz ihrer Eleganz eine Art künstlerischer Nonchalance vorherrschte, zeichnete das einfache Kleid des Mädchens jede Linie des schlanken Oberkörpers ab, lag es über ihrer ganzen Toilette wie ein Duft von Ordnung und Sauberkeit.

Beide hatten die Reihe der wartenden Miethkutschen erreicht, und Mathilde zog einen Zettel, bezeichnet mit einem Namen und einer Straßennummer hervor. Reichardt versuchte unter den herandrängenden Kutschern sein Englisch, und bald befanden sich Beide in einem der geschlossenen Wagen, der angegebenen Richtung zurollend.

Das Mädchen saß, gerade aufgerichtet, mit einem Blick voll so viel Spannung auf ihrem Platze, daß es Reichardt für zudringlich hielt, jetzt ein Gespräch mir ihr zu beginnen; bald indessen schien sie selbst sich ihres Sichgehenlassens bewußt zu werden. Sie wandte den Kopf und lächelte ihrem Begleiter zu, während sich, alle ihre Züge verklärend, ein leises Roth über ihr Gesicht verbreitete.

„Ich habe mich noch nicht einmal entschuldigt, daß ich Sie so ohne Weiteres Ihren eigenen Angelegenheiten entreiße,“ begann sie, und durch Reichardt’s Kopf schoß es, welche wunderschöne Stimme in des Mädchens Kehle stecken müsse, die schon in den gesprochenen Worten ihm wie Musik in die Ohren klang, „ich bin aber in einer so eigenthümlichen Lage, daß ich selbst die allernächsten Dinge vergessen könnte –“

„Thun Sie sich in keiner Weise Zwang an, Fräulein,“ erwiderte er, „ich habe nichts zu versäumen und wäre glücklich, acht Tage lang zu Ihren Diensten zu sein. Haben Sie sich über irgend etwas auszusprechen?“ fuhr er mit einem Anfluge von Verlegenheit fort, „– ich bin freilich der Unbedeutendste von Ihren bisherigen Bekannten auf dem Schiffe –“

Ein leichtforschender Blick traf das Auge des Sprechenden, dann aber blitzte ein so eigenthümlich neckisches Lächeln in ihrem Gesichte auf, daß sich plötzlich der ganze Charakter desselben verwandelt zu haben schien. „Halten Sie sich wirklich selbst für so unbedeutend?“ fragte sie; schon im nächsten Augenblicke aber trat der frühere, sorgenvolle Zug wieder zwischen ihre Augen, und sie streckte dem jungen Manne die kleine behandschuhte Hand entgegen. „Ich danke Ihnen von Herzen – ich möchte Ihnen allerdings ein paar Worte sagen, die ich zu Keinem von den Andern hätte äußern [147] mögen; that doch Jeder, als habe er nur die Aufgabe, genau zu ergründen, was ich sei und habe, oder als komme ich ihm gerade recht zur Vertreibung seiner Langeweile.“ –

„Ich glaube, Sie sind nicht ganz gerecht, Fräulein Mathilde,“ erwiderte der junge Mann lächelnd. „Mochte auch die Neugierde ihr Theil zu thun haben, so war doch Ihre ganze Erscheinung so abstechend von den Uebrigen, und – ich will jetzt nicht anfangen Schönheiten zu sagen –“

Sie hatte während des Sprechens den Handschuh von ihren Fingern gezupft. „Nein, um Gotteswillen nicht, wenn ich weiter zu Ihnen reden soll; lassen Sie mir den Glauben, daß Sie nicht sind, wie die Andern,“ unterbrach sie ihn und streckte ihm von Neuem die Hand entgegen. Reichardt sah in ein Auge, das im vollen, bittenden Vertrauen ihn anblickte, er fühlte den Druck dieser weichen, zierlichen Finger und hätte in diesem Augenblicke auch das halb Unmögliche zugesagt.

„Sprechen Sie, Fräulein, sprechen Sie und denken Sie, daß Sie neben einem Bruder säßen,“ sagte er, und in seinem Händedrucke, wie in seinem Tone sprach sich Alles aus, was er nur hätte sagen mögen.

„Es ist mit einigen Worten gethan, Sie mußten es zum Verständniß unserer vielleicht längern Fahrt wissen,“ erwiderte sie. „Ich habe in New-York nur einen einzigen Anhalt, einen Bruder meiner Mutter – ob er aber noch da ist, wohin mich die Adresse, die schon einige Zeit alt ist, weist, ist eine Frage, die mich während der ganzen langen Reise gepeinigt hat – und doch habe ich diese auf jede Gefahr hin antreten müssen. Finde ich ihn nicht sogleich, so muß ich weiter suchen, und Gott gebe dann nur, daß ich schnell den rechten Weg finde.“

„Und weiß er nicht, daß Sie kommen werden?“ fragte ihr Begleiter, „haben Sie ihm nicht vorher geschrieben?“

„Ich habe geschrieben, einmal vor vier Monaten, aber ohne Antwort zu erhalten, und das zweite Mal bei meiner Abreise!“ erwiderte sie, die Augen nach ihm aufschlagend, als wolle sie Hoffnung oder Furcht aus seinen Mienen schöpfen.

Reichardt nahm seinen Hut ab und fuhr mit den Fingern durch das reiche Haar. „Wir werden ja sehen – Briefe gehen eher verloren als Menschen,“ sagte er. „Jedenfalls aber,“ setzte er mit einem hellen Blicke hinzu, „rechnen Sie auf mich, Fräulein, soweit Sie nur von meinen Kräften Gebrauch machen wollen.“

„Ich danke Ihnen!“ versetzte sie mit einem tiefen Athemzuge, wandte dann aber, als wolle sie seinem Blicke ausweichen, das Auge nach der belebten Straße.

Nur einige Minuten noch waren sie schweigend weiter gefahren, als der Wagen hielt, der Kutscher vom Bock sprang und den Schlag öffnete. „Dies ist der Platz!“ sagte er nach einem Hause zeigend, dessen Thür auf schwarzlackirtem Blech die Worte „Private Boarding“ zeigte. Reichardt sprang auf die Straße, hob seine Begleiterin aus dem Wagen und gebot dem Kutscher zu warten. Als er die Klingel zog, fühlte er den Arm des Mädchens in dem seinen zittern.

„Wohnt ein Mr. Jung hier im Hause?“ fragte er, sein Englisch bestens aufstutzend, das Dienstmädchen, welches die Thür öffnete. Die Befragte überflog erst das Aeußere des Paares und sagte dann, sie wisse es nicht, sie wolle Mistreß fragen, Beide möchten so lange in den Parlour treten.

Es dauerte eine kurze Weile, in welcher Mathilde, ohne sich niederzusetzen, die Augen starr auf die offene Thür gerichtet hielt, bis die Gerufene erschien und Reichardt seine Frage wiederholen konnte. Die Hauseigenthümerin schien nachzudenken. „Mr. Jung,“ begann sie endlich langsam, während des Mädchens Augen jedes Wort aus ihrem Munde, von dem sie doch keins verstand, aufzufangen schien, „das war der deutsche Gentleman, ich besinne mich; er bekam, wohl sechs Monate zurück, die Pocken, wurde in’s Hospital geschafft und starb dort.“

Reichardt fühlte bei der kurzen, gleichgültig gegebenen Nachricht selbst wie eine Art Stich im Herzen, und er mußte seine ganze Herrschaft über sich wach rufen, um dem Mädchen, welches in Erwartung der deutschen Übersetzung den Blick nach ihm gewandt, nicht die Wahrheit auf einmal zu verrathen. „Hier ist er nicht mehr, kommen Sie, Fräulein, wir sprechen im Wagen weiter!“ sagte er; aber in diesem Augenblick sah er, wie eine tiefe Blässe ihr Gesicht überlief und fühlte ihre Hand an seinem Arme, als wolle sie sich daran festhalten. „Sagen Sie mir gleich Alles,“ sprach sie in sichtlicher Anstrengung, ihre Schwäche zu überwinden, „es ist besser für mich, glauben Sie mir!“

„Sie geben der jungen Dame wohl ein Glas kaltes Wasser!“ wandte sich Reichardt besorgt nach der Wirthin. „Sie ist die nächste Verwandte des Mr. Jung, und eben erst von Europa angelangt, um ihn hier zu finden!“ und als die Angeredete mit einem bedauernden Kopfschütteln davon geeilt war, führte er das Mädchen nach dem Sopha. „Fassen Sie sich, Fräulein Mathilde,“ sagte er, ihre beiden Hände ergreifend, „denken Sie, daß Sie einen Bruder in mir haben sollen, wenn Sie ihn nur annehmen, der alle seine Kräfte für Sie bereit hat.“

„Sagen Sie mir nur das Eine – ist er todt?“

„Er ist todt, bereits seit sechs Monaten!“

Sie sah eine kurze Weile, ohne zu sprechen, vor sich hin und erhob sich dann, trank das ihr entgegengebrachte Wasser und schritt mit einem leichten Gruße, dem jungen Mann voran, zur Thür hinaus; als der letztere indessen den Wagenschlag öffnete, um ihr in den innern Raum zu helfen, blieb sie stehen und fragte mit einem rathlosen Blicke: „Wohin aber nun?“

„Das findet sich, jetzt kommen Sie nur!“ erwiderte er, rief dem Kutscher zu, nach dem Hafen zu fahren, wo sie eingestiegen, und bald saßen sich Beide wieder einander gegenüber. „Sie sagen, Fräulein, es war Ihr einziger Anhalt, welchen Sie in Amerika hatten?“ begann er in ihr ängstlich erwartendes Gesicht blickend.

„Ich habe Niemanden weiter – auch des Onkels, den ich hier suchte, erinnere ich mich nur aus meinen Kinderjahren; aber ich weiß, daß ich eine so sichere Stütze an ihm gehabt hätte, als ich jetzt rath- und hülflos in der fremden Stadt stehe.“

Reichardt sah eine Secunde lang vor sich nieder. „Ich habe keinen Begriff von den Ansprüchen, welche Sie hier an das Leben machen –“ sagte er langsam wieder aufblickend.

„Ansprüche?“ erwiderte sie wie verwundert, „ich will jetzt gern für den Unterhalt meines Lebens arbeiten, wenn ich nur dafür Gelegenheit und den nöthigen Schutz finde – das ist Alles –“

„Gut, Fräulein, so sind Sie um kein Haar schlimmer daran als ich selbst, und ich sehe nirgends eine Ursache zu Sorge und Bangigkeit,“ erwiderte er, sich gerade aufsetzend. „Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Ihr Bruder sein werde; wollen Sie mich dazu annehmen, so nehmen Sie mein ehrliches Wort, daß ich Ihr Vertrauen rechtfertigen werde, geben Sie mir Ihre Hand und lassen Sie unsere Schicksale zusammenwerfen. Geschwisterpaare, die hier ankommen, sind etwas Gewöhnliches und Niemand wird ein Arg hegen – nehmen Sie meinen Vorschlag wenigstens so lange an,“ setzte er hinzu, als er ein hohes Roth in des Mädchens Gesicht treten und eine eigenthümliche Befangenheit sich über ihre Züge verbreiten sah, die ihn fast selbst aus seiner Sicherheit brachte, „bis irgend eine Gelegenheit Ihnen einen bessern Schutz verschafft – es muß ja nun einmal jedes Verhältniß der Welt gegenüber einen Namen haben –“ in Mathildens Gesicht begann aber schon ein hellaufsteigendes Lächeln jeden andern Ausdruck zu verdrängen, ihr Auge glänzte auf, und wie einen Entschluß in sich zu Ende bringend, legte sie langsam ihre Hand in die Reichardt’s. „Es ist gut, ich will Ihre Schwester sein,“ sagte sie mit dem vollen Klange ihrer tiefen, wohlklingenden Stimme, „ich breche mit Allem, was hinter mir liegt, und bilde mir meine eigene Zukunft – ich werde Ihnen nicht zur Last fallen, sobald ich nur im Stande sein werde, einen freien Blick über dies Meer von Häusern und Menschen zu gewinnen –“

„Zur Last oder nicht – Alles gemeinschaftlich und gegenseitig,“ erwiderte der junge Mann, ihre Hand festhaltend, „zuvörderst habe ich selbst noch keine Beschäftigung; für einige Zeit ist indessen gesorgt, und dann getheiltes Glück oder getheiltes Leid, wie das Schicksal will. Aber etwas Anderes!“ fuhr er angeregt fort, „wenn wir auch Stiefgeschwister mit verschiedenen Namen sind, muß doch das geschwisterliche Du zwischen uns herrschen, und der nöthigen Uebung halber sollten wir wohl gleich damit beginnen!“

Wieder wollte das frühere Roth in ihrem Gesichte aufsteigen, wurde aber im Entstehen von ihr bemeistert. „Nennen Sie mir Ihren vollen Namen!“ sagte sie ruhig.

„Max Reichardt.“

„Gut, Max, nun sei mein rechtschaffener Bruder!“

„Du sollst mit ihm zufrieden sein, Mathilde!“

Zwei Secunden noch hingen die Augen Beider wie unbewußt [148] in einander, dann zog sie leise ihre Hand aus der seinen und wandte den Blick nach der Straße hinaus.

Sie waren schweigend weiter gefahren, der junge Mann mit den Gedanken an das, was jetzt die nächste Zukunft nöthig machte, beschäftigt, bis der Wagen wieder am Hafendamme hielt. Reichardt bedeutete das sich erhebende Mädchen ihren Platz zu behalten und sprang allein in’s Freie. Ein rascher Blick durch den Wald von Masten zeigte ihm die Adelheid mit ihrer kleinen aufgesetzten Kajüte, und befriedigt wandte er sich an den Kutscher, zuerst den bedungenen Preis bezahlend und sich dann nach einem anständigen deutschen Boardinghause im Innern der Stadt, in welchem er mit seiner Schwester eine Zeitlang wohnen könne, erkundigend. Trotz allen Nachdenkens hatte er keinen andern Weg entdecken können, um für das Mädchen schnell ein Unterkommen zu finden und zugleich den übrigen mit ihnen angelangten Einwanderern aus dem Auge zu kommen. Bediente sie der Zufall schlecht, so war es am nächsten Tage noch immer Zeit, sich nach etwas Besserem umzusehen. Indessen versprach der Kutscher, sie nach einem Hause, das ihnen zusagen werde, zu bringen; die Koffer Beider waren schnell an’s Land geschafft und äußerlich auf dem Fuhrwerk placirt, während Reichardt einen fein polirten Violinkasten sorgfältig auf den Vordersitz in das Innere stellte, und bald rollte das Paar wieder in die Stadt hinein.

„Weißt Du wohl, Bruder Max,“ begann Mathilde mit einem hellen Lächeln zu dem jungen Manne aufsehend, „daß es meine liebsten Stunden auf dem Schiffe waren, wenn Du Abends Deine Geige herausholtest und zu phantasiren begannst? Da ist ein Lied von Proch: „Ziehn die lieben goldnen Sterne“, das sich ganz wunderbar schön in der Durcharbeitung machte, und ich habe oft das Thema secundirt, natürlich nur zwischen den Lippen – ich meinte erst, Du müßtest Musiker sein, bis es später hieß, Du wärst Kaufmann –“

„Und das schien Dir sich nicht mit einander zu vertragen? hat auch anderen Leuten schon so geschienen!“ lachte Reichardt auf, „ich glaube, die Violine trägt eine Hauptschuld, daß ich mich über das große Wasser gemacht habe, um einmal hier mein Glück zu versuchen. Wenn es mir auch nicht einfällt, meinem eigentlichen Berufe untreu zu werden, so ist man doch wenigstens außerhalb des Geschäfts sein freier Herr und kann so viel Musik und andere Alfanzereien, wie mein guter Prinzipal meine Studien titulirte, treiben, als man will. Brod ist vor der Hand natürlich die Hauptsache, aber ich denke, es soll nicht lange fehlen; ich bin doch in meinem Geschäfte gewiß ebenso taktfest als in dem, was ich zum Vergnügen treibe!“

Ueber Mathildens Gesicht ging es bei den letzten Worten ihres Begleiters wie eine trübe Wolke; sie wandte das Gesicht der Straße zu, und auch Reichardt’s Aufmerksamkeit wurde durch das niegesehene Treiben von Fuhrwerken und Menschen, wie es den Geschäftstheil der großen Stadt bezeichnet, in Anspruch genommen.

Vor einem leidlich anständig aussehenden Hause hielt endlich der Wagen, und der Kutscher lud ohne Weiteres das Gepäck ab. Ein warmer Speisegeruch empfing die Ankommenden beim Eintreten und vor ihnen öffnete sich ein großes, von vieler Benutzung zeugendes Zimmer, in dessen Hintergrunde sich ein abgebrauchtes Billard und ein mit Gläsern besetzter Schenktisch zeigten. Was den jungen Mann indessen mit dem ersten unangenehmen Eindrucke aussöhnte, war eine junge, knappe Frau, welche ihnen mit freundlichem Gesicht entgegentrat, und ein Piano, unweit des Fensters. Seine Fragen über ein passendes Logis waren bald zur Zufriedenheit beantwortet; für die „Schwester“ gab es ein hübsches Zimmer dicht neben der Schlafstube der Wirthsleute, Reichardt aber fand sein Unterkommen eine Treppe höher, und als nach Besichtigung der Räumlichkeiten ihm Mathilde bejahend zunickte, übergab er das Mädchen und das gemeinschaftliche Gepäck der Wirthin zur besten Fürsorge, ließ sich Straße und Nummer der neuen Heimath bezeichnen und machte sich dann nach dem Shakespeare-Hotel auf den Weg.

„Das ist mir ein sauberer Anfang für die amerikanische Cameradschaft,“ rief ihm der Kupferschmied entgegen, als er nach manchem Irregehen und Wiederzurechtfragen endlich am rechten Orte in das allgemeine Gastzimmer trat; „jetzt hierher, es giebt ganz erträgliches Bier, was mich schon einigermaßen über die Zukunft tröstet, und nun ordentlich mit der Sprache heraus – wenn sich das nämlich thun läßt, sonst mag meinetwegen laufen, was sich nicht halten läßt!“

Reichardt ließ sich nach einem unbesetzten Tische führen, erfrischte sich und sah dann lächelnd in das gespannte Gesicht des Andern. „Haben Sie schon ein festes Logis, Meißner?“ fragte er.

„Sie wissen doch, daß ich seit drei Stunden hier auf Sie warte?“

„Gut, so kommen Sie nach dem obern Theile der Stadt; ich weiß dort etwas Passendes – ich wohne schon dort mit meiner Schwester.“

Der Kupferschmied sah ihn eine Weile mit weit aufgerissenen Augen an und ließ dann einen leisen, langen Pfiff hören. „Mit der Schwester – so?“ sagte er endlich; „ich will Ihnen sagen, Professor, jetzt gebe ich den Glauben an die Menschheit auf und nenne mich selber einen Esel!“

Reichardt faßte halb lachend, halb ärgerlich seinen Arm. „Denken Sie denn, ich käm’ zu Ihnen, wenn in der Sache Schlimmeres wäre, als der ersten Klatscherei unter den Uebrigen aus dem Wege zu gehen? Ihnen sage ich’s, weil Sie eine treue Haut sind, Meißner, und wir möglichst lange bei einander zu bleiben gedachten.“ Er begann in kurzen Umrissen den Sachverlauf seit seiner Bestellung am Abend zuvor zu erzählen und die verlassene Stellung der Verwaisten, die von selbst seine Unterstützung beansprucht, darzulegen.

„Sagen Sie mir nur,“ frug der Andere, das Kinn in die Hand stützend, „sind Sie in das Mädchen verliebt?“

Reichardt sah zwei Secunden wie nachdenkend vor sich hin. „Verliebt nicht, Meißner, auf mein Wort nicht,“ erwiderte er dann, „ich hatte vom Anfange ein lebendiges Interesse an ihr genommen, weil sie etwas so Besonderes war; das ist aber auch jetzt noch Alles!“

„Gut, so ist sie verliebt in Sie – glauben Sie mir! und ich möchte Sie doch fragen, was am Ende daraus werden soll. Haben Sie denn noch nicht an die schwachen Stunden gedacht, die bei einer solchen Bruder- und Schwester-Geschichte ganz von selber kommen werden? Laufen lassen, was sich nicht halten läßt, nicht wahr? Es möchte Ihnen freilich für den Anfang schmecken; aber was denn dann? Heirathen in Ihren jungen Jahren und sich aus purer Menschenliebe die ganze Zukunft verderben?“

Reichardt schüttelte den Kopf; „’s ist keine Gefahr von der Seite, Meißner,“ erwiderte er; „wenn ich auch einmal schwärme, so bin ich doch im nähern Umgang mit Frauen mehr als kalt, und ich kann Ihnen sagen, daß ich, trotz meiner zwanzig Jahre und trotz mancher gebotenen Gelegenheit, es noch nicht zu einem einzigen wirklichen Liebesverhältniß habe bringen können.“

„Auch gut, wenn Sie das auch einem Andern nicht erzählen dürften!“ brummte der Kupferschmied, „ich will’s Ihnen glauben, und um so eher kann ich Sie fragen: Haben Sie denn schon an den Lebensunterhalt über die nächsten paar Wochen hinaus gedacht? Sie selber haben mir einmal gesagt, daß bei Ihnen das Geld eben so wenig dick sitze, als bei mir, und daß Ihre Empfehlungsbriefe Ihr Haupthalt seien - wissen Sie denn, ob sie etwas hat und ob sie irgend eine Arbeit versteht, die hier zu Lande sich bezahlt? Ich habe in beiden Punkten meine leisen Zweifel; sie war auf dem Schiffe so wenig verproviantirt, daß ich eigentlich kaum weiß, wie sie hat durchkommen können – und wenn die andern Frauenzimmer die faule Zeit benutzten, um zu stricken oder sonst für sich etwas zu arbeiten, war sie immer das „gnädige Fräulein“, das spazieren ging oder die Sterne bei hellem Tage suchte – wollen Sie sich denn aus purer Gutmüthigkeit eine Last auf den Hals laden, der Sie, wenn Sie nicht sehr viel Glück haben, kaum gewachsen sein können?“

„Werden das Alles sehen, Meißner; heute wenigstens will ich mir noch keine Sorge darüber machen!“ erwiderte Reichardt, seine Haare zurückstreichend, „jetzt ist nur die Frage: wollen Sie mit mir zusammenwohnen, bis jedes seinen rechten Weg gefunden hat?“

„Soll mich der Himmel bewahren, ich bin kein Mensch für Frauenzimmer und würde der Gnädigen meine Meinung gleich ganz grob heraussagen!“ erwiderte der Kupferschmied in sichtlichem Aerger; „man geht nicht nach Amerika, ohne daß man nur weiß, was dort anfangen, und hängt sich endlich an den ersten hübschen, jungen Menschen –“

[174] Reichardt griff nach seinem Hute und erhob sich. „Lassen Sie das Schimpfen!“ sagte er, „ich hatte Sie für einen andern Menschen genommen, als der Sie sind, Meißner, und es ist nichts weiter nothwendig, als daß wir uns Adieu sagen –“

„Sein Sie meinetwegen böse, ich kann mir nicht helfen!“ unterbrach ihn der Andere, „ich muß mich ärgern, daß mir das Frauenzimmer meine erste Freude im neuen Lande verdirbt. Leben Sie wohl, Professor, denn zu rathen ist Ihnen doch nicht; glauben Sie aber, daß mir die Stunden immer die liebste Erinnerung sein werden, in denen Sie uns auf dem Schiffe die Quartetten einpaukten!“ Er hatte sich erhoben, faßte mit einem lebhaften Drucke Reichardt’s Hand und wandte sich dann dem Hintergrunde des langen Raumes zu, unter den übrigen Gästen verschwindend.

Reichardt hatte ihm mit einem Kopfschütteln nachgesehen und wandte sich dann langsam dem Ausgange zu. Er war sich vollkommen klar, daß der Kupferschmied für die Dauer keine Gesellschaft für ihn gewesen wäre, demohngeachtet that ihm der rasche Abschied fast leid, und je weiter er den Weg nach seiner neuen Wohnung verfolgte, je mehr wollten einzelne Aeußerungen des Reisegefährten einen Schein von absoluter Vernunft annehmen. Seine Baarschaft war auf kaum mehr als zwei Monate Unterhalt berechnet und von Mathildens Verhältnissen kannte er durchaus nichts – demohngeachtet, wenn er sich ihre ganze Haltung zurück rief, erschien es ihm unmöglich, daß sie sich einzig auf seine Sorge für ihren vorläufigen Unterhalt verlassen haben konnte; und je mehr er sich des Mädchens ganzes Wesen vergegenwärtigte, je mehr empfand er auch wieder den Zauber, den sie während der langen Reise auf ihn ausgeübt, und des Kupferschmieds Voraussetzungen begannen sich in wahre Lästerungen zu verwandeln.

Ein Bratenduft, der aus einer der unterirdischen Restaurationen herausdrang, erinnerte ihn endlich, daß er seit dem letzten Schiffsfrühstücke noch nichts genossen habe, und was noch von der Begegnung mit dem Kupferschmied Störendes in ihm zurückgeblieben war, ging in der ersten kräftigen Mahlzeit nach den langen Entbehrungen der Seereise unter.

Als er sein Boardinghaus wieder erreicht, sandte ihn die Wirthin nach dem Zimmer der „Schwester“, die längst auf ihn warte, und den Eintretenden empfing dort bereits der süße Duft, welcher mit jeder eleganten Frau in ihre Wohnung einzuziehen scheint. Mathilde, welche die Straße beobachtet zu haben schien, eilte mit einem klaren Lächeln auf ihn zu und führte ihn nach dem zweiten Stuhl am Fenster. Ihr Gesicht hatte an Frische und Lebendigkeit gewonnen, ihr Auge leuchtete ihm in einem ungewohnten Glanze entgegen, und Reichardt meinte erst jetzt den Reiz, der in ihrer Erscheinung lag, ganz zu empfinden.

„Ich denke, wir sind hier recht gut angekommen,“ begann sie, „wenigstens scheint mir die Wirthin eine so gutmüthige Seele, daß sie Alles thun wird, um mir die Wege für eine künftige Existenz zu zeigen – und jetzt, Bruder Max, wollen wir gleich miteinander voll in’s Klare kommen. Du wirst mich nicht fragen: woher kommst Du, und was bist Du gewesen? Ich habe seit heute Morgen abgeschlossen mit der Vergangenheit und bin nichts als Deine Schwester!“ Sie reichte ihm die Hand, zog sie aber mit einem Lächeln voll leichten Erröthens zurück, als Reichardt fest seine beiden Hände darum schloß. „Brod, sagtest Du, ist vor Allem die Hauptsache,“ fuhr sie fort, „und ich will gleich gestehen, daß mich damals über die Frage, wie es zu erwerben, eine Art Bangigkeit überlaufen hat – ich will arbeiten mit allen Kräften, ich verstehe Mancherlei; aber ich weiß, daß ich bei Beschäftigungen, die aus dem Menschen eine halbe Maschine machen, zu Grunde gehen würde. Ich habe nie mit der Nadel in der Hand auf dem Stuhle aushalten können – es mag das schlimm scheinen in einer Lage, wie meine jetzige, aber ich denke, ich werde darüber hinauskommen. Ich verstehe französisch, ich habe als vorzügliche Vorleserin gegolten, ich habe eine Schulausbildung, die mich wohl zu einer Lehrerin befähigt – wir werden ja sehen, heute will ich mir den Kopf noch nicht damit schwer machen. Es ist, seit ich mir bewußt geworden bin, von keinen Banden beengt in dem großen freien Lande zu stehen, mein eigenes Schicksal ganz in meiner Hand zu haben, ein Hochgefühl über mich gekommen, das ich mir wenigstens den ersten Tag nicht verderben will. – Aber hier eine noch größere Hauptsache,“ fuhr sie aufspringend fort und nach einigen Goldstücken auf der Kommode greifend, „hier ist mein Kostgeld für die ersten vier Wochen, damit sind diese Sachen erledigt – und nun, Bruder Max, dort ist die Violine, die ich habe hersetzen lassen; jetzt noch einmal zum Abschied von Allem, was hinter uns liegt: „Zieh’n die lieben gold’nen Sterne,“ ich möchte mich gern ein einziges Mal dabei so gehen lassen, wie es mir schon lange im Herzen liegt und ich es auf dem Schiffe nicht durfte.“

Für Reichardt war es fast, als sei eine graue Nebelhülle, welche bisher über dem Mädchen gehangen, von ihr gefallen; er gab sich dem Eindrucke, welchen die eigenthümliche Veränderung ihres ganzen Wesens auf ihn machte, hin, ohne lange nach dem Grunde derselben zu forschen, legte das ihm in die Hand gedrückte Geld bei Seite und nahm die Geige aus dem Kasten. Hätte ihn Mathilde nicht dazu aufgefordert, so hätte er es, unter dem Eindrucke seiner augenblicklichen Empfindungen, wahrscheinlich freiwillig in seinem Zimmer gethan. Er begann in der rechten Stimmung die in großartigem Style gehaltene Einleitung; als er aber jetzt in das einfache, reizende Thema überging, erhob sich mit diesem die Stimme des Mädchens als Begleitung, anfänglich wie ein leiser Hall aus der Ferne in wunderbar süßem Klange, bald aber mit jeder Strophe an sonorer Fülle gewinnend und der Vortragsweise in allen Schattirungen sich anschmiegend, als hätten Beide schon wochenlang die Melodie zusammen studirt. Reichardt’s Auge begann mit jedem Takte mehr aufzuglänzen, und wie in lebhafter Spannung begann er jetzt die Durcharbeitung; Mathilde aber schien fast nur darauf gewartet zu haben und nahm jetzt das Thema in Tönen so klar wie Silber auf:

Zieh’n die lieben gold’nen Sterne
Auf am Himmelsrand,
Denk ich dein in weiter Ferne,
Theures Heimathsland.

Wie zwei Lerchen schwangen sich die Töne der Geige und der Stimme nebeneinander auf, einander durchkreuzend, sich fliehend und wieder findend; Reichardt’s Wangen brannten und Mathildens Augen strahlten wie in lichter Verklärung. Als aber im Echo des Schlusses die Stimme wieder zur Begleitung übergegangen und die Klänge leiser und leiser wie in weiter Ferne verhallt waren, als Reichardt, Blick in Blick mit dem Mädchen, sein Instrument sinken ließ, da trat sie langsam auf ihn zu und legte wie in voller Selbstvergessenheit ihre beiden Hände fest an seine Arme. „War es [175] nicht schön?“ sagte sie mit einem Blicke des Glücks, „und geht wohl etwas im Leben über die Kunst?“

Beide wurden aus ihren Empfindungen durch ein Rasseln an der Thür geschreckt, und Mathilde that, wie jetzt erst sich ihrer Stellung bewußt werdend, zwei rasche Schritte zurück.

„Ach was, das sind auch Musiker, da braucht’s nicht die vielen Umstände!“ klang es durch den geöffneten Eingang, in welchem sich jetzt neben der Wirthin eine kleine ältliche Männergestalt mit zwei runden Brillengläsern auf der weit hervorspringenden Nase zeigte und, wie etwas betroffen von der Erscheinung des Paares, abwechselnd den Kopf nach dem jungen Mädchen und dem jungen Manne drehte. „Sind doch Musiker, nicht wahr?“ sagte er endlich, an den letzteren herantretend.

„Nicht ganz, lieber Herr!“ erwiderte dieser, welchen die formlose Unterbrechung unangenehm berührt hatte, „ich gehöre zum Kaufmannsstande, wenn Sie es durchaus wissen müssen, und das hier ist meine Schwester.“

„Kaufmannsstand – sind doch erst von Deutschland gekommen und werden also wohl eine Stelle suchen wollen – Kaufmannsstand bei so einem Striche auf der Geige!“ schüttelte der Alte den Kopf, ohne anscheinend Reichardt’s verdrießliche Miene zu bemerken. „Wegen der Lady habe ich freilich nichts zu sagen; Sie wissen aber wohl noch nicht, wie lange Sie hier laufen können, ehe Sie einmal einen Platz mit ein paar Dollars bekommen? Jedes Schiff bringt deutsche Handlungs-Commis, sie müssen aber fast Alle zu einem andern Geschäfte greifen, und die Klügsten thun es, ehe ihr Geld aufgezehrt wird. Wenn Sie gescheidt sind, so nehmen Sie gleich jetzt mit, wo Sie einen Verdienst finden. Ich habe viele Tanz-Parties zu spielen – nur in reichen Familien, verstehen Sie – und wenn Sie mit mir gehen wollen, so haben Sie für jeden Abend einen Dollar. Wir sind auch jetzt dran, ein ordentliches Corps für Blasmusik zusammenzubringen; das Althorn können Sie geschwind lernen, und bis dahin schlagen Sie beim Ausrücken die Trommel –“

„Ich denke, nicht, lieber Mann!“ unterbrach ihn Reichardt, dessen Unmuth sich vor der sonderbaren Weise des Sprechenden in einen halben Humor verwandelt hatte; um Mathildens Mund aber hatte es bei dem Trommel-Anerbieten zu zucken begonnen, als halte sie nur mühsam ein lautes Lachen zurück.

Der „Musiker“ warf einen neuen Blick in die Gesichter des jungen Paars und zuckte dann mit den Achseln. „’s ist kein Geschäft zu verachten in Amerika, das Geld einbringt; werden’s vielleicht auch erst noch ausfinden müssen wie Andere,“ sagte er, die Nase hebend, „im Uebrigen will ich nichts Böses gesagt haben!“ Er nickte mit dem Kopfe und wandte sich wieder zurück, von der Wirthin gefolgt, deren Gesicht die heitere Laune ihrer jungen Gäste widerzuspiegeln schien.

„Jedenfalls doch eine Aussicht!“ rief Reichardt launig, die Violine wieder in den Kasten bergend, „wollen’s als ein gutes Zeichen nehmen, das uns der erste Tag sogleich entgegenbringt!“

„Mir hat der Mensch, trotz seiner Tollheit, die ganze schöne Stimmung verscheucht,“ erwiderte Mathilde, ohne doch das hervorbrechende Lachen unterdrücken zu können; „er kam mir fast mit seiner langen Nase wie ein Rabe vor, der seine Unglücksprophezeiungen in unsere Freude hineinkrächzen mußte – aber mag’s drum sein, ich habe mir vorgenommen, mich heute nicht zu kümmern! – Laß Dich jetzt in Deiner Bequemlichkeit nicht weiter aufhalten, Bruder Max,“ fuhr sie fort, die zur Seite geschobenen Goldstücke auf seinen Kasten legend, „wie wir es uns überhaupt zur Regel machen wollen, uns niemals gegenseitig zu geniren!“ Sie reichte ihm mit offenem Blicke die Hand, und Reichardt verließ das Zimmer, um nach der Unterbringung seiner eigenen Habseligkeiten zu sehen. – –

Vier Wochen waren verstrichen. Reichardt hatte seine Empfehlungsbriefe an ihre Adressen, unter denen sich Handelshäuser von Bedeutung befanden, abgegeben, war freundlich begrüßt und zu weiterem Besuche eingeladen worden; so hoch sich aber auch seine Hoffnung in der ersten Woche gehalten hatte, so schien doch jeder folgende Tag nur dazu gemacht zu sein, um ein Stück nach dem andern davon wegzubrechen. Er hatte offen seine Verhältnisse, die ihn auf baldige Beschäftigung anwiesen, dargelegt und Versprechungen für Berücksichtigung und Verwendung erhalten; bei seinen spätern Besuchen waren es aber nur dieselben allgemeinen Worte wieder, welche er hörte, und als er endlich sich nach der Möglichkeit einer einigermaßen bestimmten Aussicht erkundigte, wurde ihm hier ein Achselzucken, dort eine Klage über Ueberfüllung an jungen Leuten und am dritten Orte eine Vertröstung auf den Zufall, welcher jeden Tag eine Vacanz herbeiführen könne. In der dritten Woche schienen seine fortgesetzten Besuche schon lästig zu werden; es ward ihm bedeutet, daß man ihm wissen lassen wolle, sobald sich etwas finde, daß er aber jedenfalls gut thue, sich, ehe er sein Geld aufzehre, nach irgend einer andern Beschäftigung umzusehen. Von diesem Augenblicke an hatte er seine täglichen Rundgänge unterlassen, aber seine Dienste durch mehrere Zeitungen unter Namhaftmachung der Häuser, welchen er empfohlen war, angeboten. Acht Tage lang hatte er sich vorgenommen zu warten, ehe er auch diese Hoffnung aufgäbe; aber die vierte Woche war verstrichen, ohne daß es nur schien, als habe Jemand seine sechsmal wiederholte Anzeige gelesen. Oft hatte er während dieser Zeit gewünscht, einen Freund zu haben, gegen den er sich wenigstens aussprechen könne, und er hatte sogar einmal den Versuch gemacht, den Kupferschmied wieder aufzusuchen, ohne indessen eine Spur des Wegs, den dieser beim Verlassen des Shakespeare-Hotels genommen, finden zu können.

Zu Mathilden mochte er nicht reden; sein Verhältniß zu dieser hatte weder an Vertraulichkeit gewonnen, noch an der Eigenthümlichkeit, wie es der erste Tag geschaffen, verloren; in ihrer ganzen Haltung gegen ihn schien sie trotz des äußern geschwisterlichen Tons und einzelner Momente des Sichgehenlassens eine feine Schranke aufrecht erhalten zu wollen, die ihm jede herzliche Annäherung verbot. Auch eine Stunde wie am ersten Tage in ihrem Zimmer war nicht wiedergekommen. Er hatte wohl bisweilen gesehen, wie sie während des allgemeinen Zusammenseins der Kostgänger in dem untern großen Zimmer sein Gesicht und die darin unwillkürlich hervortretende Sorge beobachtete, aber nie hatte sie ihm wieder Gelegenheit zu einem vertraulichen Gespräche geboten. Daneben wußte er in einer andern Weise nicht, wie er das Mädchen zu beurtheilen hatte. Nur selten ward das Haus von Fremden besucht und die abendlichen Zusammenkünfte der Kostgänger in der untern Stube trugen deshalb eine Art Familien-Charakter; so sehr sich auch Mathilde von jeder nähern Berührung mit der übrigen Gesellschaft zurückhielt, deren Aufmerksamkeit sie in ähnlicher Art wie die der Schiffsbevölkerung erregt hatte, so schien das geöffnete Piano sie doch der Gesellschaft, in welcher sie sich befand, ganz vergessen zu lassen, und es bedurfte nur einer Aufforderung, um sie zum Vortrage eines oder auch mehrerer Lieder zu bewegen. Ihre Stimme war immer dieselbe, silberklar, warm und seelenvoll, und fast schien es oft, als singe sie nur zu ihrer eigenen Genugthuung. Demohngeachtet meinte Reichardt, sie werfe ihre Perlen vor die Säue, eine Laune, die er sich in keinem Zusammenhange mit ihrem übrigen Wesen denken konnte, und als ihn die Wirthin eines Abends bat, seine Violine zu holen und das Stück noch einmal zu spielen, was sie am ersten Tage belauscht, stand er mit einer kurzen Ablehnung von seinem Platze aus und verließ das Zimmer. Es wäre ihm gleich einer Profanirung seiner besten Gefühle gewesen.

So war das Ende der vierten Woche herangekommen. Reichardt hatte nach dem Mittagessen das wöchentliche Kostgeld für sich und die „Schwester“ bezahlt und schritt, trübe Gedanken durch sein Gehirn wälzend, nach seiner Wohnung hinauf, als sich die Thür von Mathildens Zimmer öffnete und ein Wink des Mädchens ihn herbeirief. „Komm herein, wir müssen ein paar Minuten mit einander reden!“ sagte sie mit gedämpfter Stimme, sorgfältig hinter dem jungen Manne den Eingang wieder schließend. Sie deutete auf einen Stuhl, zog leicht einen zweiten herbei und setzte sich ihrem Gaste unmittelbar gegenüber.

„Es sind heute vier Wochen vorüber, Max, die erste Frist, die wir uns setzten, seit wir hier ankamen, und wir wissen jetzt wohl, was wir von unsern Aussichten zu halten haben,“ begann sie, ihm wie in stiller Sorge in das umwölkte Auge sehend; „Du hast wenig Glück gehabt, ich konnte es jeden Abend in Deinem Gesicht lesen – hat sich gar nichts geboten?“

„Nichts, Mathilde!“ erwiderte er finster den Kopf senkend, „Versprechungen, die nirgends gehalten wurden, und Vertröstungen, die mir nichts nützen können.“

„Und hast Du Dir jetzt irgend einen andern Plan für die Zukunft gemacht?“

„Einen Plan? O ja!“ erwiderte er bitter lachend. „Es wird mir eben nichts übrig bleiben, als zum Tanze zu geigen, da, [176] wo ich mit wenig ganz gewöhnlichem Glücke selbst hätte tanzen können; dazu Tambour zu werden und so weiter.“

„Und zuletzt wäre das gar so schlimm nicht – ich habe in diesen vier Wochen mancherlei gesehen und gelernt.“ Als Reichardt überrascht aussah, blickte er in ein Auge, das ihm ermuthigend zulächelte und doch den Ueberrest einer herben Empfindung nicht ganz unterdrücken zu können schien. „Vielleicht ist aber das noch nicht einmal nothwendig,“ fuhr sie fort und legte ihre Hand leicht auf seinen Arm. „Ich habe etwas Anderes, das weniger Anstoß bei Dir finden wird.“

„Für mich?“ fragte er lebhaft, den Kopf hebend.

„Für uns Beide – erst aber zwei Worte voraus, damit Du mich verstehst. Ich bin manchen Weg gegangen, seit wir hier im Hause sind, um eine Existenz für mich zu schaffen, ich hatte Tag für Tag Enttäuschungen zu ertragen und mochte doch Deinem sorgenvollen Gesichte gegenüber es zu keiner Erklärung kommen lassen, die uns Beide nur vorzeitig entmuthigt hätte. Ich hatte zuerst an die Stelle irgend einer Lehrerin gedacht – aber was ist bei den Deutschen hier eine Person ohne Empfehlung und ohne jedes Zeugniß? Der Zudrang der Einwanderung mag Vorsicht nöthig machen, ich begriff das, und doch war es mir immer, als müßte ich als Ausnahme gelten, und erst nach manchem vergeblichen Versuche und mancher Demüthigung begann ich die Nutzlosigkeit meiner Bemühungen einzusehen. Da erzählte mir die Wirthin von einer Bekannten, die arm hierher gekommen, jetzt aber ein brillantes Geschäft habe und mich vielleicht gern beschäftige, wenn ich einiges Geschick habe. Ich ging hin – es war eine Kleidermacherin. Da saßen eine Reihe junger Mädchen, bleich eine wie die andere, Stich für Stich sich ihr kärgliches Brod verdienend, und ich wußte, daß ich wohl den Muth haben konnte zu sterben, aber nicht ein solches Leben zu verbringen. An demselben Abende aber erhielt ich ein anderes Anerbieten. In der Bowery ist ein amerikanisches Concertlocal; wahrscheinlich hat irgend Jemand, der damit in Verbindung steht, mich singen hören – ich weiß nur, daß nur die Wirthin einen deutsch sprechenden Mann vorstellte, der mir zehn Dollars die Woche offerirte, wenn ich wöchentlich an drei bestimmten Abenden in dem Locale meine Lieder vortragen wolle. Am nächsten Abend ging ich mit der Wirthin, um mich von den Verhältnissen zu unterrichten. Es war ein sonderbarer Styl von Musik, mit welchem die Amerikaner tractirt wurden, aber das Publicum war trotz seiner heitern Ausbrüche anständig, und ich konnte mir recht gut den Effect vergegenwärtigen, den eine deutsche Composition hier machen mußte. Ich forderte eine Frist zur Ueberlegung, zugleich aber für jeden Fall auch Dein Engagement, das für die Pianobegleitung unumgänglich nothwendig werde. Es wurde mir zugesagt, und das Interesse für Dich schien sich noch zu vermehren, als ich von Deiner Fertigkeit auf der Violine sprach. Jetzt entsteht also nur die Frage, ob Du bereit bist, auf eine derartige Beschäftigung einzugehen.“

Reichardt hatte mit steigender Spannung den Bericht des Mädchens angehört. „Und Du willst wirklich in einem dieser Bowery-Locale öffentlich singen, Mathilde?“ fragte er, als könne er noch kaum die Möglichkeit eines solchen Schrittes glauben.

In des Mädchens Gesicht stieg, sichtlich durch den Ton seiner Frage hervorgerufen, ein helles Roth. „Ich werde es nicht thun, wenn Du für Dich ein passenderes Unterkommen weißt,“ erwiderte sie; „für mich gäbe es wohl noch einen andern annehmbareren Vorschlag, der aber Deine Mitwirkung ausschließt und für mich deshalb ganz außer Frage lag. Im Uebrigen aber denke ich, daß die Kunst jeden Ort, an dem sie ausgeübt werden mag, veredelt, und es lag ein großer Reiz für mich in dem Gedanken, diese Menschen, die noch kaum andere Klänge als Negerlieder und dergleichen gehört zu haben scheinen, aufzuwecken. Sage mir nur jetzt, wenn Du nicht durch die Straßen trommeln willst, was Du zu thun gedenkst, und meine ersten Bedenklichkeiten, die ich hatte, werden sich wohl auch wieder finden.“

Reichardt sprang von seinem Stuhle auf und durchmaß einige Male rasch das Zimmer. „Mein Interesse also ist es,“ sagte er endlich, vor dem Mädchen stehen bleibend und ihre beiden Hände fassend, „das Deinen Entschluß bestimmt hat?“

„Und wenn es sich so verhielte, wäre denn etwas Außerordentliches dabei?“ erwiderte sie, mit einem Blicke zu ihm aufsehend, der ihm warm bis in’s Herz drang. „Hattest Du es denn nicht als Bedingung unserer Geschwisterschaft gesetzt: getheiltes Glück und getheiltes Leid?“

Er sah einige Secunden lang in ihre Augen, die sich voll seinem Blicke hinzugeben schienen, und nahm dann seinen Gang durch das Zimmer wieder auf.

„Und wann soll das Engagement seinen Anfang nehmen?“ fragte er, wie noch immer nicht mit sich einig.

„Morgen Abend schon, Bruder Max; ich habe eben Alles bis zum letzten Termine verschoben, um unserm Schicksale in keiner Weise vorzugreifen,“ erwiderte sie, den Kopf nach dem Wandernden drehend. „Uebrigens will ich Dir, wenn es Dich beruhigen kann, mittheilen, daß ich, nicht unter eigenem Namen, sondern als eine irgend beliebige unbekannte Größe auftreten werde, deren Namen und Qualitäten bis zum morgenden Zetteldruck noch Geheimniß der Concert-Unternehmer sind.“

Reichardt schüttelte den Kopf und blieb wieder stehen. „Ich soll Dich nicht fragen: wer warst Du, und was trieb Dich hierher? Mathilde,“ sagte er, „aber ich darf wohl fragen: wohinaus soll es gehen, wenn Du einmal einen Weg wie den beabsichtigten eingeschlagen hast?“

Sie bog das lächelnde Gesicht über die Lehne des Stuhls nach ihm. „Weißt Du nicht, was der Kupferschmied auf dem Schiffe sagte: immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt? Aber,“ fuhr sie fort, sich langsam erhebend und auf ihren Gesellschafter zutretend, „willst Du uns Beiden einen tröstlicheren Weg zeigen – ich folge, wenn er auch vorläufig nur zur Bezahlung des Kostgeldes führt! Hier ist indessen die große Aufgabe, die wir zu erfüllen haben; was darüber hinausliegt, darf uns im Augenblick nicht einmal kümmern!“

Reichardt sah vor sich nieder. „Nur ein Funken ganz ordinäres Glück, und es hätte nicht dahin kommen dürfen,“ sagte er unmuthig; „los denn, in Gottes Namen! Wann werde ich gebraucht?“

„Morgen früh zum Einstudiren, damit wir wenigstens unsere eigene Genugthuung am Abend haben!“

Er nickte und hob dann den Kopf. „Es ist ein Anfang, wie ich ihn mir nicht habe träumen lassen, aber es ist doch ein Anfang, und – hier ist die Bruderhand, Mathilde!“ sagte er, dem Mädchen, das ihm mit dem klaren Lächeln eines frischen Entschlusses in die Augen blickte, die Rechte entgegenstreckend.

[190] Es war am folgenden Abend, und das Geschwisterpaar, der Bowery zuwandernd, sah bereits den Ort seiner Bestimmung vor sich. Reichardt trug eine leichte Notenmappe, während Mathilde unter dem Sommermantel das Gazekleid, in welchem sie vor ihren Zuhörern erscheinen wollte, aufgeschürzt hielt. An der Thür des von hellen Gaslaternen bezeichneten Locals bewegten sich bereits die verschiedenartigsten Menschengruppen, die Zettel, welche eine berühmte Primadonna mit fast unaussprechbarem Namen verkündeten, entziffernd, die Eintretenden musternd oder selbst Eintritt suchend.

Der Saal, in welchem die Vorstellungen stattfanden, zeigte ausser den Sitzen für die Zuhörer nichts als eine Erhöhung für die Vortragenden und einen Vorhang daneben, welcher den Zwischenraum bis zur Wand verdeckte. Hierhin begleitete Reichardt das Mädchen, das, als sie bereits mehrere als Neger costümirte „Künstler“ in dem Raume stehen sah, sich auf einen Stuhl in der hintersten Ecke niederließ.

Das versammelte Publicum schien bereits des Wartens genug zu haben, und Reichardt konnte sich nicht enthalten, bei einzelnen Ausbrüchen der Ungeduld den Kopf zu schütteln. Dieses Jolen, Pfeifen und Schreien war so roh und unbändig, wie es die niederste Kneipe in Deutschland ihm kaum geboten hätte. Er warf einen Blick nach Mathilden, die indessen, den Blick in ein Notenstück vertieft, kaum zu hören schien; den übrigen „Künstlern“ aber schien der Lärm etwas so Gewöhnliches, daß er nicht eine Secunde lang ihr halblautes Gespräch zu unterbrechen vermochte. Endlich trat der Director der Truppe, ebenfalls mit dem Teint Afrika’s versehen, in den Raum, grüßte mit einem verbindlichen Lächeln, das Reichardt in diesem schwarzen Gesichte ganz abscheulich fand, die junge Dame, und das Concert begann mit einer Ouverture, in welcher Banjo und Tamburin jedenfalls die Hauptrolle spielten.

Reichardt wollte Anfangs seinem Gehör nicht trauen, bis das Ohr sich an das wirre Durcheinander von Tönen gewöhnt hatte, und er endlich kopfschüttelnd ein Verständniß der tollen Eigenthümlichkeit des Stücks erlangte; das Publicum aber schien höchlichst erbaut davon und applaudirte, als solle der Boden des Saals durchaus hinunter gearbeitet werden. Ein Gesang, von welchem Reichardt kein Wort verstand, der aber den Grimassen des Vortragenden und dem Jolen und Lachen des Auditoriums nach äußerst komisch sein mußte, folgte, und nun war Mathildens erstes Lied an der Reihe. Reichardt fühlte die Hand des Mädchens in der seinen zittern, als er sie auf die Erhöhung vor das Publicum führte, aber er konnte ihr nur durch einen warmen Händedruck Muth zusprechen. Ueber die versammelten Menschen legte es sich wie ein Schweigen des Erstaunens, als die weißgekleidete bleiche Mädchengestalt, diese von den gewohnten Darstellungen so abweichende Erscheinung, hervortrat; einzelnes Klatschen erhob sich an verschiedenen Orten, das aber nirgends zünden wollte, und Reichardt fühlte eine eigenthümliche Beklemmung, als er sich an dem bereitstehenden Piano niederließ. Kräftig begann er das Vorspiel zu einem Liede, das der Sängerin im Boardinghause stets den ungetheiltesten Beifall eingetragen, und bei den bekannten Klängen schien Mathilde neuen Muth zu gewinnen; ihr Kopf hob sich und mit voller Sicherheit begann sie die ersten getragenen Töne. Ihre Stimme hatte eine Wirkung in dem weiten Saale, welche ihr Reichardt nie zugetraut; über den Zuhörern aber blieb dieselbe eisige Stille wie vorher liegen, und selbst bei einer am Schlusse des ersten Theiles eingelegten, glücklich durchgeführten Cadenz rührte sich nirgends eine Hand. Reichardt fühlte das Blut nach seinem Kopfe steigen, er hatte nicht den Muth, in Mathildens Gesicht aufzusehen – da, mit den ersten Tönen des zweiten Theils wurde eine Stimme laut: „Englisch!“ und als habe das eine Wort dem allgemeinen Gefühle Ausdruck gegeben, schrie es „Englisch“ von allen Seiten nach; einzelnes Zischen erhob sich wohl als Opposition der Störung, schien aber nur die ersteren Rufe in ihrer Zahl zu vermehren und in ihrer Ausdauer zu kräftigen. Mathilde hatte aufgehört zu singen und blickte geisterbleich über das Publicum hin, und wie beschworen von dem Ausdruck dieser großen schwarzen Augen begann sich der Lärm zu legen. Reichardt intonirte sein Zwischenspiel noch einmal, und wie mechanisch fiel das Mädchen an der rechten Stelle ein, aber schon nach ihren beiden ersten Noten brach unter den Zuhörern ein voller Sturm aus. „Englisch, Englisch!“ schrie es, lärmte, pfiff und tobte es – Reichardt sah sich vergebens nach dem Director der Truppe um, während Mathilde, starr wie eine Statue, ihren Platz behauptete – da sprang plötzlich hinter dem Vorhange eine grotesk aufgeputzte Negerin, eine Guitarre in der Hand, hervor, schlenkerte die großen, den verkleideten Mann verrathenden Beine in einigen carikirten Tanzpas und begann, sich an den äußersten Rand der Erhöhung vor die Sängerin stellend, in durchschneidender Fistelstimme:
Miss Nelly was a Lady –“

In einen Sturm von Applaus, Gelächter und Hurrahs gingen die Zeichen der Unzufriedenheit über, Reichardt aber sah, wie Mathilde plötzlich wankte. Mit zwei Schritten war er an ihrer Seite und führte sie, die sich fest an seinen Arm klammerte, von der Bühne. „Nur fort, nur fort ins Freie!“ sagte sie gepreßt, als Beide hinter dem Vorhange angelangt waren. Er warf ihr den Sommermantel um, legte ihr den Schleier über den Kopf und führte sie, ohne einen Blick nach den übrigen Musikern zu werfen, die sich augenscheinlich aus ihrem Wege gestellt hatten, nach dem Corridor hinaus.

Sie hatten die Straße erreicht. „Nach Hause!“ flüsterte Mathilde, als drücke ihr eine Last die Brust zusammen, und Reichardt fühlte, während er ihrem raschen Schritte folgte, zeitweise ihren Arm in dem seinen zucken. Er konnte die ganze Aufregung und Bitterkeit ihres Herzens mitfühlen, aber er mochte auf der Straße und unter dem frischen Eindruck des Schlags, den sie erhalten, nicht zu ihr reden; nur durch die Art, wie er sie eng an sich geschlossen führte und ihr sichtliches Streben, rasch nach dem Boardinghause zu kommen, förderte, mochte er ihr andeuten, was er selbst empfand.

Sie ließ seinen Arm los, als sie ihre Wohnung erreicht hatten, und eilte ihm voran die erleuchtete Treppe hinauf; als sie aber ihr nur von einer außen brennenden Gaslaterne schwach erleuchtetes Zimmer geöffnet, und Reichardt, von Sorge für sie getrieben, ihr gefolgt war, wandte sie sich, wie ihrer nicht mehr mächtig, um und fiel in einem Thränenausbruche, der in seiner Leidenschaftlichkeit den jungen Mann erschreckte, an dessen Brust.

Reichardt’s erste Bewegung war, die Thür zu schließen; dann umfaßte er mit einem ihn seltsam durchrieselnden Gefühle die krampfhaft schluchzende, halb bewußtlose Gestalt und zog sie zu sich auf einen Stuhl nieder. „Mathilde, was ist es denn mehr als eine Erfahrung im fremden Lande, die Jeder hier machen muß?“ sagte er, ihr beruhigend zusprechend, während er doch unter dem Druck dieser weichen Glieder, die auf ihm ruhten, es heiß in sich aufsteigen fühlte; „Mathilde haben wir denn etwas verloren, sind wir denn nicht noch bei einander?“

„Ich wäre auch gestorben, wenn ich allein gestanden hätte!“ sagte sie, das von Thränen überfluthete Gesicht hebend. Sie sah in seine vom Gaslicht hell beschienenen Züge, in ihren Mienen leuchtete es warm und leidenschaftlich auf – „Max, ich möchte [191] sterben!“ rief sie plötzlich, und Reichardt fühlte ihre Arme fester um seinen Nacken, fühlte ihren Mund voll und heiß auf dem seinen; – als er aber, seiner Aufregung nicht mehr gebietend, seine Arme fest um ihren Leib schlingen wollte, rang sie sich mit einer plötzlichen Kraftanstrengung los und sprang auf. „Geh, Max, geh!“ rief sie, als er ihr folgte, ihm beide Arme abweisend entgegenstreckend, „unsere Wege dürfen nicht miteinander laufen!“ dann aber, wie von einem neuen Gedanken erregt, faßte sie seine beiden Hände in die ihrigen und sah ihm zwei Secunden lang tief in die Augen. „So, nun gute Nacht!“ sagte sie dann, ihn loslassend und die Thür öffnend. – Reichardt stand wie halb betäubt in dem Corridor, hörte, wie sie den Riegel vorschob, und wandte sich langsam seinem Zimmer zu.

Als am andern Morgen nach dem Erwachen die gestrige Scene wieder vor seine Seele trat, wollte sie ihm kaum anders als ein üppiger Traum erscheinen; er mußte unwillkürlich an die „schwachen Stunden“, welche ihm der Kupferschmied prophezeit, denken, und fast fürchtete er sich vor dem ersten Blicke, welchen er heute mit dem Mädchen wechseln werde. Aber umsonst sah er sich am Frühstückstische nach ihr um, und erst als er sich wieder von seinem Platze erhob, theilte ihm die Wirthin mit, daß die „Schwester“ schon früh ausgegangen sei und ihn bitten lasse, auf ihre Rückkunft zu warten. Mit einem stillen Kopfschütteln ging er nach dem Gastzimmer und versuchte den Zeitungen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden; zehnmal aber hatte er sich schon während des Lesens erhoben, weil er Mathildens leichten Tritt zu hören geglaubt, hatte endlich die Blätter weggeworfen und über die Zukunft dieses Geschwister-Verhältnisses zu grübeln begonnen, während allerhand Vorstellungen von dem, was das Mädchen so früh aus dem Hause getrieben haben könne, durch seinen Kopf schossen, und es war fast elf Uhr, als er endlich seinen Namen nennen hörte. Der Fuhrmann eines Gepäckwagens ward von der Wirthin in’s Zimmer gewiesen, der mit einem zierlich gefalteten Billet an den jungen Mann herantrat. Mit einer eigenthümlichen Spannung, die er umsonst zu beherrschen suchte, öffnete dieser das Couvert und las in kleinen, bestimmten Schriftzügen:
„Mein geliebter Bruder Max!

Unsere Wege dürfen nicht zusammen gehen, sagte ich Dir am gestrigen Abend, der nur ein schrecklicher – und doch auch ein so seliger war (es ist mir ein süßes Gefühl, Dir das jetzt frei und ohne jeden Rückhalt zu bekennen), und so habe ich nach dem Entschlusse, der sich aus einer durchkämpften Nacht entwickelt, das Band, das uns bis jetzt vereinte, kurz durchschnitten. Ich habe ein Unterkommen gefunden, und Du wirst nicht fragen: wo oder wie? – mein größter Schmerz dabei ist, daß ich Dich allein einer noch ungewissen Zukunft überlassen muß. Deinen mannigfachen Kenntnissen aber wird eine würdige Verwendung nicht lange fehlen, und wenn Du jetzt mit der Trommel anfangen müßtest, so denke daran, daß den größten Männern in diesem außergewöhnlichen Lande selten ein besserer Anfang beschieden gewesen ist.

Du wirst jedenfalls wieder von mir hören, und sollten auch Jahre dazwischen liegen; unterdessen aber, Bruder Max – schone die Herzen, die Dir vielfach freiwillig entgegenkommen werden; Du bist Dir wohl Deiner Macht über weibliche Gemüther jetzt noch nicht voll bewußt; denke aber, wenn Du es werden wirst, an das Abschiedswort Deiner Schwester, die nicht zu den Schwächsten zählte!

Und nun, als letzten Liebesdienst, sende mir durch den Ueberbringer meine Sachen, die Du fertig gepackt in meinem Zimmer finden wirst. Sage der Wirthin, ich sei Nätherin geworden, Dienstmädchen, Schenkmamsell, was Du willst; meine Erscheinung wird Dich nicht Lügen strafen. Ich weiß, Du wirst meine Bitte ehren, jetzt nicht zu forschen, was aus mir geworden, und so bewahre mir Dein Andenken, bis wir uns einmal freier wiedersehen.

Einen warmen Händedruck von
Deiner Schwester Mathilde.“ 

Der Fuhrmann hatte schon eine lange Weile ungeduldig seine Füße hören lassen, ehe Reichardt die Augen wieder von dem Papier hob und der Gegenwart inne zu werden schien. Die Stirn mit der Hand reibend suchte er die Wirthin auf, um ihr anzukündigen, daß seine Schwester eine Stelle gefunden, die sie aber sogleich festgehalten und genöthigt habe, nach ihrem Gepäck zu senden – und als dieses dem Fuhrmann überliefert war, suchte Reichardt sein Zimmer auf, um sich von Neuem in die Lectüre dieses Briefes vertiefen und seinen Gedanken ungestört nachhängen zu können. – –

Am Nachmittage ging der kleine Musiker, welcher Reichardt’s Aerger am Tage seiner Ankunft erregt, aus dem Zimmer des jungen Mannes, und dieser hatte sich verpflichtet, während der Sommermonate mit dem Alten und zweien seiner Collegen die Tanzmusik in den umliegenden kleinen Badeorten zu spielen. Es sei ein Glück für ihn, daß er noch zeitig genug zur Erkenntniß gekommen, hatte ihm der Alte gesagt, denn einen Tag später hätte er die Stelle jedenfalls durch einen Andern besetzt gefunden.




Die Glanzhöhe der Saison in Saratoga, dem eleganten Badeorte, war vorüber. Die bekanntesten fashionablen Schönheiten waren bereits unsichtbar geworden und mit ihnen der größte Theil derjenigen Familien, die nicht „mit Jedermann“ verkehren mochten und sich so, trotz aller tödtlichen Langeweile auf einen engen Umgangskreis Solcher beschränkt hatten, deren Vermögensverhältnisse sich in genauer Linie mit den ihrigen befanden. Mit dem Verschwinden der Exclusiven, ihrer bekannten Equipagen und ihrer lärmenden, ungezogenen Kinder aber schien eine ganz andere Luft in „Congreß-Hall“, dem alten, renommirten Badehotel, einzuziehen; der allgemeine Ton ward freier, die zurückgebliebene junge Damenwelt, die sich nicht vorgesehen hatte, jeden Tag in dreimal verschiedener Toilette und jeden Tag, die langen Wochen hindurch, in immer Neuem zu erscheinen, athmete auf, und zur Entschädigung für einen bereits stattgefundenen, aber nur von der Elite der Gäste besucht gewesenen Ball ward jetzt Agitation für eine ganze Reihe zwangloser Tanzunterhaltungen gemacht. Ein großer Theil der noch Anwesenden bestand aus Familien aus dem Süden, welche, später angekommen, die letzten heißen Tage hier noch zu verbringen gedachten.

Es war Nachmittags drei Uhr vorüber, die Zeit, an welcher die große, von Schlinggewächsen umsponnene Piazza vor dem Hotel, der Lieblingssammelplatz der Badegäste, am vereinsamtesten war. Wer nicht eine Spazierfahrt angetreten hatte, ruhte in voller äußerlicher Ungezwungenheit in seinem Zimmer, und nur einzelne Männergestalten, halb schlafend, halb rauchend, machten sich, in die bequemste Stellung gestreckt, hier und da auf dem langen, eleganten Vorbau sichtbar.

Nahe den Eingangsstufen saßen zwei Männer in sichtlich angelegentlichem Gespräche bei einander. Der Eine von ihnen, stets auf seinem Stuhle zurückgelehnt, trug den langen, schwarzen Rock der amerikanischen Geistlichen, während sein übriger Anzug sich dem modischen Geschmacke möglichst näherte; volles braunes Haar beschattete ein sorgfältig rasirtes Gesicht, das in diesem Augenblicke zu unbeweglichem Marmor geworden zu sein schien. Der Zweite, jünger und seinem ganzen Aeußeren nach ein Kind des Südens, hatte soeben seinen Stuhl näher zu seinem Gesellschafter gerückt.

„Sie dürfen mir in dieser Weise nicht ausweichen, Mr. Curry,“ sagte er, mit finsterm Blicke sich rasch durch das schwarze Haar fahrend. „Die Saison geht zu Ende, und meine Geduld ist es schon. Ich habe weder so viel Zeit noch überflüssige Mittel, um sie hier ohne eine bestimmte Aussicht opfern zu können, lieber gebe ich jetzt gleich eine Hoffnung ganz auf, an der ich zuletzt nur am Narrenseile gezogen werde, und wir treten uns wieder so gegenüber, wie wir es eines Tages thaten!“

Der Aeltere regte keinen Zug seines Gesichts, holte aber aus seiner Westentasche ein kleines Messer hervor, mit welchem er sich die Nägel zu putzen begann. „Ich halte es für entschieden besser, die Angelegenheiten ruhig und kalt zu betrachten,“ sagte er. „Unsere jetzige Stellung zu einander ist durchaus verschieden von jener, welche Sie soeben andeuteten –“

„Jedenfalls wird sie noch immer den nöthigen Effect ausüben!“ fuhr der junge Mann mit einem bittern Lachen auf.

Der Erstere warf einen raschen Blick nach den fernsitzenden Gästen und hob dann langsam den Kopf. „Nicht so ganz als Sie vielleicht meinen, Mr. Young,“ erwiderte er kalt. „Falls Sie indessen das Gespräch in der so eben begonnenen Weise weiter führen wollen, so erlauben Sie lieber, daß ich Sie verlasse.“

Der Jüngere sah seinem Gesellschafter eine Secunde lang in die halb verschleierten Augen. „Ich sollte wenigstens neugierig sein zu erfahren, was Sie mir noch zu sagen haben,“ versetzte er dann mit einem gedämpften, unmuthigen Lachen, „ich werde Sie also jetzt mit keinem lauten Worte in weitere Verlegenheit setzen – fahren Sie fort!“

[192] Curry neigte wie befriedigt den Kopf. „Die Sachlage ist einfach die folgende,“ sagte er mit noch mehr gemäßigter Stimme.

„Sie glaubten vor einiger Zeit, ich habe mich bei Ausübung meines Amtes eines sündlichen Uebergriffes gegen Ihre Schwester schuldig gemacht, wurden aber bald so von Ihrem Irrthum überzeugt, daß Sie mir Ihr besonderes Vertrauen schenkten und mich sogar zum Mittelmanne machten, um in genauere Beziehung zu Mrs. Burton und deren Tochter zu kommen.“

„Erlauben Sie einen Augenblick,“ fiel ihm Young, dem das Blut in’s Gesicht stieg, in die Rede. „Erstens handelt es sich nicht um einen Irrthum, sondern um ein Verbrechen, das Sie an meiner Schwester begingen, und das ich nur des Mädchens wegen für den ersten Augenblick verschwieg. Sie selbst aber waren es, der mir Miß Burton mit ihrem Vermögen als Köder vor die Augen hing – “

Curry winkte beschwichtigend mit der Hand. „Das sind Ihre Ansichten von der Sache, Sir,“ sagte er ruhig, „Ansichten, die Ihrem Benehmen kaum Ehre machen würden und außerdem Ihnen die Möglichkeit, Ihren finanziellen Verhältnissen durch eine Heirath aufzuhelfen, sofort nehmen müßten, lassen Sie uns friedlich mit einander gehen, so werden wir Beide am besten fahren, und drängen Sie mich nicht in einer Weise, die mir es ganz unmöglich macht, für Ihr Interesse zu wirken. Mrs. Burton ist ein eifriges Mitglied meiner Kirche, aber dennoch muß ich der besondern Stunde warten, die mir den rechten Einfluß auf sie gewährt.“

„Aber es handelt sich um ihre Stieftochter, die nicht einmal zu den Methodisten gehört!“

„Richtig! Um deren Erziehung sich aber der Vater nicht kümmert, und die deshalb unter der vollen Controlle der Stiefmutter steht.“

In diesem Augenblicke klang ein voller Pianoaccord, dem ein rasender Läufer folgte, aus dem großen Versammlungszimmer; einzelne barocke Sprünge folgten nach, dann schlug eine Thür zu und wie im Sturm erschienen zwei junge Mädchen auf der Piazza, der Ausgangstreppe zueilend. Young hatte bei dem ersten Tone gehorcht und sprang bei dem Erscheinen des Paars auf. Mit Erblicken der Männer indessen zügelten Beide ihren Schritt, zogen die verschobenen breiten Strohhüte zurecht und kamen hochaufgerichtet, mit glühenden Wangen heran – einen halben Schritt voraus eine schlanke Brünette, mit dunkeln, muthigen Augen und halb spöttisch aufgeworfenem, üppigem Munde, während in dem dunkelblonden Haare, den lachenden Augen und den weichen, maifrischen Zügen ihrer Gefährtin, die nur mit einer leichten Scheu zu folgen schien, sich ein Gegensatz von eigenem Zauber bot.

„Miß Burton, ich bin glücklich, Sie noch einmal zu sehen,“ sagte Young, der Brünette entgegentretend, „ich denke morgen mit dem Frühesten abzureisen und hoffe, daß wir uns bald in den gewohnten Kreisen der Heimath wiedersehen!“

„Ich glaube wohl, Sir, daß Sie glücklich sind, Abschied zu nehmen!“ lachte die Angeredete, „grüßen Sie mir unsern schönen Wald und sagen Sie ihm, er habe zwar lange keine so schöne Menagerie von allerhand wunderbarem Gethier, wie es sich hier einsperren läßt, ich käme aber doch, so bald ich könnte!“ Sie nickte dem jungen Manne leicht zu und eilte, von ihrer Begleiterin gefolgt, die Stufen hinab, als habe sie den dasitzenden Geistlichen kaum bemerkt – ein helles Kichern aber klang, schon als sie nicht mehr sichtbar waren, aus der Ferne herüber.

„Sie gehen also morgen schon?“ begann Curry, als wolle er die Gedanken seines Gesellschafters von dem eben erfolgten Auftritte abziehen.

„Ich gehe, Sir, denn meine Anwesenheit ist daheim nothwendiger als hier!“ erwiderte Young die Augen zusammenziehend. „Denken Sie aber daran, daß wir Preis um Preis gegenseitig handeln, und daß ich noch immer zu guter Geschäftsmann bin, um ohne Weiteres einer absichtlichen Täuschung zum Opfer zu fallen!“ Er wandte sich langsam weg und schritt dem Hause zu; der Geistliche aber sah ihm kurz nach, preßte dann die Lippen zusammen und begann das Ausputzen seiner Nägel von Neuem.

[206] Reichard hatte seinen Violinkasten geschlossen, um zum ersten Male mit zur Tanzmusik auszuziehen. Trotz des kräftigen Entschlusses aber, das Beste aus dem sich bietenden Leben zu machen, zu welchen er sich bei der Ergreifung seines neuen Broderwerbs hinaufgearbeitet, konnte er sich doch eines eigenen Gefühls von Gedrücktsein nicht erwehren, als er in Gesellschaft seiner neuen fünf Collegen, deren Aeußeres mehr von Bier als Kunst erzählte, zu dem ersten Ausfluge aufbrach – und fast gewährte es ihm eine Art Trost, daß seine Begleiter sich in einer Weise von ihm fern hielten, als fühlten sie, daß weder seine Erscheinung noch sein Wesen unter sie passe. Nur der alte Dirigent raunte ihm hier und da eine vertrauliche Bemerkung zu, wie es dies Jahr so wenig unbeschäftigte Musiker in der Stadt gebe, wie er erst gestern das Engagement nach Saratoga bekommen und nun mit Mühe noch einen Mann für das Cornet aufgetrieben habe, damit sie noch etwas Ordentliches leisten könnten.

Es war gegen zwei Uhr, als die Gesellschaft an Congreß-Hall abstieg und zusammen nach einem durchhitzten Zimmer unter dem Dache gewiesen wurde – bald aber meinte Reichardt es bei der Ausdünstung der mit ihrem Reinigungsgeschäft begriffenen Collegen dort nicht mehr aushalten zu können, ordnete rasch sein Aeußeres und eilte dem Zimmer zu entkommen. Aus den Speisesälen klang ihm das Klappern der Teller und das Laufen der Aufwärter entgegen, an ihm vorüber rauschten einzelne Paare in glänzender Toilette, und unbewußt wollte ein neues Gefühl von Bitterkeit in ihm einziehen. Mit einer kräftigen Regung aber warf er den Kopf zurück und eilte hinaus ins Freie. Vor Abend wurde keine Musik bedurft, und bis dahin war er noch Gentleman und sein eigener Herr. Langsam durchschlenderte er die freien Räume um die drei großen Hotels, ohne sich um die einzelnen Begegnenden zu kümmern, und schlug endlich den Weg nach den Quellen ein. Es war wenig Geschmack in dem, was er sah, [207] Alles offen wie auf den Präsentirteller hingelegt, und langsam ging er endlich einer entfernteren Baumgruppe zu, die ihm wenigstens einen Platz verhieß, um ungestört eine Stunde ruhen und grübeln zu können. Die Stelle schien wenig betreten zu werden, dichter Graswuchs empfing ihn unter den Bäumen, und ohne sich lange zu bedenken, streckte er sich, eine hervorragende Wurzel zum Kopfkissen wählend, bequem auf dem Boden aus. Ein leiser Luftzug strich hier kühlend durch sein unbedecktes Haar, eine Stille lag um ihn, in welcher er jedes bewegte Blatt rauschen hörte, zugleich aber bot sich auch seinem Auge die volle Aussicht auf die Umgebungen der Hotels. Dort fing es jetzt an lebendig zu werden. Wagen auf Wagen wurde sichtbar, vom eleganten Phaeton bis zum einfachen Buggy, bald tauchten die hellen Kleider der einsteigenden Damen dazwischen auf, und in Kurzem rollte Gefährt auf Gefährt mit eleganter Gesellschaft besetzt auf der Straße heran, die sich kaum fünfzig Schritte von Reichardt’s Ruheplatze hinzog und die Lieblingsrichtung für Spazierfahrten zu bilden schien. Der Ruhende ließ die ganze Reihe lachender Gesichter, reicher Toiletten, courbettirender Reiter und eleganter Wagenlenker wie ein buntes Bild an sich vorüber ziehen; als aber das Geräusch des letzten Wagens verklungen war, schloß er die Augen und begann zu grübeln, wohin ihn denn wohl, selbst im glücklichsten Falle, sein jetzt ergriffenes Geschäft führen könne, ob ihm auf diesem Wege wohl jemals wieder der Eintritt in die Gesellschaft, zu welcher ihn Erziehung und Lebensgewohnheit zogen, ermöglicht werde. Wie ein Trost, an den er sich fest zu klammern beschloß, klangen ihm die Worte in Mathildens Brief aus seiner Erinnerung: „Und wenn Du jetzt mit der Trommel anfangen müßtest, so denke daran, daß den größten Männern in diesem außergewöhnlichen Lande selten ein besserer Anfang beschieden gewesen ist!“

Er bedeckte das Gesicht mit seinem Schnupftuche und überließ sich seinen Phantasiebildern, bald in ein halbwaches Träumen verfallend. – Schon seit einer Weile hatte er gemeint, zwei lachende, helle Stimmen seitwärts aus der Entfernung gehört zu haben; jetzt klang es plötzlich wie in gedämpftem Tone in seiner unmittelbaren Nähe: „Sieh hier, Margaret, wer ist das? Ist es das Eichhörnchen oder der Waschbär? Wir haben nur noch zwei junge Gentlemen von dieser Figur hier!“

Nur ein leises, mit hörbarer Macht unterdrücktes Kichern war die Antwort.

„O, es ist keine Gefahr,“ fuhr die erste Stimme wie als Beruhigung auf eine stumme Warnung fort, „er rührt sich nicht, ich beobachte ihn schon seit zwei Minuten; aber wissen muß ich, wer hier die Nachmittage verschläft und uns langweilen läßt, so gut wir können!“

Eine tiefe Stille folgte jetzt, dann fühlte Reichardt leise eine Ecke des Taschentuchs von seinem Gesichte gehoben – er hatte die Augen weit offen, und kaum wurde eins derselben frei, als er mit einem: „How do you do, Ladies?“ plötzlich aufrecht saß.

Ein doppelter Schrei, ein flüchtiges Davoneilen zweier schlanker, mit breiten Strohhüten versehener Gestalten war die einzige Antwort.

„O wie feig jetzt!“ rief Reichardt, sich rasch erhebend, und beim Klange der fremden Stimme hielt die Hinterste der Flüchtigen ihre Schritte an, drehte sich langsam um, und ließ wie in halber Scheu einen prüfenden Blick über die ganze Erscheinung des jungen Mannes laufen; dann stieg ein neckisches Lächeln in ihrem Gesichte auf und halb zögernd trat sie einige Schritte näher. „Wir glaubten nicht, daß wir jetzt noch einen Fremden hier treffen könnten!“ sagte sie, und es gewährte einen eigenen Reiz, den Kampf in diesen dunkeln, muthigen Augen gegen die noch nicht überwundene Befangenheit zu sehen.

„Da es nun aber so ist, Miß,“ erwiderte Reichardt, in welchem der ganze Humor seiner eigenthümlichen Lage erwachte, herantretend, „in welche Classe des Thierreichs würden Sie mich rangiren?“

Ein rasches Roth schoß in ihrem Gesichte auf. „O, das sind erhorchte Geheimnisse, Sir, die man ehrenhalber nicht einmal andeuten sollte!“ rief sie lachend: „übrigens habe ich nur um Entschuldigung bitten wollen –“ sie machte eine halbe Bewegung, um sich zurückzuziehen.

„Aber darf ich nicht helfen, Ihnen die Langeweile zu vertreiben?“ fuhr Reichardt in seinem frühern Tone fort, „oder meinen Sie, ich wollte mich wissentlich derselben Sünden schuldig machen, als Andere?“

Sie wandte sich zurück, und um ihren Mund zuckte die volle, kecke Laune. „Sie sind heute erst hier angekommen, Sir?“

„So ist es, Miß, und ich wohne in Congreß Hall.“

„In Congreß Hall, very well, das ändert die Sache!“

Sie ließ den Blick eine Secunde voll in seinem Gesichte ruhen.

„Ich denke, wir werden mit einander auskommen – zuerst aber lassen Sie uns einander anständig vorstellen. Miß Harriet Burton aus Tennessee.“

„Mr. Max Reichardt aus Preußen!“ ahmte der junge Mann lächelnd nach. Sie schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen, als wolle sie versuchen den gehörten Laut nachzusprechen.

„Sonderbare Namen bei den Ausländern!“ sagte sie, während ihr Blick nochmals wie in einem neuen Interesse Reichardt’s Erscheinung überlief, „ich werde den Ihrigen erst noch lernen müssen! – Jetzt aber,“ fuhr sie um sich sehend sort, „ist es wohl Zeit nach dem Hotel zu gehen, Margaret scheint sich nicht einen Schritt haben aufhalten zu lassen!“

Er bot ihr den Arm und durch seinen Kopf schoß es, als er von der vollen schönen Büste des Mädchens zu dem stolz getragenen Kopfe aufsah, welchen Ausdruck wohl dieses Gesicht im ersten Augenblicke annehmen werde, wenn es ihn in Gesellschaft seiner Collegen zum Tanze aufspielen sehe. Es war indessen keine Bitterkeit mehr, welche der Gedanke in ihm erweckte; die Erinnerung an Mathildens Brief hatte eine wunderbar beruhigende Wirkung auf ihn geübt – blieb er denn nicht derselbe, wenn ihn auch jetzt die Verhältnisse zwangen, einem ungewohnten Lebenserwerbe nachzugehen? – es war eher ein frischer Humor, der ihn antrieb, seine jetzige Rolle bis zu ihrer Entwickelung durchzuspielen.

„Sie sind noch so jung,“ begann jetzt seine Begleiterin, halb zu ihm aufsehend, „waren Sie auch schon Politiker, daß Sie Ihr Vaterland haben verlassen müssen?“

„Es war wohl Jeder mehr oder weniger an den politischen Ereignissen betheiligt,“ erwiderte er lächelnd, „wenn Sie aber damit nach meiner Lebensstellung fragen wollten, so gebe ich Ihnen die Auswahl. Ich bin Kaufmann, wenn Sie wollen, aber auch Musiker – “

„Musiker, seien Sie Musiker!“ rief sie lebhaft. „Ich habe schon einige Ausländer, Ungarn glaube ich, in unserm Staate kennen lernen, und sie waren alle wie geborene Musiker. Wir haben hier einen prachtvollen Flügel im Versammlungszimmer, aber nicht einen ordentlichen Spieler, und ich liebe doch die Musik leidenschaftlich! Kommen Sie, jetzt wird es mir ganz hell im Herzen!“ Sie schob ihren vollen Arm wie unwillkürlich fest unter den seinen, ließ ihn in ihre dunkeln, aufstrahlenden Augen sehen und begann zu einem raschern Schritte zu drängen. Bald lag die Piazza des Hotels, noch eben so leer als früher, vor ihnen; zwischen den Schlinggewächsen aber blickte ihnen ein frisches blühendes Gesicht unter dem breiten Strohhute lachend entgegen. „Da ist sie!“ rief die Brünette, ihren Begleiter loslassend und ihm voraus die Stufen hinauf eilend, „jetzt sagen Sie, Sir, wer feig war!“

Reichard war gefolgt, und unwillkürlich blieb sein Blick in einem Paar warmer, dunkelblauer Augen hängen, die wie in halb scheuer Neugierde auf ihn geheftet wären. „Mr. Unaussprechlich, Kaufmann aus Preußen – er wird Dir seinen Namen selbst nennen, den Du jedenfalls besser verstehen wirst,“ begann Harriet vorstellend, „ein ausgezeichneter Musiker, der uns sogleich auf dem Piano entzücken wird – und hier Miß Margaret Frost aus Newyork, ein wahres Muster von Freundin, welche nur mir zu Liebe die Langeweile in Congreß-Hall bis jetzt ertragen hat!“

Reichardt hatte ein paar launige Worte aus den Lippen, aber diesem lieben, fast noch kindlichen Gesichte gegenüber, das ihm wunderbar warm zum Herzen sprach, verschwanden sie aus seinem Gedächtniß. „Ich heiße Max Reichardt, Miß,“ sagte er sich leicht verbeugend, „der Klang mag ungewohnt für die englische Zunge sein –“

„Aber nicht für mich!“ erwiderte sie lächelnd in so klarem, wohllautendem Deutsch, daß die Ueberraschung dem jungen Manne das Blut in die Backen trieb und in dem Gesichte der Sprechenden einen hellen Wiederschein hervorrief. „Vater ist selbst ein Deutscher und hat einen Bekannten Ihres Namens –“

[208] „Und hat darauf gehalten, daß die liebe Sprache in Ihrer Familie erhalten blieb!“ fiel ihr Reichardt erregt in’s Wort.

„O, da geht es schon los – preußisch oder was es sonst sein mag,“ rief die Brünette dazwischen, „aber ich muß dagegen protestiren. Wir gehen jetzt zum Piano, da ist eine Sprache, die Jeder versteht, sonst ist eine halbe Stunde später die ganze Gesellschaft uns wieder auf dem Halse!“

Reichardt warf noch einen Blick in die tiefblauen Augen, die jetzt doppeltes Interesse für ihn hatten, und verneigte sich, um die Mädchen vorangehen zu lassen, fast wirkte es aber wie ein Dämpfer auf seine augenblickliche Stimmung, als ihm hinterdreinschreitender Reichthum, welcher selbst die einfache Promenaden-Toilette seiner Begleiterinnen auszeichnete, in die Augen fiel.

Er wollte eben, den Letzteren nach, das Versammlungszimmer betreten, als ein lautes „Bst! Bst!“ in seine Ohren klang und er, sich umdrehend, den alten Musikdirigenten erblickte, der vom hintern Eingang der Halle aus ihm mit beiden Händen zuwinkte. Jetzt konnte Reichardt unmöglich gehen – übrigens begriff er auch nicht, was der Mann schon von ihm wollen konnte. Er wandte den Blick ab und folgte den jungen Damen, welche sich bereits Stühle in die unmittelbare Nähe des Flügels gezogen hatten. Kaum saß er indessen selbst vor der Claviatur und hatte prüfend eine rauschende Cadenz über die Tasten laufen lassen, als er, wie instinctmäßig, die Nähe des Alten fühlte. Er blickte auf, und da stand richtig die kleine Figur halb verborgen in der offenen Thür, energisch winkend und zur Verstärkung eine eindringliche Grimasse schneidend.

„Entschuldigung für einen Augenblick, Ladies!“ rief Reichardt, sich rasch erhebend, während das Gesicht von der Thür verschwand. Er eilte nach der Vorhalle, an deren hinterm Ausgange ihn der alte Musiker bereits erwartete. „Was giebt’s denn so Nothwendiges,“ fragte er, „daß Sie mich nicht die paar Minuten ungestört lassen können?“

„Der Donner! ich suche Sie schon seit zwei Stunden!“ war die ärgerliche Antwort, „Sie wissen doch wohl, daß Sie von den „Reels und Hornpipes“ noch keinen Begriff haben, und jede Viertelstunde benutzen sollten, um sie in die Finger zu kriegen? Bei der Art Musik hilft Ihnen all’ Ihr Blattspielen nichts; auswendig lernen heißt es, sonst thut es der miserabelste Nigger besser, und wir können uns heute Abend auslachen lassen!“

„Sie sollen nicht ausgelacht werden!“ erwiderte Reichardt mit einem halbverdrießlichen Lächeln, „zeigen Sie mir, was gespielt werden soll, und kümmern Sie sich dann um nichts weiter; aber kommen Sie rasch!“ Er sprang dem Alten, der ihm kopfschüttelnd folgte, voran die Treppe hinauf. Noch waren aber keine zehn Minuten vorüber, als er mit leichten Sprüngen wieder herabgeeilt kam und sich dem Versammlungszimmer zuwandte. Der Raum war leer; auf dem Flügel aber lagen noch die Strohhüte und Handschuhe der jungen Mädchen. Reichardt warf sich auf den Sessel vor das Instrument und ließ die geräuschvolle Einleitung eines modernen Salonstücks ertönen. Nach wenigen Minuten rauschten auch die beiden Verschwundenen wie zwei wilde Vögel in’s Zimmer. Ohne sich aber an sein Spiel zu kehren, rief ihm die Brünette schon von Weitem zu: „Was ist das, Sir? wir haben nach Ihrem Namen im Fremdenbuche gesucht und können keine Spur davon finden!“

Reichardt’s Finger erlahmten – er wußte, daß jetzt seine Rolle zu Ende war. Langsam erhob er sich. „Weshalb suchten Sie nach meinem Namen?“ fragte er und versuchte ein Lächeln, als belustige ihn die Scene, welche nun folgen werde, schon im Voraus.

„Ich wollte ihn geschrieben sehen, um ihn merken zu können – ganz einfach!“ erwiderte sie, während ihr Auge in einer Anspannung auf seinem Gesichte ruhte.

„Und ebenso einfach ist es, daß Sie ihn nicht im Fremdenbuche finden konnten, Miß. Ich bin heute Mittag mit den Musikern gekommen, werde die Ehre haben, Ihnen heute Abend zum Tanz zu geigen, und gehöre somit nicht unter die reiche, fashionable Gesellschaft, welche das Buch enthält!“ Er hatte die Worte leicht unlustig sprechen wollen, fast aber klang es wie Selbstverhöhnung dazwischen durch. Er sah, wie die Trägerin leicht erbleichte, wie dann ein plötzlicher Spott sich um ihre Lippen legte, und wartete nur auf die dazu gehörige Aeußerung, um seine Rolle mit dem nöthigen Effecte zu Ende zu bringen – nach den blauen Augen hinter der Sprecherin hatte er nicht den Muth zu blicken.

„Und wie lange treiben Sie schon das Geschäft?“ fragte die Brünette, deren Blick jetzt seine Erscheinung überflog, als betrachte sie eine Merkwürdigkeit.

„Mache erst heute den Anfang damit, Miß, hoffe aber trotzdem, daß Sie mit mir zufrieden sein werden!“

Sie schüttelte den Kopf, der Spott verschwand aus ihrem Gesichte, und die Hand auf den Flügel legend, trat sie einen raschen Schritt näher. „Sie werden das nicht thun und guten Rath annehmen, Sir,“ sagte sie bestimmt, „Sie werden es schon nicht thun, weil ich mich sonst schämen müßte, Sie als Gentleman behandelt zu haben – bei uns fiedelt nur der Neger zum Tanz, und Sie werden sich nicht selbst in eine Classe mit diesem setzen wollen!“

„Wird doch im Augenblicke nicht anders werden, Miß, so sehr ich auch begreife, wie unangenehm Ihnen jetzt unser Zusammentreffen sein muß,“ sagte er ruhig. „Ein junger Mann. der hier erst seinen Weg beginnt, hat meist nicht die Wahl, wie er seine Kenntnisse verwerthen möchte – von solchen Lagen wissen Sie allerdings nichts. Uebrigens sind wir hier nicht in Tennessee, und ich sehe nichts Entwürdigendes in der Beschäftigung –“

„Aber Sie können in anderer Weise Geld genug mit der Musik verdienen,“ unterbrach sie ihn eifrig, „warum denn gerade zu einem Wege greifen, auf dem man Sie nicht einmal kennen darf?“

„Habe’s nicht ändern können, Miß, und muß jetzt meinen eingegangenen Verpflichtungen nachkommen.“

Ihre Augen ruhten einige Secunden unruhig in den seinigen.

„Sie bleiben also dabei?“ fragte sie. Dann aber drehte sie sich wie im aufwallenden Zorne um und faßte die Hand ihrer Begleiterin. „Komm, Margaret, wir sollen nichts haben als unsere Menagerie, da belügen uns aber wenigstens die Gesichter doch nicht!“ rief sie und zog das junge Mädchen mit sich zur Thür hinaus. Reichardt’s Blicke aber waren bei ihrem Wegdrehen Margaret’s Augen begegnet, die mit einem Ausdrucke von so reger Theilnahme auf ihm ruhten, daß er den Blick warm bis in’s Herz zu fühlen meinte.

[222] Langsam war Reichardt nach dem Zimmer unter dem Dache in Congreßhall hinaufgestiegen, das er mit einem Gefühl der Erleichterung leer fand, und warf sich hier auf den nächsten Stuhl, um sich einen Moment seinen Empfindungen zu überlassen. Vor ihm stand bald die schlanke, volle Harriet Burton mit ihrem dunkeln leuchtenden Blicke, der ihm so viel zu erzählen schien, als er nur darin hätte lesen mögen; bald trat das frische, lachende Gesicht ihrer Begleiterin hervor, und er hätte sich versenken mögen in die Tiefe dieser milden, blauen Augen; nach Kurzem aber sprang er kräftig von seinem Sitze auf. „Alles Unsinn!“ rief er, einen Gang durchs Zimmer machend, „höchstens gut, um mir meinen künftigen Weg selbst noch zu erschweren. – Nur der Neger fiedelt zum Tanze,“ fuhr er stehen bleibend fort, „das ist die richtige Arznei, und ich werde daran denken, wenn ich einmal wieder in Versuchung komme, den Gentleman zu spielen – vorläufig aber sollen sie doch einmal eine Probe von Fiedeln bekommen!“ Er öffnete seinen Violinkasten, suchte ein Notenheft unter dem Pack der daliegenden Musikalien heraus und machte sich fertig, um an die ihm vorgeschriebene Uebung zu gehen. – Das „Supper“ war vorüber, und in dem großen Saale, welcher der kühlen Abendluft nach allen Seiten hin den Zutritt gestattete, promenirten bereits zahlreiche Paare in glänzender Toilette, der Musiker harrend, welche so eben von den Ueberbleibseln des Mahles ihren Hunger stillten. Reichardt hatte das nöthigste Bedürfniß befriedigt und eilte noch einmal nach dem gemeinschaftlichen Zimmer hinauf, um das von ihm gebrauchte, zurückgebliebene Notenheft zu holen, während die Uebrigen sich fertig machten, um ihre Plätze im Saale einzunehmen. Das fehlende Heft war schnell gefunden, und der junge Mann schlug einen Weg durch die Corridore ein, welcher ihm der nächste nach dem Saale zu sein schien, sah aber bald, daß er am Ende eines Ganges stand und die Treppe verfehlt haben müsse. Er wollte sich eben auf dem weichen Teppiche, welcher jeden Schritt unhörbar machte, zurück wenden, als aus dem nächsten nur theilweise geschlossenen Zimmer es ihm wie eine halblaut gehaltene Predigt entgegenklang. Unwillkürlich blieb er bei dem sonderbaren Klange stehen und horchte.

„Es lebt noch etwas in Ihnen, theuere Schwester, was dem Worte, das an Ihr Herz pocht, entgegenstrebt,“ hörte er; „Christus ist wohl in Ihnen, aber die Welt mit ihren Begriffen und Ansichten ist noch stärker in Ihrem Herzen. Wenn erst Christus ganz in Ihnen zum Durchbruch gekommen sein wird, dann werden Sie mit derselben brünstigen Liebe, mit welcher er die Seinigen umfing, den Bruderkuß empfangen und ihn zurückgeben, dann werden Sie in den stillen Stunden, die wir seinem Dienste widmen, an das Eine denken, daß nur die sein eigen sind, welche sich ihm ohne Vorbehalt ergeben, und daß die Liebe, wie sie seine Auserwählten umschlingen soll, aller Heiligung Anfang ist!“

Es ward still im Zimmer, und Reichardt schlich, den Athem an sich haltend, der Thürspalte näher, aber er konnte die Personen der Scene nur theilweise sehen; ein Mann in dem langen schwarzen Rocke der amerikanischen Geistlichen saß dicht vor einem Schaukelstuhle, gegen die darin ruhende Dame gebeugt und deren beide Hände in die seinigen geschlossen. Der Lauscher konnte nur das volle braune Haar des Mannes erblicken, während der Oberkörper von dessen frommer Gefährtin seinem Auge ganz entzogen war. Reichardt wartete noch einige Secunden, konnte aber nichts entdecken, als daß die Hände sich fester in einander zu schließen schienen, und eilte mit einem Kopfschütteln leise nach der verfehlten Treppe. Auch seine Gedanken über die eben behorchte Scene wurden durch das Anstreichen der Instrumente im Saale in den Hintergrund gedrängt, er hatte schnell die offene Thür des Tanzlocals erreicht und schritt dort, ohne sich umzublicken, nach dem erhöhten Platze, welchen seine Collegen bereits eingenommen. Erst von hieraus übersah er die durcheinanderwogende Gesellschaft, und entdeckte bald seine früheren Gesellschafterinnen, strahlend in der luftigen, reichen Balltoilette. Harriet in sichtlich sprudelnder Laune wanderte am Arme eines jungen Mannes durch den Saal, und schien durch ihre Bemerkungen einen ganzen Trupp Anderer, welche dem Paare folgten, in die heiterste Laune zu versetzen; nicht einmal aber hob sich ihr Auge nach dem Orchester, so scharf sich auch Reichardt’s Gestalt im Vordergrunde von den übrigen Musikern abzeichnete.

Margaret dagegen ging an dem Arme eines ältlichen Mannes, welchem sie eifrig zu erzählen schien, und hier glaubte Reichardt zum Oefteren einen halbverdeckten Blick von ihr wie von ihrem Begleiter aufgefangen zu haben.

„Wir geben zuerst ein Stück Unterhaltungsmusik,“ zischelte der kleine Dirigent dem jungen Manne zu, „es ist noch etwas zu früh zum Tanzen, und wir zeigen gleich, daß wir auch etwas Ordentliches leisten können; so etwas hilft zur Recommandation.

Nr. 4, das Solo, das wir gestern probirt haben.“

Reichardt nickte nur und blätterte sein Notenheft auf; er wußte, der Alte wollte mit seinem Spiele Staat machen, kaum hätte dieser ihm aber im Augenblicke einen größern Gefallen erweisen können. Nr. 4 war nichts Anderes als Ernst’s „Elegie“, welche, aus dem Nachlasse eines verstorbenen Geigers in die jetzigen Hände gelangt, hier todt gelegen hatte, von Reichardt aber beim Durchstöbern des Musikvorraths schnell genug aufgefunden worden war. Es war nur Quartett-Begleitung dazu, aber Reichardt’s großer schöner Ton hatte trotzdem den Alten schnell den Effect, welchen die Pièce hervorbringen müsse, erkennen lassen.

Die Einleitung begann, ging aber in dem Lachen und Schwatzen der promenirenden Gesellschaft unter, und erst als die Töne des Solo’s, mit jeder Note sich mehr heraushebend, in wahrer Großartigkeit des getragenen Spiels sich geltend machten, blieben einzelne Paare stehen und begannen aufmerksam zu horchen; bald indessen ward der Zuhörerkreis größer, die lautesten Lacher wurden zur Ruhe gewinkt, und in Kurzem hatte die Macht des Vortrags eine volle Stille geschaffen. Reichardt warf einen Blick über seine Noten hinaus und sah ringsum die Augen auf sich geheftet; eine tiefe, wohlthuende Genugthuung zog in seinem Herzen auf; mit einer Leichtigkeit, die er früher kaum gekannt, führte er die bekannten Passagen durch, brachte er den Charakter der Composition zur vollen, ergreifenden Wirkung, und als er endlich den letzten Halt hatte verklingen lassen, als er unter dem losbrechenden Applaus aufsah, traf sein Blick Margaret’s Auge, die noch wie in voller Selbstvergessenheit zu ihm aufsah, und ihm wurde es plötzlich, als wisse er jetzt, warum ihm das Klagen seiner Violine selbst so viel Genugthuung gegeben. Hinter ihm aber rieb sich der Alte befriedigt die Hände und schickte sich an, das Orchester zu verlassen, „um die Gelegenheit zur Recommandation warm zu benutzen“, wie er dem jungen Manne in die Ohren zischelte. Dieser trat, um ihm den Weg frei zu machen, hinab in den Saal, wo bereits die Promenade wieder im vollen Gange war; noch hatte er aber hier, die Augen in das Gewühl gerichtet, keine Minute gestanden, als dicht an seiner Seite zwei Damen vorüberrauschten und er sich zugleich ein Stück Papier in die Hand gedrückt fühlte. Nur im Fluge konnte er Harriet’s Gesicht erkennen, das aber, dem lebhaften Gespräche hingegeben, von einem Gedanken an ihn am wenigsten zu wissen schien. Reichardt trat auf das Orchester zurück und entfaltete den Zettel. Er enthielt nur zwei mit Bleistift hingeworfene Zeilen: „Gut, sehr gut! aber was hilft’s? Bei der ersten Quadrille ist der Nigger dennoch da!“

Reichardt biß sich auf die Lippen, seine warme Stimmung verschwand wie unter einem Sturzbade. Sein Blick flog durch den Saal, während sich das Papier in seiner Hand zerknittert zusammenballte; dort stand sie, lachend und conversirend, als habe sie von seiner Existenz keine Ahnung – er hätte sie gern hassen mögen, wäre sie nur in dieser Balltracht, die der Geschmack selbst arrangirt zu haben schien, nicht so sinnberückend schön gewesen. Aber er behielt keine Zeit zu langem Grübeln, ein lautes Klatschen wurde hörbar, der kleine Dirigent kam in raschem Schritte auf das Orchester los, und die Paare flogen durcheinander, um sich zur Quadrille aufzustellen. Reichardt griff nach seiner Geige, entschlossen, sich durch keinen unnützen Gedanken mehr stören zu lassen, und mit dem Zeichen zum Beginn ließ er den aufgelegten „Reel“ [223] über die Saiten laufen, als gälte es, ein Bravourstück zu spielen; neben ihm stand der alte Musiker und rief die Touren aus, unten rauschten die Paare durcheinander – der Anfang, den er fast gefürchtet, war überwunden, und nun fühlte sich Reichardt leichter. Mochten ihn jetzt die Menschen für einen gewöhnlichen Fiedler nehmen, er konnte es nicht ändern, er verdiente sein Brod damit, und eine andere Zeit für ihn mußte auch einmal kommen. Trotzdem aber hätte er jetzt das Auge nicht über die Tanzenden werfen mögen; immer war es ihm, als müsse er demselben halb zornigen, halb spöttischen Blicke, mit welchem Harriet am Nachmittage von ihm gegangen war, oder dem mitleidigen Auge Margarets begegnen, und er konnte jetzt Beides nicht brauchen. Als die Quadrille zu Ende war, blieb er, in den Noten blätternd, hinter seinem Pulte, und erst als die neue Aufstellung erfolgte, sandte er einen raschen Blick über die antretenden Paare. Von den beiden Mädchen aber war hier nichts zu entdecken, und auch die übrige Gesellschaft zeigte keine Spur von ihnen – im Nu würde er schon ihre Kleider erkannt haben. Die zweite Quadrille ging zu Ende, auch die dritte, und eine allgemeine Pause trat ein, ohne daß die Vermißten sich gezeigt hätten, und fast wußte Reichardt nicht, thue ihm ihr Verschwinden leid, oder solle er sich darüber freuen.

Die Musiker verließen für die Dauer der Pause das Orchester, und Reichardt schlug den Weg nach der Piazza ein. Kaum ließen sich hier in der matten Beleuchtung die einzelnen Gruppen von Gästen, wie sie zerstreut zwischen den üppigen Schlingpflanzen saßen, genau erkennen; der junge Mann warf sich auf einen einsamen Stuhl und gab seinen Kopf der heißen Nachtluft Preis. Er dachte an sein Solo, mit welchem er den Abend eingeleitet, an den Beifall, welcher ihm geworden, und wie sich nachher dennoch Niemand auch nur mit einem Blicke um ihn gekümmert. So bitter ihn auch anfänglich Harriet’s Zettel berührt, so hatte doch nur herbe Wahrheit darin gelegen. Zu einem Herzen hatte er wohl angeklungen – Margaret’s selbstvergessener Blick beim Schlusse seines Spiels stand vor ihm, und er hätte sich immer und immer diese Augen vor die Seele rufen mögen.

Da fühlte er plötzlich einen leichten Druck auf seiner Schulter. „Geben Sie mir für einen Augenblick Ihren Arm, Mr. Unaussprechlich!“ klang es halblaut in seine Ohren, und aufspringend sah er in Harriet’s mattbeleuchtetes Gesicht. „Ohne Aufsehen – kommen Sie!“ fuhr sie fort, „ich möchte noch zwei Worte mit Ihnen reden!“ Sie schlug die Richtung nach dem Ende der Piazza ein, das von Besuchern völlig leer war, und blieb dort hinter einer der üppig umlaubten Säulen stehen.

„Wollen Sie mir wohl sagen, Sir, wie Ihnen Ihr Geschäft jetzt behagt?“ begann sie, und Reichardt wußte nicht, war es Spott oder Laune, was ihm aus ihrem Tone entgegenklang.

„Warum fragen Sie mich das, Miß?“ erwiderte er; „glauben Sie, eine mit Selbstüberwindung übernommene Beschäftigung wird leichter unter solchen Bemerkungen?“

„O – und Sie meinen, ich habe Sie nur ausgesucht, um solche Bemerkungen zu machen? stelle mich mit Ihnen im Dunkeln hierher, nur um meiner Laune willen?“

„Ich habe keine Ahnung, Miß Harriet,“ sagte er, eigenthümlich von ihrem Tone berührt; „was verlangen Sie von mir? Sie haben heute Abend nicht einen einzigen Blick und nur einen bittern Stachel für mich gehabt –“

„Und würde nichts anderes haben können, Sir, sollte ich mich auch in’s eigene Fleisch treffen, so lange Sie nicht als Gentleman vor mir stehen!“ rief sie mit unterdrückter Stimme. „Ich habe eine andere Aussicht für Sie – aber setzen Sie keinen Fuß wieder dahin, wo zum Tanz gespielt wird, ich habe nicht im Saale bleiben mögen, so lange ich Sie dort oben sah – versprechen Sie mir wegzubleiben und Gentleman zu sein!“

Sie war ihm wie unbewußt näher getreten, er fühlte seinen Finger leicht von ihrer Hand gefaßt und führte diese in rascher Aufwallung an seine Lippen. „Wäre ich denn nicht selbst zu glücklich, Ihnen folgen zu dürfen, Miß Harriet?“ sagte er, die Hand festhaltend, die einen leichten Versuch sich zu befreien machte, „kann ich Ihnen denn aber von den Verhältnissen sprechen, welchen der Neuling hier im Lande unterliegt, so daß er zu dem Nächsten, Besten greifen muß, weil ihm jeder andere Weg zu einer Existenz verschlossen ist –?

„Sie sollen Ihre volle Existenz haben, vertrauen Sie mir!“ unterbrach sie ihn eifrig. „Sie gehen mit uns nach Tennessee – aber ich kann nichts thun, wenn Sie noch einen Strich zum Tanz spielen. Sind Sie nun muthig genug, einen Entschluß zu fassen, selbst wenn er gewagt wäre?“

Er fühlte einen Druck ihrer Hand, er sah ihre leuchtenden Augen gespannt auf sich ruhen, und eine eigenthümliche Erregung begann sich seiner zu bemächtigen. „Ich wage es, ich werde gehorchen,“ sagte er, „und sollte sich auch selbst Ihr guter Wille getäuscht haben –“

„So ist es recht, und jetzt kommen Sie!“ erwiderte sie mit hell auflebendem Gesichte; „tragen Sie Ihren Namen in’s Fremdenbuch ein, trennen Sie sich von den Menschen, mit denen Sie kamen, und merken Sie: Alles, was Sie bis jetzt gethan, war nur eine tolle Laune!“ Sie that einen Schritt vorwärts, strauchelte aber über eins der Schlinggewächse und ward von Reichardt’s Arme aufgefangen. Sie wollte sich rasch aufrichten, aber er hielt sie fest und bog sich nach ihr nieder. „Trotz aller Worte habe ich noch kein Pfand Ihrer Ehrlichkeit, Miß,“ sagte er, „aber ich nehme nur ein freiwillig gegebenes!“ Sie sah mit einem vollen Lächeln zu ihm auf und heiß legten sich seine Lippen zwei, drei Mal auf die ihren. Dann aber schnellte sie geschmeidig aus seiner Umschlingung in die Höhe. „Jetzt weg von hier,“ sagte sie seinen Arm fassend, „und wenn wir uns wiedersehen, nicht noch einmal im Dunkeln!“


Da, wo die große Straße von Nashville nach Memphis die erste scharfe Ecke macht, liegt eins der schmucken Landstädtchen, wie sie sich im Innern der südlichen Staaten so oft finden und dem Reisenden mit ihren breiten Verandahs und geschmackvollen Portico’s, ihren von breitästigen Akazien beschatteten Straßen und ihren hellen, in elegantem Style gebauten Landhäusern, die sich durch dunkele Landpartien zum Kranze verbunden um den Ort ziehen, wie lebendige Bilder des Comforts und Ueberflusses entgegen treten.

Es war ein heller Septemberabend, und eine Lust, so weich und mild, wie sie nördlichere Gegenden niemals kennen lernen, ruhte auf der Landschaft, als Reichardt, auf dem Verdecke der Postkutsche sitzend, dem Orte entgegenrollte. In sanfter Neigung führte die Straße von der letzten Anhöhe hinab und gestattete dem Reisenden den vollen Blick über das ansprechende Bild, welches Stadt und Umgebung in der abendlichen Beleuchtung boten; trotzdem aber schien es die oft erprobte Wirkung auf den jungen Mann zu verfehlen; in seinen Augen, welche jede Einzelnheit vor sich musterten, drückte sich eher eine stille Besorgniß und leise Spannung, als ein Gefühl der Befriedigung aus, und erst als der Wagen in die Hauptstraße einbog und vor das stattliche Hotel rollte, schien er seine inneren Regungen unter einem gleichgültigen Aeußern zu verbergen.

Reichardt wußte kaum selbst, was ihn hierhergebracht, war es nur der Einfluß einer tollen Mädchenlaune, welchem er unterlegen, oder trug sein eigenes leichtes Blut und der Wunsch, sich seiner bisherigen Beschäftigung zu entziehen, die Hauptschuld – die Tage, welche er zwischen heute und seinem ersten Auftreten in Saratoga verlebt, lagen wie ein halber Traum hinter ihm.

Der Wagen entleerte sich seiner Passagiere, welche hier ihr Abendbrod einzunehmen hatten; Reichardt’s Gepäck aber war das einzige, welches abgeladen ward, und ein vergnügtes Grinsen zeigte sich in dem Gesichte des schwarzen Aufwärters, als dieser den glänzenden deutschen Violinkasten in Empfang nahm. Wie ein neugieriges Kind betrachtete er den Bau, das Schloß und die Beschläge und fragte dann mit einer Mischung von Verständniß und Schüchternheit, die sich in dem plumpen schwarzen Gesichte ganz wundersam ausnahm: „Feines Instrument, Sir?“

Das war also wahrscheinlich einer der „zum Tanze fiedelnden Niggers“, ein früherer College von Reichardt, nach Harriet’s Auffassung; trotz des einigermaßen unbequemen Gedankens aber fühlte sich der Angekommene von dem gutmüthigen Gesichte und dem sichtlichen musikalischen Interesse des Schwarzen wohlthuend berührt er konnte hier einen Anknüpfungspunkt für sich finden, der es ihm ermöglichte, die nöthigsten Erkundigungen einzuziehen, ohne sich der Neugierde der Menschen im Hotel preiszugeben. Er nickte dem Fragenden freundlich zu und wandte sich nach der „Office“, um sich ein Zimmer anweisen zu lassen; es drängte ihn, ehe er einen weitern Schritt that, zuerst vollständig mit sich selbst klar zu werden.

Diensteifrig war ihm der Neger nach dem bezeichneten Zimmer [224] vorangegangen, setzte dort Koffer und Violinkasten behutsam nieder und blieb dann, die Hände reibend, an der Thür stehen. Reichardt bemerkte ihn erst wieder, als er sich seines Rockes und Halstuches entledigt hatte. „Noch etwas?“ fragte er, in das zu einer Art scheuer Freundlichkeit verzogene Gesicht des Wartenden blickend.

„Würde es Ihnen viel Mühe machen, Master, wenn ich einmal die Violine sehen könnte?“ war die halbverlegene Antwort.

„Werdet nicht viel daran sehen – wie heißt Ihr?“

„Bob, Sir!“

„Well, Bob,“ erwiderte Reichardt, den Kasten öffnend, „die feinsten Instrumente sehen oft am schäbigsten aus, man muß sie hören! – Ihr spielt wohl selbst?“ fuhr er fort, als der Schwarze mit einer Art Andacht in das mit rothem Sammt gefütterte Innere des Kastens blickte.

„Hab’s früher gethan, Sir, bei Tanzpartien und so – Master wollte es aber nicht mehr leiden, ist ein Methodistenprediger, wissen Sie, und hat mich hierher in’s Hotel vermiethet, wo es keine Zeit dafür giebt; aber,“ fuhr er mit einem halbängstlichen Grinsen nach der Thür blickend fort, „die Lust kommt mir noch immer in die Finger, wenn ich was Apartes von einer Geige sehe!“

„Well, Bob,“ lächelte Reichardt, „Ihr sollt mir jedenfalls zeigen, was Ihr könnt. Ich muß einige Tage hier bleiben, und so wird sich die Zeit dazu schon finden. Jetzt aber mögt Ihr mir gleich eine kurze Auskunft geben. Kennt Ihr Mr. Burton?“

„Ja, warum soll ich Mr. Burton nicht kennen?“ war die Antwort. „Er wohnt oben am Hügel. Die ganze Familie ist aber im Osten, ich habe noch heute Morgen mit einem von den Dienstboten gesprochen!“

„Also noch nicht zurück!“ nickte Reichardt. „Kennt Ihr auch Mr. Ellis?“

„Den episcopalischen Prediger? Natürlich! Er wohnt das nächste Haus von seiner Kirche.“

„Und habt Ihr wohl eine Idee, ob die beiden Familien nahe mit einander befreundet sind?“

Der Schwarze schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß nur,“ erwiderte er, „daß Miß Harriet Burton in die Episcopalkirche geht und Mrs. Burton in die methodistische, zu meinem Master, Mr. Curry.“

Reichardt nickte gedankenvoll. „Ich danke vorläufig, Bob,“ sagte er, „es bleibt dabei wegen der Violine!“ Als aber der Neger das Zimmer verlassen, warf er sich auf das Bett, die Hände über dem Kopfe faltend. Er wollte seine Gedanken ordnen, aber bald verfolgte er nur die Bilder der letzten Tage, wie sie an seinem Geiste vorüberzogen.

[238] Als Harriet Reichardt auf der Piazza von Congreßhall verlassen, hatte er wie in einem halben Rausche die nöthigen Schritte für seine Umwandlung zum Gentleman gethan. Schwer war ihm dies aber geworden, als er, aus der „Office“ tretend, den kleinen Dirigenten mit rothem Gesichte auf sich zukommen sah. „Der Donner, wo stecken Sie denn? es geht los! rasch!“ – Reichardt mochte den treuherzigen Alten nicht mit der Lüge narren, daß er nur „aus einer tollen Laune“ mit hierhergegangen sei. Er sagte ihm, daß er hier plötzlich Bekannte gefunden, die ihm helfen wollten, aber sein ferneres Zumtanzespielen nicht dulden möchten, und daß die Musiker sich jetzt ohne ihn behelfen müßten. Das erschrockene Gesicht des Mannes, der so etwas für „absolut unmöglich“ erklärte, wenn er nicht halb ruinirt sein solle, that ihm fast weh – zum Glück aber erschien einer der Aufwärter, welcher „den Gentleman nach seinem Zimmer führen wollte“, und so hatte Reichardt kurzen Abschied genommen und den Alten mit aufgerissenen Augen und halboffenem Munde stehen lassen.

Als er aber in dem ihm angewiesenen Zimmer eine Viertelstunde lang auf- und abgeschritten und das erregte Blut zur Ruhe gekommen war, hatten sich unangenehm nüchterne Betrachtungen eingestellt, denen er selbst dann kaum begegnen konnte, wenn er sich auf’s Neue Harriet’s ganzes Wesen, dessen eigenthümliche Energie ihn zu seinem jetzigen Entschlusse getrieben, wieder vor die Augen stellte. Sie hatte ihm die Aussicht zu einer Existenz in Tennessee eröffnet – wo aber sollte er das Geld zu der Reise hernehmen? Das war der Gedanke, der jeden andern zu verdrängen begann. Was er besaß, reichte wohl nicht zum dritten Theile hin, und sie, wenn sie ihn nach seinem Aeußern beurtheilt hatte, konnte kaum vermuthen, daß er so arm sei, als er wirklich war.

Er begriff fast nicht, wie er seine eigenen Verhältnisse so hatte vergessen können, und erst als Harriet’s leuchtender Blick und der warme Ton, mit welchem sie ihm entgegengetreten war, vor ihm wieder auftauchten, fand er eine Erklärung. „Abwarten!“ sagte er vor sich hin, „abwarten, bis man Näheres erfährt; im schlimmsten Falle ist nur ein augenblicklicher Verdienst verloren!“ Er entkleidete sich halb, warf sich auf das Bett und ließ die letzten Scenen des Abends noch einmal an sich vorüberziehen. Er konnte die Aufregung, welche ihn überkommen gehabt, verstehen. Dennoch trieb jetzt die Erinnerung seinen Puls nicht um einen Schlag rascher, und als er endlich einschlief, waren es Margaret’s blaue Augen, die zuletzt noch vor ihm standen, er wußte nicht, wann, noch wie sie gekommen.

Als er am andern Morgen zeitig nach dem Frühstück hinabging, nahm er sich vor, in möglichster Schnelle die Entscheidung seines nächsten Schicksals herbeizuführen. Er war nicht in der Lage, lange den Badegast zu spielen. Als er aber die Office des Hotels betrat, reichte ihm der Buchhalter einen sorgfältig geschlossenen Brief über das Schreibepult. Reichardt las etwas überrascht seine correcte Adresse in feinen Schriftzügen, und mit einer halben Ahnung von der Person des Absenders zog er sich nach einem Fenster zurück, dort das Couvert öffnend. Eine Banknote von hundert Dollars fiel in seine Hand, als er die Zuschrift entfaltete, und mit sonderbar gemischten Gefühlen las er:
„Max Reichardt, Esq.

Jetzt ist es doch wenigstens möglich, Ihnen einige Zeilen zugehen zu lassen. Sie sehen, ich kann bereits Ihren Namen richtig schreiben und werde ihn auch bald aussprechen lernen. Margaret hat mir versprochen, ihn mir jeden Tag zwei Dutzend Mal vorzusagen. Eitel brauchen Sie indessen nicht darauf zu werden, denn es ist nur die Nothwendigkeit, welche die Maßregel veranlaßt. Da es verabredet ist, daß ich mit Margaret und ihrem Vater einen längeren Ausflug unternehme, um dann in New-York mit meinem Vater, der sich bereits dort befindet, zusammenzutreffen, so werden wir uns in der ersten Zeit nicht wiedersehen, und da Ihnen das langweilige Saratoga jetzt kaum viel bieten kann, so nehme ich jetzt Ihr Versprechen, meinem Rathe zu folgen, in Anspruch. Untenstehend finden Sie die genaue Bezeichnung unserer Tennessee-Heimath, welche Sie auch zu der Ihrigen machen sollen, mit der Angabe des Weges, den Sie am besten wählen, und da ich mir denken kann, daß Ihr heutiges Nigger-Debut nicht stattgefunden hätte, wenn Sie Ueberfluß an Mitteln besaßen, so lege ich Ihnen das Reisegeld bei, das ich mir, sobald Ihre Existenz gesichert ist, an der betreffenden Stelle zurückerstatten lassen werde. Sie nehmen also nichts von mir geliehen, sondern ich mache den Vorschuß für Leute, die mir dadurch auf’s Aeußerste verbunden sein werden, und Ihr Zartgefühl oder Stolz hat wenigstens nichts mit mir zu thun.

Sobald Sie in unserm Städtchen ankommen, fragen Sie nach Rev. Mr. Ellis, dem Prediger der Episkopalkirche. Unsere schöne, neue Orgel ist bereits zwei Monate fertig, noch immer aber ist kein Organist da, und Jeder pfuscht darauf herum, der ein Bischen Piano klimpern kann. Ebenso ist es ein Jammer um unser Chor, und wenn die Methodisten nicht noch um die Hälfte schlechter sängen, hätten wir uns schon längst schämen müssen. Ich habe soeben an Mr. Ellis geschrieben, und da Sie sich der Ordnung Ihrer Angelegenheiten halber doch wohl noch einen oder zwei Tage in New-York auszuhalten haben, so werden Sie jedenfalls erst nach Ankunft meines Briefes bei ihm eintreffen. Wegen Ihres Gehalts, das von der Gemeinde bestritten werden muß, erwähnen Sie nichts, das macht sich Alles besser, wenn ich selbst wieder da [239] bin, aber beginnen Sie gleich und zeigen Sie den Menschen, was Sie können.

Jetzt aber sind mir die Finger lahm, und die Augen fallen mir zu. Gehen Sie vorwärts; zur Ermuthigung will ich Ihnen noch sagen, daß es bei uns keine Krokodile giebt und die übrigen zweibeinigen reißenden Thiere nur beißen, wenn sie böse gemacht werden; von Schlangen aber kommt in unserer Stadt nur eine einzige gefährliche Art vor, von deren Naturgeschichte ich Ihnen das Weitere mündlich mittheilen werde.

A revoir im sonnigen, schönen Süden!
Ihre Harriet Burton.“ 

Reichardt wandte den Blick durch’s Fenster, und zehnerlei verschiedene Gedanken durchkreuzten seine Seele. Was war die eigentliche Ursache, welche das reiche, schöne Mädchen ein so reges Interesse an ihm nehmen ließ? War es nur die südliche Lebendigkeit, verbunden mit einem Gefühle, das seine augenblickliche Lage würdigte und ihn daraus befreien wollte? – oder war wirklich die Organistennoth so groß, daß sie bei Erkennung seiner Verhältnisse sofort auf ihn speculirt hatte? Aber Orgelspielen! – Wenn er auch mit dem Pedal fertig werden konnte, was verstand er von Registratur, von dem Gottesdienst der Episkopalen? – Er begann von Neuem den Brief zu durchlesen – er hätte das Mädchen lieben können, wenn er allen seinen Erfahrungen nach überhaupt nur mehr als einer augenblicklichen, schnell vorübergehenden Empfindung fähig gewesen wäre – wie schonend, trotz ihrer Sarkasmen, bot sie ihm das Geld, daß von einer Zurückweisung garnicht die Rede sein konnte; mit dem Gedanken an die Reise, an eine geachtete Stellung im „sonnigen, schönen Süden“ aber stieg eine Empfindung von Glück in ihm auf, die Alles, was noch als halber Zweifel, als unklares Verhältniß in ihm stand, durchleuchtete und verscheuchte.

Schon am Nachmittage war er nach New-York aufgebrochen, hatte sich eine der kurzgefaßten „Anweisungen zum Orgelspiel“ – die ganze Wissenschaft in nuce, wie in dergleichen Lehrbüchern die deutsche Gründlichkeit es der amerikanischen Praxis nie nachthun wird – nebst einem „Prayer-Book“ der Episkopalen mit der ausführlichen Vorschrift für den Gottesdienst gekauft – hatte den Sonnabend über studirt und wiederholt, bis er das Nöthigste inne zu haben glaubte, und hatte am Sonntag früh, Nachmittags und Abends eine Episkopalkirche besucht. Am Nachmittag hatte ihm eine Banknote an den Kirchendiener die Erlaubniß ausgewirkt, eine Stunde nach beendigtem Gottesdienste üben zu dürfen, und am Abend gestattete ihm der Organist, dem er seine Aussichten mitgetheilt, den Chor zu begleiten. Reichardt fühlte zwar aller Orten den Mangel der nöthigen Routine, aber er wußte jetzt, daß er schnell im Stande sein werde, seinen Posten auszufüllen, und schon am Montag Nachmittag führte ihn der Dampfer „Northerner“ den südlichen Gestaden zu.

Die kurze Seefahrt in der eleganten Cajüte bis Charleston, der Flug auf der Eisenbahn durch Urwald, malerische Gebirgspartien und mit reichen Plantagen besetzte Gegenden hatten dem jungen Deutschen so viel Neues geboten, daß er sich wenig mehr Gedanken als über die allernächste Gegenwart gemacht hatte. Als ihn aber am Tennesseeflusse die Postkutsche aufgenommen und der Schneckengang derselben sich ohne Unterbrechung durch eintönigen, wilden Wald fortzog; als er sich tagelang als den einzigen Passagier fand, da begannen einzelne Bedenken, die schon in Saratoga dunkel in seiner Seele gelegen, sich in den Vordergrund zu drängen und ihm in seiner Einsamkeit unangenehme Gesellschaft zu leisten. Er ging, um eine Kirchenstelle zu übernehmen, und hatte als Empfehlung nichts als das Wort eines jungen muthwilligen Mädchens, das sich ihm bald weich zugeneigt, bald ihn verspottet. War das Ganze vielleicht nur ein toller Streich, um ihn der Tanzmusik, die sie in seiner Person beleidigt, zu entreißen? Er hatte allerdings das Reisegeld und noch darüber erhalten; aber was sollte er im Süden, wo die „Nigger“ das Geigen zu ihrer Profession gemacht hatten, wo sich für seine übrigen Kenntnisse sicher noch viel weniger als in New-York eine Gelegenheit zur Verwerthung fand, anfangen, wenn die Hoffnung, auf welche er sich jetzt stützte, fehl schlug? Er hatte ja dann nicht einmal die Mittel wieder zurückzukehren! Wohl scheuchte zu einzelnen Zeilen der frische Muth der Jugend seine Besorgnisse hinweg und predigte ihm, daß dem Unternehmendsten das Glück am ersten winkt – je näher er aber endlich seinem Bestimmungsorte gekommen, je bestimmter hatte sich die Sorge vor der nahen Entscheidung in ihm geltend gemacht, und als er endlich vom Verdeck der Postkutsche das im Abendschein glänzende Städtchen vor sich gesehen, war es eher das Gefühl eines stillen Bangens, seinen Leichtsinn bestraft zu sehen, als die Genugthuung bei Erreichung eines Ziels gewesen, welches sich seiner bemächtigt.

Es war zehn Uhr am andern Morgen, als Reichardt in sauberster Kleidung die Wohnung des Rev. Mr. Ellis aufsuchte. Die aus gebrannten Ziegeln erbaute Kirche daneben, welche in goldenen Lettern die Benennung der Gemeinde trug, sah zwar nur wie eine kleine Capelle aus, die Ordnung und Sauberkeit in der ganzen Erscheinung aber heimelte den Deutschen in einer Weise an, daß er eine lange Weile den Blick darauf geheftet hielt und sich die Stellung der Orgel darin zu denken suchte, ehe er den Klingelgriff an dem Predigerhause zog. Eine Schwarze wies ihn in den einfach eingerichteten Parlor, und Reichardt hatte kaum den Blick auf einzelne der umher hängenden Bilder geworfen, als auch der Hausherr, eine schlanke Gestalt in mittleren Jahren mit schlicht gescheiteltem, blondem Haare, eintrat. Reichardt beeilte sich, ihm entgegenzugehen.

„Ich bin an Sie gewiesen, Mr. Ellis,“ begann er, als wisse er kaum recht, wie zu beginnen, „um mich Ihnen für die vacante Organistenstelle an Ihrer Kirche zu empfehlen. Mein Name ist Reichardt!“

Der Geistliche hob den Kopf und schien eine Minute lang jede Einzelnheit in der Erscheinung des jungen Mannes zu mustern. Dann griff er langsam nach einem Stuhle und sagte ernst: „Setzen Sie sich, Sir!“

„Ich habe allerdings eine Notiz über Ihre Reise hierher erhalten,“ fuhr der Prediger fort, als Beide sich niedergelassen hatten und Reichardt sichtlich eines weitern Wortes harrte, „ich selbst aber habe kaum die Befugniß, eine bestimmte Hoffnung zu geben, noch sehe ich überhaupt klar in der Angelegenheit. Sie kommen von Saratoga, wie ich höre – waren Sie längere Zeit dort?“

„Einen Tag, Sir, und hielt mich auch dort nur einiger Geschäfte halber auf.“

„Dann sind Sie also mit der Familie Burton von früher her bekannt?“

„Ich bin erst seit kaum vier Wochen im Lande, Sir, kenne Niemand, und nur mein Pianospiel, wovon Miß Burton zufällig Zeuge war, machte diese auf mich aufmerksam. Ich fand noch keine Gelegenheit, seit ich gelandet bin, mich einem bestimmten Berufe zuzuwenden, und so nahm ich gern die Aufforderung an, mich für die hiesige Organistenstelle zu melden.“ Reichardt begann leichter zu fühlen, als ihm diese einfache Darstellung, die doch kaum von der Wahrheit abwich, gelungen war; der Geistliche aber schüttelte leicht den Kopf.

„Wenn Sie nicht noch irgend andere Pläne hier verfolgen wollen, so weiß ich, selbst im glücklichsten Falle, nicht, ob der Erfolg die weite Reise lohnen kann,“ sagte er nach einer kurzen Pause. „Die Stelle muß doch nur als eine Nebenbeschäftigung betrachtet werden und kann allein ihren Mann nicht nähren. Für Musikunterricht ist auch nur wenig Aussicht hier. Junge Ladies, welche die methodistische Akademie, wo ein angestellter Musiklehrer ist, nicht besuchen, werden meist im Osten erzogen –“ er hielt, wie eine Aufklärung erwartend, inne, und Reichardt fühlte, daß er jetzt seine Armuth am wenigsten zeigen dürfe, wenn er sich die nöthige Beachtung sichern wollte. War hier wirklich keine Existenz für ihn zu erringen, so war zum Zurücktritt noch immer nach Harriet’s Rückkehr Zeit, und wenigstens wollte er bis dahin Gelegenheit schaffen, zu zeigen, was er konnte.

„Ich frage im Augenblick nicht nach der Höhe eines Gehaltes,“ erwiderte er ruhig aufsehend, „es sollte mich aber freuen, in musikalischer Beziehung etwas zur Hebung des Gottesdienstes beitragen zu können. Miß Burton sprach von dem Chor, welcher der Nachhülfe und Besserung bedürfe, und ich gedachte einen vollen Lehrgang mit den Sängern durchzunehmen, der, wenn sich nur die nöthigste Anlage unter ihnen vorfindet, sie mit der Zeit den besten New-Horker Chören gleichstellen würde.“

Der Geistliche nickte nachdenklich. „Es könnte das für Niemand angenehmer sein, als für mich,“ erwiderte er, „nur sehe ich in einzelnen Dingen noch nicht ganz klar – es ist ein tolles Mädchen! Well, Sir,“ setzte er hinzu, als wolle er das Gespräch zu, einem Schlusse bringen, „auf ein oder zwei Tage wird es nicht [240] ankommen, ich dürfte überdies über Ihr Engagement nicht allein bestimmen. Bis dahin aber hoffe ich, Ihnen einen bestimmten Bescheid geben zu können.“

Reichardt erhob sich zögernd – er hatte wenigstens auf eine Einladung gerechnet, bei Gelegenheit seine Fähigkeiten zu zeigen, aber er unterdrückte jedes Zeichen seiner Täuschung. „Sie haben zu bestimmen, Sir!“ erwiderte er, „würden Sie mir aber wohl gestatten, die Orgel einmal zu probiren? Sie ist neu und gut, wie ich höre, und ich habe mich schon während der Reise auf den ersten vollen Griff gefreut!“

Der Prediger setzte, wie uneins mit sich selbst, den Stuhl bei Seite, indessen schien bald eine Art Neugierde seine Bedenklichkeiten zu überwiegen. „Wenn Ihnen etwas daran liegt, werde ich den Kirchendiener rufen,“ sagte er, sich langsam nach der Thür wendend. Nach Kurzem aber schon sah sich Reichardt durch eine Handbewegung eingeladen, ihm zu folgen.

Man sah es dem Innern der kleinen Kirche an, daß die Crème der städtischen Bevölkerung sie in Besitz hatte. Die sämmtlichen Stühle waren mit reichem Polster versehen, weiche Teppiche bedeckten überall den Boden, und Holzwerk wie Wände glänzten in geschmackvollem Oelfarben-Anstrich. Das reichverzierte Orgelgehäuse erschien dem Deutschen fast zu klein für die Zahl der Register, welche es zeigte. Als er aber den mitgekommenen Schwarzen die Bälge anziehen hörte und, um sich einen Begriff von der Gesammtkraft zu verschaffen, das ganze Werk öffnete und voll in die Tasten hineingriff, brauste ihm eine Tonfülle entgegen, die er in allen Nerven zu fühlen meinte und die er niemals in diesem Raume vermuthet. Er setzte sich fester auf die Bank; er begann das Werk in voller Lust durchzuarbeiten; waren doch schon auf dem Piano freie Phantasien im Kirchenstyle seine Lieblingsübung gewesen. Vergaßen auch jetzt die Füße, noch nicht an den Dienst gewöhnt, einmal das Pedal, so hatten sie doch bald, von doppelter Aufmerksamkeit überwacht, den Ausfall zu ersetzen, und Reichardt fühlte, daß es nur weniger Uebung für ihn bedürfen werde, um auch hierin die nöthige Fertigkeit zu erlangen. Als er aber dem ersten Drange, welcher ihn überkommen, genügt, änderte er die Registratur, und in eins der weichen Mendelssohn’schen Lieder übergehend, gab er den sanften Stimmen ihr Recht. Selten noch glaubte der Spielende so viel Süße und Klarheit getroffen zu haben, er begann das Thema mit seinen eigenen Phantasien zu umschlingen, sich ganz dem Zauber hingebend, welchen diese wundersam milde Principalstimme auf ihn übte; er fühlte, daß er besser spielte, als er sich nur selbst zugetraut, und hatte bald, sich in den eigenen Genuß versenkend, alles Uebrige um sich her vergessen. Erst als er nach einem Accordengange, der immer dem Ende zuzustreben und ihm doch stets wieder auszuweichen schien, geschlossen hatte und mit einem tiefen Athemzuge aufsah, bemerkte er, daß er sich in größerer Gesellschaft befand, als er gewußt. Die halbe Barriere des Chors zu seiner Seite war mit Männern, ihrem Aeußern nach zu der besten Classe der Bewohner gehörig, besetzt, welche aufmerksam seinem Spiele gehorcht zu haben schienen. „Fahren Sie fort!“ rief Einer derselben kopfnickend, als Reichardt mit einiger Ueberraschung seinen Sitz verlassen wollte, „oder können Sie nicht etwas spielen, was wir kennen – etwas wie old hundred oder so?“

[253] Reichardt erwiderte auf diese Aufforderung in leichter Verlegenheit: „Ich spiele wohl Alles, wenn ich die Noten dazu habe!“

„O, Sie werden das kennen!“ rief der frühere Redner und legte zugleich sein Gesicht in ernste Falten, mit halber krähender Stimme die erste Strophe eines Kirchenliedes beginnend. Reichardt erkannte schon beim zweiten Takt einen alten Choral Luther’s und auf’s Neue alle starken Stimmen ziehend, ließ er in vollen Accorden die kräftige Melodie erklingen. Es mochten wohl derartige Töne in der Kirche noch nicht gehört worden sein, denn ein Seitenblick auf die Gesichter zeigte ihm den Beifall in der seltsamsten Weise ausgedrückt. Ein Theil schien wie verklärt oder in stummer Bewunderung den brausenden Harmonien zu folgen, während ein Anderer nach dem Rhythmus den Kopf wiegte oder den Choral leise mitzusingen schien.

„Mr. Ritschert – oder etwas dem Aehnliches – der die Orgel spielen und uns ein tüchtiges Kirchenchor heranbilden will,“ stellte der Geistliche den jungen Mann vor, als dieser geendet, „die Gentlemen sind von der Musik hereingezogen worden,“ wandte er sich wie erklärend an Reichardt. Dann wurden diesem die verschiedenen Namen der Anwesenden genannt, und bei jedem derselben hatte er eine hergestreckke Hand zu schütteln.

„Ich hoffe, Sir, Mr. Ellis wird keinen Grund finden, uns Ihrer schönen Fertigkeit zu berauben,“ klang zuletzt die freundliche Stimme eines Mannes, der ihm als „Trustee“ der Kirche bezeichnet worden war, „jedenfalls hoffe ich, Sie morgen bei unserm Gottesdienst zu sehen.“

Reichardt konnte sich nur verbeugen – der Prediger schien ihm also nicht völlig zu trauen und sich in dieser Weise ausgesprochen zu haben. Wenn aber sonst nichts seiner Existenz hier im Wege stand, so durfte er sich wohl ruhig der Zukunft überlassen, trotz des Kusses auf der Piazza von Congreß-Hall, den nur die Sterne gesehen und der hier schwerlich seine Wiederholung finden konnte. Er folgte den davon gehenden Männern, empfing an der Thür den Händedruck des Geistlichen mit einer neuen Einladung für den morgenden Sonntag und wanderte seinem Hotel zu. Nach wenigen Schritten aber hatten ihn zwei seiner Zuhörer, denselben Weg verfolgend, eingeholt. Er ward gefragt, wie ihm Amerika gefalle, was ihn herüber getrieben habe aus der alten Welt, und Reichardt sprach von seiner Begeisterung für die Musik, der er nicht habe genügen können, von den engen Schranken, die in Deutschland auch im socialen Leben jeder freiern Regung gezogen würden. Bald war ein lebendiges, allgemeines Gespräch im Gange, das auch, als die Veranda des Hotels erreicht war, mit sichtlichem Interesse von Reichardt’s Begleitern fortgesetzt ward.

Und als diese sich beim Läuten der Mittagsglocke endlich entfernten, machte sich in dem Begegnen des Wirths wie der Aufwärter eine Aufmerksamkeit gegen den jungen Deutschen geltend, die diesem ein Lächeln abzwang – er wußte doch nicht einmal die Namen seiner bisherigen Gesellschafter.

[254] Als Reichardt nach beendeter Mahlzeit sein Zimmer betrat und seine Violine erblickte, kam es ihm vor, als habe er sich gegen sie einer Untreue schuldig gemacht. Er öffnete den Kasten; das Instrument war immer seine Busenfreundin gewesen, der er anvertraute, was unklar oder unausgesprochen in ihm ruhte. Und so begann er auch jetzt, auf- und abschreitend, im freien Spiele seinem Herzen Luft zu machen. Kaum zwei Minuten lang mochte er aber das Zimmer durchmessen haben, als sich auch leise die Thür öffnete und Bob’s Gesicht sich vorsichtig hereinschob. Den Mund halb offen, die Augen starr auf den Spielenden gerichtet, blieb er eine kurze Weile in der Oeffnung stehen; dann aber stellte er sich, behutsam die Thür hinter sich schließend, neben dem Thürpfosten auf. Reichardt hatte ihn bemerkt, aber die Gestalt paßte gerade in seine Phantasien hinein, und so setzte er, ohne sich unterbrechen zu lassen, sein Spiel fort, bald in weichen Tönen klagend, bald in energischen Doppelgängen dem Schicksal Trotz bietend oder in tollen Läufern und Arpeggios den Kampf mit ihm beginnend. Als er endlich, zur Klarheit sich hindurcharbeitend, mit einem kräftigen Schlusse geendet, blieb er vor dem regungslosen Schwarzen stehen und reichte diesem die Geige.

„Jetzt, Bob, laß’ einmal hören, was Du kannst!“ sagte er; der Angeredete aber schüttelte mit einem verlegenen Grinsen den Kopf, während seine Augen sich dennoch gierig auf das Instrument richteten. „Ich kann blos fiedeln in meiner Manier, Sir,“ sagte er, „vielleicht, wenn ich die Noten verständ’, könnt’ ich auch Anderes –“

Reichardt sah, wie des Schwarzen Finger sich unwillkürlich bewegten, um die Violine zu ergreifen, sich aber dennoch immer wieder scheu zurückzogen, und mit einem Lächeln stiller Belustigung drückte er ihm das Instrument in die Hand. „Nur los, Bob!“ sagte er, „Jeder thut, wie er es gelernt hat!“ und mit auflebendem Gesichte leistete der Schwarze Folge. Gravitätisch setzte er den linken Fuß vor, die Augenbrauen zogen sich in einem Ausdruck tiefer Wichtigkeit zusammen, und nun sauste es los. In zappelnder, windschneller Bewegung flog der Bogen über die Saiten, bald nur die einzelnen Noten andeutend, bald andere Saiten mitklingen lassend, der linke Fuß trat den Takt, in Kurzem aber folgte der Kopf der Bewegung und zuletzt auch der übrige Körper, schwingend die Tanzbewegung andeutend. Und immer ernster wurde das Gesicht, immer eifriger flog der Bogen, immer lauter trat der Fuß auf, bis der Spielende mitten in seiner sichtlichen Begeisterung plötzlich abbrach und ängstlich aufhorchte. Aber kein außergewöhnlicher Laut wurde hörbar, und mit einem scheuen Lächeln, den Kopf halb in die Schultern ziehend, gab der Schwarze die Violine zurück. „Ich dachte,“ sagte er, „ich hörte Masters Stimme, er sicht’s nicht gern, wenn ich fiedele!“

Reichardt hatte in des Schwarzen Spiel eine derselben „Hornpipes“ erkannt, in welcher er sich selbst in Saratoga hatte hören lassen, und er konnte jetzt Harriet’s Empfindungen mehr als bisher verstehen; trotzdem lag, abgesehen von den äußerlichen Zuthaten, etwas in der Weise, in welcher der Neger die Melodie variirt und verziert hatte, was auf mehr als gewöhnliches Talent deutete. „Ihr solltet im Osten sein und ordentlichen Unterricht haben, Bob,“ sagte er; „es könnte, da Ihr die Geige so lieb habt, noch etwas aus Euch werden!“

„Es könnte schon sein, Sir,“ erwiderte der Schwarze mit einem Grinsen des Vergnügens, „aber Bob ist ein armer Nigger, Sir, und wird sein Lebtag den Osten nicht sehen.“

„Und warum dürft Ihr nicht wenigstens hier spielen, wenn Ihr freie Zeit habt?“

„Ich hab’s wohl ein Bischen zu viel getrieben, Sir,“ war die halbverlegene Antwort; „wo ich eine Geige hörte, da mußte ich hin, und des Nachts habe ich mich ein paar Mal aus dem Hause geschlichen, blos um mit zum Tanze spielen zu können. Mr. Curry sagte, das Tanzen sei eine von den schlimmsten Sünden und seine Dienstboten sollten nicht dazu helfen; ich dürfe keine Geige mehr anrühren, wenn ich nicht zur Feldarbeit vermiethet sein wolle. Ich konnte ’s aber doch nicht lassen, und da hat er mich hier in’s Hotel gegeben, wo ich ihm mehr einbringe – der Master hier aber sieht mir so scharf auf die Finger, daß ich heute zum ersten Male wieder zum Spielen gekommen bin. Können ’s die freien Schwarzen im Osten besser, als wir hier, Sir?“ fuhr er mit gedämpfter Stimme und einem furchtsamen Ausdruck von Neugierde fort.

„Hab’ noch keinen gehört, Bob,“ erwiderte Reichardt, welchen diese Musikmanie zu amüsiren begann, „so viel ich aber verstehe, würdet Ihr’s sicher mit Jedem dort aufnehmen können!“

Das schmutzige Gelbschwarz im Gesichte des Negers schien dunkler zu werden; er sah scheu nach der Thür zurück und dann wieder in das Gesicht des jungen Mannes; dann aber, als habe er zu viel von seiner Erregung merken lassen, verzog sich sein Gesicht zu einem halbverlegenen Grinsen. „Dank Ihnen, Sir, Dank Ihnen,“ sagte er, „aber Bob ist ein armer Nigger, der dem Mr. Curry gehört und der den Osten niemals sehen wird!“ Er schien wieder zu horchen, öffnete dann leise die Thür und schlüpfte vorsichtig hinaus.

„Sonderbare Kerls, diese Schwarzen!“ brummte Reichardt, lächelnd den Kopf schüttelnd, barg seine Violine wieder in den Kasten und suchte dann das in New-York beschaffte „Prayer-Book für Episkopalen“ hervor, sich noch einmal die Ordnung des morgenden Gottesdienstes genau einzuprägen.

Reichardt glaubte noch nie so viel wirkliches Sonntagsgefühl in sich gehabt zu haben, als da er am nächsten Morgen nach einer sorgfältigen Toilette den Weg nach der Kirche einschlug. Eine laue, weiche Morgenluft durchwehte die sonnigen Straßen. Aus drei verschiedenen Richtungen klangen die einzelnen Schläge der Glocken, bald zusammen einen Accord bildend, bald getrennt auf einander folgend, und ringsum herrschte die eigenthümliche sabbathliche Stille amerikanischer Städte, nur unterbrochen durch die einzelnen im Festtagskleide hinschreitenden Kirchengänger. Reichardt war noch niemals ein großer Gläubiger gewesen und hatte in manchem Jahre seine heimathliche Kirche gar nicht besucht. Heute aber meinte er das Gefühl eines Jeden, dessen Weg mit dem seinigen zusammenfiel, verstehen zu können; war er doch selbst, wenn er vor der Orgel saß, ein ganz Anderer in seinem Empfinden und Denken, als im Alltagsleben, und die stille Spannung, mit welcher er der Entscheidung seines augenblicklichen Schicksals entgegen ging, trug nur dazu bei, seine Stimmung zu heben. Er erreichte das Chor der Kirche, während noch der schwarze Balgtreter sich hinter der Orgel abmühte, den Glockenstrang zu ziehen, und nahm einen Stuhl neben der Orgelbank ein; er war neugierig, die Leistungen seines Vorgängers zu hören.

Bald begann es sich um ihn auch von Damen und jungen eleganten Männern zu füllen, ohne daß indessen Jemand besondere Notiz von ihm zu nehmen schien. Erst nach geraumer Weile erschien der alte Herr, welcher ihm gestern als Trustee der Kirche bezeichnet worden war, in Begleitung eines jüngern und wandte sich, sobald er Reichardt’s ansichtig wurde, nach diesem. „Sie werden uns gewiß heute eine Probe Ihrer Kunstfertigkeit geben,“ sagte er, „hier ist Mr. Young, welcher bisher den Gesang mit seinem Spiele geleitet hat; er wird Ihnen jetzt in Allem, worin Sie es wünschen sollten, Auskunft geben, und ist es Ihnen recht, so mögen Sie gleich mit einer Einleitung beginnen.“

Reichardt hatte sich erhoben und verbeugte sich bejahend. Dann fiel sein Blick auf den ihm beigegebenen jungen Mann, und ein düsteres Auge, das seine ganze Erscheinung durchdringen zu wollen schien, begegnete dem seinigen. „Ich werde Ihnen sehr dankbar für Ihre Unterstützung sein!“ sagte Reichardt höflich, aber nur ein kaltes, steifes Lächeln antwortete ihm, und ohne sich eines leisen Gefühls von Verwunderung erwehren zu können, zog der junge Deutsche die Klingel für den Balgtreter.

Schon die ersten Accorde des großartigen Anfanges, welchen der Spielende gewählt, ließen alle Köpfe sich nach ihm wenden. Reichardt hörte das Kleiderrauschen und Flüstern um sich, welches jedenfalls die Erkundigungen nach der unbekannten Persönlichkeit hervorriefen; er fühlte die Versuchung, vor der ganzen versammelten Gemeinde sein Licht im besten Glanze leuchten zu lassen. Noch bald genug erinnerte er sich aber, daß er nur eine kurze Einleitung zu spielen habe, und führte rechtzeitig das aufgenommene Thema zum Schlusse.

Die Stimme des Predigers begann, und Reichardt sah beim Umblicken seine ganze Umgebung auf die Kniee sinken; er wußte nicht, ob er durch eine Theilnahmlosigkeit nicht Anstoß erregen werde, schlüpfte leise von der Bank und folgte dem Beispiele der Uebrigen. Es mußte nach Ausweis seines „Prayer-Books“ noch eine geraume Zeit währen, ehe der Gesang des Chors begann. Kaum hatte er es sich aber möglichst bequem auf einem Kniee gemacht, als es neben ihm rauschte und eine weibliche [255] Gestalt, den Kopf in das offene Gebetbuch gebeugt, dicht an seiner Seite niederkniete. „Guten Morgen, Sir!“ klang dem jungen Manne Harriet’s leise Stimme in die Ohren, „Sie haben Ihre Sache gut gemacht, und ich bin zufrieden mit Ihnen. – Rühren Sie den Kopf nicht – ich kenne Sie durchaus nur so ganz obenhin und werde Sie nicht eher beachten, als bis Sie in unserer Familie eingeführt sind – dafür werde ich aber sorgen. Jetzt nur das Eine: Sagen Sie morgen dem Mr. Ellis mit seinen albernen Bedenklichkeiten, daß Sie in vierundzwanzig Stunden Gewißheit haben müßten. – Sie haben schon Freunde hier, wenn Sie auch noch nicht viel davon wissen, und die Gemeinde wird Sie nicht fort lassen, wenn sie auch Opfer zu bringen hätte. Dann aber halten Sie sich den Mr. Young vom Leibe, der neben Ihnen stand; Sie müssen mir darin auch einmal ohne Gründe folgen – Amen!“ sagte sie laut mit der übrigen Gemeinde, „stehen Sie auf, aber sehen Sie mich nicht an!“

Reichardt hatte seinen Platz wieder eingenommen, ohne nur einen Seitenblick nach dem Mädchen gethan zu haben; fast wollte es ihm aber scheinen, als erhalte er eine Ahnung von wenigstens einem Grunde ihres Handelns, als er Young’s Augen der hohen Gestalt folgen und sich dann mit dem deutlichen Ausdrucke eines erwachenden Verdachtes nach ihm wenden sah. Irgend eine Beziehung mußte zwischen Beiden bestehen, sonst hätte sie sich wohl kaum zu der eigenthümlichen letztausgesprochenen Warnung verleiten lassen.

„Sie kennen Miß Burton, Sir?“ fragte der junge Amerikaner leise, während er ein aufgeschlagenes Notenbuch auf das Orgelpult legte. „Dies ist die Melodie, welche der Chor für den nächsten Gesang gewöhnlich anwendet.“

„Ich bin ihr nur ein einziges Mal flüchtig begegnet,“ erwiderte Reichardt lässig, eifrig bemüht, den Worten des Predigers in seinem „Prayer-Book“ zu folgen. „Wollen Sie aber nicht den ersten Gesang selbst spielen, damit ich wenigstens einmal mich von den Gewohnheiten des Chors unterrichte? – Da kommen die beiden letzten Sätze!“ fügte er hinzu und glitt von der Bank herab, die Young nach einer augenblicklichen Zögerung und nur wie durch die Nothwendigkeit gedrängt einnahm.

Der Gesang begann. Reichardt hörte prächtige Stimmen, die aber sämmtlich ihren eigenen Launen folgten, bald in der Melodie mitgingen, bald zu secundiren oder den Baß darzustellen versuchten. Young an der Orgel hatte sichtlich schon versucht, sich Kenntniß des Instruments zu verschaffen, dennoch war keine Strophe ohne schlimme Fehlgriffe, an welche das Chor indessen schon gewöhnt zu sein schien, und als Reichardt, um seine Empfindung zu verbergen, den Kopf abwandte, traf er auf Harriet’s Gesicht, in welchem der Hohn im vollsten Uebermuthe spielte; Reichardt fühlte fast wie Mitleiden mit dem unglücklichen Organisten.

„Ich spiele wohl sonst etwas besser,“ sagte dieser beim Ende des Gesanges die Bank verlassend, „aber ich habe, ehrlich gesprochen, nach Ihrer Einleitung den Muth verloren.“

„Lassen Sie nur, ich würde in Dingen, worin Sie Meister sind, noch viel schlimmer bestehen,“ erwiderte Reichardt gutmüthig, „übrigens ist es schwierig genug, sich immer nach den Launen Ihres Chors richten zu müssen, und ich denke, ich gebe ihm gleich in dem kommenden „Gloria“ eine Lection.“

Young ließ einen suchenden Blick hinüberschweifen, wo Harriet stand, und schlug das nächste Gesangstück auf. „Sie werden hier bleiben, Sir?“ fragte er wie hingeworfen.

„Kann im Augenblicke noch kein Wort darüber sagen,“ erwiderte der junge Deutsche, „ich habe mich, da ich ohnedies den Süden sehen wollte, durch einige Worte verleiten lassen, hierher zu gehen, und muß nun erst abwarten, ob ich Chancen finde.“

„Sie waren doch, wie ich höre, hier bereits empfohlen?“ erwiderte Young aufsehend, und derselbe Ausdruck des Mißtrauens, welchen Reichardt früher bemerkt, machte sich wieder in seinem Auge geltend.

„Ich selbst wohl kaum, Sir,“ erwiderte der Andere, welchen die augenscheinliche Sorge des Amerikaners um sein Verhältniß zu Harriet zu interessiren begann, „jedenfalls nur meine wenigen musikalischen Fähigkeiten, die zufällig wahrgenommen wurden. Stehen Sie vielleicht Miß Burton, welche meine geringe Gunst empfahl, näher?“

Young schien die letzte Frage zu überhören, hob den Kopf und horchte aufmerksam nach dem Geistlichen. „Hier ist das Gloria,“ sagte er, auf das Notenbuch deutend, „wir werden in Kurzem zu beginnen haben!“ Reichardt folgte dem Fingerweis, übersah rasch das Stück, und als der Prediger geendet, setzte er, das vorherige schleppende Tempo unbeachtet lassend, in voller Kraft und Lebhaftigkeit ein, schon nach den ersten Takten das überraschte Chor mit sich fortreißend, bis dieses, als gewinne es unter seinem Spiele ganz neues Leben, das Tempo aufnahm und sich den Harmonien kräftig anschloß. Als Reichardt nach dem Ende von der Bank glitt, traf ihn aus Harriet’s halb zurückgewandtem Gesichte ein helles Lächeln; aber auch Young schien es bemerkt zu haben, und mit einem tiefen Schatten zwischen den Augen wandte er sich nach der Seitenbrüstung des Chors, sich während des übrigen Gottesdienstes mit keinem Blicke weiter um die Musikausführung kümmernd.

Die Predigt und die Schlußgesänge waren vorüber, und als Reichardt nach einem „Ausgange“, welcher einen großen Theil der Gemeinde länger als gewöhnlich zurückgehalten hatte, den Vorplatz der Kirche betrat, sah er sich von dem Geistlichen in Empfang genommen und einer Zahl wartender Kirchenbesucher zugeführt. Er hatte wieder fremdklingende Namen zu hören und Hände zu schütteln, hatte aber auch vor alten freundlichen Frauengesichtern wie vor frischen jugendlichen Zügen und dunkelblitzenden Augen sich zu verbeugen, bis endlich ein hoher Mann zur Seite der lächelnden Harriet ihm entgegentrat. „Ich kenne Sie schon aus meiner Tochter Erzählung,“ sagte dieser, ihm derb die Hand drückend, „und wenn ich auch erst gemeint, das Mädchen habe einen ihrer tollen Streiche begangen, Sie ohne Weiteres hier herunter zu sprengen, so sehe ich doch ein, daß sie dieses Mal klüger gehandelt, als ich ihr es zugetraut. Ich hoffe, wir werden Sie hier festhalten können, Sir, und es soll mich freuen, Sie zu irgend einer Zeit in meinem Hause zu sehen!“

Er nickte ihm freundlich zu und wandte sich nach dem Prediger.

„Sie sind schon mehrere Tage hier, Sir?“ fragte Harriet, langsam vorwärts gehend; als aber Reichardt, der Einladung folgend, an ihrer Seite hinschritt, begann sie, ihre Stimme dämpfend: „Was hatten Sie mit dem Mr. Young so angelegentlich zu verhandeln? Verstanden Sie nicht, was ich Ihnen sagte?“

„Haben Sie Beziehungen zu dem Gentleman, Miß?“ erwiderte er in derselben Weise. „Bestimmen Sie in irgend einer Art über mich, aber geben Sie mir Gründe –“

„Beziehungen – pshaw!“ sagte sie verächtlich; „indessen hätte ich wissen sollen, daß halbe Worte bei Ihnen nichts fruchten. Ich habe schon eine Aeußerung über die Schlangen und reißenden Thiere in unserer Stadt gegen Sie fallen lassen – aber sehen Sie zu Boden oder nach der Seite, wir dürfen, wenn Sie hier bleiben wollen, noch nicht so genau miteinander bekannt sein, daß wir ein interessantes Gespräch führen könnten. Well, Sir,“ fuhr sie gleichgültig die Straße entlang blickend fort, „der genannte Gentleman rangirt in meiner Menagerie unter den Eidechsen, die auf den heimlichsten Wegen nach dem wärmsten Plätzchen schlüpfen, bei jedem Fußtritt aber die Flucht ergreifen. Er möchte Harriet Burton zur Frau haben, um ihr Geld zu erhalten; aber er hat nicht den Muth, ihr nahe zu kommen; er mag ihrem Vater nicht ins Auge sehen, er sucht heimliche Wege, wo ihn kein unberufener Tritt verscheuchen kann – ich kenne die Wege, und doch überläuft es mich immer wie die Scheu vor einem wirklichen Molche, wenn ich einmal daran denke, seinen Schlichen entgegenzutreten. Sie verstehen mich jetzt noch nicht, aber Sie werden mich mit der Zeit verstehen lernen. Freilich können Sie sagen, daß das mit Ihren Verhältnissen nichts zu thun hat, aber er wird wissen, wie die halbe Gemeinde es bereits weiß, daß ich die Ursache Ihrer Anwesenheit bin, und Ihr Tritt mag der Eidechse vielleicht zu kräftig auf ihrem Wege klingen, daß sie nicht das Mögliche thun sollte, um Sie hier zu beseitigen – da haben Sie, was mich bewog, Sie vor dem Menschen zu warnen, wenigstens bis Ihr Engagement feststeht. Dann werden Sie selbst Kraft genug haben, das Gewürm zu zertreten, wenn es in Ihren Weg kriecht.“

„Aber, Miß, was haben Sie, mit Ihrem kräftigen Willen, sich um die heimlichen Wege irgend Jemandes zu kümmern, der doch nie damit zu Ihnen heranreichen würde?“ erwiderte Reichardt, der, eigenthümlich von ihrem gepreßten Tone berührt, fast mit einer Art Weh einen dunkeln Punkt in diesem glänzenden, reichen Leben wahrgenommen hatte.

[256] „Nicht wahr? So habe ich mich auch schon gefragt!“ versetzte sie. „Warum fürchtet sich aber der Vogel auf dem Baume vor der Klapperschlange, die ihn doch scheinbar niemals erreichen kann? Aber ich will Ihnen sagen, daß ich mich noch drei Mal so stark gegen sonst fühle, seit Sie hier sind – ich könnte Ihnen auch dafür keinen eigentlichen Grund anführen, und doch ist es so. – „Well, Sir!“ lachte Harriet plötzlich, „unsere Bekanntschaft gehört sicher zu den ganz besonderen. Nach nicht einmal zwölfstündiger Bekanntschaft nimmt sich der Herr Freiheiten heraus, die Harriet Burton noch niemals geduldet, und in der nächsten Stunde, in welcher sie ihn sieht, schließt sie ihm das Geheimste ihres Herzens auf, als habe das kaum anders sein können.“

[270] „Ich wollte nur, Miß Harriet, ich könnte Ihr Vertrauen im vollsten Maße verdienen!“ sagte Reichardt mit aufwallender Empfindung.

„Sie sollen jedenfalls Gelegenheit dafür erhalten – aber ziehen Sie die gleichgültige Conversationsmiene wieder auf, überall um uns her gehen Leute, und wir kennen uns ja kaum!“ Sie warf leicht einen Blick um sich und ging einige Schritte schweigend weiter. „Sie sollen jedenfalls Gelegenheit erhalten,“ nahm sie dann ihren früheren Satz wieder auf, „Sie wissen noch nicht, was ein mittheilungsbedürftiges Mädchenherz zu thun im Stande ist – ich wußte’s wohl selbst bis jetzt noch nicht. Ich habe außer meinem Vater hier eigentlich Niemand, mit dem ich ein vertrauliches Wort reden könnte. Ich bin schon von früher Jugend an im Osten zusammen mit Margaret Frost erzogen worden, und in den zwei Jahren, seitdem ich hierher zurückgekehrt bin, hat mich Alles nur als wildes Mädchen, das von seinem Vater und Lehrern gründlich verzogen worden ist, betrachtet – eine Andere hätte auch wohl kaum den Geniestreich unternehmen dürfen, Sie ohne Weiteres hierher zu senden. Und doch fühlte ich schon seit Monaten, daß ich nicht länger so allein hier stehen dürfe, wenn ich nicht zuletzt den Muth verlieren und, von den mir zunächst Stehenden verlassen, der Speculation in den Rachen fallen sollte. Sie verstehen das jetzt noch nicht, aber Sie sollen morgen schon klarer blicken. Morgen Abend werden einige Freunde bei uns sein – was man in der großen Welt Freunde nennt. Ein ganz respectabler Theil davon gehört zu meiner Menagerie, und wenn Sie mich selbst mit Schlangen und derartigem Gethier ganz freundlich verkehren sehen sollten, so denken Sie nur daran, daß es mir Spaß macht, die Schleicher sich selber betrügen zu lassen. Sie als Wundertier werden natürlich nicht fehlen und die Herrschaften höchlichst amüsiren, am Piano oder mit Ihren Erzählungen, die in Ihrem Englisch so wunderhübsch klingen. Es ist das, genau betrachtet, auch eine Art Niggergeschäft, ein Merkchen höher als das Fiedeln zum Tanz, aber ich weiß, mir zu Liebe unterziehen Sie sich dessen einmal. Es wird Ihrer Stellung hier mit einem Male die rechte Begründung geben, und ich werde Ihnen dabei mein lebendiges Bilderbuch so aufblättern können, daß Sie kaum noch viel zu fragen haben werden! Dort sehe ich aber meinen Vater,“ fuhr sie aufblickend fort, als sich auf der andern Seite der Straße ein plaudernder, lachender Trupp Kirchenbesucher bemerkbar machte. „Mr. Reichardt!“ sie neigte sich steif und sprang dann leicht über die Straße, sich, ohne umzublicken, mit der Gesellschaft vereinigend; der junge Deutsche aber, als er sich bemerkt sah, zog tief den Hut und schlug dann den Rückweg nach seinem Hotel ein.

Es war am nächsten Abend, als Reichardt den Weg nach Mr. Burton’s Wohnung verfolgte. Er hatte die einfache Einladung erhalten, den Abend mit der Familie und einigen Freunden zuzubringen, und hatte sich von Bob eine Menge der ersten Namen in der Stadt sagen lassen, sie sorgsam aufnotirend und das Gedächtniß daran gewöhnend, um endlich die Möglichkeit zu erhalten, seine neuen Bekanntschaften zu cultiviren. Trotz der Freundlichkeit aber, welche in der Einladung lag, konnte er sich einer Art unangenehmer Spannung auf seinem Wege nicht erwehren. Er hatte, um sich keines Vorwurfs von Harriet schuldig zu machen, deren Anweisung befolgt, und am Morgen dem Prediger einen neuen Besuch gemacht, ihn bittend, die Entscheidung über sein Engagement möglichst zu beschleunigen. Mr. Ellis aber hatte unter vielen Complimenten über des jungen Mannes Fähigkeiten die Achseln gezuckt und erklärt, daß in der Schnelle, wie dieser es zu wünschen scheine, kaum eine Entscheidung herbeigeführt werden könne, daß er der Einstimmigkeit der Kirchenmitglieder für eine bedeutendere Neuausgabe, trotz des Beifalls, welcher dem Orgelspiele von allen Seiten gezollt worden, doch nicht sicher sei, daß er zwar versuchen werde, heute noch mit einzelnen Männern von Einfluß, die er bei Mr. Burton zu sehen gedenke, zu sprechen, daß sich aber eine solche Angelegenheit, die Allen sich ganz unerwartet aufgedrängt, durchaus nicht über das Knie brechen lasse. Fast hatte aber das ganze Wesen des Geistlichen den jungen Mann berührt; als liege etwas Anderes als eine einfache Ungewißheit hinter den Worten, als mache sich bereits eine verborgene Opposition gegen ihn geltend, die er, je wesenloser sie sich ihm entgegenstelle, um so weniger brechen könne. Er hatte an das erste Begegnen des Mr. Young, der sich durch ihn von der Orgel verdrängt sah, an dessen mißtrauisches Wesen in Bezug auf sein Verhältniß zu Harriet denken müssen, und in Secundenschnelle hatte sich ihm die Ueberzeugung aufgedrungen, daß, wenn sich ihm nicht auf den ersten Anlauf hier eine Existenz biete, dies später gar nicht möglich sein werde. Er besaß noch so viel Geld, um eine kurze Zeit leben und die Reise nach Nashville machen zu können, von welchem Bob als einem „großen Platze“ viel gesprochen, der ihm also wohl Gelegenheit zum Musikunterricht oder einer ähnlichen Beschäftigung bieten konnte; und so hatte er in gleicher Weise wie der Geistliche die Achseln gezuckt und diesem erklärt, wie er zwar äußerst glücklich sein würde, nicht nur die Orgel unter sich zu haben, sondern auch das Chor, das bis jetzt kaum noch so zu nennen, für einen würdigen Kirchengesang heranzubilden, daß er aber nicht im Stande sei, sich länger als den nächsten Tag auf eine ungewisse Hoffnung hin im Orte aufzuhalten. Der Prediger hatte, etwas überrascht von der Leichtigkeit, mit welcher Reichardt seine Abreise behandelt, geschienen, ihm aber versprochen, das Mögliche zu thun, um die Angelegenheit zu einem raschen Schlusse zu bringen – und jetzt ging der junge Deutsche dem Orte zu, wo jedenfalls aus den einzelnen stillen Verhandlungen sich sein augenblickliches Schicksal entwickelte; daß aber Harriet am wenigsten dazu gezogen werden würde, konnte er sich selbst sagen.

Burton’s Haus lag dicht außerhalb der Stadt auf einem Hügel – in den Parkanlagen, durch welche sich der breite Fahrweg und die geschlängelten Kiespfade zogen, wie in dem geschmackvollen Aeußern des großen Wohngebäudes den Reichthum des Besitzers andeutend, und den Ankommenden überlief ein eigenthümliches Gefühl, wenn er an sein Verhältniß zu Harriet dachte, welche jedenfalls einmal die Haupterbin des reichen Besitzthums wurde.

Zwei Doppelparlors mit weiten Flügelthüren öffneten sich zu beiden Seiten der Vorhalle und schufen so einen mit dem ganzen Comfort des Südens versehenen Raum, in welchem sich bei Reichardt’s Eintritt bereits eine zahlreiche Gesellschaft zwanglos bewegte. Ein bis zur weißen Binde vollkommen salonfähig gekleideter Schwarzer schien an dem Haupteingange den Ceremonienmeister zu machen und wies mit einer tiefen Verbeugung den jungen Mann nach dem hintern Theile der bereits hell erleuchteten Räume, wo er Mr. Burton treffen werde; dieser schien aber den Eintretenden schon bemerkt zu haben und kam ihm auf halbem Wege entgegen. „Kommen Sie mit mir, Sir,“ sagte er, den Arm des Deutschen unter den seinigen fassend, „Sie sind fremd unter uns, und ich werde Ihre nächste Vorstellung übernehmen!“

Auf einem reichverzierten Divan, welchem Beide entgegengingen, saß eine bleiche, elegante Frau, dem Anscheine nach im Beginn der dreißiger Jahre. Aber in einigem Contraste mit den ruhigen Zügen leuchtete das dunkle, große Auge den Herantretenden entgegen. Neben ihr saß Harriet, den blitzenden Muthwillen in dem belebten Gesichte. Reichardt aber wollte seinen Augen nicht trauen, als er an ihrer Seite, bequem auf einen Stuhl hingeworfen, Young’s Gestalt erblickte, der soeben im interessantesten Gespräche gestört zu werden schien.

„Lassen Sie mich Sie meiner Frau zuführen!“ sagte der Hausherr. „Mr. Reichardt, Liebe! den Du freilich in seinem wahren Glanze, wie er ihn gestern in unserer Kirche entfaltet hat, nicht sehen wirst; hoffentlich erhalten wir aber heute Abend von ihm ein Pröbchen seiner Kunstfertigkeit. – Meine Tochter hier kennen Sie ja wohl bereits, Sir!“ wandte er sich wieder an den jungen Mann, der mit einer Verbeugung leicht die Hand der Dame berührte. Reichardt sah Young’s Augen wie im finstern Forschen auf sich gerichtet, Harriet erhob sich steif, brach aber plötzlich in helles Lachen aus. „Entschuldigung, Sir, aber Sie kommen gerade recht,“ rief sie lustig, „Mr. Young will mir beweisen, daß die tiefste Zuneigung sich in der tiefsten Unterwerfung ausspreche, und ich [271] finde doch den Satz, von einem Manne ausgesprochen, so komisch, daß ich ihn gern noch einmal hören möchte!“

„Harriet!“ rief die Dame vom Hause, einen verweisenden Blick nach ihr und einen andern voll halber Besorgniß nach dem jungen Amerikaner werfend.

„Well, es ist wenigstens ein Satz, der nicht Jedermanns Geschmack ist!“ lachte Burton. „Da ist eine Gelegenheit, die Sie gleich mitten in’s Gefecht bringt, Sir,“ wandte er sich an Reichardt, „schonen Sie nur nicht, wenn sie nicht selbst die scharfe Waffe fühlen wollen!“ Mit einem freundlichen Nicken und einem launigen Seitenblick nach seiner Tochter wandte er sich davon.

„Es giebt Sätze, Miß, die in dieser abstracten Fassung kaum zu beurtheilen sind!“ sagte Reichardt, eine ernste Miene annehmend, während er doch nicht hindern konnte, daß ein stiller Humor, welcher bei Young’s Anblick mit der Erinnerung an die „Eidechse“ in ihm erwachte, sich durch ein leichtes Zucken um seinen Mund bemerkbar machte; „wenn mir der specielle Fall vorgelegt würde –“

„Sie haben sicher Recht, Sir, und man überläßt derartige Fragen wohl am besten Jedes eigenem Geschmacke,“ unterbrach ihn Mistreß Burton leichthin, obgleich eine leise Falte, welche sich zwischen ihren Augen zeigte, ein Mißvergnügen über die ganze Scene andeutete; schon im nächsten Augenblicke indessen klärte sich ihr Gesicht, das sich einem Neuankommenden zuwandte, auf, während ein leichtes Roth in ihre Wangen stieg und wieder ging; Reichardt trat zur Seite und erblickte einen halb geistlich, halb weltlich gekleideten Mann, welcher soeben mit einer Verbeugung die Hand der Lady faßte und sie, während er zu der Dasitzenden sprach, in vertraulicher Weise festhielt. Durch des jungen Deutschen Kopf aber schoß es, als müsse er dieses volle, wohlgeordnete braune Haar in Verbindung mit dieser eigenthümlichen Biegung des Nackens und diesem langen Rocke schon irgendwo gesehen haben, und plötzlich stand die sonderbare Scene, welche er in einem der Hotelzimmer in Saratoga am Ballabende belauscht, vor ihm. Sie war ihm unter den mannigfachen Sorgen, welche während der letzten Tage seine Gedanken beansprucht, fast gänzlich aus dem Gedächtniß geschwunden, jetzt indessen hätte er einen Eid darauf ablegen mögen, daß er dieselbe Persönlichkeit wie damals vor sich habe. Mit einer leichten Neigung hatte sich der Geistliche nach Harriet und Young gewandt und hob jetzt das Auge nach Reichardt, der ihn wahrscheinlich mehr forschend ansah, als es zu dem gewöhnlichen Gesellschaftstone passen wollte, denn wie in fragender Befremdung blieb sein Blick in dem des jungen Mannes hängen.

„Entschuldigung, Sir,“ begann Reichardt, welcher seinen Fehler schnell erkannte, „ich frug mich nur so eben, ob ich nicht das Vergnügen gehabt, Sie in Saratoga zu sehen.“

„Ich war allerdings dort,“ erwiderte der Andere mit leichtem Kopfneigen, „ohne mich jedoch entsinnen zu können, Ihren Zügen, Sir, dort begegnet zu sein.“

„Es war allerdings nur ein halber Tag, welchen ich mich aufhielt, und auch diesen nur mehr hinter der Coulisse!“ erwiderte er, ohne den Ausdruck von Humor, welchen seine Antwort in ihm selbst erregte, ganz unterdrücken zu können.

„Der Gentleman, welcher die Orgel in der Episkopalkirche spielen wird – unser ehrwürdiger Mr. Curry von der Methodistenkirche!“ beeilte sich die Frau vom Hause Beide einander vorzustellen. Curry hielt ihm steif die Hand entgegen, ohne dabei die frühere Miene von Befremdung ganz aufzugeben, und nahm dann zur Seite der Mrs. Burton auf einem Stuhle Platz.

„Sind schon bestimmte Arrangements für Ihr Verbleiben an unserer Kirche gemacht, Sir?“ frug Young, sich an den Deutschen wendend; und dieser sah aufblickend einen kurzen hämischen Zug um des Fragers Mund zucken, der so genau mit seinen gehabten Befürchtungen übereinstimmte, daß er um die Deutung desselben nicht einen Augenblick verlegen war.

„Glaube kaum, Sir,“ erwiderte er leicht, „jedenfalls habe ich, wenn kein Uebereinkommen zu Stande kommen sollte, hier einige höchst angenehme Tage verlebt, und ich bleibe dann nahe genug, um meine hiesigen Bekanntschaften nicht ganz aufgeben zu müssen. Ich gedenke schon morgen eine andere Stellung in Nashville anzunehmen, falls sich bis dahin hier nichts entscheidet – “

„O, bei der Frage fällt mir etwas total Vergessenes ein,“ unterbrach ihn Harriet, sich erhebend, „darf ich Sie wohl bitten, Mr. Reichardt, mich auf einige Augenblicke zu meinem Vater zu begleiten? Die Herren werden entschuldigen – ich bin schnell wieder hier, Mutter!“ wandte sie sich zurück, und im nächsten Augenblick fand sich Reichardt an ihrer Seite, der nächsten offenen Thür zuschreitend.

„Ich begehe die größte Thorheit, Sie zu meiner Begleitung aufzufordern,“ sagte sie, als Beide das nächste Zimmer erreichten, in welchem das Reden und Lachen der umher stehenden und sitzenden Gruppen jedes Einzelngespräch verdeckten, „ich sollte Ihrethalber allen Schein einer nähern Bekanntschaft zwischen uns meiden, bis Sie Ihren Boden unter den Füßen haben; aber als die schwarze Schlange sich zu uns setzte und ich so recht zwischen ihr und der Eidechse saß, überkam es mich fast wie Angst – und dazu Ihr sonderbares Gesicht! Kennen Sie den Mr. Curry? ich habe etwas in Ihrem Auge gelesen, das Anderes erzählte, als Sie gestanden, und mir liegt an Allem, was den Mann betrifft, mehr, als ich Ihnen jetzt sagen kann. Sprechen Sie, Sir, damit ich rasch zu einem andern Punkte kommen kann – wenn der Tanz begonnen hat, werde ich kaum ein unbehorchtes Wort mit Ihnen reden können.“

„Ich weiß kaum, Miß Harriet, was ich Ihnen erwidern soll,“ entgegnen Reichardt, während sie zwischen den Gruppen promenirten, in augenblicklicher Verlegenheit, „ich habe in Saratoga durch einen gewöhnlichen Zufall eine Art geistlicher Zusprache des Mannes belauscht, die mir ganz wunderbar erschien, obgleich sie vielleicht zu den methodistischen Gebräuchen, die ich nicht kenne, gehören mag –“

„Sie wollen nicht offen reden, Sir, ich höre es!“ unterbrach sie ihn, wie ungeduldig. „Sie dürfen aber nicht zurückhalten, Sie können nicht wissen, wie viel Wichtiges in dem, was Sie belauscht, für mich liegen mag. Ich werde Ihnen indessen in voller Offenheit vorangehen – lassen Sie uns ein anderes Zimmer aufsuchen, in dem wir weniger beobachtet sind!“

Sie führte ihn durch die offenen belebten Räume nach einem der Hinterparlors; beim Durchschreiten der Vorhalle aber kam ihnen der alte Burton in Begleitung einer kleinen Anzahl seiner männlichen Gäste entgegen.

„Mr. Reichardt glaubt nicht, Vater, daß wir im Hinterwalde auch etwas Rechtes von Musikalien haben können, und so muß ich jedenfalls unsere Ehre retten!“ rief sie ihm lachend zu.

„Verstehe wenig von der Sache selbst, Sir, und ich will also auch ihre Wichtigkeit nicht bestreiten,“ wandte sich der Angeredete launig an den jungen Mann, „sonst hätte ich Sie gebeten, sich uns zu einer anderen Inspection anzuschließen. Indessen sollen Sie nicht darum komnen, wir sehen uns nachher schon wieder!“ Er schritt, von seinen Begleitern gefolgt, der Treppe zum obern Stock zu, und das Mädchen wandte sich nach einem offenen, aber jetzt gänzlich verlassenen Zimmer, dessen Mitte ein reiches Piano einnahm.

„Hier blättern Sie,“ sagte sie, eines der dortliegenden gebundenen Notenbücher vor ihm öffnend, „ich denke, die Beschäftigung wird für jeden Beobachter genügen und uns frei von Gesellschaft halten!“ Sie setzte sich, unweit von ihm, nachlässig auf den Pianosessel, als verfolge sie eine Prüfung seinerseits, und begann mit vorsichtig gemäßigtem Tone wieder: „Ich habe Ihnen gesagt, daß ich erst vor zwei Jahren hierher wieder zurückkehrte; das war zu der Zeit, als Papa zum zweiten Male geheirathet hatte, und ich fand eine neue Mutter, an die ich mich anschloß, so wenig wir auch harmonirten, weil ich sah, wie sehr Vater es wünschte. Es ging Alles gut, bis vor sechs Monaten von dem methodistischen Prediger eine neue Glaubenserweckung veranstaltet wurde; das Revival währte drei Tage, und bei Vielen soll der Eindruck ein kaum zu schildernder gewesen sein, darunter auch die Schwester des Mr. Young, welche in Convulsionen und Bewußtlosigkeit gefallen ist, daß sie sich heute von den Folgen noch nicht ganz erholt zu haben scheint. Auch Mutter, welche zur Gemeinde gehört, wurde von da ab eifrigeres Kirchenmitglied als je; aber erst zwei Monate darauf begann ich einen persönlichen Einfluß des Mr. Curry auf sie wahrzunehmen. Seine Privatbesuche in unserm Hause wurden häufiger und fanden meist während Pa’s Abwesenheit statt; plötzlich wird der Mr. Young, der noch niemals in unsern Kreisen gesehen worden, hier durch Mr. Curry eingeführt und wird nach Kurzem ein Günstling der Mutter, als habe er versprochen, seine Seele auf methodistische Weise retten zu lassen. Ich hatte nichts wider ihn, denn er half [272] mir zum Zeitvertreibe, und bisweilen thaten mir meine eigenen Tollheiten leid, wenn ich die Geduld sah, mit welcher er sie ertrug; erst als wir nach unserer Abreise von Saratoga einige Tage in New-York verweilten, sollte ich merken, wohin Alles zielte. Mutter hatte den Ausflug, welchen ich mit Frosts unternommen, nicht mitgemacht und war zwei Tage länger mit einer andern Familie in Saratoga geblieben; am Tage darauf nun, nachdem wir zusammengetroffen, fragt sie mich in Pa’s Gegenwart, ob Mr. Young sich in Saratoga gegen mich erklärt habe; so viel sie wisse, sei er doch zu keinem andern Zweck uns nachgereist – ich sehe meinen Vater an, als würde mir ein Räthsel aufgegeben; der aber lacht nur und sagt, er habe noch nie meinen Neigungen viel entgegensetzen können und werde es auch jetzt nicht thun; übrigens sei Young ein gewürfelter Geschäftsmann und ein solider junger Mann, gegen den sich kaum etwas sagen lasse. Als ich aber verwundert erwiderte, daß mir ein derartiger Gedanke noch nicht einmal in den Kopf gekommen sei, geht er lachend zur Thür hinaus und sagt, ich möge das mit der Mutter und dem jungen Gentleman ausmachen. Die Mutter aber erklärt mir, sehr ernst werdend, daß keine achtungswerthe junge Lady einem jungen Manne so viel Ermuthigung geben würde, wie ich es gethan, wenn sie die erregten Hoffnungen nicht auch zu erfüllen dächte. Mr. Young habe bereits ihrerseits die Zustimmung zu seinen Absichten erhalten, und sie hoffe, ich werde sie nicht zum Spielzeug meiner Launen machen wollen. Ich hatte also Ermuthigung gegeben und Hoffnungen erregt, während ich doch wußte, daß ich als Mann keinen Tag unter einer solchen Behandlung hätte ausdauern können!“ fuhr die Erzählende fort und sandte einen scharf beobachtenden Blick durch die offene Thür. „Ich hätte ihr gern ohne Weiteres in’s Gesicht gelacht, wenn mir nicht wie ein Blitz die Erkenntniß gekommen wäre, daß dieselbe Redensart jedenfalls bei meinem Vater gebraucht worden war, um ihn an eine Zustimmung meinerseits glauben zu machen, und daß jede Zurückweisung des Heirathsprojects nur wieder als eine meiner Launen hingestellt werden würde; daß ich sicherlich einem wohldurchdachten Plane gegenüber stand, welchem der Einfluß des methodistischen Predigers zu Grunde lag. Was dem Manne an dieser Heirath liegen konnte, wußte ich nicht, aber ich war meiner Sache vollständig sicher.

„Ich hätte bei alledem die Angelegenheit nur fest und bestimmt von mir zu weisen brauchen – ich besitze das Vermögen meiner verstorbenen Mutter und bin selbstständig, sobald ich es nur will; aber ich mochte meinem Vater nicht die Unruhe eines innern häuslichen Kampfes machen, wie er sicher hervorgerufen worden wäre. Ich weiß, daß seine größte Genugthuung in der Harmonie zwischen mir und seiner Frau liegt und daß ich gerade hierin am meisten seine Liebe zu mir vergelten kann; zudem aber beherrscht ihn Mrs. Burton’s Einfluß mehr, als es wohl sein dürfte – und so stand es in mir fest, erst im äußersten Falle zu äußersten Mitteln zu greifen. Ich wandte Mrs. Burton lachend den Rücken und sagte ihr, daß ich noch kein Wort von Mr. Young über seine Absichten gehört, daß sie selbst auch wohl unter einer Täuschung lebe, denn gewöhnlich spräche ein junger Mann zu dem Mädchen zuerst; und behandelte von da an die Sache als einen lustigen Scherz, selbst als Margaret’s Bruder, mit dem ich halb auferzogen worden, mir in dem Tone eines unglücklichen Liebhabers gratulirte. Ich mochte nicht einmal Margaret mein Herz öffnen, da ich noch nirgends den Weg, welchen ich zu gehen hatte, klar vor mir sah. Erst auf der Reise entwickelten sich einzelne Gedanken klarer in mir. Young’s ganzer Reichthum liegt, so viel ich gehört, in seinem kaum bedeutenden Geschäfte, und so war es jedenfalls nur die „gute Partie“, welche er in mir im Auge hatte – unverständlich aber in jeder Beziehung war mir die enge Freundschaft zwischen ihm und dem so viel ältern Methodistenprediger, sowie dessen sonderbarer Einfluß auf Mrs. Burton, der in dieser rücksichtslosen Wirkung, wie er sich jetzt auf mich zu erstrecken drohte, sich nicht durch die gewöhnliche Kirchenverbindung erklären ließ; und je mehr ich mir verschiedene, bisher unbeachtete Einzelheiten in meine Erinnerung zurückrief, je mehr wurde es mir, als müßten Beziehungen zwischen diesen Dreien existiren, wie sie nicht dem gewöhnlichen Leben entspringen. Zu Zeiten wollte ich mich wohl deshalb eine Närrin heißen, aber je klarer ich die Verhältnisse vor mich zu stellen bestrebte, je bestimmter kehrten dieselben Gedanken zurück. Wäre ich selbst Schlange genug, um im Verborgenen zu lauern und zu kriechen, so könnte es mir vielleicht gelingen, einen Anknüpfungspunkt für meine Vermuthungen zu entdecken –“ sie hielt inne, als sei sie schon im Eifer ihrer Rede zu weit gegangen. Reichardt, der fortdauernd mit anscheinendem Interesse in den Noten geblättert, sah jetzt halb auf und ward von dem bleichen Gesichte des Mädchens fast betroffen; sie aber horchte nach dem Geräusch der versammelten Menge hinüber und fuhr dann fort: „Ich habe eine Ahnung, daß ich heute durch Ueberrumpelung gefangen werden soll. Sie tragen durch Ihre Unterbrechung wahrscheinlich die einzige Schuld, daß Young nicht zu einer Erklärung gegen mich kommen konnte. Noch mehr als Ihr Dazwischentritt aber berührte mich Ihr sonderbarer Blick und das Wesen, mit welchem Sie dem Prediger gegenübertraten. Ich habe keine Bezeichnung dafür, mir war es aber, als gäben Sie damit allem dem klaren Ausdruck, was ich kaum zur Vorstellung in mir werden lassen möchte –“

Zwei Geigen und ein Tambourin, welche die Einleitungs-Takte zu einer Quadrille begannen, unterbrachen die Sprechende, und eine plötzliche rauschende Bewegung kam unter die Menge in den anstoßenden Zimmern.

„Jetzt werde ich vermißt werden!“ rief Harriet aufspringend, „ich werde aber sicher die Gelegenheit herbeiführen, Sie heute noch weiter zu sprechen – bleiben Sie jetzt noch eine kurze Zeit hier!“ Mit einer leichten Wendung hatte sie die Thür erreicht und verschwand in der Vorhalle.

[273] Reichardt begann wieder mechanisch in dem Notenbuche zu blättern – er war in einer so sonderbar erregten Stimmung, wie er sie noch kaum gekannt. Der Anfang eines Familien-Drama’s stand vor ihm – er zweifelte keinen Augenblick, daß Harriet’s Stiefmutter es gewesen, welche er in Gesellschaft des methodistischen Tartüffe belauscht, daß die „brünstige Liebe“, mit welcher sie den „Bruderkuß“ des Pfaffen erwidern sollte, sich bei ihr eingefunden; er zweifelte auch nicht, daß Harriet’s scheue Andeutungen sich nur auf ein derartiges Verhältniß bezogen. Das Mädchen aber hatte ihn mit einem so völligen Aufgeben aller Schranken oder Rücksichten zu ihrem Vertrauten gemacht, als gäbe es überhaupt kaum noch etwas zwischen ihnen zu verbergen, als sei es nur natürlich, daß er ihre Interessen zu den seinigen mache, und ihr ganzes Wesen, mit welchem sie sich ihm geistig an’s Herz zu werfen schien, hatte ihn tiefer aufgeregt, als ein körperliches Hingeben es nur vermocht hätte.

Aus den übrigen Räumen klang die Negermusik und das Rauschen der tanzenden Paare; Reichardt fuhr aber aus dem halben Träumen, in welches er verfallen war, erst auf, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. „Sie tanzen nicht, Sir?“ hörte er des alten Burton Stimme, „very well“, so kommen Sie für ein paar Minuten mit mir. Wir müssen heute noch dafür sorgen, daß Sie einen Boden unter sich bekommen, wie ich merke, und ich denke, wir schaffen es fertig – Harriet gäb’ mir sonst in einem Jahre kein freundliches Gesicht wieder.“ Er hatte leicht den Arm des jungen Mannes ergriffen und leitete ihn nach dem obern Stock hinauf, wo sich ein Zimmer vor ihnen öffnete, das augenscheinlich zum Rückzugsquartier für die älteren männlichen Gäste eingerichtet war. Der Mitteltisch zeigte Flaschen mit Spiritussen nebst Gläsern und Cigarren, während auf einzelnen Nebentischen Kartenpackete zum Gebrauch bereit lagen; jetzt indessen schien die kleine Anzahl von Männern, welche zerstreut auf Divans und Stühlen umher saß, in einem angelegentlichen Gespräche begriffen zu sein.

„Ich sehe, beim Teufel, keinen Grund, was die Einwendungen eigentlich sollen,“ hörte der junge Mann beim Eintritt eine Stimme, und erkannte in dem leichten Cigarrenrauche lauter bereits vor Augen gehabte Gesichter. „Mr. Reichardt, Gentlemen!“ rief der Hausherr, seinen Begleiter in sichtlich guter Laune vorstellend. „Well, Sir,“ rief die frühere Stimme, „nehmen Sie ein Glas und setzen Sie sich her. Wir suchten eben zu errathen, wen Sie in den zwei Tagen Ihrer Anwesenheit schon auf den Fuß getreten haben. Sie entsinnen sich vielleicht, daß ich Sie am Sonnabend mit dem Gentleman dort am Fenster nach dem Hotel begleitete, und daß wir uns freuten, einen Mann von Ihrer Bildung unter uns zu bekommen. Well, Sir, trotzdem und trotz Ihres Orgelspiels hat sich bereits eine Opposition gegen Sie gebildet, welche indessen beseitigt werden wird, und wir theilen Ihnen nur die Sachlage mit, damit Sie unsere Maßregeln verstehen. Sagen Sie uns nur, gerade so offen, als Sie vorgestern sich vor Ihrem Hotel aussprachen, haben Sie einen Gedanken, wer hier Grund haben könnte, eine Abneigung gegen Sie zu fühlen?“

Reichardt nahm einen Schluck von dem Rothwein, welchen der Festgeber ihm eingeschenkt, und brannte sich langsam die ihm offerirte Cigarre an. „Es giebt Abneigungen,“ sagte er dann, „die sich wohl beim ersten Begegnen fühlen lassen, für welche sich aber kaum ein bestimmter Grund angeben läßt. Treten Sie harmlos einer Eidechse in den Weg, und sie wird mit haßerfülltem Herzen davon schießen – möglicherweise aber habe ich auch hier einer Eidechse den Weg gekreuzt –“

Ein johlendes Gelächter der Versammelten unterbrach ihn. „Das wird es sein! – So ist es!“ folgten die Ausrufe, „der vernünftigste Grund, der sich finden läßt!“ Reichardt fürchtete im ersten Augenblick, er habe mehr verrathen, als er beabsichtigt; die nachfolgenden Verhandlungen aber zeigten ihm, daß der von Harriet entlehnte Ausdruck für nichts als einen schlagenden Witz genommen worden war.

„Well, Gentlemen,“ begann der Hausherr, „das Einfachste, um aller Opposition entgegenzutreten, mag sie nun heißen wie sie wolle, ist, heut Abend durch Zeichnung den nöthigen Betrag für die Existenz unseres musikalischen Gastes aufzubringen, und ich bin sicher, daß wenn die Sache einmal fertig ist, Niemand von der Gemeinde, der nicht irgend einen persönlichen Grund hat, sich von der Beisteuerung ausschließen wird. Gehen wir vorläufig, um auch dem Vorsichtigsten zu genügen, ein Uebereinkommen für sechs Monate ein – der Betrag ist dann kaum nennenswerth für den Einzelnen, und unser junger Freund erhält dennoch Zeit genug, um sich hier bekannt zu machen, einzubürgern und den Contract dann auf seine eigenen Verdienste hin zu verlängern–“ er wandte sich fragend nach Reichardt.

„Ich bin vollkommen mit Allem einverstanden, was die Herren zu beschließen für gut finden,“ erwiderte dieser, sich leicht verbeugend; „ich habe in meiner kurzen Anwesenheit die Stadt und ihre Bewohner lieb gewonnen und würde gern hier bleiben, wenn mir eben nur so viel würde, um meine Privatmittel nicht weiter [274] angreifen zu müssen. Auf der andern Seite aber wünschte ich auch nirgends die Ursache zu einem Zwiespalte zu geben und würde in diesem Falle lieber den Ort verlassen, um irgend einer andern Aussicht, die sich mir eröffnet, nachzugehen – “

„All right, Sir“, wir waren im Voraus von Ihren guten Gesinnungen überzeugt!“ rief die frühere Stimme; „übrigens dürfen Sie mit Sicherheit darauf rechnen, daß neben dem, was Ihnen die Gemeinde für Einstudiren des Chors und das sonntägliche Orgelspiel aussetzt, sich mit Beginn der Wintersaison vielfache Gelegenheit zu Pianounterricht bieten wird; es hat uns eben bis jetzt ein tüchtiger unabhängiger Musiklehrer gefehlt –“

„Und so denke ich,“ fiel eine andere Stimme ein, „wir gehen nach Mr. Burton’s Bibliothek – denn hier neben Gläsern und Karten verhandelt weder der Prediger noch einer der Trustees mit uns – und bringen die Sache sogleich in die gehörige schriftliche Ordnung.“

„Ich kann nur meinen aufrichtigsten Dank aussprechen,“ sagte Reichardt, sich erhebend, „und sollte meinerseits etwas nothwendig werden, so mögen die Herren über mich verfügen! “ Er verließ mit einer leichten Verbeugung das Zimmer und schritt die Treppe nach den untern Räumen hinab.

Er durchschritt langsam die offenen Zimmer, in welchen sich die Quadrille-Gruppen nach dem Takte einer barbarischen Musik bewegten, bis er Harriet’s ansichtig wurde. Sie schien von Lust und Leben zu sprühen, während Young an ihrer Seite nur wie in halber Verdrossenheit seine Bewegungen ausführte. Ein lachender Blick von ihr traf Reichardt, der, um nicht aufzufallen, seinen Weg fortsetzte und sich bei einer Wendung in das nächste Zimmer vor der Frau vom Hause fand, welche von ihrem geschützten Standpunkte aus die Quadrille-Figuren zu beobachten schien.

„Sie tanzen nicht, Ma’am?“ fragte der junge Mann, mit Interesse in dieses bleiche, regelmäßige Gesicht blickend, dem nur das dunkel glühende Auge Leben zu geben schien.

Sie schlug den Blick wie in einer Art Verwunderung zu ihm auf, schien aber mit einem Lächeln schnell seiner Persönlichkeit inne zu werden. „Die Kirchenglieder unseres Bekenntnisses halten den fashionablen Tanz nicht für passend,“ sagte sie, „wir sind indessen tolerant genug, keines andern Menschen Ueberzeugungen zu nahe zu treten – warum aber nehmen Sie nicht an dem allgemeinen Vergnügen Theil? “

Reichardt äußerte einige Worte, daß er noch zu fremd und fast keiner der Damen vorgestellt sei, sie schien indessen kaum darauf zu horchen und ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen Punkt in dem Raume vor sich zu richten; der Deutsche wandte den Blick seitwärts und traf auf das Gesicht des Predigers Curry, welcher, an der andern Seite der großen Flügelthür sitzend, mit ähnlicher Spannung einen Vorgang unter den Tanzenden zu beobachten schien; seine Augenbrauen waren zusammengezogen, die aufeinander gepreßten Lippen zuckten leise, und Reichardt folgte fast unwillkürlich der Richtung seiner Augen. Young und Harriet mußten der Punkt sein, auf welchem die Blicke der beiden Beobachtenden zusammenliefen – das Mädchen schien sich eben von ihrem Tänzer gewandt zu haben und sprach lachend mit dem jungen Manne des nebenstehenden Paares, während Young in die Menge hinein blickte und sich sichtlich bemühte, einen Ausdruck von Täuschung in seinem Gesichte zu unterdrücken – da kam die Tour Beider; Harriet schien kaum die Hand ihres Tänzers zu berühren oder überhaupt von ihm Notiz zu nehmen; leicht und lachend flog sie durch Verschlingungen des Tanzes, so berückend schön, wie sie Reichardt nur auf dem Balle in Saratoga gesehen, und unwillkürlich mußte er ihr seine Augen folgen lassen, bis sie wieder an ihren Platz zurückgekehrt war und, ohne sich um Young zu kümmern, der auch keinen Versuch zu machen schien, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, die Menge vor sich musterte. Curry hatte den Kopf gesenkt, als wolle er den Ausdruck seines Gesichts den Blicken umher nicht preisgeben; zwischen Mrs. Burton’s Augen aber trat die Falte, welche Reichardt heute schon einmal beobachtet, tief und bestimmt hervor, und der junge Deutsche schritt langsam davon, um mit seinen Gedanken einen andern Platz zu suchen.

Augenscheinlich war es ein tiefes, klar erkanntes Interesse, welches den Prediger und die Lady vom Hause Young’s Verbindung mit Harriet wünschen ließ, und ein Versuch, die letztere zu gewinnen, war jedenfalls heute Abend gemacht worden; wo aber lag dies Interesse, das, wenn auch die Lady nur unter dem Einflusse des Predigers handelte, diesen doch so fest an Young’s Vortheil kettete? Kaum konnte es ein anderes als ein lichtscheues sein, sonst hätte es Harriet’s scharfer Verstand sicher entdecken müssen! – so folgten sich die Vorstellungen in Reichardt’s Kopfe, als er durch die Menge schritt. Der Tanz war zu Ende, überall schossen einzelne Gruppen zusammen, und der junge Mann fühlte plötzlich seinen Arm berührt. „Machen Sie mir eine Verbeugung!“ hörte er Harriet’s Stimme, „so!“ und in der nächsten Secunde fand er sich an des Mädchens Arm durch die Zimmer promenirend.

„Es wird schwer werden, vor „Supper“ noch ein ungestörtes Wort zu sprechen,“ sagte sie mit vorsichtig gedämpfter Stimme, „es ist aber für mich nöthiger als je, daß es geschieht; ich habe meine erste hohe Karte ausgespielt und muß jetzt sorgen, daß ich die rechten Trümpfe nachbringen kann. Halten Sie sich in meiner Nähe, damit ich Sie zur rechten Zeit in Kenntniß setzen kann – “

„Ich bin völlig zu Ihrer Disposition, Miß Harriet,“ erwiderte er in gleicher Weise, „ich werde aber jedenfalls noch einmal den obern Stock besuchen müssen, wo die Nothwendigkeiten für meine hiesige Existenz zurecht gebraut werden –“

„Ich weiß,“ nickte sie, „ich hatte Pa genau den Weg angegeben, wie er zu Werke gehen sollte; das wird aber Alles vor „Supper“ erledigt sein; es sind nur Freunde von Ihnen zusammen, welche die Sache schnell in Ordnung bringen und die Schlangen und die Eidechsen auf’s Trockene setzen werden – denken Sie nur an mich gegen Mitternacht, und nun bringen Sie mich zu Mrs. Burton, die wahrscheinlich eine Predigt für mich in Bereitschaft hat!“

Reichardt nahm die angegebene Richtung und entledigte sich seiner Begleiterin nahe dem Divan, welchen die Frau vom Hause wieder besetzt hielt, während zu beiden Seiten desselben Young und Curry ihre früheren Plätze eingenommen hatten. Er sah noch, wie sich der Erstere bei des Mädchens Ankunft erhob und langsam davonschritt, während der Letztere, als wolle er kein Zeuge des mütterlichen Empfanges sein, den Kopf nach einer andern Richtung wandte – dann ward die Scene durch vorüber promenirende Paare verdeckt, und Reichardt wanderte ziellos in die Menge hinein. Die Musik hatte wieder begonnen, und erst nach einiger Zeit entdeckte er in den neugebildeten Quarrees Harriet an der Hand eines andern jungen Mannes, dem Anscheine nach völlig unberührt von dem, was ihr gesagt worden sein mochte, aber auch ohne einen Blick für ihn selbst zu haben. Eine kurze Weile unterhielt sich Reichardt damit, nach Young zu suchen, um dessen Gesicht zu studiren; dieser schien aber völlig verschwunden zu sein, und den Deutschen begann es trotz der glänzenden Umgebung fast wie Langeweile zu überkommen, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte und im Umdrehen Burton’s Gesicht erkannte. „Es geht Alles vortrefflich, Sir,“ sagte dieser vertraulich; „es liegt aber den Meisten von uns viel an einer möglichst allgemeinen Zustimmung der Gemeindeglieder, und so denke ich, Sie zeigen sich noch einmal, sobald der jetzige Tanz vorüber ist, am Piano – die Ladies sind sämmtlich in der besten Laune, und sobald Sie sich diese zu Freunden machen, stehen Sie hier wie auf Felsen –“

„Ich bin nur hier, Sir, um über mich verfügen zu lassen,“ erwiderte der Deutsche, und mit einem zufriedenen Nicken führte ihn der Hausherr nach dem „Musikzimmer“, dort selbst das Piano öffnend und den Sessel heranziehend. „Sobald das Niggergefiedel endigt, beginnen Sie mit etwas recht Kräftigem oder so – Sie werden mich verstehen – und dann sollen Sie sehen, daß sie Alle wie die Bienen herbeischwärmen!“

Reichardt nahm Platz und hatte nicht lange auf das Ende des Tanzes zu warten; sobald das Geräusch der auseinander rauschenden Paare vorüber war, begann er mit der pompösen Einleitung eines modernen Salonstücks; er war beim ersten Anschlag überrascht von der Macht und Ausgiebigkeit des amerikanischen Instruments; er griff mit voller Kraft in die Tasten und fand bald einen Genuß für sich selbst in der Fülle und Klarheit, welche durch alle Stimmlagen herrschte; er spielte mit größerer Lust als je und bemerkte es kaum, daß sich das Zimmer rasch mit den anwesenden Gästen füllte. Erst beim Aufnehmen des einfachen Themas warf er einen Blick um sich; kaum aber waren die rauschenden Accorde und Cadenzen der Einleitung verklungen, als sich bei der folgenden einfachen Melodie auch das gesammte Interesse der Zuhörer zu verlieren schien; Gespräche, welche sichtlich weit interessanter als der musikalische Vortrag waren, wurden von allen [275] Seiten angeknüpft, und als Reichardt das Thema zart und geschmackvoll schloß, konnten die Töne vor dem lauten Summen der allgemeinen Unterhaltung kaum zu dem nächsten Hörer gelangt sein.

Unangenehm berührt sah der Spielende auf und machte eine Pause, als wisse er nicht, ob fortzufahren oder zu enden.

„Nur vorwärts, Sir, ich habe Ihnen vorausgesagt, daß Sie eine Niggerarbeit thun werden,“ klang ihm die Stimme Harriet’s in’s Ohr, welche so eben zu seiner Seite eins der Notenbücher aufschlug, „das Schwatzen ist Hinterwaldsmode, an die Sie sich nicht stoßen dürfen; es ist übrigens kaum Jemand hier, der Ihre Musik würdigen könnte – “

„Singt der Gentleman nicht?“ ließ sich eine einzelne Stimme hören.

„Richtig, singen Sie etwas, es hilft wenigstens zur Abwechselung!“ lachte Harriet. „Kümmern Sie sich indessen einmal nicht um die ganze Heerde, wie sie hier geht und steht, und denken Sie, wir Beide wären allein – “

„Aber ich kenne kein einziges Lied mit englischem Texte,“ erwiderte er.

„So singen Sie preußisch, italienisch oder russisch – aber nur vorwärts, die Leute verlangen Musik zu ihren Gesprächen!“

Reichardt ließ die Finger präludirend über die Tasten laufen, ohne sogleich zu wissen, was zu beginnen; da klang ihm aus der Erinnerung plötzlich Mathildens frische Stimme in’s Ohr, und ein Gefühl fast wie Heimweh überkam ihn unter dieser „Heerde“ von geputzten fremden Menschen; mochten sie jetzt schwatzen, er wollte sich nicht darum kümmern, wollte sich nur selbst genug thun, und mit voller Seele begann er, die zweite Stimme kräftig auf dem Piano, hervortreten lassend:

„Zieh’n die lieben gold’nen Sterne
Auf am Himmelsrand,
Denk ich dein in weiter Ferne,
Theures Heimalhland.“

Ort und Zeit begannen ihm zu schwinden; er war wieder in New-York mit der „Schwester“ zusammen, voll der zuversichtlichen Hoffnungen der ersten Tage nach seiner Ankunft; er hörte des Mädchens klare Töne wieder, wie sie ihn damals überrascht hatten, und fast unbewußt begann er die für die Violine geschriebene Durcharbeitung des Themas auf dem Piano nachzuahmen. Er beachtete es nicht, daß die Unterhaltung um ihn her zu stocken begann, daß nach und nach eine lautlose Stille unter den Anwesenden eintrat, er that nur seinem innern Bedürfniß genug, und fast überraschte es ihn, als er, nach dem Schlusse aufsehend, ringsum die Augen auf sich gerichtet fand.

„Ich denke, Sir, wenn Sie unserm Chor nur ein Stückchen von dieser Art zu singen beibringen, so können wir uns gratuliren, Sie hier zu haben!“ sagte der alte Burton herantretend und ihm die Hand reichend, und damit schien auch der Bann des Schweigens, welcher auf der übrigen Gesellschaft zu liegen schien, gebrochen zu sein; in einem immer lauter werdenden Summen begann die allgemeine Unterhaltung wieder; als Reichardt sich aber erhob, traf er auf Harriet’s Augen, welche mit einem seltsamen Ausdruck an ihm hingen.

„Ich habe keine Idee von den Worten, die Sie gesungen,“ sagte sie, den Blick wegwendend, „ich könnte Sie aber lieb haben für dies Lied – da!“ rief sie sich unterbrechend, als die Tanzmusik sich wieder hören ließ, „ ich möchte jetzt die Nigger aus dem Hause jagen!“

Anders schienen indessen die Empfindungen der übrigen Gesellschaft zu sein; bei den ersten Tönen der „Fiedel“ und des Tambourins begannen die Männerfüße halblaut den Takt zu treten, die Damen bogen graziös Taille und Schulter, und davon rauschten die Paare im lustigen Galopp.

„Ich denke Ihre Angelegenheit heute noch vollständig in Ordnung zu bringen,“ sagte Burton wieder, zu dem Deutschen tretend, „mag Ihnen aber jetzt deshalb keinen weitern Zwang auflegen – besuchen Sie mich morgen früh, sobald Sie ausgeschlafen haben und amüsiren Sie sich jetzt so gut als möglich!“

Ein bedeutsamer Blick Harriet’s, welche sich an ihres Vaters Arm gehangen hatte, traf den jungen Mann, und nach wenigen Secunden folgte dieser, als der Letzte, langsam der übrigen Gesellschaft nach den Vorderzimmern.

Eine Stunde lang mochte sich Reichardt in ziemlicher Langeweile zwischen den tanzenden Gruppen umher getrieben haben; er hatte Young einige Male bemerkt, welcher wie mit finstern Gedanken beschäftigt an den Wänden der Zimmer hinschritt; von der Dame des Hauses war indessen ebensowenig wie von dem methodistischen Prediger zu entdecken; ebenso schien Harriet unsichtbar geworden zu sein, und der Deutsche überlegte eben, ob er nicht am besten thue, den Weg nach seinem Hotel zu suchen, als er plötzlich des Mädchens Stimme dicht neben sich hörte. „Nehmen Sie Abschied von Pa, Sir, er steht dort in der zweiten Thür, und gehen Sie; wenn Sie aber den äußersten Eingang zum Vorplatz des Hauses verlassen haben, so wenden Sie sich rechts um die Einzäunung, bis Sie auf eine kleine Hinterthür treffen. Ich werde in zehn Minuten dort sein.“

Reichardt war seit gestern so an das verdeckte Sprechen gewöhnt, daß er bei ihren Worten nicht einmal den Kopf gedreht hatte. Er wandte sich, wie ihm angewiesen war, nach dem Hausherrn, der ihn in bester Laune aufforderte, doch wenigstens noch die kurze Zeit bis zum „Supper“ zu bleiben und dabei „in aller Stille“ ein paar Gläser Wein mit ihm zu trinken, wogegen Jener sich mit nichts Anderem als einem heftigen Kopfweh zu helfen wußte, und nach Kurzem trat er in die dunkele Nacht hinaus, in welcher das Sternenlicht nur die größeren Gegenstände ungewiß abzeichnete. Leicht fand er es indessen, der weiß angestrichenen Einzäunung zu folgen, und nach kurzem Gange ruhte seine Hand an der bezeichneten Thür. Sie öffnete sich ohne Schwierigkeit, und Reichardt befand sich, soviel er wahrnehmen konnte, in einer Art dichtbewachsener Laube. Ehe er indessen noch daran dachte, eine genauere Inspektion seiner Umgebung anzustellen, hörte er schon das leichte Rauschen von Frauengewändern in der Nähe und unterschied im gleichen Augenblick Harriet’s helle, sich aus dem Dunkel heraushebende Gestalt.

„Ich bin hier!“ sagte er gedämpft, als sie am Eingänge der Laube zögernd ihren Schritt anhielt.

Sie trat rasch ein und wandte sich nach der Seite. „Hier ist eine Bank, setzen Sie sich neben mich! “ sagte sie. Reichardt gehorchte, fühlte aber schnell, daß der Sitz kaum Platz für Zwei bot, und fand sich halb bedeckt von Kleidern, deren Duft in dieser nächtlichen Einsamkeit einen noch kaum gekannten Reiz auf seine Nerven ausübte. Er fühlte, wie das Mädchen sich vergeblich bestrebte Raum zu schaffen und sich dann rasch wieder erhob.

„Bleiben Sie, wo Sie sind!“ rief sie halblaut, als der junge Mann ihrem Beispiele folgen wollte; „ich hatte mir vorgenommen, nicht wieder im Dunkeln mit Ihnen allein zu sein; da es sich aber nicht ändern läßt, so bleiben wir wenigstens von einander so weit als möglich. Jetzt erzählen Sie mir klar und genau, was Sie in Saratoga erlauscht, Sie haben jetzt vielleicht einen Begriff der Wichtigkeit, welche jedes Wort für mich hat!“

Reichardt erzählte so genau, als ihm nur sein Gedächtniß treu war.

„Es ist so! es ist so!“ sagte sie, nachdem der Deutsche geschlossen, „der Heuchler ist in diesem Augenblicke noch in ihrem Privatzimmer mit ihr zusammen – es muß ein Ende damit werden, aber ich darf die Thatsachen um der Ehre meines Vaters halber jetzt nicht benutzen – ich darf ihr noch nicht einmal mit einem andeutenden Worte entgegentreten, denn das erste Wort müßte auch der Vorläufer des letzten sein, und wo liegt ein Beweis, daß über die Grenze einer häuslichen Religions-Uebung hinausgegangen worden wäre? – Wenn ich wüßte, welche Bande diesen Young mit dem methodistischen Heuchler verbänden, es sollte bald Vieles klar sein – aber ich werde erfahren, was ich brauche, ich werde die Schlange spielen, wenn es sich nicht anders thun läßt! – Kommen Sie jetzt, damit ich nicht vermißt werde!“ fuhr sie fort und streckte die Hand nach ihm aus, die er ergriff und fest hielt.

„O,“ sagte sie mit weicherem Tone, während sich ihre Finger um die seinigen schlossen, „Sie denken an Saratoga, aber der Augenblick ist zu ernst für Tändeleien; warten Sie, bis der Weg klar ist! Jetzt folgen Sie mir nach der Vorderthür; ich möchte nicht, daß Jemand Sie hier das Haus verlassen sähe.“

Sie hatte ihn zur Seite gezogen, wo innerhalb der Umzäunung ein Laubgang an dieser hinlief, und schritt hier, ihm halb voran, dem Hause zu. Erst als das helle Licht aus den Fenstern auf ihren Weg zu fallen drohte, blieb sie stehen. „Ich werde Sie morgen am Tage nicht sehen,“ sagte sie leise, „ich erwarte Sie aber gegen Mitternacht wieder hier, wo wir jetzt stehen, falls ich Sie sprechen müßte. Sie sehen dort den Balcon, von welchem [276] zwei schmale Treppen am Hause herablaufen, und rechts daneben die beiden dunkeln Fenster; dort ist mein Zimmer. Ein paar Steinchen, an die Scheiben geworfen, werden mir Nachricht von Ihrer Ankunft geben. Ich werde dies Gewebe durchdringen, und sollte ich es auch nur der Ehre meines Vaters halber thun. Jetzt gehen Sie gerade nach der vordern Gitterthür – und so gute Nacht bis morgen!“

Er fühlte einen warmen Händedruck, sah aber im nächsten Augenblicke auch die zurückeilende Mädchengestalt im Dunkel des Laubganges verschwinden.

Reichardt schlug langsam den Heimweg ein, aber er fühlte sich wie in einem halben Rausche. Dieses warme Vertrauen, mit welchem die reiche, strahlende Harriet ihn umfing, setzte sein ganzes Blut in Erregung, während die Familien-Verhältnisse, in welche er sich hineingezogen sah, ihm sein augenblickliches Leben als das abenteuerlichste, in das er nur hätte gerathen können, erscheinen ließen. Er vergegenwärtigte sich das Gesicht dieser bleichen Frau, in deren Auge es wie verborgene Gluthen schimmerte – er wußte nicht, ob er sich so plötzlich zu ihrem Gegner hätte machen lassen, wäre es nicht um dieses Pfaffen willen, welcher das Heiligthum der Familie beschmutzte, und dieses Young wegen, bei dessen erstem Anblicke er sich eines instinctmäßigen Widerwillens nicht hatte erwehren können, geschehen. Wie hätte er sich übrigens auch dem Willen des seltsamen Mädchens, das fast alle seine Schritte geleitet, entziehen können, wenn er auch vielleicht gewollt hätte? Er schüttelte lächelnd den Kopf, als er die einzelnen Scenen des Abends an sich vorüberziehen ließ. Er war fast kaum mehr als eine gehorchende Maschine in ihrer Hand gewesen, und doch lag in diesem Anspruch auf seinen Gehorsam eine Vertraulichkeit, gegen deren Macht es kaum einen Widerstand gab.




Es war bereits spät am Morgen, als Reichardt durch das Geräusch, welches Bob durch das Umwerfen eines Stuhls verursachte, aus dem Schlafe gerissen wurde.

„Frühstück ist längst vorüber, Sir,“ grinste der Schwarze, als der junge Mann in seinem Bette rasch aufsaß, „und ich meinte, es sei besser, Sie von der Zeit zu benachrichtigen!“

„Beim Teufel!“ rief der Deutsche nach einem Blicke auf seine Uhr, und war mit beiden Füßen auf dem Boden, in seine Kleider fahrend. – „Etwas Neues, Bob?“ fragte er nach einer Weile, als er den Schwarzen mit einem halb verlegenen Grinsen noch immer an der Thür stehen sah.

„Nichts Besonderes, Sir,“ erwiderte dieser, mit der Hand nach seinem Wollkopfe fahrend, „ich habe nur die ganze Nacht geträumt, ich wäre im Osten und spielte die Fiedel!“

„Müßt Eurem Herrn sagen, Bob, daß er Euch hingehen läßt!“

„Mich hingehen läßt? Mr. Curry? Ohe!“

„Also nichts zu machen?“ sagte Reichardt, der sich über die letzte Grimasse des Negers des Lachens nicht erwehren konnte, „kennt Ihr Euern Herrn so genau?“

„Ob ich ihn kenne, Sir!“ erwiderte der Schwarze mit einem Ausdrucke im Gesichte, dessen Eigenthümlichkeit dem jungen Manne auffiel. „Ich war, ehe er mich hierher that, immer zunächst um ihn, bin Kirchendiener gewesen, Sir – o, ich kenne ihn, Sir!“

Ein noch halb unklarer Gedanke tauchte in Reichardt’s Kopfe auf. „Ich habe Mr. Curry gestern Abend gesehen, in Mr. Burton’s Hause,“ sagte er, während er fortfuhr, sich mit seinem Anzuge zu beschäftigen, „er scheint ein Freund von hübschen Ladies zu sein, was?“

Der Schwarze ließ ein eigenthümliches Klucksen hören und zog den Kopf in die Schultern. „Mag sein, Sir,“ erwiderte er, „aber Alles nur um ihres Heils willen!“

„Habe auch keinen andern Gedanken gehabt,“ erwiderte Reichardt lächelnd. „Aber,“ fuhr er, wie von einer andern Erinnerung berührt, fort, „unter solchen Umständen wißt Ihr wohl auch, Bob, woher die besondere Freundschaft zwischen dem Mr. Young und Euerm Herrn kommt, da doch ihr Alter eben so verschieden ist als ihre Kirche?“

Der Neger sah ihn plötzlich mit aufgerissenen, starren Augen an. „Wissen Sie etwas davon?“ fragte er nach einer Pause halblaut. „Ich – ich habe Ihnen nichts gesagt, Sir!“

Reichardt wandte sich nach dem Spiegel, um seine augenblicklichen Empfindungen bei der Antwort des Schwarzen zu verdecken.

„Und wenn Ihr mir etwas gesagt hättet, was thät’s?“ versetzte er, sich das Halstuch umlegend; „ich bin fremd hier und verlasse in den nächsien Tagen den Ort; was ich weiß, habe ich durch Zufall erfahren, und es interessirt mich nur, weil mir die Verhältnisse hier überhaupt merkwürdig sind.“

Bob war einen Schritt näher getreten. „Sie gehen wieder nach dem Osten, Sir?“ fragte er zögernd.

„Wahrscheinlich!“ entgegnete Reichardt leichthin.

Der Schwarze schien zum Sprechen anzusetzen, zog aber nur zwei wunderbare Grimassen und lachte dann verlegen. Seine weiteren Aeußerungen wurden indessen durch den Ton der Hausglocke, welcher ihm durch alle Glieder zu zucken schien, abgeschnitten. „Ich sehe Sie wieder, Sir, wenn Sie es erlauben!“ sagte er eilig und war in rascher Wendung zur Thür hinaus.

Reichardt sah ihm nach und nickte nachdenklich mit dem Kopfe. „Hier scheint sich wirklich ein Loch finden zu lassen, wenn man es recht angreift – es fragt sich nur, wie!“ brummte er und machte einen Gang durch das Zimmer. Ein Blick auf seine Uhr aber schien ihn aus seinen Gedanken zu reißen. „Werden ja sehen, was sich thun läßt,“ sagte er, „jetzt vorläufig das Nächste und Nothwendigere!“ Er beendete eilend seinen Anzug und ging dann hinab, um sein Frühstück einzunehmen. Nach wenig Minuten aber schon war er auf dein Wege nach Burton’s Hause, um Nachricht über das Ergebniß der gestrigen Verhandlung einzuholen. Harriet’s Vater empfing ihn mit demselben biedern Wohlwollen, welches schon bei dem ersten Begegnen mit ihm den jungen Mann so angenehm berührt hatte.

„Well, Sir,“ sagte er, als Beide sich in einem der Parlors niedergelassen hatten, „unsere Angelegenheit ist, soweit es den Geldpunkt anbetrifft, vollkommen in Ordnung. Eine kleine Schwierigkeit nur wünschten meine Freunde, nachdem sie sich gestern mit dem Prediger und den Trustees ausgesprochen, vor Antritt Ihres Amts noch beseitigt zu sehen, und ich fürche nicht, daß Sie dabei auf große Hindernisse stoßen werden. Wir haben bis jetzt meist die Einigkeit in der Gemeinde bewahrt, und diese zu erhalten ist es, was dem Prediger wie den Trustees am meisten am Herzen liegt. Es ist eine kleine Anzahl von Mitgliedern unter uns, welche jede Neuerung haßt, welche sich auch der Anschaffung der Orgel widersetzte, bis sie kräftig überstimmt wurde, und die jetzt durch Anstellung eines tüchtigen Musikers als Organist weitere Neuerungen fürchtet. Es gehört leider ein großer Theil unserer Sänger zu dieser Opposition, die jedenfalls, wenn wir unsern Willen in Bezug auf Sie durchsetzen wollten, sofort das Chor verlassen würden. Nun haben wir eigentlich nur einen einzigen Mann hier, welcher die Orgel kennt und den Gottesdienst leiten kann, das ist Mr. Young, den Sie ja bereits haben kennen lernen. Sobald Sie sich mit diesem verständigen – Was gar nicht fehlen kann, da er selbst keinen Nutzen für seine Stellung an der Kirche hat und er Ihre Fähigkeit in jeder Weise anerkennt – so fällt jeder Halt für die Opposition von selbst weg. Ich glaube einigen Einfluß auf den Mann zu haben, und wenn es Ihnen recht ist, so machen wir ihm heute oder morgen einen Besuch und ordnen die Sache.“

Reichardt hatte den Sprechenden ausreden lassen, ohne eine Miene zu ändern, obgleich die Ahnung, welche bei der „kleinen Schwierigkeit,“ die noch zu überwinden sei, in ihm aufgestiegen war, bei der Erwähnung von Young’s Namen zur vollen Gewißheit in ihm wurde – daß seines Bleibens hier nicht sein könne.

Er war sich jetzt vollkommen klar über die Bedeutung von Young’s hämischer Frage am vergangenen Abende, er wußte nun sicher, daß dieser allein die Seele der sich kund gebenden Opposition bildete, und doch konnte er nicht einmal etwas von seinem bestimmten Verdachte äußern, ohne bei einer Begründung desselben Harriet’s erwähnen zu müssen.

[289] „Ich bin Ihnen für Ihre Freundlichkeit von Herzen dankbar, Sir,“ begann Reichardt langsam, als Burton geendet, „ich gestehe Ihnen aber freimüthig, daß es mir widerstrebt, einen Schritt in dieser Art zu thun. Ist mir Mr. Young freundlich gesinnt, so bedarf es keiner Verständigung, die, auf diese Weise gesucht, mich demüthigen müßte; ist er mir aber abhold, so würde auch der Versuch, ihn zu gewinnen, nichts nützen. Ich kam hierher mit dem Gedanken, durch meine Leistungen einen noch leeren Platz auszufüllen, und bemerkte deshalb auch den Gentlemen gestern Abend, daß ich lieber wieder gehen würde, als die Ursache des geringsten Zwiespaltes werden möchte –“ er hielt inne, als wolle er seinem Gesellschafter die Ergänzung selbst überlassen.

Burton fuhr sich mit der Hand durch das buschige Haar. „Es ist etwas Wahres in dem, was Sie da sagen,“ erwiderte er, „indessen versteht es sich wohl von selbst, daß wir Sie nicht so ohne Weiteres von hier weg lassen und daß ich Harriet’s Wort gegen Sie möglichst zu Ehren bringen muß. Ich werde heute noch einmal mit einzelnen meiner Freunde reden, und wenn sich kein anderer Weg findet, morgen selbst Young aufsuchen –“ er rieb sich von Neuem den Kopf, als ginge ein unangenehmer Gedanke durch seine Seele.

Reichardt erhob sich. „Ich wünschte nicht, Mr. Burton, daß Sie sich meinetwegen die kleinste Unannehmlichkeit auflüden –“

„Durchaus nicht, Sir – durchaus nicht!“ unterbrach ihn der Amerikaner, seinen Gast nach der Thür geleitend, „ich erwarte jedenfalls Ihren Besuch morgen Abend und denke, Ihnen dann günstigere Mittheilungen machen zu können!“

Der Deutsche verließ das Haus und nahm seinen Weg langsam durch die malerische Umgebung der Stadt, um ungestörter mit seinen Gedanken zu sein. Es war jetzt weniger die Sorge um sein Schicksal, was ihn erfüllte, als eine Art Haß gegen diesen Young. Er wollte gern die Stadt verlassen, hätte er doch vorher nur noch dem „Molche“ den Kopf zertreten können. Er hoffte nicht das Geringste von Burton’s Vermittelung; der Mann war schwach gegen seine Frau und seine Tochter und so wohl auch im gewöhnlichen Leben – er erfüllte jetzt die Form gegen den Fremden, da sich diese nicht wohl umgehen ließ, und dann war er mit ihm fertig. Reichardt dachte wohl auch an Harriet – aber was konnte diese für ihn thun, selbst wenn sie sich in seinem Interesse hätte bloßstellen wollen?

Es war längst „Dinner“-Zeit vorüber, als er in seinem Hotel anlangte, wo ihm Bob nach dem leeren Speisezimmer winkte. „Ich habe für Sie etwas zurückgestellt, Sir! “ sagte er, eifrig ein Couvert auflegend.

„Und das geschieht wohl nicht für Jeden?“ fragte Reichardt.

„Wohl nicht immer, Sir, aber ich habe Sie gern!“ erwiderte Jener mit der eigenthümlichen Zuthulichkeit der Schwarzen in den südlichen Staaten.

Der Deutsche nickte. „Ich glaube, mir geht es mit Euch eben so, Bob!“ gab er freundlich zurück, und ein helles Grinsen nahm das ganze Gesicht des Aufwärters ein.

Kaum hatte Reichardt seine Mahlzeit beendet und sein Zimmer erreicht, als sich die Thür wieder öffnete und Bob’s Kopf erschien. „Haben Sie mich gerufen, Sir?“

„Kommt nur herein, wenn Ihr Zeit habt,“ erwiderte der junge Mann, welchem die Erscheinung gerade recht zu kommen schien; „habt Ihr etwas auf dem Herzen, worin ich Euch helfen kann, so sagt es gerade heraus – es schien mir heute Morgen so!“

Der Schwarze zog seinen Mund fast bis zu den Ohren und begann seine Hände zu kneten. „Ich weiß nicht!“ sagte er nach einer Weile zögernd, sich scheu nach der Thür umsehend.

„Well, Bob, dann nachher; es fällt mir eben etwas Anderes ein!“ unterbrach Reichardt die Pantomimen des Negers. „Ich werde jedenfalls schon übermorgen früh abreisen und vielleicht kann ich Euch nicht wieder sprechen. – Wie war das Nähere über die Geschichte zwischen Young und Euerm Herrn?“ fuhr er mit vorsichtig gedämpfter Stimme fort.

„Sch! um Christi Willen!“ rief der Wollkopf wie in einem plötzlichen Schrecken beide Hände erhebend.

„Ich weiß, Bob, ich weiß!“ entgegnete der Deutsche noch leiser, „es geht mich auch nichts an; aber die Geschichte interessirt mich, da ich einmal so viel davon gehört habe, und man lernt daraus die Verhältnisse hier kennen!“

„Ich darf kein Wort sagen, Sir,“ versetzte der Schwarze, wie in halbem Entsetzen, „er verkaufte mich hinunter nach den Zuckerplantagen, wenn etwas davon auskäme!“

Reichardt sah ihn eine Secunde ungewiß an. „Alles Unsinn!“ sagte er dann, sich kalt wegdrehend; „was ich von Euch wissen wollte, macht an der Sache, die ich kenne, nichts schlimmer und nichts besser. Sagt, daß Ihr nichts wißt, Bob, und so braucht Ihr wenigstens einem Manne, der gern für Euch gethan hätte, was er gekonnt, keine unwahren Flausen vorzumachen.“

„O Sir, sagen Sie nicht so!“ rief der Neger erregt, aber mit ängstlich unterdrückter Stimme, „ich habe ja die Miß Young [290] selbst mit in’s Kirchenstübchen getragen, als sie zu Boden stürzte; ich würde mir lieber die Zunge abbeißen, als Ihnen eine Lüge sagen, Sir!“

Durch Reichardt’s Gehirn schoß plötzlich ein heller Blitz – die methodistische Glaubenserweckung, von welcher ihm Harriet erzählt, die Konvulsionen, in welche Young’s Schwester dabei gefallen war; – noch fehlte ihm jeder Zusammenhang, aber er ahnte, um was es sich handeln könne. „Ich verlange nicht, Bob, daß Ihr mir etwas von der Sache selbst sagt, ich brauche sie von Euch nicht zu hören,“ begann er, sich wieder nach dem Aufwärter kehrend, „ich möchte nur wissen, wie Young dazu kam; – ich bin übermorgen aus der Stadt, und Ihr lauft mit keinem Worte Gefahr,“ fuhr er fort, als er den Schwarzen wieder furchtsam den Kopf zwischen die Schultern ziehen sah, „ich verspreche Euch aber als ehrlicher Mann, daß, wenn Ihr mir die wenigen Andeutungen geben wollt, ich Euch eine Violine aus dem Westen schicken werde, wie sie hier herum nirgends zu haben sein soll!“

Der Neger schien Reichardt’s Gesicht scheu zu studiren. „Es liegt mir im Augenblick nicht so viel an der Violine,“ sagte er nach einer Pause, einige Schritte näher herantretend, während es sonderbar um seine Augen zuckte, „aber ich möchte Sie wohl um Einiges fragen, Sir, und wenn Sie mir bei Christus schwören wollen, daß Sie keinem Menschen verrathen wollen, was ich gefragt, so will ich Ihnen erzählen, was Sie verlangen – da Sie doch einmal die Hauptsache schon wissen.“

„Es hätte keines Eides meinerseits bedurft, Bob,“ erwiderte der junge Mann, der mühsam an sich hielt, um die Spannung nicht zu verrathen, welche sich plötzlich seiner bemächtigte und selbst die Neugierde nach dem Geheimnisse, welches der Schwarze auf dem Herzen zu haben schien, nicht aufkommen ließ. „Da Euch aber etwas daran zu liegen scheint, so schwöre ich hiermit bei Christus, daß ich Niemandem verrathen will, was Ihr mich fragen werdet, und ich verspreche Euch auch diese Fragen nach besten Kräften zu beantworten!“

Der Neger that einen tiefen Athemzug, sah sich scheu nach der Thür um und sagte dann halblaut: „Well, Sir – was soll ich Ihnen nun sagen?“

„Ich bin fremd im Lande und in dem hiesigen Methodistenwesen, das ich aber gern kennen lernen möchte,“ erwiderte Reichardt in scheinbarer Ruhe, „fangt also nur an, wo Ihr selbst meint, Bob!“

Der Schwarze warf nochmals einen scheuen Blick um sich und trat dann dicht an den Tisch heran, auf welchen sich der Deutsche stützte.

„Es war am dritten Abend des Revivals, wo die Sache passirte,“ begann er halb flüsternd, „ich weiß es noch genau, denn ich hatte doppelt so viel Lampen als gewöhnlich anzünden müssen. Der fremde Prediger, der zur neuen Glaubenserweckung gekommen war, hatte so gewaltig gesprochen, daß viele Bekehrungen geschahen und über eine Menge der Geist sich ausgoß; es war ein Niederwerfen und Stöhnen und Händeringen, wie ich es noch niemals gesehen. Mit einem Male aber sprang die Miß Young in die Höhe und schrie, daß man’s durch die ganze Kirche hörte: „Christ is coming! Glory, Glory, Glory!“ und schlug mit den Armen um sich, und „Glory!“schrieen die Anderen, und plötzlich stürzte die junge Miß zu Boden. Da fing der fremde Prediger wieder an zu reden, daß es nur so donnerte, und es ging wieder los unter den Uebrigen mit Schlagen vor die Brust und Stöhnen; Mr. Curry aber war auf die junge Miß zugetreten, die mit Händen und Füßen zuckte, und winkte mich von der Seitenthüre herbei, wo mein Platz war, um immer bei der Hand zu sein. Ich mußte sie unter den Armen fassen, er nahm ihre Füße auf, und so trugen wir sie in’s Kirchenstübchen – von den Andern, die um sie herum gewesen waren, hatte noch nicht einmal Eins den Kopf nach ihr gedreht. Wir lehnten sie in’s Sopha, und Mr. Curry schickte mich durch die Hinterthür, wo es in’s Freie geht, fort. Well, Sir, ich war von dem langen Sitzen auf einem Flecke müde und vertrat mir ein Weilchen die Beine; da kommt, eben wie ich daran denke, meinen Platz wieder einzunehmen, Mr. Young an mir vorbeigeschossen und will in’s Kirchenstübchen – die Thür aber war verschlossen. Er rüttelt erst ein- oder zweimal, dann that er einen gewaltigen Stoß dagegen, und die Thür springt auf.“

Der Schwarze machte eine Pause und sah wie in scheuem Zögern dem jungen Manne in’s Gesicht. Dieser aber nickte ruhig und sagte: „Ich weiß schon, was kommt, Bob, erzählt nur ohne Furcht weiter!“

Bob that einen tiefen Athemzug, blickte wieder ängstlich um sich und fuhr dann flüsternd fort: „Ich hatte einen Gedanken, es könne hier ein Unglück geben – er war mir so plötzlich gekommen, daß ich selbst nicht weiß, woher – und ich sprang mit zwei Sätzen an die aufgebrochene Thür. Mister Curry stand so weiß wie sein Hemdenkragen vor dem Sopha, auf dem die junge Miß lag, und hielt den jungen Gentleman zurück, der zu seiner Schwester wollte; der aber riß ihn mit einem Ruck auf die Seite, und ich konnte nun sehen, daß die junge Lady, die ihre Sinne noch nicht recht zu haben schien, nicht –“ der Erzähler warf auf’s Neue einen scheuen Rundblick durch das Zimmer, „nicht mehr so anständig dalag, als wir sie hingelegt hatten. Mr. Young hatte auch kaum seine Augen auf sie gerichtet, als er auch meinen Herrn bei beiden Schultern packte. Aus der Kirche klang’s gerade jetzt wieder: „Glory! Glory! Glory! “, ich aber dachte: jetzt geht’s los! trat in die Thür und sagte: „Bob ist jetzt hier, Mr. Curry!“ Der junge Gentleman fuhr nach mir herum, und ich sah, daß er trotz der Wuth in seinem Gesichte unschlüssig wurde, was er thun solle. Endlich nahm er seine Hände von Mr. Curry’s Schulter, sah ihn aber an, als wolle er ihn mit seinen Augen erstechen. „Ich spreche Sie morgen früh, Sir!“ sagte er, und die Aufregung schien ihm die Kehle halb zuzuschnüren. Das war auch das erste Wort, was gesprochen ward, oder was ich wenigstens gehört. Dann richtete er die junge Lady auf, sie wankte wie betrunken in seinen Armen, er kehrte sich aber nicht daran, faßte sie zur Unterstützung um den Leib und führte sie nach der Thür, die ich geschwind genug frei machte. Ich hatte noch keine zwei Minuten außerhalb gewartet, ob mich Mr. Curry vielleicht brauche, als er mich hineinrief. Er sah wieder so gleichmüthig wie jemals zuvor aus und ging langsam auf und ab. „Das ist ein Wahnsinniger, dem aber Verstand beigebracht werden soll,“ sagte er; „indessen, Bob“ – und damit blieb er vor mir stehen und sah mich mit Augen an, die ich gut genug kannte, es war noch jedesmal, wenn er so blickte, der bitterste Ernst dahinter gewesen – „ich will nicht, daß etwas verlautet, kein Hauch davon, Bob! unser heutiger glorioser Tag soll nicht durch das leiseste Wort beschmutzt werden!“ Er hob den Finger auf, aber ich wußte auch ohne das genug. – Als ich wieder auf meinem Platze in der Kirchthür ankam, sah ich auch schon Mr. Curry beim Altar, und bald darauf fing er selber an zu predigen, so schön und rührend, wie er es noch kaum gethan. – Well, Sir,“ fuhr der Sprecher mit einem neuen Athemzuge fort, als habe er eine schwere Aufgabe hinter sich, „am nächsten Morgen kam Mr. Young schon ganz früh in unser Haus und sah aus wie eine schwarze Gewitterwolke, die nur auf einen kleinen Anstoß wartet, um loszublitzen und zu donnern. Ich führte ihn, wie es mir geheißen worden war, sogleich in die Bibliothek; als er aber – es mochte wohl eine Stunde vergangen sein – das Haus wieder verließ, begleitete ihn Mr. Curry bis vor die Thür, sie drückten sich die Hände, und wenn es auch noch nicht gerade Sonnenschein auf Mr. Young’s Gesichte war, so konnte ich doch sehen, daß das Gewitter sich seitwärts weggezogen hatte. Es blieb auch Freundschaft von da an; aber ich merkte bald, daß jetzt mein Gesicht meinem Herrn im Wege war; er fing an über mein Fiedeln zu reden und brachte mich endlich hierher in’s Hotel –“ der Sprechende hielt plötzlich inne und horchte, „das ist die Stage!“[2] rief er, und im gleichen Augenblicke begann auch die Hausglocke zu läuten. Mit zwei vorsichtigen Sprüngen war der Schwarze an der Thür, öffnete diese geräuschlos, und wenige Secunden darauf hörte Reichardt seine Stimme bereits von der Straße heraufklingen.

Der junge Deutsche begann mit langen Schritten sein Zimmer zu durchmessen. Bob hatte nichts von dem zu erzählen gewußt, was die plötzliche Freundschaft zwischen Young und dem Pfaffen geschaffen und diese an die Stelle der drohenden Rache, zu welcher der Erstere nur zu sehr berechtigt gewesen wäre, gesetzt – aber Reichardt war so vollkommen klar darüber, als hätte er eine Mittheilung der kleinsten Details erhalten. Harriet und ihr Vermögen waren der Preis, mit welchem sich Curry Verschwiegenheit gesichert, der Preis, um welchen Young die Ehre seiner Schwester verkauft hatte. Rascher wurde der Gang des jungen Mannes; seine Wangen begannen sich zu röthen und seine Augen einen eigenthümlichen Glanz anzunehmen; der alte Burton hatte ihm gerathen [291] sich mit Young zu verständigen – jetzt ließ sich das thun, wenn auch dem „Molche“ dabei der Hals zugeschnürt wurde, daß er wohl gern für alle Zeiten sich von Reichardt’s Wege fern hielt. Reichardt blieb stehen, blickte wie scharf überlegend eine Weile vor sich hin, griff dann, wie noch immer mit seinen Gedanken beschäftigt, nach seinem Hute und verließ langsam das Zimmer. In der „Office“ des Hotels erkundigte er sich nach der Lage von Young’s Geschäftslocal, brannte sich eine Cigarre an und verfolgte dann den ihm angedeuteten Weg.

Der ganzen Erscheinung nach war es eine Art Commissions- und Speditions-Geschäft, wie es deren im Inlande zur Vermittelung des Weitertransports der Plantagen-Erzeugnisse und derartigen Geschäften überall giebt, welches Young betrieb. Reichardt trat in einen langen, theilweise mit Ballen und Fässern besetzten Raum, und wurde von einem hier beschäftigten jungen Manne nach einem durch rohe Breter abgetrennten Stübchen im Hintergrunde gewiesen. Young saß, als Reichardt die Thür öffnete, an einem hohen Schreibpulte, in die Durchsicht verschiedener Papiere vertieft und hob erst den Kopf, als er von dem Eingetretenen seinen Namen nennen hörte. Einen Augenblick schien er beim Anblicke des Deutschen überrascht; dann aber verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln, in welchem sich eine unverhehlte Befriedigung mit einem halbunterdrückten Hohne mischte. „Ah, Mr. Reichardt!“ sagte er, sich langsam auf seinem Schemel herumwendend, „nehmen Sie Platz, Sir!“

„Ich komme, Mr. Young,“ begann der Deutsche, sich auf dem nächsten Stuhle niederlassend, „um ein Verständniß zwischen uns zu versuchen, das für uns Beide nothwendig sein dürfte.“

„Ah, für uns Beide!“ versetzte mit affectirter Verwunderung der Amerikaner, während der Hohn um seinen Mund stärker hervortrat.

„Jawohl, für uns Beide, Sir!“ erwiderte Reichardt, langsam seine Cigarre zum Munde führend und eine leichte Wolke von sich blasend. „Sie hegen Wünsche in Bezug auf Miß Harriet Burton, Sir,“ fuhr er ruhig fort, „und halten mich für einen Stein in Ihrem Wege, den Sie in irgend einer Weise beseitigen müssen –“

„Nicht daß ich wüßte, Sir, oder mir auch nur vorstellen könnte, wie Sie sich in meinen Weg stellen könnten!“ unterbrach ihn Young, die Lippen geringschätzig kräuselnd.

„Wird Ihnen vielleicht klar werden, wenn Sie mich nur, wie es zwischen Gentlemen üblich ist, ausreden lassen wollen!“ entgegnete Reichardt, von Neuem seine Cigarre hebend. In Young’s Gesicht stieg eine leichte Röthe; der Erstere aber fuhr ruhig fort: „Ich möchte Ihnen nun zweierlei sagen, Sir. Miß Burton’s Verhältniß zu mir hat, wie es sich schon von selbst versteht, nichts als ihre Liebe für gute Musik zum Grunde und kann auch in der entferntesten Weise nicht andern Beziehungen im Wege stehen; demohngeachtet sind Ihre Bewerbungen um Miß Burton aus ganz bestimmten Gründen so vollkommen vergebliche, Sir, daß Sie durch Anfeindung eines armen Menschen, wie ich es bin, nicht allein auf einer ganz falschen Fährte laufen, sondern auch die größte Ungerechtigkeit begehen.“

Ein leichter Spott spielte jetzt um Reichardt’s Lippen; Young’s Gesicht hatte sich höher gefärbt, und nur mit Mühe schien er an sich zu halten. „Ich werde schnell zu Ende sein, Sir,“ fuhr der Erstere, zwei neue Wölkchen aus seinem Munde blasend, fort. „Die bestimmten Gründe nun, von denen ich sprach, liegen darin, daß Miß Burton genau von dem Verhältniß, welches Sie und Mr. Curry vereinigt, unterrichtet ist, daß sich die Lady nicht zum Preis für die Verschweigung einer Angelegenheit, die nur zwischen Ihnen und dem Prediger liegt, machen lassen will und daß sie jetzt nur abwartet, wie weit der Druck, welcher durch Curry’s Einfluß auf sie ausgeübt wird, gehen soll. Miß Burton empfindet es zugleich auf die unangenehmste Weise, daß das Wort, welches sie mir für meine Anstellung als Organist verpfändet, durch eine Opposition, deren Hauptleiter sie in Ihnen erblickt, zu nichte gemacht werden soll, und so dürften Sie mich vielleicht jetzt verstehen, wenn ich eine Verständigung um unser Beider willen für gut halte.“

Aus Young’s Gesicht war mehr und mehr alles Blut gewichen, seine Augen blickten starr auf den Sprecher, und seine Hände hatten sich wie unwillkürlich geballt. Eine Pause erfolgte, nachdem Reichardt geschlossen, und erst nach einer Weile schien dem Amerikaner ein bestimmter Gedanke zu kommen. Er stieg von seinem Schemel, ging nach der Thür und sah hinaus – der Deutsche hatte sich vorsichtig gerade aufgesetzt und beobachtete scharf jede seiner Bewegungen; Young aber nahm langsam seinen frühern Platz wieder ein, sah finster vor sich nieder und sagte: „Hat Ihnen Miß Burton den Auftrag gegeben, mir diese Eröffnungen zu machen?“

„Nicht im Entferntesten, Sir, und ich glaube auch nichts dem Aehnliches gesagt zu haben,“ erwiderte Reichardt, die Asche von seiner Cigarre schnellend. „Daß ich hierher kam, geschah aus keinem anderen Grunde, als Sie aus einem Irrthume zu reißen, unter welchem Sie augenscheinlich handelten, und so uns in das rechte Verhältniß gegenseitig zu setzen. Sie mögen zugleich versichert sein, daß es jetzt einzig in Ihrer Hand liegt, einen Eclat zu vermeiden – Miß Burton wünscht diesen gewiß eben so wenig als ich selbst. Der alte Mr. Burton wird morgen bei Ihnen sein, um Sie wegen der Organistenstelle zu meinen Gunsten zu stimmen; thun Sie dann, was Ihnen recht scheint; glauben Sie indessen, Sir, daß meine Stellung Ihnen gegenüber immer genau dieselbe sein wird, die Sie gegen mich einnehmen.“ Er warf einen Blick auf Young, der wort- und regungslos vor sich niederstarrte, erhob sich dann und verließ mit einem „Good evening, Sir!“ den Raum. Er fühlte sich frei und leicht, als er die Straße erreicht; er hatte in der ruhigsten Weise seine Absicht ausgeführt und wohl dadurch zumeist die rechte Wirkung erzielt. Jetzt hätte er am liebsten zu Harriet eilen mögen, um ihr die Botschaft zu bringen, auf welche sie sicher am wenigsten vorbereitet war; aber die Sonne war eben erst im Untergehen begriffen, und so nahm er, während die eben durchlebte Scene nochmals Wort für Wort an seiner Seele vorüberzog, seinen Weg wieder nach dem Hotel.

„Ein feiner Abend, Sir!“ empfing ihn der Wirth, welcher von der Veranda aus den prächtig gefärbten Himmel beobachtete, „werden morgen splendides Wetter haben. – Fiel mir eben ein,“ fuhr er fort, als Reichardt neben ihn trat, „ob Sie nicht gern einmal einen Ausflug machten. Ich denke morgen früh nach meiner Farm zu fahren; sie liegt ganz wunderhübsch dort hinaus zwischen den Bergen, und Alles zusammen ist es nur eine Spazierfahrt von zwei Stunden. Sie sind willkommen, wenn Sie mich begleiten wollen, Sir!“

Das Anerbieten kam dem jungen Manne ganz gelegen, er hätte sonst kaum gewußt wie die Zeit hinzubringen, die ihn von seinem morgenden Besuche bei Burton und der letzten Entscheidung über sein augenblickliches Schicksal trennte. Er sagte dankend zu, und der Hotelbesitzer, der sich für seinen jungen Gast zu interessiren schien, zog zwei Stühle herbei, ein Gespräch über Reichardt’s Heimath und die allgemeinen deutschen Verhältnisse einleitend. Reichardt’s Gedanken aber waren mehr bei dem, was sich aus seiner Zusammenkunft mit Young entwickeln konnte, als bei den neugierigen Fragen seines Wirths, und er war froh, daß schon nach Kurzem die Speiseglocke dem Gespräche ein Ende setzte. –

Es war zehn Uhr vorüber, als Reichardt das Hotel wieder verließ. Er nahm den nächsten Weg aus der Stadt, um auch gegen zufällige Begegnungen das Ziel seines Ganges zu verdecken. Eine laue, würzige Nacht lag über der Gegend, eine Nacht voller Sterne, wie sie der Deutsche in dieser Klarheit und funkelnden Pracht noch nie gesehen zu haben meinte. Von den fernen Akazien klang das eigenthümliche Geschrei der Locusts herüber, untermischt mit einzelnen Rufen der Ochsenfrösche. Um den Wandernden her lebte und raschelte es in Gras und Laub, summte es in der Luft, und je weiter Reichardt ging, je mehr fühlte er sich von dieser berauschenden Luft, von diesem eigenthümlichen Nachtleben erregt. Er hatte einen weiten Bogen zu machen, um nach Burton’s Haus zu gelangen, und als er endlich nach länger als einer Stunde seines langsamen Spazierganges die Hinterthür der Umzäunung erreichte, mußte er erst eine Weile stille stehen, um das Herzklopfen, das ihn plötzlich überkommen, zu beruhigen. Behutsam öffnete er endlich die Thür und wandte sich nach dem Laubgang, durch welchen ihn am Abend vorher Harriet geführt. Dunkel und still lag bald das Haus vor ihm, und nur in den beiden bezeichneten Fenstern machte sich ein schwacher Lichtschein bemerkbar. Eben als er sich nach dem Boden bog, um nach einigen Steinchen zu suchen, kam ihm der Gedanke, welchen Grund seiner Anwesenheit er wohl angeben könne, falls er durch irgend einen Zufall entdeckt werde. Heimliche Wege lagen so ganz außer seiner Denk- und Handlungsweise, daß er sich bei dem ersten Unternehmen dieser Art, das nicht einmal durch einen eigenen, innern Drang hervorgerufen [292] war, ganz ohne Boden fühlte und er sich einer Art Feigheit nicht erwehren konnte. Eine geraume Weile stand er horchend und spähend, bis er seine Umgebung für sicher hielt. Dann trat er in’s Freie, und der aufgeraffte feine Kies flog gegen eins der Fenster. Ein leises Klopfen an die Scheiben ließ sich dort als Antwort hören. Reichardt trat tief aufathmend unter den bergenden Laubgang zurück und bald sah er eine helle Gestalt aus einer der Treppen herabgleiten. „Hier bin ich, Miß Harriet!“ rief er leise, als sie zu ihm in das Dunkel trat, und faßte ihre Hand, die sich fest um die seinige schloß.

„Es ist gut, daß Sie gekommen sind,“ sagte sie sichtlich erregt, „es wird Alles aufgeboten, um Ihr Bleiben hier unmöglich zu machen, selbst Ihre besten Freunde schütteln die Köpfe vor dem Gespenste Zwiespalt in der Kirchengemeinde – Vater hat Ihnen ja schon das Nöthige gesagt, er hat sich heute wieder ein paar vergebliche Wege gemacht. Aber Sie werden hier bleiben, Sir,“ fuhr sie fort, und Reichardt fühlte einen warmen Druck ihrer Hand, „Harriet Burton wird dem ganzen Gethier zeigen, daß sie durchsetzen kann, wofür sie ihr Wort gegeben –“

„Einen Augenblick nur, Miß,“ unterbrach sie Reichardt, „ich glaube, wir haben unsere beiderseitigen Angelegenheiten vollständig in unserer Gewalt. Ich habe heute Glück gehabt und den feindlichen Spieß herumgedreht.“ Und damit begann er die Erlebnisse des Tages in allen Einzelnheiten zu erzählen. Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen, aber er fühlte jede ihrer Empfindungen an diesen weichen Fingern, die sich bei einem spannenden Momente halb von seiner Hand lösten, bald sich wieder dichter darum schlossen.

Eine Pause folgte, als Reichardt geendet. „Sie haben gehandelt,“ sagte sie endlich langsam, seine Hand loslassend, „wie es vielleicht dem Manne zukommt, Auge gegen Auge; und doch wäre es besser gewesen, Sie hätten die ganze Angelegenheit in meiner alleinigen Macht gelassen. Mir haben Sie jetzt wohl die beste Waffe in die Hand gegeben; sich aber haben Sie in Young und dem Prediger zwei Feinde geschaffen, die wahrscheinlich nicht mehr offen gegen Sie auftreten, aber Ihnen im Verborgenen den Boden unter den Füßen abgraben werden. Ich hätte Sie so gern ganz ohne directen Antheil an dem Kampfe gesehen, damit Sie völlig rein dagestanden hätten, und selbst der Haß Ihrer Gegner ohne eigentliche Begründung gewesen wäre; ich vermied schon deshalb so ängstlich jeden Schein einer nähern Bekanntschaft mit Ihnen – jetzt ist das vorüber, und wir haben zu nehmen, was kommt. Aber mögen die Schlangen doch auch ihr ganzes Gift verspritzen,“ fuhr sie plötzlich lebhaft fort, „sie sollen nicht in Harriet Burton’s Bereich kommen. Merken Sie, Sir,“ und sie faßte von Neuem kräftig seine Hand, „möge auch geschehen, was da wolle – und ich weiß, es wird nicht ausbleiben, was es auch sei – benachrichtigen Sie mich sofort, und Harriet wird zu Ihnen stehen und – und wird Alles vergessen, was nur ihrer Rücksicht bis jetzt heilig gewesen ist!“ Es war ein eigenthümlicher Ton, der in diesen Worten klang, ihre Stimme war gesunken und schien unter ihrer Empfindung zu beben. „Gehen Sie jetzt, es ist besser!“ fuhr sie in demselben Tone fort, und Reichardt fühlte seine Hand umschlossen, daß es ihm warm bis zum Herzen stieg, „denken Sie daran, was ich Ihnen sagte, und bauen Sie auf Harriet!“ Sie zog ihre Hand in einer Art von Hast zurück und wandte sich dem Hause zu; ohne sich umzublicken, eilte sie die Treppe hinauf und verschwand in der Thür des Balkons.

Reichardt stand noch zwei Minuten auf demselben Platze, ihr nachblickend; der eigenthümliche Ton ihrer letzten Worte klang noch immer in seinen Ohren, und eine Ahnung, sein ganzes Inneres rebellirend, stieg in ihm auf. Er hatte seinen Rückweg angetreten, fast ohne es selbst zu wissen, und erst als er sein Hotel vor sich sah, kam er wieder zum rechten Bewußtsein seiner selbst. Langsam stieg er die Treppe nach seinem Zimmer hinauf, brannte sich Licht an und blieb dann in der Mitte des Raumes stehen. „Es ist ein wahnsinniger Gedanke,“ sprach er vor sich hin, „und doch ist bei ihr Alles möglich!“ Wieder versank er in Gedanken und schüttelte dann langsam den Kopf. „Und wenn es wäre, könnte ich denn’? – Schlafe, Max,“ fuhr er sich aufrüttelnd fort, „wenn es Morgen ist, werden die Einbildungen verdunstet sein!“ Er warf seine Kleider von sich, löschte das Licht und kaum hatte er sein Lager gesucht, als auch schon der Schlaf über ihn kam, mit neuen Bildern jede andere Erinnerung aus seiner Seele scheuchend.




Die Sonne schien bereits hell in sein Zimmer, als er am andern Morgen erwachte. Sonst hatte ihn immer Bobs Eintreten, der seine Kleider zum Reinigen abholte, geweckt; heute lag noch jedes Stück seines Anzugs, wo es Abends zuvor Platz gefunden. Er sah nach seiner Uhr, es ging bereits auf neun; die Landpartie, welche er schon früh mit dem Wirthe hatte machen sollen, fiel ihm ein – es war sonderbar, daß er nicht geweckt worden war, und mit einiger Verwunderung verließ er sein Bett.

Als er nach kurzer Toilette sich nach der bereits verlassenen Frühstückstafel begab, währte es eine geraume Zeit, ehe er einen der schwarzen Aufwärter habhaft werden konnte. „Wo ist Bob?“ war seine erste Frage. Der Neger sah ihn mit einem Blicke an, dessen Ausdruck sich Reichardt umsonst zu erklären suchte, zog dann die Schultern in die Höhe, warf einen Blick um sich und sagte mit einem Grinsen, in dem sichtlich eine Bedeutung lag: „Ich weiß nicht, Sir!“

Der Deutsche sah eine Secunde lang ungewiß in das schwarze Gesicht. „Ist etwas mit ihm vorgefallen?“ fragte er.

„Weiß nicht, Sir!“ war die erneuere Antwort; mit gedämpfter Stimme aber fuhr der Sprecher fort: „Mr. Curry kam gestern Abend noch spät und frug nach Bob; der mochte es ihm aber beim Eintreten wohl schon angesehen haben, daß irgend etwas nicht recht war; er schlüpfte zur Hinterthür hinaus, und seit der Zeit haben wir nichts wieder von ihm gesehen – er ist die ganze Nacht nicht in’s Haus gekommen.“

Auf das Herz des jungen Mannes legte sich schwer der Gedanke, daß sein Gespräch mit Young wahrscheinlich Bob’s Unglück geworden war. Es lag auf der Hand, daß der Erstere nach des Deutschen Weggange sogleich den Prediger aufgesucht und dieser auf den Schwarzen, als den einzigen Zeugen des Vorgangs in der Sacristei, den Verdacht eines Verraths geworfen hatte. Reichardt war sich bewußt, nur dem Triebe der Selbsterhaltung gefolgt zu sein, und zu ändern war jetzt auch nichts mehr. Trotzdem ging er nach beendetem Frühstück in der unangenehmsten Stimmung nach seinem Zimmer zurück.

Er hatte sich dort kaum auf einen Stuhl an’s Fenster geworfen, als nach kurzem Klopfen der Besitzer des Hotels den Kopf zur Thür hereinsteckte und beim Erblicken des jungen Mannes in’s Zimmer trat.

„Sie scheinen eine gute Nacht gehabt zu haben!“ sagte er, sich unweit seines Gastes auf einem Stuhle niederlassend.

„Das heißt, ich habe unsere Fahrt verschlafen,“ erwiderte Reichardt lachend, dem es lieb war, sich aus seinen Gedanken reißen zu können, „Sie scheinen aber selbst ein Hinderniß gefunden zu haben!“

„Dem ist wirklich so!“ versetzte der Wirth. „Well, Sir,“ fuhr er fort, sich das Kinn streichend, während sich sein Gesicht in ernste Falten legte, „es ist da eine unangenehme Geschichte, um deren willen ich eigentlich zu Ihnen kam. Bob, Ihr Auswärter, ist gestern Abend unsichtbar geworden und jetzt noch nicht wieder zurück. Sein Herr, der methodistische Prediger im Orte, war gestern Abend hier, um ihn zu sprechen, und heute Morgen wieder.

Der geistliche Gentleman war ziemlich aufgeregt, als er zum zweiten Male vergebens kam, und schien keine andere Idee zu haben, als daß der Vermißte flüchtig geworden sei. Er begann die übrigen Neger-Aufwärter zu examiniren, und was er da erfuhr, scheint wirklich seinem Verdachte einen Boden zu geben. Das schwarze Volk hat sämmtlich ausgesagt, daß Sie sich immer besonders freundlich gegen Bob gezeigt und er sich dessen gerühmt habe, daß Sie ihm, nach seiner Erzählung, die verlockendsten Dinge über den Osten mitgetheilt, wie, daß es dort Niemand mit ihm als Fiedler aufnehmen könne, und daß er nur hinzukommen brauche, um dort ein großer Mann zu werden.“

Reichardt fuhr auf, aber der Hotelbesitzer winkte ihm zu schweigen. „Ich kann mir schon denken, Sir, daß in den Aussagen Manches übertrieben ist, und bin auch, wie ich Sie habe kennen lernen, überzeugt, daß das, was Sie etwa gesagt haben mögen, ohne den geringsten bösen Willen ausgesprochen war, daß Sie nur durch die Unkenntniß unserer hiesigen Verhältnisse dazu verleitet worden sind. Demohngeachtet läßt es sich nicht wegdisputiren, daß Sie in dem angedeuteten Sinne geredet, daß der Schwarze verschwunden ist, und daß diese Flucht dem Einflusse Ihrer Worte zugeschrieben wird.“

[318] „Aber um Gotteswillen,“ rief Reichardt, dem die Erinnerung an die geheimnißvollen Fragen, welche ihm der entflohene Bob hatte vorlegen wollen, den Schweiß auf die Stirn trieb, „Alles, was ich auch gesagt haben möge, ist doch so völlig unverfänglicher Natur gewesen –“

„In Ihrem Sinne sicherlich, Sir,“ unterbrach ihn der Wirth, „nicht aber in dem unsrigen, die wir unsre Neger kennen; und um gleich Alles zu sagen, so möchte ich Ihnen als Freund rathen, die Stadt und wo möglich den Staat ohne die geringste Zögerung zu verlassen. Ich habe einige Worte des Predigers in Bezug auf Sie aufgefangen, die nichts Gutes verkünden, und es sollte mich schmerzen, Sir, Sie nicht vor Unannehmlichkeiten schützen zu können, deren Grenzen sich im Augenblicke noch nicht einmal absehen lassen. Ich kann meinen leichten Wagen in drei Minuten angespannt haben und fahre Sie nach der nächsten Station der Postkutsche, die gegen Mittag dort halten wird. Beim Dunkelwerden erreichen Sie dann Nashville und nehmen das Dampfboot, was von dort nach dem Ohio abgeht –“

„Das heißt, ich soll flüchten?“ rief der Deutsche, überrascht, aber noch ungewiß sich von seinem Stuhle erhebend.

„Gerade das, Sir, und zwar so lange es noch Zeit ist!“ war die bestimmte Antwort.

„Und vor wem, Sir, und weshalb?“ rief Reichardt erregt; „vor dem Prediger Curry, und wegen einer vielleicht hier unvorsichtigen, aber sonst ganz harmlosen Aeußerung? Nimmermehr, Sir, und wenn ich auch in dieser Schnelligkeit mich hier losreißen könnte. Ich denke, ich bin in einem Lande, wo wenigstens Gesetz und Ordnung herrschen, wenn auch die Redefreiheit auf ganz besonderen Füßen zu stehen scheint, und ich will die Dinge abwarten, die mich möglicherweise treffen können. Ich glaube gern, daß es der heißeste Wunsch dieses Mr. Curry sein mag, mich wie einen Verbrecher aus der Stadt hetzen zu können, ich weiß zu viel von seinen Angelegenheiten – aber wir wollen sehen, wer der Stärkere ist; hoffentlich werde ich auch von anderen Seiten nicht ganz verlassen sein!“

„Sie scheinen mit unsern Verhältnissen noch gänzlich unbekannt zu sein,“ erwiderte der Hotelbesitzer, und ein Zug von Unruhe stieg in seinem Gesichte auf. „Unser Volk ist das friedlichste und gastfreundlichste; nur darf es nicht an seinem empfindlichsten Punkte, den Verhältnissen der farbigen Diener und Arbeiter, berührt werden; und angesichts der vom Norden ausgehenden brandstifterischen Emancipationsbestrebungen ist es nur zu sehr in seinem Rechte, wenn es jeden Fremden mit mißtrauischem Auge betrachtet, ihn bei dem entferntesten Verdachte einer Einwirkung auf die Schwarzen kurz und entschlossen aus dem Staate schafft und ihm das Wiederkommen verleidet. Es ist das ein Gebot der Selbsterhaltung, Sir, und noch selten haben sich in derartigen Fällen unsere Beamten dem Volkswillen zu widersetzen gewagt. Nun liegt jedenfalls schon genug gegen Sie vor, um eine Ausweisung zu rechtfertigen, dazu ist der Prediger Curry, wie Sie selbst sagen, nicht Ihr Freund, und ich sehe Auftritte voraus, die, wenn Sie sich nicht bei Zeiten durch Ihre Entfernung davor schützen, Ihnen die bitterste Erinnerung an unsere Stadt verschaffen könnten –“

„Aber erlauben Sie mir, ich bin noch nicht volle zwei Monate in den Vereinigten Staaten und kenne weder Land noch Leute,“ versetzte Reichardt ruhig, „die mannigfachen Freunde, welche ich mir hier bereits gewonnen, wissen das und werden meine harmlosen Aeußerungen danach beurtheilen. Im Uebrigen aber glaube ich nicht einmal, daß Curry etwas gegen mich zu unternehmen wagt. Ich würde den Vorwurf der größten Feigheit auf mich laden, wenn ich in blinder Angst auf und davon liefe, ohne von befreundeter Seite nur einmal einen Rath eingeholt zu haben –“

„Well, Sir,“ erwiderte der Wirth, sich kurz erhebend, „ich habe Ihnen meine Hülfe angeboten und kann nichts weiter thun. Halten Sie sich für sicher, desto besser, und ich wünsche von ganzem Herzen mich geirrt zu haben.“

„Und ich danke Ihnen aufrichtig,“ gab der Deutsche zurück; „ich werde sofort ein paar Wege in dieser Angelegenheit gehen – aber muthen Sie mir nicht zu, wie ein Verbrecher mich heimlich davon zu machen!“

Der Hotelbesitzer nickte nur und verließ das Zimmer; Reichardt aber griff nach seinem Hute – er war durchaus nicht so ruhig, als er sich gegeben, und vielleicht hätte er bei seiner unsichern Stellung der Aufforderung seines Hausherrn gefolgt, wenn ihm nicht der Gedanke gekommen wäre, daß der Wirth möglicherweise im Einverständniß mit Curry handele, um ihn so auf die kürzeste und ruhigste Weise aus der Stadt zu schaffen, – wenn er außerdem es nicht auch für seine Pflicht gehalten hätte, Harriet zuerst von dem Stande der Dinge zu benachrichtigen.

Er verließ rasch das Hotel und schlug den Weg nach Burton’s Hause ein. Aufmerksam beobachtete er jedes Gesicht in der Straße, welches sich ihm zuwandte; nirgends aber traf er auf einen Blick, der eine Kenntniß des Geschehenen verrieth und seinen stillen Befürchtungen Nahrung gegeben hätte, und mit leichterem Herzen erreichte er Harriet’s Wohnung. Die junge Lady war, wie ihm die öffnende Schwarze sagte, mit ihrem Vater auf das Land gefahren und wurde vor Abend kaum zurück erwartet. Etwas getäuscht trat Reichardt den Rückweg an; nach kurzem Gange erblickte er indessen vor einem der Geschäftslocale ein Gesicht, das in freundlicher Erinnerung ihm die Versammlung der Männer wieder vorführte, welche in Burton’s Hause sich seines Interesses so rege angenommen. Der Dastehende nickte dem Deutschen schon von weitem zu. „Wie steht’s?“ fragte er, als Jener herangekommen war, und streckte die Hand aus, „sind die Sachen endlich geordnet und die Bedenklichkeiten der frommen Herren beseitigt?“

„Wohl noch nicht ganz!“ erwiderte Reichardt und drückte die dargebotene Hand; „indessen möchte ich mir wohl erlauben, in einer anderen Angelegenheit mir Ihren Rath zu erbitten.“

„Kommen Sie herein, Sir, ich bin immer bereit, wenn ich Ihnen mit etwas dienen kann,“ erwiderte der Amerikaner und schritt dem Deutschen nach einer Schreibstube im Hintergründe des Locals voran, zog dort einen Stuhl herbei und ließ sich zugleich auf einem andern nieder. Der junge Mann setzte sich und begann nach einem kurzen Eingange seine frühere Begegnung mit Bob, sowie das ganze mit seinem Wirth am Morgen gehabte Gespräch mitzutheilen, hinzufügend, daß er in derselben Angelegenheit soeben Mr. Burton vergeblich aufgesucht. Der Amerikaner sah, als Reichardt geendet, eine Weile schweigend vor sich nieder. „Ich muß Ihnen sagen,“ begann er dann, sich einigemal rasch durch die Haare fahrend, „daß ich in Ihrem Interesse wünschte, die Geschichte wäre nicht passirt. Ich glaube kaum, daß sich Unannehmlichkeiten daraus entwickeln werden, wie sie Ihr Wirth fürchtet, so viel unnützes Volk wir auch in der Nähe der Stadt haben, das sich ein Vergnügen aus jedem Krawall macht. – Sie sind unsern besten Männern hier schon genug bekannt, als daß diese sich Ihrer nicht annehmen sollten, und ich glaube auch noch nicht einmal, daß der Schwarze wirklich davon gelaufen ist, ich halte ihn für zu gescheidt dazu – indessen muß die Sache auf Ihre Zukunft unter uns hemmend einwirken. Man wird nicht Ihren bösen Willen, aber Ihre Unerfahrenheit in unsern Verhältnissen fürchten – und der Methodist, wenn Sie den einmal auf dem Nacken haben, wie mir scheint, ist schon im Stande, einen großen Theil der öffentlichen Meinung gegen Sie zu stimmen. Ich sehe nicht, daß sich im Augenblick etwas Anderes thun ließe, als die Dinge abwarten.“

Reichardt sah in das Gesicht des Mannes, welches trotz der Herzlichkeit des Tons einen Zug steifer Zurückhaltung anzunehmen begann, und erhob sich. „Ich will Sie nicht länger belästigen, Sir,“ sagte er, „ich fange an, einen Einblick in den Stand der Dinge zu erhalten, und werde, sobald ich nur Mr. Burton gesprochen, die Bewohnerschaft von der Sorge über meine Anwesenheit befreien.“

„Es ist wirklich äußerst unangenehm, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie leid mir die Sache thut,“ erwiderte der Amerikaner, seinen Gast nach der Thür begleitend, „ich kann aber beim besten Willen nicht sehen, was sich darin thun ließe –“

[319] Der Deutsche schnitt mit einer Verbeugung die weitern Worte ab und wandte sich in gedrückter Stimmung nach dem Hotel. Er sah im Geiste alle die Männer, welche ihn so lebhaft ihrer Freundschaft und Unterstützung versichert, in ähnlicher Weise von sich abfallen. Er hatte mit seinem bedachtlosen Wohlwollen für Bob augenscheinlich ein Verbrechen begangen, das ihn von jeder ferneren Theilnahme ausschloß, und der Wirth hatte mit seinen Ansichten der Dinge nur zu sehr Recht gehabt. Demohngeachtet sollte ihm jetzt Niemand seine Entmuthigung anmerken; er wollte, sobald er nur Harriet noch einmal gesehen, die Stadt verlassen, aber offen und ungezwungen.

Mit aufgerichtetem Kopfe betrat er das Hotel, in welchem soeben die Mittagsglocke geläutet hatte, und wandte sich nach dem Speisezimmer. Sein Eintritt schien hier eine Art Aufsehen zu erregen. Die noch eben von einzelnen Gästen lebhaft geführten Gespräche flockten plötzlich, während sich von allen Seiten die Blicke mit einem Ausdrucke von Verwunderung oder Neugierde nach ihm kehrten. Reichardt konnte sich einer leichten Befangenheit nicht erwehren, nahm indessen ruhig seinen Platz ein und übersah es absichtlich, daß die ihm zunächst Sitzenden die Köpfe von ihm wandten und mit ihren Nachbarn eifrig zischelten. Hier hatte also die Angelegenheit schon zu arbeiten begonnen, und es konnte nun kaum fehlen, daß nach wenigen Stunden die ganze Stadt davon voll war. Es ward dem Deutschen bald peinlich, der ersichtliche Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein. Ohne Hast, aber in möglichster Kürze beendete er sein Mahl und schritt dann nach der Vorhalle hinaus. Dort stand der Wirth im Gespräche mit dem Buchhalter. Kaum aber hatte der Erstere im Umdrehen Reichardt’s Gesicht erblickt, als er auch, wie um jeder Begegnung mit dem Deutschen auszuweichen, sich nach dem Innern des Hauses wandte, während der zurückgebliebene Buchhalter einen unzufriedenen Blick nach dem Gaste warf und in der „Office“ verschwand. Reichardt neigte den Kopf und verließ das Haus – er gestand sich, daß es bald hohe Zeit für ihn sein werde, dem Orte den Rücken zu kehren.

Planlos schlug er die nächste Straße ein, welche aus der Stadt führte; er wollte nicht eher zurückkehren, als bis er Harriet oder wenigstens deren Vater gesprochen – aber es war bereits zehn Uhr Abends, als er erst durch die Dunkelheit seinen Weg zurück suchte, ohne dennoch zu seinem Ziele gelangt zu sein. Ein eigenthümliches Unglück schien ihn verfolgt zu haben. Er hatte, um ein paar Stunden zu tödten, seine Richtung über die nächste Höhe nach einem geschonten Waldstücke genommen und sich hier zum Schlafen niedergelegt. Aber erst bei Einbruch der Dämmerung war er aus allerhand verworrenen Träumen erwacht.

Eilig hatte er jetzt Burton’s Haus aufgesucht, aber nur wiederholt den Bescheid erhalten, daß die Herrschaft noch nicht zurück sei. Als er sich jetzt, die Straßen der Stadt meidend, langsam wieder entfernt, erinnerte er sich plötzlich, daß ihm Burton versprochen, heute wegen seiner Anstellung mit Young zu reden. War durch diesen dem alten Herrn vielleicht zu Ohren gebracht worden, was gegen den Deutschen vorlag, und die Fahrt in’s Land nur angeordnet, um seinem Besuche aus dem Wege zu gehen? Die Annahme erschien nach den Erfahrungen des Tages vollkommen logisch. Welches besondere Interesse hatte Burton an ihm zu nehmen? und mußte nicht die Angelegenheit ganz gelegen kommen, um auf die kürzeste Weise dem Zwiespalte in der Kirchengemeinde vorzubeugen? Zum ersten Male seit dem Morgen fühlte Reichardt ein Gefühl herber Bitterkeit in seiner Seele aufsteigen, das sich erst bei dem Gedanken an Harriet sänftigte. An sie glaubte er, von ihrer Abwesenheit wußte er, daß sie absichtslos war, und sie wollte er auch nur noch allein aufsuchen.

Reichardt war mit seinen Gedanken beschäftigt fortgewandert, bis er sich auf einer von Feldeinzäunungen begrenzten Straße fand, deren Richtung in’s offene Land zu führen schien. Er blieb einige Secunden stehen, um sich möglichst zu orientiren, wanderte dann zurück und schlug die erste Straße, welche seinen bisherigen Weg durchkreuzte und sich nach der Stadt zu wenden schien, ein. Bald aber endete diese an dem geschlossenen Gitterthore einer Baumwollenpflanzung, und der Verirrte, wollte er nicht noch einmal umkehren, konnte nichts thun, als die Einzäunung übersteigen und in der verfolgten Richtung das Feld überschreiten. Neun andere Einzäunungen zählte er, welche er auf seinem mühseligen Wege zu passiren hatte, bis er endlich wieder freien Grasboden unter sich fühlte. Die Nacht war längst hereingebrochen, und von der Stadt konnte er keine Spur entdecken. Trotzdem glaubte er in der Richtung nicht fehlen zu können. Er schritt so rasch vorwärts, als es sich auf dem unebenen Boden mit einiger Sicherheit thun ließ, und erblickte nach Kurzem die Chaussee, hell aus dem Dunkel sich heraushebend, vor sich. Jetzt konnte er zwar nicht mehr fehlen, aber die Strecke, welche er zurückzulegen hatte, ehe ihm die Lichter der Stadt entgegenblinkten, zeigte ihm, wie weit ab ihn sein Weg geführt.

Als er sich dem Hotel näherte, fiel ihm ein eigenthümliches Leben in der nächsten Umgebung desselben auf. Kleine Trupps von Menschen standen zerstreut an den Häusern umher, und wo das Licht der Verkaufsläden auf einzelne derselben fiel, ließen sich Gestalten erkennen[WS 1], deren unsaubere Bekleidung und verwilderte Gesichter am wenigsten in die reiche, elegante Landstadt zu gehören schienen. Ein Trinklocal in der Nachbarschaft war mit Menschen ähnlicher Art gefüllt. Demohngeachtet ließ sich nirgends ein überlautes Wort hören, und nur eine Art Summen verrieth dem Entfernteren den lebhaften gegenseitigen Wortaustausch. Reichardt war indessen nicht in der Stimmung, Beobachtungen über Menschen und Sitten anzustellen. Er ging rasch nach der Hotelthür, die er zu seiner Verwunderung geschlossen fand, und die erst nach scharfem Klopfen seinerseits von einem der Schwarzen vorsichtig geöffnet wurde. Ohne sich aber mit Fragen über die Ursache der ungewohnten Maßregeln aufzuhalten, eilte er nach seinem Zimmer hinauf, um, ehe er Harriet noch einmal aufsuche, mit sich selbst über seine Lage in’s Klare zu kommen.

Er hatte soeben Licht angezündet und seinen Hut abgelegt, als die Thür hastig geöffnet wurde und der Wirth mit verstörtem Gesichte eintrat. Ohne ein Wort zu sprechen, löschte er das Licht und faßte den Arm des Deutschen. „Sie dürfen keine Minute hier bleiben, Sir, wenn Sie sich nicht dem Aergsten aussetzen wollen,“ sagte er in hörbarer Aufregung. „Ihr Eintritt in’s Haus ist bemerkt worden – ich habe Sie heute früh gewarnt, und nun ist das Unglück da!“

„Aber was giebt es denn? – von welchem Unglück sprechen Sie denn?“ rief Reichardt, dem es wohl wie eine böse Ahnung durch die Glieder gefahren war, dem aber dennoch jede Vorstellung von d[e]m, was ihm drohen könne, fehlte.

„Was es giebt, Sir?“ erwiderte der Hotelbesitzer in steigender Erregung, „daß Sie aus dem Hause geschleppt, getheert und gefedert und sodann aus der Stadt gepeitscht werden; das giebt es, Sir! Ein sogenanntes Comité der Bürger war heute Nachmittag zweimal hier, um Sie aufzufordern, unverzüglich den Ort zu verlassen. Ich wurde selbst in’s Verhör genommen und mußte ihnen der Wahrheit gemäß sagen, daß Sie sich nicht wollten wie ein Verbrecher hinwegtreiben lassen. Jetzt sind die Executionsmannschaften, das verwilderte Volk, das auf kleinen Plätzen zwischen unsern Plantagen lebt und dessen höchste Lust ein Mob ist, hereingekommen – ich muß das Haus durchsuchen lassen, wenn ich mir nicht eine Demolirung gefallen lassen will, und Sie –“

Ein hundertstimmiger, brüllender Schrei auf der Straße verschlang die übrigen Worte. Zugleich aber drang zu den Fenstern eine rothe Helle herein, mit jeder Secunde an Glanz zunehmend.

„Da sind schon die Fackeln – jetzt fort, um Gotteswillen! Jeder Athemzug Zögerung ist eine Lebensgefahr!“ rief der Besitzer, und Reichardt, verwirrt, von Schrecken vor dem Unbekannten überkommen, flog an seiner Seite die Treppe hinab nach dem hintern Theil des Hauses. Von der Vorderthür tönte ihnen Schlag auf Schlag nach. Mit fliegender Hand öffnete der Wirth eine kleine Hinterthür, welche in eine schmale, durch zwei hohe Breterwände gebildete Gasse führte. „Jetzt gebe Gott, daß der Ausgang hier noch frei ist,“ flüsterte er, „laufen Sie wie für Ihr Leben!“

Reichardt, der Angst des Augenblicks folgend, war wie ein Pfeil die Gasse hinabgeflogen. Schon sah er das Ende – da schlug plötzlich Fackelschein vor ihm auf – er schnellte um die Ecke in die sich aufthuende breite Straße. Aber in einem wahren Teufelsjubel klang es hinter ihm: „Da ist er! da ist er!“ und zugleich hörte er die zu raschem Laufe sich verwandelnden Schritte seiner Verfolger.

Der Flüchtling war mit einer Schnelle, wie sie nur die höchste Noth verleihen kann, davon geeilt, ohne sich von der eingeschlagenen Richtung Rechenschaft zu geben, aber die ihm Nachsetzenden schienen zähe an seinen Fersen zu hängen – fort und fort hörte [320] er wilde Rufe und das Geräusch der ihm folgenden Tritte hinter sich, und diese letzteren in einer Regelmäßigkeit, als sei es auf einen Dauerlauf abgesehen, dem er unterliegen mußte, sobald seine Kräfte zu erlahmen begannen. Einmal nur hatte er es gewagt zurückzusehen und kaum zwanzig Schritte hinter sich, allen seinen Verfolgern voraus, eine Gestalt erblickt, die es sich zur Ehrensache gemacht zu haben schien, ihn zu überholen. Mit der Anstrengung der Todesangst hatte er seinen Lauf beschleunigt. Er sah endlich in der matt erhellten Straße, die trotz des nahenden Lärms wie ausgestorben war, eine dunkle enge Seitengasse und bog hinein, in der Hoffnung ein augenblickliches Versteck zu finden und seine Verfolger irre zu leiten – aber ihm blieb keine Zeit zum Suchen, schon schlug der Fackelschein in die Oeffnung der Gasse, während ein Theil des wilden Volkes seinem Geschrei nach die frühere Richtung weiter verfolgte, jedenfalls um den Flüchtigen an einer andern Stelle abzuschneiden. Reichardt sah eine neue Ecke vor sich und bog um diese, sein Weg war uneben, er fühlte es nicht – immer nur klang das seltsam wilde Geschrei der Nachsetzenden in seine Ohren, leuchtete es wie Fackelschein vor seinen Augen auf, ihn zu immer erneuter Fluchtanstrengung antreibend. In seinem Kopfe begann es endlich zu brausen und zu klingen, er wußte, daß er jetzt nicht mehr fern davon war, besinnungslos niederzustürzen, aber er jagte weiter, er durfte nicht anhalten, so lange ihn noch ein Fuß trug. Da tauchte ein hohes, dunkles Gebäude, umgeben von Büschen, vor seinen Augen auf. Eine weiße deutlich erkennbare Einzäunung zog sich darum, und wie ein Blitz schoß es durch den Kopf des Verfolgten: das ist Burton’s Haus! seine Muskeln wie mit neuem Leben durchströmend. Hier, wenn irgendwo, mußte ihm Schutz werden. Er hatte keine Ahnung, welcher Seite des Hauses er zueilte, oder wo sich ein Eingang zu der hohen Einzäunung befand. Er faßte den obern Rand derselben mit beiden Händen und schnellte sich empor – aber seine Kraft brach unter der Anstrengung – er fiel wieder zurück.

Da, in einem Aufwallen von Verzweiflung, machte er einen zweiten Versuch, und mehr stürzend als niedergleitend gelangte er an der entgegengesetzten Seite auf den Boden, wie ein getroffenes Wild in sich zusammenbrechend. In der nächsten Secunde indessen hatte er, die Hand auf die wogende Brust gedrückt, sich wieder erhoben und mit Hast versuchte er sich zu orientiren; er sah den weißen Balkon mit den beiden am Hause herablaufenden Treppen, sah die Fenster von Harriet’s Zimmer daneben – sie waren dunkel; ehe er jedoch dazu kam, sich einen Gedanken über seine Beobachtungen zu machen, klang ein keuchender Ruf aus geringer Entfernung in seine Ohren, wie ein Hammerschlag auf seine überreizten Nerven wirkend. Er fühlte eine plötzliche Schwäche über sich kommen und seine Augen sich verdunkeln; aber mächtiger noch war der Gedanke, daß er verloren sei, wenn er jetzt der Ermüdung erliege. Seine letzten Kräfte zusammen fassend griff er in den Kies des Wegs, warf eine Handvoll gegen Harriet’ s Fenster und stürzte die Treppe nach dem Balkon hinauf, sich von dort mit schwindenden Sinnen nach dem offenen Innern des Hauses wendend. Er sah ein Licht vor sich aufblitzen, fühlte, wie die Beine unter ihm zu brechen drohten – dann wußte er nichts mehr von sich selbst, bis es ihm plötzlich wurde, als lege sich ein Etwas weich und heiß auf seinen Mund, Ströme warmen Lebens in seine Adern ergießend, als werde er eingehüllt in duftige Tücher, die, ein Gefühl süßen Wohlbehagens hervorrufend, sich dichter und dichter um ihn schlangen. „Max, o Max, sieh auf, Du bist ja sicher!“ klang es leise, wie aus weiter Ferne in seine Ohren. Da war es, als löse sich ein Bann von ihm – er sah wieder, und vor sich erblickte er wie in einem Nebel ein Paar große, ängstliche Augen; der Nebel wich, und Harriet’s bleiches, erregtes Gesicht sah ihm entgegen. Unwillkürlich flog sein Blick auf die nächsten Umgebungen; er traf auf reiche Fußteppiche, einen glänzenden Toilettentisch, auf ein von Vorhängen halb verhülltes Bett – Alles nur matt von einer einzigen Kerze erleuchtet; er fand sich selbst in einem weichen Divan lehnend und hob die Augen zu ihr, in deren Schlafzimmer er augenscheinlich gerathen. Kaum aber schien sie in seinem Blicke die zurückgekehrte Besinnung zu erkennen, als ihre Arme sich um seinen Hals warfen, und ihr Mund sich in wilden Küssen an den seinen hing. Heiße Gluth durchschoß den Erwachenden; noch kaum recht seiner bewußt, umschlang er ihren Leib und zog sie nieder zu sich; er fühlte ihre weichen, vollen Formen, die nur ein einziges dünnes Gewand zu verhüllen schien; eine lange Minute hielt sie, dicht an ihn geschmiegt, ihn fest umschlossen; dann riß sie sich plötzlich aus seinen Armen, drückte seine beiden Hände zurück und kniete da, wo sein Kopf lehnte, nieder, in seine Augen blickend, als wolle sie sich hinein versenken.

[321] „Nicht wahr, sie sind über Dich gekommen, wie das Rudel Wölfe über den Hirsch?“ begann Harriet, indem sie Reichardt’s Hände kräftig umschloß, während ihr Ton vor der innern Erregung bebte. „Ich ahnte es bei den ersten Worten, die mir in die Ohren fielen, als ich unser Haus betrat, und ich durfte doch nicht an Deiner Seite stehen. Ich konnte nicht schlafen, und als der Kies an die Scheiben rasselte, als ich die fliehenden Tritte auf der Treppe hörte, da wußte ich, daß es retten galt. Aber laß es nur,“ fuhr sie rascher fort, mit aufleuchtenden Augen den Kopf emporschnellend, „das ganze Gethier ist Deiner nicht werth, und Niemand soll Dich haben als Harriet, die Dich mit ihren Armen aufgefangen. Ich bin ja selbständig, ich kann verfügen über mich und was mein ist, und morgen will Harriet Dich ihren Mann nennen, will mit Dir alle die Niggers, Schlangen und Eidechsen hinter sich lassen – !“

„Harriet!“ rief Reichardt in fast erschrockenem Tone, aus seiner liegenden Stellung aufschnellend.

„Nun, und was ist es denn?“ erwiderte sie mit glücklichem Lächeln seine beiden Hände in den ihren vereinend.

„Harriet,“ erwiderte er, während sich ein Kampf der verschiedensten Gefühle auf seinem Gesichte abzuzeichnen begann, „das – das – geht nicht!“

„Geht nicht?“ erwiderte sie noch immer lächelnd; plötzlich aber schien ein fremder Gedanke in ihr aufzusteigen, etwas Ungeahntes, Schreckliches mit sich führend; ihr Gesicht begann einen Ausdruck von Angst anzunehmen, ihr Auge ward größer und sonderbar starr, ihre Hände lösten sich von den seinen. „Geht nicht?“ wiederholte sie, „und warum nicht?“

„Harriet!“ sagte Reichardt in bittendem Tone, sich langsam aufrichtend.

Eine Secunde lang schien ihr Blick bis auf den Grund seiner Seele dringen zu wollen. „Mein Gott,“ rief sie, während es in ihren Zügen wie Entsetzen zitterte, „mein Gott, er liebt mich nicht!“ und wie überwältigt von der hereinbrechenden Erkenntniß schlug sie die Hände gegen das Gesicht und fiel in sich selbst zusammen.

„Um Gotteswillen, Harriet!“ wollte Reichardt, von den peinlichsten Gefühlen bestürmt, wieder beginnen, während er eine Bewegung machte, ihre Hand zu ergreifen; sie aber schnellte in die Höhe. „Bleib’! rühr mich nicht an!“ rief sie den Arm abwehrend gegen ihn ausstreckend – „mein Gott, er liebt mich nicht!“ fuhr sie, klagend wie in bitterster Verzweiflung, fort, und jetzt erst schien plötzlich das Bewußtsein ihres äußern Zustandes über sie zu kommen. Wie in sich selbst zurückziehend deckte sie mit beiden Armen ihre Brust und warf einen hastig suchenden Blick um sich – von einem nahen Lehnstuhl riß sie einen weiten Shawl, der sie im nächsten Augenblicke schon vom Halse bis zu den Füßen dicht verhüllte – dann aber fiel sie mit einem leise jammernden „mein Gott, mein Gott!“ in die Polster des Stuhls.

Reichardt fühlte in diesem Augenblick, als habe er nur unter dem Einflusse des kältesten, undankbarsten Egoismus gehandelt, als habe er mit der warmen Hingebung des Mädchens nur für seine Zwecke gespielt; er hatte sich ihr zu Füßen stürzen, hätte wieder gut machen mögen, was seine Kälte gesündigt, und doch war es ihm zugleich, als würde er damit nur einen Betrug an ihr und an sich selbst begehen, als habe er doch kaum anders handeln können, als er gethan. Aber so wie jetzt konnten sie sich nicht einander gegenüber bleiben, ein Verständniß mußte angebahnt werden, um die eigenthümliche Lage, in welche sie Beide gerathen waren, zu beseitigen.

„Harriet, Sie haben mir noch nicht ein Wort erlaubt!“ begann er; sie hatte das Kinn auf die Brust gesenkt und schien ihn kaum zu hören. „Harriet, soll ich nicht reden?“ fuhr er fort.

Da hob sie langsam den Kopf. „Gehen Sie, Sir!“ sagte sie in einem Tone, der nichts mehr von dem Metallklang ihrer frühern Stimme verrieth, „zeigen Sie mir wenigstens so viel Achtung, daß Sie mich jetzt verlassen!“

Der Deutsche erhob sich traurig, er fühlte, daß er nichts mehr zu sagen habe; langsam, mit geneigtem Kopfe ging er nach der Thür; als er aber das Schloß in die Hand nahm, schien es wie ein Schauer über das Mädchen zu kommen. „Warten Sie an der Balkonthür,“ sprach sie mit hörbarer Anstrengung, „ich werde Jemand senden, der Sie sicher unterbringt!“

Eine Minute später stand Reichardt an der angegebenen Stelle – hinter sich ein verschmähtes, nun verschlossenes Paradies; vor sich eine Zukunft so dunkel, wie die Nacht um ihn. Er hätte sich am liebsten sofort losgerissen und den neuen Abschnitt seines Lebens, wie er sich ihm bot, begonnen, wenn er nur die geringste Nachricht über den Stand der Dinge in der Stadt gehabt hätte. Das Hotel war sicherlich bewacht, um ihn noch abzufangen, wenn er spät in der Nacht heimzukehren versuchte, und ohne sich muthwillig in Gefahr zu begeben, durfte er es nicht wagen, seinen augenblicklichen Zufluchtsort zu verlassen. Er hatte noch kaum lange seine unfreundlichen Gedanken verfolgt, als hinter ihm in dem Corridor, an dessen Ausgang er stand, eine Thür [322] klappte und gleich darauf eine Schwarze seinen Arm berührend an ihm vorüberstrich. „Kommen Sie, Sir!“ sagte sie halblaut, ihm die Treppe hinab vorangehend. Der Deutsche folgte, und nach kurzem Gange durch die Gartenanlagen war ein von Schlinggewächsen überwucherter Pavillon erreicht. „Ich werde Sie führen,“ zischelte die Negerin, die Thür öffnend und seinen Arm fassend, „ich habe kein Licht mitnehmen dürfen!“ Sorgsam leitete sie ihn vorwärts und legte endlich seine Hand auf ein weiches Polster.

„Hier können Sie ruhig schlafen!“ schloß sie und war im nächsten Augenblick schon von seiner Seite verschwunden. Reichardt hörte nur noch, wie sich der Schlüssel im Schlosse drehte, und fand sich dann in einer Stille, welcher nur die totale Dunkelheit in dem Raume gleichkam. Prüfend ließ er seine Hand über das als Lager bezeichnete Polster gleiten – es schien ein breiter „Lounge“ zu sein, und ohne weiteres Bedenken nahm er darauf Platz. Seine Gedanken eilten nach der eben durchlebten Scene zurück, bald aber wurden sie durchkreuzt von der Erinnerung an den vorhergegangenen Schrecken, wirre Bilder von seiner nächsten Zukunft tauchten dazwischen in ihm auf; bald aber schmolzen die einzelnen Vorstellungen in einander und der tiefe Schlaf der Uebermüdung senkte sich über den Daliegenden.


Reichardt hätte wohl, von den geschlossenen Fensterladen getäuscht, bis weit in den nächsten Tag hineingeschlafen, wenn ihn nicht ein geräuschvolles Oeffnen der Tür geweckt hätte. Er fuhr rasch von seinem Lager auf, als er das einströmende Sonnenlicht gewahrte und in dem Oeffnenden den alten Mr. Burton erkannte.

„Haben Sie geschlafen bis jetzt?“ rief dieser. „Desto bester, so haben Sie das Frühstück nicht vermißt und können’s jetzt in Ruhe nehmen. Das war ja eine Teufelsgeschichte, Sir, wie ich höre. – Hier ist Ihr Hut, den ich an der Umzäunung aufgehoben habe; wünsche nur, daß Sie eben so gut als er aus der Affaire gelangt sind. Können sich übrigens beruhigen, der Nigger ist wieder da und war nur wegen irgend einer Geschichte seinem Herrn aus dem Wege gegangen – Sie thun aber dennoch wohl am besten, mit der nächsten Stage sich den Leuten hier aus den Augen zu machen – es giebt zu Viele darunter, die selbst Ihre unschuldig gemeinten Worte Ihnen zum Verbrechen anrechnen.

Wenn ich noch irgend etwas für Sie thun kann, so sagen Sie es gerade heraus, es wird mir eine Freude machen, Sir, da wir Sie doch einmal nicht hier behalten können. Ich werde Sie nach dem Hotel bringen, woher ich soeben komme, und in einer Stunde sollen Sie heil und ohne jede Beleidigung die Stadt im Rücken haben.“

Der Mann hatte die Worte in so eigenthümlich rascher Weise gesprochen, als habe er gewünscht ihrer so geschwind als möglich los zu werden. Reichardt neigte nur mit einem: „Very well, Sir“, ich habe nichts Anderes als meine Entfernung erwartet!“ den Kopf, brachte dann seinen Anzug in die nöthigste Ordnung, nahm seinen Hut und sagte: „Ich bin bereit, Sir!“

„Thut mir verdammt leid, Sir, kann’s Ihnen sagen,“ begann Burton, als Beide in die Straße getreten waren, „hätte Ihnen gern Harriet’s Wort gehalten, und dem Mädchen scheint der gestrige Spectakel noch mehr in die Nerven gefahren zu sein als Ihnen selbst – sieht heute Morgen aus, daß ich mich um sie geängstigt hätte, wenn ich ihre Natur nicht kennte. Ist zu lange im Osten gewesen und kann sich noch nicht recht in unser hiesiges Leben finden.“

Reichardt schritt, wortlos in’s Weite blickend, neben dem Amerikaner her, ohne den Begegnenden, die ihnen theils aus dem Wege zu gehen schienen, theils den Deutschen mit neugierigen Blicken musterten, Beachtung zu schenken, und sprang endlich mit einem Gefühle der Erleichterung die Stufen nach dem Hotel hinauf, wo der Wirth auf sie zutrat. Reichardt streckte ihm die Hand entgegen. „Ich habe Ihnen noch nicht für Ihre gestrige Hülfe danken können, und muß wohl auch für immer Ihr Schuldner bleiben,“ sagte er; „jetzt als letzten Liebesdienst schaffen Sie mir etwas zu essen, denn ich bin seit gestern Mittag noch ohne einen Bissen, und ziehen mir dann meine Rechnung aus!“

„Ist schon abgemacht mit der Rechnung!“ fiel Morton ein, „es versteht sich, daß Sie für diese kurze Zeit unser Gast hier waren!“

Fast hätte der Deutsche eine bittere Bemerkung über die ihm gewordene Gastfreundschaft gemacht; noch zeitig genug aber fiel ihm ein, daß er nicht in der Lage war, eine gut gemeinte Freundlichkeit zurückstoßen zu dürfen, daß jeder ersparte Dollar bei seinen geringen Mitteln von Wichtigkeit war, und so stammelte er etwas von Güte und Dank, drückte seinem Begleiter die Hand und ließ sich dann von dem Wirthe hinwegführen.

Eine Stunde später bestieg Reichardt die angelangte Postkutsche. Burton hatte, als Jener beim Frühstück war, sich jedem weitern Abschiede entzogen, und so war es nur der Händedruck des Hotelbesitzers, welcher den Deutschen nach dem Wagen geleitete.

„Halten Sie sich in Nashville nur so lange als durchaus nothwendig auf,“ flüsterte ihm Jener noch beim Einsteigen in’s Ohr, „jedenfalls wird die Nachricht von dem Geschehenen sammt Ihrem Signalement zugleich mit Ihnen dort ankommen!“ Reichardt nickte nur mit einem dankenden Blick und drückte sich in eine unbesetzte Ecke; er war nicht bange, sich zum zweiten Male durch sein Vertrauen auf die freien Institutionen des Landes in Gefahr zu bringen; aber ein Ekel vor den Zuständen dieses gepriesenen Südens überkam ihn, welcher sich als kräftiger Bundesgenosse dem erhaltenen Rathe beigesellte.

Es war bereits Nacht, als der junge Mann mit schwerem Herzen die Lichter von Nashville vor sich auftauchen sah. Er hatte einen Ueberschlag seines Geldes gemacht, aber trotz aller Pläne, mit welchen er seinen Geist abgequält, wollten seine Mittel nach keiner Seite hin ausreichen, und selbst wenn er sich seiner Habseligkeiten bis aus das Nöthigste hätte entäußern wollen, hätte er unter den obwaltenden Verhältnissen nicht einmal Zeit oder Gelegenheit dafür finden können.

Der Postwagen hielt endlich vor dem „City-Hotel“, Reichardt’s Gepäck ward abgeladen, und sein bisheriger Gefährte auf dem Verdeck führte ihn in das allgemeine Versammlungszimmer, wo er ein paar Worte mit dem Buchhalter sprach und dann den jungen Mann als „bestens empfohlen“ allein ließ. Als Reichardt sich in dem weiten, nur matt erleuchteten Zimmer allein sah, überkam ihm ein Gefühl des Alleinstehens, wie er es in diesem Maße selbst auf amerikanischem Boden noch nicht gekannt. Mit Macht suchte er aber die entmuthigende Empfindung zu unterdrücken und machte sich, um die Zeit bis zu dem versprochenen Abendbrode zu verbringen, an das Studium der Dampfboot-Anzeigen, welche in mächtigen Zetteln an den Wänden des Zimmers aufgehangen waren. Noch wußte er nicht wohin, und seine Aufmerksamkeit richtete sich auch weniger auf den Bestimmungsort der Boote als auf den Preis der Beförderung – mehr als für Zwischendeck konnte er nirgends bezahlen, trotz der heißen Dampfkessel und der unsaubern Gesellschaft, welche er dort zu erwarten hatte, und so wollte er eben über sein nächstes Ziel mit sich zu Rathe gehen, als sein Auge auf einen kleinern, bis jetzt übersehenen Zettel fiel und dort wie gebannt haften blieb. „Parlour-Opera! Third and last Night. Scenes from all the great Italian Operas in the most splendid costumes,“ bildete die ersten hervorstechenden Zeilen; das war es aber nicht, was seinen Blick gefesselt – gleich darunter präsentirte sich:„Matilda Heyer, the great Prima-Donna“, an der Spitze der übrigen Künstlernamen. Konnte es denn wohl zwei Mathilden Heyer geben? Wenn Reichardt sich das verunglückte Concert in New-York, nach welchem das Mädchen verschwunden war, vergegenwärtigte; wenn er daran dachte, daß sie damals noch von einem andern Anerbieten gesprochen, das sie nur ausgeschlagen, weil es Reichardt’s Mitwirken nicht erlaubte, so zweifelte er keinen Augenblick, daß er hier auf eine Spur der verlorenen „Schwester“ getroffen. Sein Auge suchte hastig das Datum der angekündigten letzten Vorstellung – es war bereits fünf Tage alt, und das Gefühl freudiger Ueberraschung, an welches sich unwillkürlich die unbestimmte Hoffnung auf einen augenblicklichen Halt geknüpft, machte einer unangenehmen Täuschung Platz. Noch starrte er auf den Zettel, als der Buchhalter eintrat, um ihn zu dem schnell bereiteten Abendbrod zu rufen.

„Wissen Sie wohl, wo die Truppe hier logirt hat?“ fragte der Deutsche, auf das Programm deutend.

„Sie wohnten hier im Hause, Sir!“

Reichardt’s Gesicht begann sich wieder zu beleben. „Und Sie wissen auch vielleicht, wohin sich die Gesellschaft von hier gewandt hat?“

„Sie wollten ursprünglich nach Memphis und New-Orleans. [323] Da aber der Gesundheitsstand am untern Mississippi noch nicht der beste ist, so haben sie es vorgezogen, erst einen Abstecher nach Louisville zu machen, um dann von dort nach St. Louis zu gehen.“

Der junge Mann überlegte – es konnte ihm jetzt ziemlich gleichgültig sein, wohin er verschlagen wurde – er selbst hatte im Augenblick den wenigsten Einfluß auf seine Zukunft; also vorwärts, wo er am sichersten hoffen durfte, wieder eine befreundete Seele zu treffen.

„Hat man wohl nicht zu lange auf eine Gelegenheit nach St. Louis zu warten?“ fragte er.

„Es geht fast jede Stunde ein Boot, Sir. Wollen Sie rasch fort, so haben Sie um Mitternacht mit der „Mary Brown“ Gelegenheit.“

„Vortrefflich, ich werde mein Heil auf die Lady setzen!“ rief Reichardt, aus dem gefaßten Entschlusse frische Laune schöpfend; „aber,“ fragte er, dem Buchhalter aus dem Zimmer folgend, „könnten Sie mir wohl ein ungefähres Bild von Miß Heyer, der ersten Sängerin der Gesellschaft, geben?“

Der Befragte gab lächelnd die verlangte Auskunft. „Sie hat hier viel Glück gemacht und ist sehr bewundert worden!“ setzte er hinzu.

Reichardt nickte nur – es war die rechte Mathilde, und mit frischerwachter Spannkraft setzte er sich zu seinem Mahle nieder. Ob ihm das Mädchen, selbst wenn er es im glücklichsten Falle traf, nur das Geringste würde helfen können, wußte er nicht, er hatte doch aber für die nächsten Tage wenigstens ein bestimmtes Ziel vor sich. –

Eine Stunde darauf betrat er, einen Neger mit seinem Gepäck hinter sich, den hellerleuchteten Dampfer. Der Schwarze wollte seine Last sogleich nach der Gepäckkammer bringen, Reichardt aber ließ sie auf dem untern Deck niedersetzen, fertigte den verwundert aufschauenden Träger mit einem Trinkgelde ab, welches dessen zweifelnden Ausdruck sofort in eifrige Kratzfüße verwandelte, und setzte sich auf seinem Koffer nieder, bis der Dampfer vom Lande gestoßen war. Dann suchte er die „Office“ auf.

„Deckpassage, Sir?“ fragte der Capitain, nach welchem er sich erkundigt, und ließ einen befremdeten Blick über das Aeußere des jungen Mannes laufen; „werden es verdammt heiß und unbequem für die lange Fahrt finden!“

„Kann’s nicht ändern, Capt’n,“ erwiderte Reichardt ruhig, „ich habe in meinem Reisegeld zu kurz gerechnet, und der Mensch muß sich auch einmal in unangenehme Verhältnisse fügen können.“

„Das ist so, Sir, bringt’s aber nicht Jeder mit so leichtem Muthe fertig,“ versetzte der Andere, einen neuen Blick auf seinen Passagier werfend; „wie Sie wollen!“

Reichardt bezahlte den geforderten Fahrpreis – er war geringer, als er für die weite Entfernung gefürchtet – rückte sich dann mit leichtem Herzen seinen Koffer in eine luftige Ecke und machte es sich, seinen Violinenkasten als Pfühl gebrauchend, so bequem als möglich. Die prachtvollste Nacht lag über dem Flusse; bald hatte sich der Deutsche an das Arbeiten und Zischen der Maschine, an das Lärmen der Feuermänner und das Sprühen der Flammen gewöhnt, und konnte sich ungestört seinen Gedanken hingeben; gern hätte er sich ein Bild seiner Zukunft geschaffen, aber ihm fehlte jeder Anknüpfungspunkt dafür, und selbst Mathilde „in the most splendid costume,“ wie es in dem Opernprogramm hieß, war ihm zu einer halbfremden Erscheinung geworden. Dafür aber tauchte die Vorstellung in ihm auf, in wie verschiedener Weise er wohl jetzt reisen würde, wenn er nicht selbst das Glück, welches ihm Harriet geboten, von sich gestoßen, und unwillkürlich begann er zu grübeln, warum er denn das Mädchen nicht hatte lieben können – das einzige Wesen in seinem jetzigen Leben, das sich warm und fest an ihn gehangen, das wohl für ihn hingegeben hätte, was es zu opfern gehabt. Es that ihm wohl, alle Scenen mit ihr, seit ihrem Zusammentreffen in Saratoga, an seinem Geiste vorüberziehen zu lassen, und jetzt, wo er ihre Empfindungen kannte, die Erklärung für so manche damalige Aeußerung ihres eigenthümlichen Wesens zu finden. Er fühlte, daß er nicht so, wie es geschehen, für immer von ihr scheiden durfte; er nahm sich vor, sobald er in St. Louis angekommen, einen langen Brief an sie zu schreiben, ihr zu sagen, daß sie eine tiefere, stärkere Empfindung verdiene, als er ihr habe weihen können, der er sich überhaupt keiner heißen Liebe für fähig halte; daß er zum Betrüger an ihr und zum Gründer ihres künftigen Unglücks hätte werden müssen, wenn er anders gehandelt als er gethan; er begann den Brief im Geiste auszuarbeiten; bald aber verwirrte das eintönige Geräusch um ihn her seine Gedanken, und trotz seines harten Sitzes war er eingeschlafen, ehe er es nur selbst wußte.

Das Boot legte während der Nacht zum Oeftern an, Passagiere kamen und gingen, Güter wurden aus- und eingeladen, Reichardt wurde der Vorgänge kaum anders als im halben Traume gewahr; als ihn aber die aufgehende Sonne weckte und er sich erheben wollte, fühlte er jeden einzelnen Theil seines Körpers wie zerschlagen; kaum daß er im Stande war, sich gerade auf seine Füße zu stellen. Um ihn her, auf jedem leeren Plätzchen, außerhalb des Wegs, welchen die Frachtstücke beim Ein- und Ausladen zu nehmen hatten, lagen unsaubere Gestalten auf Decken oder ähnlichen Unterlagen noch schlafend am Boden, und Reichardt sah jetzt, in welcher Gesellschaft er sein Lager zu nehmen hatte, wenn er mit gesunden Gliedmaßen in St. Louis ankommen wollte. Er beeilte sich, sein Reinigungswerk vorzunehmen, ehe er dadurch, mit den übrigen Deckpassagieren in Berührung kommen mußte, und als er seine Toilette nach bester Möglichkeit gemacht, seine Glieder gedehnt hatte, und er sich nun von der frischen Morgenluft durchstreichen ließ, begannen auch die unangenehmen Eindrücke zu schwinden. Nach zwei oder drei Nächten mehr mußte die Reise ein Ende nehmen, und so lange ließ sich schon manche Unannehmlichkeit ertragen. Er hatte sich nach dem äußersten Vordertheil des Bootes begeben, brannte sich eine Cigarre von dem kleinen Vorrathe, welchen er noch bei sich trug, an und ließ die bald wilden, bald malerisch-besiedelten Ufer an seinem Auge vorüberziehen. Aus dem Salon klang die Glocke zum Frühstück, und der Deutsche machte sich eben Gedanken, auf welche Weise er zu einem Imbiß gelangen werde, als er seinen Arm leicht berührt fühlte. „Der Capitain möchte Sie sprechen, Sir!“ hörte er, und sah beim Umblicken einen Schwarzen, der, als wolle er ihm den Weg zeigen, nach der Treppe zum Salon voranging. Mit einiger Verwunderung folgte ihm Reichardt, wurde aber bald von dem wartenden Capitain leicht unter dem Arm gefaßt. „Nehmen Sie Ihr Frühstück mit uns,“ sagte dieser einfach, „ich denke, Sie werden doch nicht an das Leben dort unten gewöhnt sein!“

Reichardt fühlte, daß er roth ward, er erkannte die Freundlichkeit des Mannes, dennoch war das Anerbieten eine Art Almosen, gegen das sich sein ganzer Stolz sträubte, und er hätte es wohl zurückgewiesen, wenn er nur diesem wohlwollenden Gesichte gegenüber schnell die rechte Weise dazu hätte finden können, wenn nur nicht zugleich der Duft des aufgetragenen Kaffee’s seine Nase berührt und eine unwiderstehliche Sehnsucht nach der gewohnten Labung in ihm erweckt hätte.

„Wenn man einmal auf den Grund gefahren ist, nimmt man jede helfende Hand an, Sir;“ sagte der Capitain, der Reichardt’s Zögern bemerkt zu haben schien, „so lange Sie an Bord bleiben, sind Sie mir als Gast bei Tische willkommen, und damit wollen wir alle Redensarten bei Seite lassen.“

Reichardt sah sich am Ende einer langen vollbesetzten Tafel, deren oberes Ende von einer Anzahl junger Damen in eleganter Morgenkleidung eingenommen war. Er entfernte sich bald und kehrte erst zurück, als die Mittagsglocke ertönte. An der Tafel glänzte Damenflor in neuer Toilette. Bekanntschaften schienen gemacht worden zu sein, und die Unterhaltung pflanzte sich lebhaft auf beiden Seiten des Tisches fort; manches blitzende Auge, das einen Blick nach den untern Reihen der Passagiere sandte, blieb an dem jungen Deutschen hängen, der, angeregt von der eleganten Zwanglosigkeit und dem leichten Tone um sich her, mit drückendem Unbehagen an sein Schicksal während des kommenden Nachmittags zu denken begann. Leidlicher, als Reichardt gefürchtet, verging ihm der Nachmittag. Gegen Abend hatte der sich immer dichter zwischen den Ufern zusammenziehende Nebel die heiße Luft völlig abgekühlt; mit einer noch angenehmern Ueberraschung sah der junge Mann an einem der Landungsplätze die große Menge der Deckpassagiere das Boot verlassen, und leichteren Herzens wandte er sich jetzt nach dem Maschinenraume, um bei Zeiten einen passenden Platz zum Schlafen für sich zu suchen. Dort standen zwei der schwarzen Arbeiter in Betrachtung seines deutschen Violinkastens, und das freundliche Grinsen, mit welchem der Herantretende empfangen wurde, erinnerte diesen lebhaft an Bob. „Sie spielen das Instrument, Sir?“ fragte der Eine mit der angenommenen Verlegenheit, welche den „guten Ton“ unter den Schwarzen [324] bildet und um Entschuldigung über die Aeußerung zu bitten scheint.

Reichardt bejahte und stellte bei den neuen kritischen Blicken, welche den Kasten von allen Seiten trafen, seine Beobachtung über die durchgehende, eigenthümliche Liebe der Neger zur Musik und besonders zur Violine an.

„Ist keine Schale von einer amerikanischen Fiedel,“ bemerkte der Zweite sachkundig, „muß ein feines Instrument sein.“

Reichardt öffnete den Deckel und nahm die Violine heraus.

„O, könnten Sie nicht einmal zeigen, wie sie klingt, Master?“ fragte der Erste schüchtern, als die musternden Blicke das ganze Aeußere überlaufen. Reichardt sah um sich; er sah Niemand als die zum Boote gehörigen Arbeiter, deren Augen aber schon sämmtlich auf ihn gerichtet waren – er hatte in der Gesellschaft dieser Menschen noch Tage zu verbringen, und es konnte nichts schaden, wenn er sie sich freundlich erhielt. Zudem sehnte er sich selbst nach der Langweile des endlosen Nachmittags nach irgend einer Abwechselung. Die Maschine ging ohne bedeutendes Geräusch ihren regelmäßigen Gang, und so setzte er nach kurzem Besinnen die Geige unter das Kinn und begann Vieuxtemps’ Yankee-Doodle, den er sich noch kurz vor seiner Abreise nach Amerika mit allen musikalischen Kunststücken und modernen Effecten eingeübt. Er hatte kaum die kurze Einleitung zu Ende gebracht und das Thema begonnen, als auch schon Alles, was Menschliches im Deck vorhanden war, lautlos in seiner Nähe stand. Kaum aber arbeitete er sich durch die Effectstellen der ersten Variation, so wurde auch ein polterndes Geräusch über dem Haupte des Spielenden laut, und die Passagiere des Salons, wie zusammen aufgescheucht, kamen in langen, behutsamen Sprüngen herabgeeilt. Als Reichardt aufblickte, sah er einen weiten Kreis von Zuhörern mit aufgerissenen Augen, Erstaunen und Interesse in allen Zügen ausgeprägt, um sich – er brach mitten in einer Passage ab und warf einen unzufriedenen Blick auf die ungeladenen Bewunderer. Dieses plötzliche Herzudrängen kam ihm so sehr als Verstoß gegen jede gute Lebensart vor, daß er eben eine Bewegung machte, sein Instrument in den Kasten zu bergen, als ein stürmisches: „Go on! go on!“ von allen Seiten auf ihn hereinbrach.

„Gentlemen, ich habe nicht daran gedacht, mich hier vor Jemand hören zu lassen!“ erwiderte er unmuthig.

„Thut nichts! Weiterspielen!“ klang es.

„Spielen Sie doch, was schadet es Ihnen denn?“ hörte Reichardt des Capitains Stimme an seinen Ohren, „Sie machen sich ein halbes Hundert Freunde auf einmal, das ist Alles!“

Der junge Mann setzte zögernd die Violine wieder an. Schaden konnte es in den Verhältnissen, in welchen er sich befand, allerdings nichts. Er nahm die Pièce vom Anfange wieder auf und führte sie unter dem Todesschweigen seiner Umgebung, das nur bei einzelnen Glanzstellen von einem unterdrückten freudigen Lachen oder einem leisen Gemurmel unterbrochen wurde, mit seiner ganzen Sicherheit zu Ende.

Wüthendes Trampeln und Johlen lohnte ihm, kaum legte sich aber der Spectakel und Reichardt wollte seine Geige wieder wegschließen, als er sich von beiden Seiten gehalten fühlte.

„Sie sind jedenfalls Musiker von Fach,“ sagte einer der eleganten jungen Männer, welche sich an ihn gedrängt, „und sicher werden Sie etwas für unsere Ladies thun, die vor Langweile sterben. Wir arrangiren heute Abend einen kleinen Tanz, wenn Sie nur spielen wollen!“

Reichardt wollte eben eine bestimmt abwehrende Bewegung machen, als er kräftig seine Hand gefaßt fühlte. „Thun Sie es, thun Sie es mir zur Liebe!“ klang wieder des Capitains Stimme halblaut, „ich sage Ihnen, Sie werden’s nicht bereuen!“ und des Deutschen Widerstand erstarb. Er hätte nach der Freundlichkeit, die ihm von dem Manne zu Theil geworden, diesem kaum etwas abschlagen können.

„Ich bin nicht Musiker in dem Sinne Ihrer Worte, Gentlemen,“ sagte er, „und am wenigsten ist Tanzspielen meine Leidenschaft oder meine Beschäftigung. Wenn ich aber Ihrem Wunsche hier genüge, so geschieht es allein der Ladies wegen!“

„Gut, Sir! und wir werden’s zu schätzen wissen!“ rief der frühere Sprecher, „jetzt aber kommen Sie mit uns und lassen Sie uns einen Drink Drink all round nehmen. Das wird doch wirklich der erste vernünftige Abend, den ich seit langer Zeit auf dem alten Cumberland-Flusse gehabt habe!“

Reichardt sah sich in das Schenkzimmer neben der Herren-Cajüte gezogen, und fast wollte es ihm wirklich unter den Händedrücken, welche ihm von allen Seiten zu Theil wurden, scheinen, als habe er mit einem Schlage fünfzig Freunde mehr gewonnen, wenn er auch von keinem nur den Namen kannte. – Das Abendessen war vorüber. Reichardt stand, mit seiner Violine bereit, an einem der offenen Fenster im Salon und beobachtete den Nebel, welcher sich am Abend als dicke, fast undurchsichtige Dunstmasse auf den Fluß gelegt. Selbst die farbige Laterne am Vordertheile des Schiffes war in der geringen Entfernung nur wie ein schwach leuchtender Lichtkreis bemerkbar. Aber die aus der Damencajüte hereinrauschenden Paare unterbrachen seine Beobachtungen. Die Quarrés stellten sich unter Scherzen und Lachen auf, und die „Reels“, welche Reichardt nothgedrungen in Taratoga hatte lernen müssen, kamen ihm jetzt zu Gute. Die Paare flogen wie elektrisirt unter seinem Bogenstrich, und das glückliche, anerkennende Nicken, welches ihm die Tänzer in den Ruhepausen spendeten, ließ ihn immer von Neuem das ermüdende Opfer, welches er brachte, vergessen.

Drei Mal war die Quadrille bereits zu Ende und eine Ruhepause eingetreten, als der Capitain zu ihm trat und ihn bei Seite zog. „Well, Sir,“ sagt er, „die jungen Gentlemen erkennen Ihre Bereitwilligkeit zur Förderung des allgemeinen Vergnügens in hohem Grade an und wünschen sich Ihnen dankbar zu erweisen. Sie haben mich beauftragt, Ihnen die Summe, welche sie zusammengeschossen haben, zu übergeben –“

Reichardt’s Hand zuckte unter der Berührung einer kleinen Rolle Banknoten, welche ihm der Capitain zuschieben wollte.

„Thun Sie mir das nicht an, Sir!“ rief er mit unterdrückter Stimme, „ich bin kein Tanzfiedler für Geld, ich bin Ihrem Wunsche gefolgt, nur um Ihnen erkenntlich zu sein –“

„Weiß es, weiß es!“ winkte der Andere beruhigend, „ehrlich verdientes Geld sollte aber Niemand beleidigen. Ich nehme meinen Frachtbetrag, ob es für Schweine oder für Seidenzeug ist, und bei einem Musiker sehe ich nicht ein, wo der Unterschied liegt, ob er sein Geld beim Concertspielen oder beim Tanzspielen macht.“

„Es ist derselbe Unterschied, Sir,“ erwiderte Reichardt aufgeregt, „wie zwischen einem Niggerfiedler und einem weißen Künstler.“

„Das ist es also? so! mag etwas darin liegen!“ nickte der Capitain, „es soll so sein, wie sie sagen – aber wenn ich Sie heute Abend vom Deck nach dem Salon heraufquartiere, werden Sie hoffentlich nichts dawider haben?“

„Ich würde’s aber nur Ihrer Freundlichkeit anrechnen, Capt’n!“

All right! rechnen Sie es an, wem Sie wollen, ich werde den Gentlemen Bericht erstatten.“ Er ging mit einem launigen Kopfnicken davon, und Reichardt begab sich wieder an seinen Platz, seine Geige ergreifend.

Wieder erklang ein neuer „Reel“, den der Deutsche nach dem Muster der früheren aus dem Stegreife spielte, wieder flogen die Paare lachend durcheinander, als plötzlich ein Stoß, ein Prasseln erfolgte, daß die Kronleuchter klirrend die Seitenschnuren zerrissen, und die Menschen gegen die Wände taumelten. In demselben Augenblicke klang die Dampfpfeife zum Einhalten der Maschine, und wurde dicht neben dem Boote von einem gleichen Signal beantwortet.

[337] Wie betäubt, starren Schrecken im Gesicht, stand einige Secunden lang Alles, was sich eben noch so fröhlich durcheinander bewegt, bis plötzlich Leben unter den männlichen Theil der Gesellschaft kam, Einzelne nach der Ausgangsthür stürzten, während Andere die Damen mit hastiger Zusprache nach den Divans führten und dann den Ersteren folgten. Von draußen klangen laute Worte des Capitains durch die offenen Fenster herein, von einer entfernten Stimme beantwortet; schwere Tritte eilten zu beiden Seiten über die Gallerien, und bald ertönten mächtige, das ganze Verdeck erschütternde Schläge gegen das Boot. Reichardt hatte nach der ersten Ueberraschung seine Violine bei Seite gelegt und war den Davoneilenden gefolgt; er sah aber bald, daß die vor dem Ausgange sich zusammendrängende Passagiermenge ebensowenig als der dicke Nebel ihm gestattete, sich von der Natur des Geschehenen oder dem Grad einer möglichen Gefahr zu unterrichten, und trat, nachdem er auf keine seiner Fragen eine Antwort hatte erhalten können, in den Salon zurück, wo ihm die Augen sämmtlicher Ladies in peinlicher Erwartung entgegenstarrten.

„Ich glaube kaum, daß der Unfall bedeutend ist!“ sagte er, um nur etwas diesen fragenden Blicken zu entgegnen; kaum hatte er sich aber nach seinem frühern Platze an einem der offenen Seitenausgange gewandt, als auch der Capitain, gefolgt von den Passagieren, den Salon betrat. „Alles in Ordnung, Ladies, keine Gefahr!“ rief der Eintretende, „hätte aber bei dem verwünschten Nebel ein richtiges „Smash up“ geben können, wenn nicht ein sonderbarer Umstand gewesen wäre!“

In diesem Augenblicke klang die Dampfpfeife, ein gleiches Signal antwortete neben dem Boote, und die ersten Stöße der neu mit ihrer Arbeit beginnenden Maschine machten alle Theile des großen Fahrzeugs erzittern.

„Es ist die „Belle“, die gegen uns gelaufen ist.“ fuhr der Sprechende fort, während die Reisenden begierig nach Näherem sich um ihn drängten; „wir haben nur einen Radkasten eingebüßt, aber ihr Außenzeug scheint ziemlich schlimm zugerichtet. Daß wir aber diesmal nur mit einer Schramme davongekommen sind, verdanken wir Niemand, als dem Gentleman hier!“ Reichardt sah plötzlich alle Blicke auf sich gerichtet, sah des Capitains Hand gegen sich ausgestreckt, und fühlte sich im ersten Momente fast verblüfft von der sonderbaren Angabe. „Glaub’s gern, daß Sie nichts davon wissen,“ fuhr der Capitain lachend fort, ihm kräftig die Hand schüttelnd, „demungeachtet ist es so, und wenn Sie jemals dieselbe Tour wieder machen, so suchen Sie die „Mary Brown“ auf, es soll Ihnen kein Cent Passage abgenommen werden. Die Sache ist die, soviel ich aus den kurzen Worten des Capitains von der „Belle“ habe entnehmen können,“ wandte er sich zu den Uebrigen, „unser rothes Licht scheint heute Nacht Mucken gehabt oder sich mit dem Nebel schlecht vertragen zu haben; es hat so trübe gebrannt, daß man fünf Schritte davon kaum eine Art unbestimmten Schein in dem Dunste gesehen hat, und die „Belle“ wäre uns jedenfalls gerade auf den Leib gefahren, wenn der Mann im Steuerhäuschen nicht schon ein paar Minuten vor dem Zusammenstoß den lustigsten Reel aus dem Nebel hätte klingen hören.

Im Anfange hat er gemeint, der Schall komme aus einem Hause am Ufer, und er habe unrecht gesteuert, bis er noch zu rechter Zeit auf die richtige Vermuthung gekommen und sich, soviel er gekonnt, nach dem Klänge gerichtet hat – das ist die Sache; aber eine Mordsfiedel muß das sein, die Sie da haben, Sir, und es ist ein Glück, daß ich Zeugen mit nach St. Louis bringe, sonst würde ich mit meiner Geschichte ausgelacht!“

„Die Violine trägt weit, das ist die Wahrheit,“ erwiderte Reichardt lachend, „wenn ich mir auch nicht hätte träumen lassen, daß sie noch einmal zum Signal-Instrumente dienen würde.“

Das frühere Gefühl der Sicherheit stellte sich bald wieder in der Gesellschaft her, besonders als der Capitain meldete, daß alle möglichen Vorsichtsmaßregeln zur Verhütung eines ähnlichen Falls getroffen seien; die Tanzlust schien aber der gehabte Schrecken vertrieben zu haben, und Reichardt sah sich bald mit seiner Violine, welche die Runde unter den kopfschüttelnden Passagieren gemacht, in eine der bequemen „Cabins“ einquartiert, während die erhaltene Gepäckmarke ihn über die Sicherheit seines Koffers beruhigte.

„Doch noch nicht ohne Glück!“ sagte er, als er sich auf die weiche Matratze warf, „also nur immer den Kopf hoch, und das Uebrige wird sich schon finden!“

Die übrigen Tage der Reise vergingen mit all der Eintönigkeit einer amerikanischen Flußdampfschifffahrt. Reichardt fühlte, daß trotz der Freundlichkeit seiner Mitpassagiere das „Deck,“ auf welchem er Passage genommen, wie eine unsichtbare Scheidewand zwischen ihm und der übrigen Gesellschaft stand, und hielt sich für sich, soviel er konnte. Zweimal wurde er aufgefordert, die Ladies mit seiner Kunstfertigkeit zu unterhalten, und er that dies so ganz mit der Miene des Weltmanns, der sich freut, sich Jemand verbinden zu können, daß man später Anstand zu nehmen schien, weitere Opfer von ihm zu verlangen. Während aber der größte Theil der Reisenden die Zeit entweder mit Kartenspielen und [338] Trinken oder faulem Umherliegen todtzuschlagen suchte, hatte sich Reichardt eine Beschäftigung gebildet, welche ihm mit jeder Stunde mehr Interesse abgewann. Er hatte zuerst einen einfachen Brief an Harriet begonnen; bald aber war er, in dem Wunsche, sich dem Mädchen ganz so zu zeigen, wie er war, und ihr eine volle freundschaftliche Hingebung zu bethätigen, von der Gegenwart in seine Vergangenheit gerathen, hatte von seinem Entwickelungsgange gesprochen, hatte sie in jede Falte seines Herzens, das kaum ein paar flüchtige Neigungen geborgen, sehen lassen, und nach und nach sein ganzes Denken und Empfinden vor ihr bloßgelegt. Er war in seiner Arbeit unterbrochen worden und hatte sie bei Seite gelegt; bald genug aber mahnte ihn die müßige Zeit wieder zur Fortsetzung. Er nahm einen neuen Gedanken auf, wie er sich ihm gerade bot, und begann zu plaudern, als säße er dem Mädchen Auge gegen Auge gegenüber, und als er an diesem Abende schloß, freute er sich schon auf den nächsten Morgen, um in seiner Beschäftigung fortzufahren. Aus seinem Briefe war endlich eine Art Tagebuch geworden, in welchem er seine Gedanken, die volle Zeit hatten sich zu ergehen, seine Anschauungen und Urtheile einzeichnete, und er wußte es wohl selbst nicht, welch’ erschöpfenden Bild seines eigenen Selbst er darin gegeben hatte. –


Erst als vor den Augen des Deutschen die langgestreckte Stadt mit der unabsehbaren Reihe still liegender Dampfboote auftauchte, begann der Gedanke an die nächste Zukunft sich wieder seiner Seele zu bemächtigen, und er vermochte nicht, ein Gesicht von Besorgniß, das ihn leise beschlich, ganz von sich abzuweisen. Er berechnete unwillkürlich die Entfernung, welche ihn jetzt von New York trennte – er konnte dort auf nichts rechnen, er hatte dort keinen seiner Fähigkeiten würdigen Broderwerb finden können, und doch kam ihm New-York noch immer wie sein letzter Halt vor, den er, je weiter er sich davon entfernte, je mehr verlor.

Ein Gewühl von Lohnkutschern, Karrentreibern und Lastträgern, zudringlich ihre Dienste anbietend, empfing die Aussteigenden. Reichardt wies Alles, was Kutsche und Wagen hieß, von sich und wählte einen Neger zur Fortschaffung seines Koffers.

„Wohin, Sir?“ fragte dieser, als die Last auf seiner Schulter ruhte.

„Ja, wohin jetzt?“ fragte sich der Deutsche selbst. Er sah in das Gewühl und Treiben um sich, blickte in die endlose Straße hinein, die sich vor ihm aufthat, und fast wollte ihn das Gefühl des Verlorenseins in einer großen Stadt überkommen. „Wißt Ihr nicht ein anständiges Boardinghaus, Onkel, in dem man ein paar Wochen bleiben kann, ohne daß dem Menschen die Haut über die Ohren gezogen wird?“ sagte er nach kurzem Besinnen.

„Mehr als eins, Sir,“ grinste der Schwarze, „wir sind nicht so schlimm in unserm St. Louis, kommen Sie nur mit mir!“

„In Gottes Namen denn, mag jetzt das Schicksal aus mir machen, was es Lust hat!“ brummte Reichardt und folgte dem Schwarzen in die von geschäftigen Menschen und Lastkarren belebte Straße; kaum aber hatte er ein paar hundert Schritte zurückgelegt, als sein Gesicht sich plötzlich aufklärte und er dem ein Stück voransfchreitenden Neger nachsprang. Sein Auge war auf einen großen, frischen Zettel mit den riesigen Anfangszeilen: „„Varieties Theatre – Parlour Opera! – first Night“ gefallen, und Alles, was von Besorgniß in ihm gelebt, war wie dünner Nebel vor den hereinbrechenden Sonnenstrahlen gewichen.

„Ist nicht irgend ein billiges Hotel oder dergleichen in der Nähe der „Varieties?“ fragte er den Lastträger, „es wäre mir meiner Geschäfte wegen lieb!“

Der Schwarze setzte seine Last nieder und kratzte seinen Wollkopf. „Ich bin wenig dort hinauf bekannt,“ erwiderte er, „und wenn Sie nicht gerade im „Plantershouse“, wo es aber starke Rechnungen geben soll, bleiben wollen –“

„Um Gotteswillen nicht!“ unterbrach ihn Reichardt, „führt mich nur hin, wohin Ihr denkt, ich kann ja später noch meine eigene Wahl treffen!“

Der Deutsche sah sich bald in einer der engen Straßen nahe dem Flusse untergebracht und ergab sich zum ersten Male darein, ein Zimmer zu beziehen, in welchem bereits zwei andere Gäste ihre Schlafstätte hatten. Die Billigkeit des Unterkommens mußte jetzt für ihn das allein Maßgebende sein, und wenigstens erschien ihm das Haus reinlich. Er hatte sofort nach seinem Eintritte sich erkundigt, auf welche Weise man wohl die Wohnungen der angekommenen Künstler erfragen könne: die Leute im Hause schienen aber von den zu erwartenden Vorstellungen weder etwas zu wissen, noch überhaupt das geringste Interesse daran zu nehmen, und der junge Mann saß jetzt neben seinem noch ungeöffneten Gepäck, um seine nächst zu thuenden Schritte zu überlegen. Es waren noch zwei Stunden bis zu Mittag, und er hatte Zeit vor sich, um Mathildens Wohnung nachzufragen; gelang es ihm aber nicht, diese zu erkunden, so mußte er Abends das Eintrittsgeld zur Vorstellung daran wenden, und es hier versuchen, zu ihr zu gelangen.

Er ließ sich den Weg nach dem Theater beschreiben, steckte zugleich den Brief an Harriet zur Absendung zu sich und wanderte in das Gewirr der Straßen hinein. Das Postgebäude war schnell gefunden, ebenso ohne große Schwierigkeiten das Theater; an den geschlossenen Thüren des letzteren aber endete Reichardt’s Weisheit, und nach einigem Besinnen wandte er sich einem nahegelegenen Trinklocale zu, um sich hier, wenn auch nicht Auskunft, doch wenigstens einen Rath zu erholen. Aber auch hier ward ihm nur Kopfschüttelu und bedauerndes Achselzucken, und er bereute schon die zehn Cents, welche er unnütz für einen Schluck Brandy ausgegeben, als ein junger Mann mit weißem Castorhut und schwarzem Schnurrbart sich vom Schenktische nach ihm drehte, erst einen Blick über seine frische Erscheinung laufen ließ und dann fragte, wen von der Gesellschaft er zu sprechen wünsche. Reichardt, in welchem eine neue Hoffnung erwachte, beeilte sich, Mathildens Namen zu nennen und den Frager seines besten Dankes für Angabe ihrer Wohnung zu versichern. Dieser überflog noch einmal das ganze Aeußere des Deutschen. „Miß Heyer nimmt, soviel ich weiß, niemals einen Privatbesuch in ihrer Wohnung an –“ erwiderte er.

„O, sie wird mich empfangen und Ihnen für meine Zurechtweisung verpflichtet sein,“ versetzte Reichardt eifrig, „– sie ist meine Schwester, Sir, wenn wir auch nicht gleiche Namen führen!“ fügte er nach einem augenblicklichen Stocken hinzu.

In dem Gesichte des Andern stieg ein zweifelndes Lächeln auf. „Geben Sie mir Ihren Namen, Sir, wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind, – ich bin der Agent der Gesellschaft,“ sagte er, „und dann warten Sie hier einen Augenblick.“

Der Deutsche beeilte sich, ein Blatt Papier aus seinem Notizbuche zu reißen, froh, so schnell den rechten Mann getroffen zu haben, und mit einem eigenthümlichen Blicke auf die rasch hingeworfenen Worte entfernte sich der Andere. Jetzt aber zum ersten Male stieg in Reichardt der Gedanke auf, ob denn wohl der Fall möglich sei, daß Mathilde ihn nicht sehen wolle. Er hatte bis zu diesem Augenblicke nur eine unbestimmte Vermuthung über die Ursache, welche das Mädchen in New-York von seiner Seite getrieben, und sie hatte ihn damals gebeten, sie nicht aufzusuchen – er hatte nicht den geringsten Begriff, wie sie zu der Operngesellschaft gerathen und welche ihre jetzigen Privatverhältnisse waren; konnte es denn wohl Gründe geben, die sie es vorziehen ließen, ihn von sich entfernt zu halten? Reichardt wurde, je mehr er sich abquälte Möglichkeiten zu ersinnen, je unruhiger; seine Herreise war in einer so bestimmten Erwartung, mit dem Mädchen zusammenzutreffen, erfolgt, daß er sich wie in die Wildniß hinaus geworfen vorkam, wenn er das Wiedersehen mit ihr aus seinen Hoffnungen strich.

Die Rückkehr des Agenten, welcher dem Deutschen schon zwischen der Thür einen Wink, ihm zu folgen, gab, setzte allen Befürchtungen indessen ein vorläufiges Ziel. „Die Lady ist in der Probe, Sir, und Sie sprechen sie am besten dort,“ sagte Jener; „wenn Sie mir folgen wollen, zeige ich Ihnen sogleich den Weg.“

Reichardt konnte nur seine vollste Zustimmung ausdrücken und sah sich nach dem hintern Theile den Theatergebäudes geführt, wo eine niedrige Thür den Eingang zu dem Allerheiligen der Breterwelt bildete. Schon bei seinen ersten Schritten in dem dunkeln Raume hörte er den Klang eines Pianos, dem sich bald die Töne einer menschlichen Stimme anschlossen; sein Begleiter ließ ihm indessen keine Zeit zum Horchen, faßte seine Hand und führte ihn über dunkle Treppen zwischen Bretern und Balken, aufgespannten Leinwandstücken und andern mysteriösen Gegenständen, deren Natur die Berührung der Hand nicht zu ergründen vermochte, einem matten Lichtpunkte zu, der sich bald als ein halberblindetes Fenster erwies, und der Deutsche sah sich plötzlich, zum ersten Male in seinem Leben, hinter den Coulissen einer großen Bühne.

[339] „Der Geschmack muß da sein, Messieurs,“ klang eine ärgerliche Stimme in halb gebrochenem Deutsch, „das Singen mag sehr gut sein, aber der Geschmack in der Attitüde giebt erst den Effect. Nehmen Sie ein Vorbild an Mademoiselle Heyer und jetzt stellen Sie sich noch einmal auf!“ Ein Händeklatschen erfolgte, und mehrere Personen glitten über die Breter; gerade sich gegenüber aber sah Reichardt jetzt eine schlanke, weibliche Gestalt erscheinen; sie hob ein feines, bleiches Gesicht, und kaum hatte ihr Blick ihn getroffen, als es wie Morgenröthe in ihren Wangen aufschoß. „Max, Bruder Max, ist es denn wirklich so?“ rief sie und im nächsten Moment war sie auch schon in der Coulisse; Reichardt hatte unwillkürlich die Arme gehoben – er fühlte sie an seiner Brust, er fühlte ihren Mund so warm und innig auf dem seinen, als dürfe das gar nicht anders sein, trotz der Menschen um sie her, und als er die feine Gestalt in seinen Armen hielt, kam es über ihn wie ein stilles, klares Heimathsgefühl, als sei jetzt Alles gut und er habe kaum mehr zu sorgen um das, was künftig werden solle. In der nächsten Secunde stand sie vor ihm, Gesicht und Nacken roth übergossen, in halber Verwirrung, aber der ruhige, glückliche Ausdruck seines Gesichts schien ihr schnell ihre volle Controle zurückzugeben. „Welche Schicksale haben Dich denn getroffen, daß sich unsere Wege hier im fernen Westen kreuzen?“ frug sie, seine beiden Hände fest in die ihrigen nehmend.

„Die sind sich nur gefolgt, Mathilde,“ erwiderte Reichardt lächelnd, seinen Blick in ihr großes, dunkles Auge senkend, „ich komme direct von Nashville, wo ich die erste Spur meiner unsichtbar gewordenen Schwester fand und mich sofort aufmachte, um mir Aufklärung und Rechenschaft geben zu lassen.“ Wieder stieg ein Roth in ihre Wangen, und in ihrem Auge bebte es wie eine niedergehaltene Empfindung. „Das aber und so manches Andere besprechen wir nachher,“ fuhr er fort, „jetzt darf ich wohl nicht länger stören.“

Sie warf einen fragenden Blick nach der Bühne, auf welchen dort indessen schon gewartet zu sein schien. „Gehen Sie, Mademoiselle,“ sagte die frühere Stimme, „wir brauchen keine weitere Gesangprobe und ich will Sie nicht aufhalten, es handelt sich nur noch um die Attitüde dieser Messieurs; Sie wissen, der Geschmack muß da sein.“

Mathilde hieß, davon eilend, mit einem Händedruck den jungen Mann warten, und dieser zog sich nach der Treppe zurück, um nicht lästig zu werden; nach zwei Minuten aber schon war das Mädchen mit Hut und Mantille wieder zurück, und Beide betraten zusammen die Straße.

Sie gingen schweigend neben einander her, als fühle Jedes, daß sie mehr zu sprechen hätten, als sich auf der Straße abmachen ließ; dann und wann nur, wenn Reichardt den Kopf nach ihr wandte, hob sie den Blick, als sei sie glücklich, ihn einmal wieder in seinen Zügen ruhen lassen zu können.

Sie hatte den Weg nach dem „Everett House“ eingeschlagen und ging dort ihrem Begleiter rasch nach den Räumen des obern Stocks voran, wo sich ein kleines elegantes Zimmer, mit Divan und Schaukelstuhl versehen, vor ihnen öffnete. „Jetzt denke. Du bist bei Deiner Schwester, Max, und mache es Dir so bequem als möglich,“ sagte sie, mit voller Ungezwungenheit sich ihrer Umhüllungen entledigend; dann zog sie den Schaukelstuhl zur Seite des Divans und ließ sich leicht darin nieder. „Und willst Du nun freundlich sein,“ fuhr sie, nachdem Reichardt sich ihr gegenüber niedergelassen, mit voller Seele zu ihm aufblickend, fort, „so frage mich nicht viel, was mich von New-York weggetrieben und mein Schicksal von dem Deinigen trennen ließ. Du weißt, ich hätte mich in dem gewöhnlichen weiblichen Wirkungskreise einzeln stehender Frauen, zu dem die Noth mich doch zuletzt gedrängt hätte, aufgerieben, und so habe ich einen Beruf ergriffen, der mir wenigstens nach einer Seite hin volle Befriedigung giebt. Jetzt erzähle mir Deine Schicksale, und vor Allem, was es möglich machen konnte. Dich hierher zu verschlagen.“

Reichardt hatte beobachtend in ihr Gesicht geblickt, das wieder die ganze Blässe angenommen hatte, welche ihm bei ihrem ersten Erscheinen aufgefallen war, und hatte einen kaum momentan um ihren Mund zuckenden Ausdruck wahrgenommen, der weder mit ihrem leichten Tone noch mit der Befriedigung, von welcher sie gesprochen, im Zusammenklange stehen wollte.

„Frage jetzt einmal nicht nach meinen Erlebnissen. Ich müßte Dir eine lange Geschichte erzählen, zu der eine völlig ruhige Stunde gehört,“ sagte der junge Mann und legte seine Hand auf die ihre. „Ich möchte, daß Du Dich erst einmal gegen mich recht von Herzensgrund aussprächst. Ich will nichts wissen, als was die augenblickliche Gegenwart betrifft. Ich werde auch nicht fragen, und zufrieden sein mit dem, was Du mir mittheilst – aber sprich, damit ich einen Begriff von Deinem jetzigen Leben erhalte, Mathilde.“

„Ich habe nichts zu verheimlichen,“ erwiderte sie, während ein leises Roth wieder in ihr Gesicht stieg; „Du sollst Alles hören, und zuerst, daß es mich ein wahrer Festtag dünkt, Dich hier neben mir sitzen sehen. Meine Lage ist mit zwei Worten ausgedrückt: ich stehe allein, aber ich habe die Kraft dazu und erwartete kaum Anderes, als ich von Dir schied. Habe ich auch Kämpfe zu überwinden, die in meiner Stellung kaum zu vermeiden sind, so habe ich doch auch Genugthuung durch die Kunst in Fülle, und was kann ein Mensch zuletzt mehr verlangen?“

„Und doch bist Du nicht glücklich, Mathilde!“

„Glücklich! du lieber Himmel, wie viel wirklich Glückliche giebt’s denn in der Welt, und welche Ansprüche habe ich denn, zu diesen Wenigen zu gehören?“ rief sie lachend; aber es war keine Freude in diesem Lachen, und in Reichardt’s Seele klang es wie ein Mißton. „Ich habe glückliche Augenblicke, Max,“ fuhr sie fort, „wenn ich den Gott in meiner Brust fühle, wenn die Menschenmenge vor mir, die nüchterne, träge Masse, von ihm ergriffen wird und im Enthusiasmus losspectakelt, wenn ein Wettkampf entsteht zwischen den rohen Aeußerungen dieser Begeisterung und den klingenden Tönen, die ich kaum mehr als die meinigen erkenne, und plötzlich, wie niedergeworfen von der Macht des Gottes, jeder Ton um mich her verstummt, daß ich fast erschrecke vor den siegenden Klängen der eigenen Brust – das sind Augenblicke des Glücks, Max, die ich festhalte, wenn die Oede des übrigen Lebens wieder an mich heran tritt, und hat denn der Mensch ein Recht, mehr zu verlangen?“

„Ich mag Dich nicht zu Mittheilungen drängen, die Du mir nicht ungefragt machen willst,“ erwiderte Reichardt, den Blick von ihrem eigenthümlich leuchtenden Gesichte sinken lassend, „die Augenblicke der Aufregung sind doch am wenigsten das wirkliche Leben, und von den Stunden der nachfolgenden Ermattung sprichst Du auch nicht.“

„Du sollst Alles durchblicken,“ erwiderte sie, seine Hand zwischen die beiden ihren nehmend, „aber warte, bis Du den Boden kennst, auf dem ich stehe, und die Menschen um mich beurtheilt hast, bis Du gesehen, wie ich mich zu ihnen und den Verhältnissen stelle. Vielleicht erscheine ich Dir dann fremder, als ich es Dir jemals gewesen – dann aber wird es Zeit sein, mehr zu sprechen. Du begleitest mich heute Abend hinter die Coulissen. Und nun eine Frage, die Du mir trotz der angedrohten Geschichte doch beantworten mußt: führt Dich ein bestimmter Zweck hierher, oder bist Du auf einer Irrfahrt begriffen?“

„Auf einer wirklichen Irrfahrt, Mathilde, die sich aber mit wenigen Worten eben nicht erklären läßt!“

„Es bedarf auch jetzt nicht der Erklärung. Für’s Erste nimmst Du Dein „Dinner“ mit mir – wir werden keine zwei Minuten darauf zu warten haben, und Nachmittags quartierst Du Dich hier ein, damit wir bei einander sind. – „Halt, einen Moment,“ unterbrach sie Reichardt, einen Blick durch das Fenster werfend, „ich thue Alles, was Du willst, aber hier logiren kann ich nicht. Ich weiß noch nicht, ob ich einen Cent werde in St. Louis verdienen können, und dies Haus ist mir zu kostspielig –“

„Gut!“ erwiderte sie mit einem glücklichen Lächeln, „ich werde auch für den Verdienst sorgen, wenigstens augenblicklich – oder meinst Du, wir sollen von einander gehen, ohne einmal wieder

„Zieh’n die lieben gold’nen Sterne“

zusammen durchphantasirt zu haben? und Monsieur Fonfride, der Director, wird einen Künstler, wie Dich, der ihm wie vom Himmel herab zufällt, unausgebeutet lassen, so lange wir hier sind?“

„So lange wir hier sind!“ klang es wie ein Echo in Reichardt’s Innern; sie dachte also nicht daran, daß er sich vielleicht der Truppe anschließen dürfe, wie es als halbe Hoffnung ihm zu Zeiten vorgeschwebt. Er sah einige Secunden lang schweigend vor sich nieder. „Und wenn nun mein Spiel gefiele, Mathilde? – ich habe so manches Effectstück eingeübt, das die Amerikaner ansprechen würde,“ begann er langsam, „glaubst Du nicht, daß es in Eures Directors Nutzen liegen würde, mich auch weiter zu beschäftigen?“

Als er aufsah, war das leise Roth der Erregung aus ihrem [340] Gesichte gewichen, und ihr Blick ruhte wie in plötzlich erwachter Besorgniß auf ihm. Ebenso schnell aber ward der eigenthümliche Ausdruck durch ein weiches Lächeln verwischt.

„Ich glaube, Max,“ sagte sie, seine Hand drückend, „daß Dir einige Productionen mit uns Gelegenheit geben werden, Dich hier zu zeigen, Dich in der guten Gesellschaft einzuführen und einen Grund für eine solide Existenz für Dich, sei es auch nur erst als Musiklehrer, zu legen. St. Louis ist kein New York, es fehlt hier an Leuten, wie Du es bist, und weder unser Director, noch das herumziehende Leben kann Dir jemals einen Halt für Deine Zukunft geben.“

„Und welchen Halt bieten sie Dir, Mathilde?“

„O, mit mir ist es etwas Anderes – aber laß das jetzt!“ rief sie, sich rasch erhebend, als die Mittagsglocke durch das Haus klang, und fast schien es, als sei ihr die Unterbrechung eine erwünschte. Sie wandte sich nach dem Spiegel, sich mit wenigen Strichen ihr Haar ordnend, und trat dann auf den jungen Mann zu, ihre Hand mit einem: „Ich werde Dich führen!“ leicht unter seinen Arm schiebend.

Es lag für Reichardt etwas wunderbar Wohlthuendes in der zwanglosen Weise, mit welcher das Mädchen ihn behandelte, in dieser Mischung von zutraulicher Wärme und halber Zurückhaltung, – er fühlte sich neben ihr daheim, und wenn er auch wußte, daß keine Empfindung ihn bewegte, die der Liebe, wie er sie sich dachte, nahe stand, so fühlte er doch auch, daß er gern mit ihr durch das ganze Leben gegangen wäre. Als sie an seinem Arme die Treppe hinab nach dem Speisesaal schritt, meinte er in ihrer leichten, graziösen Bewegung, in dem hellen Blick, welchen sie zu ihm hob, nur die Verkörperung ihres ganzen inneren Wesens zu sehen.

An der Tafel war kein Platz für den neuen Gast reservirt, er mußte seine Begleiterin verlassen und sich mit einem Sitze am untern Ende des Tisches begnügen. Mathildens Platze gegenüber sah er den Agenten, dessen Auge nicht von ihm wich, bis er sich niedergelassen, und auch dann noch den aus der Entfernung gewechselten Blick der „Geschwister“ aufzufangen schien. Der junge Mann wandte, etwas verwundert, den Kopf nach ihm und traf auf einen stechenden Blick unter zwei buschigen zusammengezogenen Brauen, der sich indessen vor seinem Auge langsam senkte. Reichardt suchte, während er aß, umsonst nach einem Grunde dieses sonderbaren Begegnens, bis ihn die Stimme seines Nachbars andern Gedanken zuführte. „Sie gehören zu der angekommenen Gesellschaft, Sir?“ fragte dieser höflich.

„Nicht ganz, Sir,“ erwiderte der Deutsche, „ich bin nur heute zufällig mit Miß Heyer, die meine Schwester ist, hier zusammengetroffen.“

Der Andere neigte leicht den Kopf. „Die Zeitungen haben schon viel Rühmliches über die junge Dame berichtet, und die Gesellschaft wird ihre Rechnung hier finden – wir sind leider arm an tüchtigen musikalischen Kräften, und doch könnten so manche ein rentabeles Geschäft als Lehrer in unsern besten Familien, oder als Sänger und Sängerinnen in unsern Kirchen machen. Es scheint, daß Leute von solcher Befähigung nur immer als Zugvögel hierher kommen.“

„Well, Sir,“ erwiderte Reichardt und ließ erst jetzt den Blick über das ganze respectabele Aeußere des Sprechenden laufen, während sein Auge in einer neuen Hoffnung aufleuchtete, „Sie stellen mir selbst da eine lockende Aussicht. Ich hatte schon den Gedanken, hier ein Feld für mich zu suchen, und gedachte deshalb während der kommenden Vorstellungen einige meiner Leistungen dem Publicum vorzuführen –“

„Halten Sie den Gedanken fest, Sir,“ gab der Andere zurück. „Wenn Sie der Mann sind, für den ich Sie halte, so ist hier Ihr Boden, und ich werde mich freuen, Sie zum Hierbleiben aufgemuntert zu haben!“

Reichardt hätte gern das Gespräch noch weiter fortgesetzt, aber Mathilde schien bereits mit ihrem Mahle zu Ende zu sein und auf ihn zu warten. Er erhob sich, die Hoffnung gegen seinen Nachbar aussprechend, ihn am Abend wieder hier zu treffen, und wandte sich nach den obern Plätzen der Tafel, wo sich bei seinem Herankommen ein halbes Dutzend Köpfe nach ihm drehte.

„Es muß hier gleich eine General-Vorstellung bewerkstelligt werden, um Dir die Ehre einer Bekanntschaft mit unserm verdienten Künstler-Corps zu verschaffen,“ empfing ihn Mathilde, während sich die nächsten Personen von ihren Sitzen erhoben und der Ankömmling sich zwischen einem vollen Kreuzfeuer musternder Blicke sah. „Mein Bruder, Max Reichardt, Violinist und Pianist!“ Der Vorgestellte blickte mit einer leichten Verbeugung um sich und begegnete wieder dem unangenehmen Blicke des Agenten, um dessen Mund sich bei der Nennung von Reichardt’s Namen ein Zug scharfer Ironie legte. Es zuckte in dem Deutschen, ohne Weiteres Erklärung von dem Manne zu fordern. Ein Blick auf die zahlreichen Gäste umher ließ ihn indessen die Ausführung seiner Absicht aufschieben.

„Mr. Fonfride, unser würdiger Director,“ fuhr Mathilde fort, und der junge Mann sah ein echt französisches Gesicht, von grau gemischtem Haare beschattet, vor sich. Trotz dieses Zeichens beginnenden Alters aber schienen doch die lebendigen Züge und das feurige Auge kaum auf mehr als vierzig Jahre zu deuten. „Freue mich, Herr,“ sagte er in dem gebrochenen Deutsch, welches Reichardt bereits am Morgen vernommen, „ein Bruder, ganz einer solchen Schwester würdig. Ich beurtheile die Leute nach ihrem Geschmack, Herr,“ setzte er, Reichardt’s Aeußeres überlaufend, wie erklärend hinzu, „und bin noch selten fehlgegangen; der Geschmack muß da sein, sonst ist für mich wenigstens der ganze Mensch nicht viel!“

„Es hat wenigstens bei dem Bühnenkünstler Manches für sich!“ erwiderte Reichardt mit höflichem Lächeln und wandte sich dann nach den nächsten Personen, einem Manne in „gesetzten“ Jahren, mit einem Anfluge von Wohlbeleibtheit, dessen ganzer Gesichtsausdruck aber in „lyrische Süße und lächelndes Schmachten“ ausgegangen zu sein schien – und einer Dame, schon etwas verlebt, aber mit einer selbstbewußten Bestimmtheit im Blicke. „Herr und Frau Meier, unser Bariton und Alt!“ erklärte Mathilde, „und hier,“ fuhr sie fort, „Fräulein Faßner, Sopran, und die Herren Stiller und Meßner, Tenor und Baß.“ Reichardt erwiderte die Verbeugungen, es waren gewöhnliche Erscheinungen, auf die sein Auge zuletzt getroffen. Dann aber blieb sein Blick wieder auf dem Agenten hängen, den Mathilde in eigenthümlich kurzem Tone als „Mr. Stevens, our Agent,“ vorstellte. „Wir kennen uns bereits,“ sagte Reichardt englisch, den Blick fest auf das noch immer zu halber Satire verzogene Gesicht des Letztgenannten richtend, „und Mr. Stevens wird mir vielleicht erlauben, ein paar Fragen an ihn zu richten.“

„Zu irgend einer Zeit, Sir!“ war die Antwort, mit welcher der Redende sich wie im halb verdeckten Spott verbeugte.

„Sobald wir allein sein werden, Sir,“ gab Reichardt zurück und wandte sich, um Mathilden den Arm zu bieten.

„Wir sehen Sie doch heute bei der Vorstellung?“ nahm der Director das Wort, „Mademoiselle Heyer hat mir so viel von Ihrer Kunst auf der Violine gesagt, daß Sie uns jedenfalls einige Mal unterstützen müssen.“ Der junge Mann konnte nur lebhaft seine Bereitwilligkeit erklären und nach einer leichten Verbeugung gegen die Uebrigen geleitete er die „Schwester“ aus dem Saale.

„Liegt etwas zwischen Dir und dem Agenten?“ fragte Mathilde, als Beide zusammen die Treppe hinaufstiegen.

„Etwas jedenfalls, denn er scheint es auf eine Beleidigung gegen mich abgesehen zu haben,“ erwiderte Reichardt. „Was es aber ist, will ich eben von ihm erfahren. Ich habe den Mann heute Morgen zum ersten Male und da nur mit ein paar kurzen Worten gesprochen.“

Mathilde blieb an der Thür ihres Zimmers stehen. „Laß den Menschen, Max,“ sagte sie, „ich habe Gründe es zu wünschen, die Du bei der ersten Gelegenheit erfahren sollst. Er tritt übrigens schon morgen seine Weiterreise an, und so, wie ungehörig er sich auch gegen Dich benommen haben mag. laß ihn, mir zur Liebe!“

„Ich will ihn meiden, wenn Du es verlangst,“ erwiderte er, ohne das Gefühl von Befremdung, das ihn überkommen, ganz verbergen zu können.

„Thu’ es, Max,“ unterbrach sie ihn, ihre Hand an seinen Arm legend, „wir werden nicht von einander gehen, ohne daß Du klar in alle meine Verhältnisse geblickt hast – und nun,“ fuhr sie fort, als wolle sie damit den Gegenstand beseitigen, „laß Dein Gepäck hierhier schaffen, damit ich Dich in meiner Nähe weiß.“

Es waren mancherlei Betrachtungen, welche sich Reichardt beim Verlassen des Hotels über die Unklarheiten in Mathildens Lage aufdrängten, aber er hoffte sie bald ergründen zu können, und als er den Agenten, eine Cigarre rauchend, in der Ausgangsthür stehen sah, ging er an ihm vorüber, als bemerke er ihn nicht.

[353] Der Abend war gekommen. Reichardt hatte am Nachmittag seine Uebersiedelung bewerkstelligt und, als er Mathildens Zimmer verschlossen gefunden, einen Gang in die Stadt hinein gemacht, in der ihm eine neue Hoffnung zu einer gesicherten Existenz blühen sollte. Erst beim Abendessen war er mit seiner früheren Gefährtin wieder zusammengetroffen und hatte diese dann in Gesellschaft eines Theils der übrigen Sänger nach dem Theater begleitet. Mathilde hatte ihm, ehe sie in ihrer Garderobe verschwand, angedeutet, sich einen passenden Platz zwischen den Coulissen zu suchen, und er gewahrte bald neben einem großen Versatzstück ein Eckchen, aus welchem er Alles übersehen konnte, ohne doch bemerkt zu werden, und so trug er sich dorthin einen Stuhl, der Dinge harrend, die da kommen sollten. Nach kurzer Zeit schon erschien der Director, bereits fertig geschminkt und völlig costümirt, warf durch das kleine Loch im Vorhang einen Blick auf die sich versammelnde Menge, rieb sich die Hände und verschwand wieder in den Seiten-Coulissen. Reichardt hörte seine halblaute Stimme bald aus der einen, bald auf der andern Seite des Theaters; nach Kurzem aber erschien er mit zweien der männlichen Acteurs im vollen Costüm wieder und begann Stück für Stück ihres Anzuges zu mustern. „Bon! bon!“ sagte er, „es wird sich mit der Zeit machen; jetzt aber Sie, Monsieur, noch einmal den Mantelwurf beim Abgange, damit ich ruhig sein kann, und dann Sie, Monsieur, die Erhebung der Arme, damit wir nicht ein lebendiges Kreuz vor uns haben; der Geschmack, Messieurs, der Geschmack muß da sein; commençons!“ Die beiden gebotenen Bewegungen wurden durchgemacht, während Herr Meier, der Bariton, erschien und mit der Miene eines über alle Vorübungen erhabenen Künstlers sich auf sein Schwert stützte.

eh bien, Monsieur Meier, was ich bemerken wollte,“ wandte sich der Director an diesen, „Sie wissen, nicht zu viel Süßigkeit, lieber etwas mehr Kraft!“ Der Bariton nickte nur mit dem süßesten Lächeln, während der Erstere wieder zu dem Loche am Vorhang eilte.

Nach einer Viertelstunde erschienen endlich zwei der Damen, und während einzelne der Sänger in gravitätischem Schritte die Bühne maßen, an ihrem Costüm zupften oder summend eine Glanzstellung versuchten, entspann sich unter den Uebrigen ein halblautes Zwiegespräch. Aus dem Zuschauer-Raume klangen einzelne Piano-Accorde, und der Director überflog seine Streitkräfte. „Mademoiselle Heyer noch nicht sichtbar?“ fragte er, nach der Uhr blickend. Unruhig that er einige Schritte nach der Coulisse, blieb aber dann unentschlossen stehen und begab sich wieder nach seinem Loche zurück. Außerhalb begann das Publicum sich ungeduldig bemerkbar zu machen. „Madame Meier, würden Sie nicht einmal nach der Garderobe sehen –?“ wandte sich der Director wie im Kampfe zwischen Nothwendigkeit und Bedenken zurück; Mathildens Erscheinen in der Coulisse aber schnitt seine ferneren Worte ab, und Reichardt meinte sein Herz vor der wunderbaren Hoheit der Gestalt, welche sich ihm zeigte, erbeben zu fühlen. Reiche antike Gewänder fielen von der Schulter, den Arm völlig frei lassend, in künstlerischer Drapirung herab, und nur der glänzende Gürtel deutete die Feinheit der Formen an; ein blitzender Reif schien den lose aufgebundenen, tiefschwarzen Haarreichthum zu halten, unter welchem ein Gesicht, frei von Schminke, wie aus weißem Marmor gemeißelt, erschien. So ernst, als lebe sie bereits in dem Geiste ihrer Rolle, trat sie in die Mitte der Bühne und sagte einfach: „Wir können beginnen!“

Des Directors Blick hatte ihre Bewegung verfolgt, und eine Art Verzückung schien in seinem Gesichte aufzusteigen, ihn für einige Secunden alles Uebrige um sich her vergessen machend. „O,“ sagte er endlich mit einem tiefen Athemzuge, der ihn wieder in das gewöhnliche Leben zurückzubringen schien, „der Geschmack, ja der Geschmack muß da sein!“ und damit gab er durch leises Klatschen das Zeichen zur Gruppirung. Das erste Klingelzeichen erfolgte, und vom Piano erklang eine rauschende Einleitung, mit dem zweiten Zeichen flog der Vorhang auf, und ein Chor, so kräftig, als es nur die geringe Zahl der Darsteller erlaubte, begann.

Reichardt hörte italienische Musik, die er nicht kannte, und italienische Worte, die er nicht verstand – er war sein Lebtag kein Verehrer der leichten italienischen Richtung gewesen – aber sein Auge ruhte bewundernd auf dem Bilde, welches die Gruppe vor seinen Augen bot. Mathilde, hoch aufgerichtet, schien die Erfüllung eines ihrer Befehle zu erwarten; vor ihr, demüthig gebeugt, das Gesicht mit dem vollsten Ausdruck von Schmerz und Bitte zu ihr erhoben, stand der Bariton und begann seine Stimme mit der des umher gruppirten Chors zu mischen. Es war wirklich ein Künstler, dieser Meier, seine Töne, so süß und eindringlich, schienen die Klagen einer zurückgestoßenen Liebe zu sein, in seinen Mienen wie seinen Bewegungen lag eine Tiefe der Empfindung, wie sie die Natur selbst kaum wahrer hätte schaffen können; in Mathildens Gesichtsausdruck aber schien mit jeder seiner Noten nur ein größerer Widerwille hervorzutreten, und jetzt, mit einer majestätischen Handbewegung Alles um sich her zurückweisend, begann sie eine jener großen italienischen Cavatinen, deren Töne [354] bald in ihren weiten Intervallen wie Blitze einschlagen, bald in ihren weichen Melodien das ganze Leid einer Seele auszuströmen scheinen, bald in ihren Rouladen das Wallen des südlichen Blutes verrathen. Reichardt saß in seinem Versteck, seine Sinne nur in Auge und Ohr vereinigt; er hatte weder von dieser Macht ihrer Stimme, noch dieser geschulten Fertigkeit, noch dieser Fähigkeit des tragischen Ausdrucks eine Ahnung gehabt; sie war, wie sie hier stand, eine völlig Fremde für ihn, und fast mit einer Art Ängstlichkeit suchte er in ihrem Gesichte das auf, was ihn an die Mathilde außerhalb des Theaters erinnern konnte.

Ein völliger Sturm des Applauses brach nach dem ersten Satze in dem gefüllten Hause los; sie schien aber kaum darauf zu achten und nur in der Handlung der Scene zu leben; der Bariton hatte sich ihr genähert und seine Bitten von Neuem begonnen; wieder zurückgewiesen begann er dringender und leidenschaftlicher zu werden, und jetzt entspann sich ein Duett, in welchem Reichardt bald nicht mehr wußte, was er mehr bewundern sollte, den Gesang oder die Wahrheit des Spiels; Meier’s Gesichtsausdruck schien eigens für derartige Scenen geschaffen zu sein, immer drängender und süßer flehend wurden seine Töne, immer schmerzlicher seine Züge, bis endlich große Thränen, helle, wirkliche Thränen über die geschminkten Backen rollten. Reichardt meinte, das Schluchzen werde ihm jetzt gleich die Stimme abschneiden, aber jetzt schien der Mann erst in die ihm zusagende Höhe der Empfindung gelangt zu sein. Daß die so Angeflehte erweicht werden mußte, ließ sich kaum anders erwarten; sie neigte sich nach einem langen innern Kampfe zu ihm, und mit dem jubelnd einfallenden Chore, von dem wüthenden Applaus der Zuhörermenge begleitet, führte er die Gewonnene ab.

Beide waren in Reichardt’s unmittelbarer Nähe in die Coulisse getreten, und kaum hier angelangt wollte Mathilde sich von ihrem Begleiter wegwenden, als dieser, wie in Ekstase, sich ihrer beiden Hände bemächtigte und wie halberstickt von seiner Empfindung in demselben schmerzlichen Tone, der seinen Gesang bezeichnet, ausrief: „Mathilde, Mathilde, fühlst Du denn noch immer nichts?“

Sie wollte sich mit einer kurzen Bewegung frei machen, aber er hielt sie fest und fiel vor ihr auf die Kniee. In ihr bleiches Gesicht stieg das Roth des Zorns. „Sie schämen sich also wirklich nicht, Sie, ein verheirateter Mann, ein schutzloses Mädchen zu verfolgen?“ rief sie mit dem Ausdrucke der bittersten Verachtung.

„O Mathilde, sieh meine Thränen!“

„Sie haben wieder getrunken, Herr, das ist Alles!“

Reichardt, von Ueberraschung gefesselt, wußte nicht sogleich was zu thun; da sah er den Bariton aufspringen und seine Arme ausbreiten, hörte: „O Mathilde, ich kann Dich nicht lassen!“ und wollte hinzueilen, als eine kräftige, klatschende Ohrfeige auf des Liebeerregten Gesicht fiel, die diesen einen Schritt zurücktaumeln machte; im gleichen Augenblicke war auch das Mädchen verschwunden.

Auf der Bühne gingen eben die letzten Töne des Schlußchors in dem neuausbrechenden Beifallssturme unter.

Reichardt fand es jetzt nicht für gerathen, seine Anwesenheit kund zu thun; er wartete, bis der abgewiesene Liebhaber, der sich rasch zu fassen schien, als er den Actschluß inne wurde, davon ging, und verließ dann seinen Versteck.

Auf seine Frage, wo er wohl die Schwester finden könne, wurde er nach einem der Garderobezimmer gewiesen und nicht ohne eine Art von Befangenheit klopfte er hier an. Er hielt es für seine Pflicht, dem Mädchen zu sagen, daß er die eben stattgefundene Scene belauscht, daß sie sich als unter seinem Schutze betrachten möge, und daß er beabsichtige, dem Menschen eine gebührende Lection zu geben; demohngeachtet fühlte er sich auf so völlig fremdem Boden, kannte so wenig die möglichen Beziehungen und den herrschenden Ton in derartigen Kreisen, daß er nicht wußte, ob es nicht vielleicht discreter sei, nichts gesehen zu haben.

Sein Pochen blieb ohne Antwort, und erst als er den Mund an die Thür legte und halblaut sagte: „Max ist es, Mathilde!“ schob sich der innere Riegel zurück. Mitten unter den reichen Gewändern und Schmuckgegenständen, welche überall in dem kleinen Raume ausgebreitet lagen, blickte ihm Mathilde, in ein leichtes Tuch gehüllt, mit einem Gesichte entgegen, das sich zu lächeln bemühte und es doch nicht vermochte, mit Augen, von welchen eben die Thränen gewischt zu sein schienen und die dennoch im hellen Wasser schwammen – und Reichardt dachte nicht mehr an die Indiskretion, die er sich gefürchtet hatte zu begehen. „Thue Dir keinen Zwang an, Mathilde,“ sagte er, ihr die Hand entgegenstreckend, „ich bin willenlos Zeuge des letzten Auftrittes hinter der Coulisse gewesen; sage mir nur, ob ich als Dein Bruder handeln darf, und ich denke, der Mensch soll Dich nicht mehr belästigen!“

Ein tiefes Roth war bei seinen ersten Worten in ihr Gesicht gestiegen, das nur langsam sich wieder verlor. „Du warst Zeuge?“ erwiderte sie, sichtlich ihre Erregtheit niederkämpfend, „gut, so habe ich Dir von Begegnissen dieser Art nicht erst zu erzählen. Laß es aber nur,“ fuhr sie, seine Hand drückend, fort, während trotz ihres Ringens nach Fassung ihre Augen immer wieder überquollen, „ich werde allen Quälereien dieser haltlosen Stellung ein Ende machen und mir den nöthigen Schutz verschaffen – morgen schon. Heute Abend aber sprechen wir noch ein Weiteres mit einander, ich habe in der zweiten Abtheilung nur einmal, gleich zu Anfange, zu singen. Hole mich hier ab, sobald ich durch bin, damil wir allein nach Hause kommen – und nun geh, damit ich mich nicht mehr aufrege, als jetzt für meine Stimme gut ist!“ Sie drückte ihm von Neuem die Hand, und er ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Auf der Bühne hatte bereits eine neue Production begonnen; er stieg die kurze Treppe nach einer der Theaterlogen hinauf und setzte sich im Hintergrunde derselben nieder; aber er hörte wenig von der Scene. Seine Gedanken waren bei dem Mädchen, welches das Ungeeignete ihrer Stellung so tief empfand und dennoch sich an dem eigenen Muthe und dem Vertrauen auf die innere Kraft immer wieder aufrichtete. Eine warme Theilnahme an ihrer Lage begann sich seiner zu bemächtigen, er grübelte, woher ihr wohl der Schutz, den sie sich so schnell zu verschaffen gedachte, kommen solle, ob sie wohl daran denke, ihren jetzigen Beruf zu verlassen, und unwillkürlich trat das Bild einer musikalischen Wirksamkeit an ihrer Seite vor seine Seele. Er Musiklehrer, während sie sich schnell zu seiner Unterstützung heranbilden würde; sie Kirchensängerin und er vielleicht später am gleichen Orte Organist, beide in den besten Familien eingeführt, überall geehrt und geachtet – es lag eine Stille und behagliche Ruhe in dem Bilde, die ihm nach der Unsicherheit und Rastlosigkeit seines bisherigen amerikanischen Lebens eigenthümlich wohl that. Die Scene war zu Ende, eine neue hatte begonnen, aber kaum riß ihn der lärmende Beifall des Auditoriums für Augenblicke aus seinen Träumereien, und erst als Malhildens silberklare, mächtige Stimme an sein Ohr schlug, raffte er sich wieder zur Wirklichkeit empor.

Als er kurze Zeit nach ihrem Abtreten sich an ihrer Garderobe meldete, fand er sie bereits zu seiner Begleitung fertig. An seinen Arm gehangen schritt sie, ohne die fragenden Blicke der übrigen Sänger zu beachten, nach dem Ausgange; nur als sie hier auf den Director traf, welcher mit einer tiefen Verneigung zur Seite trat, blieb sie stehen und sagte: „Ich gehe, Monsieur Fonfride, da ich doch heute nicht weiter nöthig bin; ich möchte Sie aber bitten, mir morgen früh eine halbe Stunde in meinem Zimmer zu gönnen.“

Reichardt sah, wie es in dem Gesichte des Mannes aufleuchtete, ähnlich dem Ausdrucke, welchen Jener bei Mathildens erstem Auftreten in seinen Zügen beobachtet hatte. Das Mädchen aber neigte nur leicht den Kopf und zog ihren Begleiter nach der matt erleuchteten Treppe. Wortlos schritten Beide neben einander hinab, bis sie die Straße erreicht hatten.

An der vorderen Ecke des Theatergebäudes stand ein Mann mit weißem Sommerhute, der langsam aus ihrem Wege trat, als sie die Stelle passirten. Fast war es Reichardt, als hänge sich das Mädchen beim Anblick des Wartenden fester an seinen Arm.

„Ich glaube, der Mensch folgt uns,“ sagte sie nach einer Weile halblaut, „laß uns schärfer gehen!“

„Und was liegt daran, wenn er uns folgt?“ fragte er mit einem neuen Anfluge von Befremdung.

„Daß er im Stande ist, uns anzureden und an unserer Seite zu bleiben,“ erwiderte sie, ihren Begleiter zu schärferem Schritte drängend; „ich möchte aber jetzt weder eine Sylbe von ihm hören, noch Dich in einem Wortwechsel mit ihm sehen!“

Reichardt gab schweigend ihrem Drängen nach; als er aber beim Umbiegen der nächsten Ecke zurückblickte, sah er wirklich in geringer Entfernung den Agenten ihrem Wege folgen.

[355] Eine Viertelstunde später saßen Beide in Mathildens kleinem Zimmer im Hotel. Das Mädchen hatte sich, ihrer Umhüllungen entledigt, wie erschöpft in die Polster des Divans fallen lassen und die Hand vor die Augen gedrückt, während Reichardt einen Stuhl herangezogen und sich mit dem unverhüllten Ausdrucke von Theilnahme und stiller Spannung ihr gegenüber niedergelassen hatte.

„Sieh, Max,“ begann sie endlich, ihre Hand sinken lassend und das Auge, in dem sich Innigkeit mit einem Ausdruck von Trübsinn seltsam mischte, zu ihm aufschlagend, „Du bist der Einzige auf meinem ganzen Lebenswege, der mir eine Theilnahme gezeigt hat, die nicht zumeist nur der eigenen Selbstsucht diente, und darum will ich gegen Dich so wahr sein, als ich es nur gegen mich selbst sein könnte. Was mich herüber in die neue Welt gebracht,“ fuhr sie nach einem kurzen Athemzuge fort, „ist eine einfache Geschichte, wenn sie auch nicht zu den gewöhnlichen gehört. Ich war kein Mädchen wie andere; ich mochte nicht still sitzen, nicht nähen und nicht kochen, wollte nichts als leichtfertige Dinge treiben, Schauspiele lesen, singen, musiciren und declamiren, und meine Jugend war durch die Zwangsmaßregeln, die mich zu einem „ordentlichen Frauenzimmer“ machen sollten, so trübe, als sie nur sein konnte. Den einzigen Richtpunkt darin bildete meiner Mutter Bruder, ein alter Junggeselle und leidenschaftlicher Musiker, der Einzige, der mit mir in meinen Neigungen sympathisirte. Er brachte mir die Anfangsgründe der Musik bei, begann trotz meiner Jugend mit mir einen regelrechten Cursus im Singen und ließ mich zwischen seinen vier Wänden meinen Leidenschaften nach Herzenslust nachhängen. Aber er ging, noch ehe ich erwachsen war, zur Verbesserung seiner Lage nach New-York – er war es, den ich dort zu finden gehofft und der mir auch durch einzelne Andeutungen den ersten Gedanken eingegeben, mich aus der beengenden Welt, wie sie mich drüben umgab, hierher zu retten, wo für jedes Talent und jedes redliche Streben sich freier Raum findet. Und ich führte den Gedanken aus, als mein Vater gestorben war, als meine Mutter jeden Augenblick freier Zeit zur nothwendig gewordenen Erwerbung des Lebensunterhaltes forderte. Ich hatte bis dahin, trotz des Widerstrebens meiner Eltern, meine Gesangstudien fortgesetzt, hatte jeden von meinem Toilettengelde ersparten Groschen für Lectionen ausgegeben und daneben mir die nothwendige Kenntniß der italienischen und französischen Sprache verschafft. Ich hoffte sicher, wenn auch nicht als Künstlerin, so doch als Lehrerin meinen Unterhalt zu verdienen, und glaubte daneben Kraft genug zu haben, um auch im schlimmsten Falle selbständig für mich bestehen zu können. Aber ich habe lernen müssen, daß es das größte Verbrechen einer Frau ist, nicht nur Frau, sondern Mensch im Allgemeinen sein zu wollen, zu dessen Bestrafung sich Jeder, Mann wie Frau, gleich berufen fühlt.

„Als ich in New-York einsah, daß unser Beider Weg nicht zusammen gehen könne,“ fuhr sie, einen Moment das Auge senkend, fort, „nahm ich den Vorschlag an, einer sogenannten italienischen Operngesellschaft, welche sich zu einer Tour nach dem Süden rüstete, beizutreten. Derselbe Agent, den Du hast kennen lernen, war es, der mich in unserm Boardinghause hatte singen hören und mich zu dem Director geleitete. Ich sang vor diesem – Arien, die ich längst während meiner Studien durchgeübt, und ward angenommen; das erste Concert fand statt, ich erlangte mit einigen gut einstudirten Piècen einen größern Erfolg, als ihn wahrscheinlich die Gesellschaft bis dahin gehabt, und von diesem Augenblicke an beginnen meine Erfahrungen. Ich hatte es verschmäht, mich unter den Schutz der einzigen verheirateten Frau in unserer Truppe zu begeben, lebte und studirte für mich, und jeder meiner Schritte ward von dem weiblichen Personale mit Achselzucken und halblauten Bemerkungen begleitet. Das verachtete ich und ging mit tauben Ohren meinen Weg weiter. Bald aber begann sich eine eigenthümliche Aenderung in dem Wesen der Männer zu zeigen. Der Director hatte schon nach den ersten Abenden seiner höflichen Amtsmiene eine wunderliche Süßigkeit beigemischt; er schien sich über ein Costüm meiner Wahl begeistern zu können, und bei nöthigen Bemerkungen kaum den Ton rücksichtsvoll genug treffen zu können; ich hatte indessen schon am ersten Tage des Mannes aufrichtige Begeisterung für die Kunst kennen lernen – sie ist eine Art Steckenpferd für ihn, dem er wohl selbst einen Theil des Vermögens, das er besitzt, opfern würde, und schrieb sein Benehmen ebenso dieser Eigenthümlichkeit wie seiner wohl etwas altfranzösischen Erziehung zu. Daneben schien der Agent – der mit uns immer etwas von oben herab verkehrte, wie der Geldmann, an welchem das ganze Heil von uns armen Vagabonden hing – mich plötzlich mit besonderen Augen zu betrachten. Seine anfängliche Protector-Miene wich einer leichten Umgangsweise, welcher sich indessen bald eine Art Vertrautheit in seinem Tone beigesellte, zu welcher ich ihm am wenigsten ein Recht gegeben, die aber auch keinen rechten Halt für eine Zurückweisung bot. Ich regelte mein Benehmen ihm gegenüber noch strenger als bisher, ohne dadurch indessen eine andere Wirkung zu erzielen, als daß er sich eines Tags lächelnd nach mir bog und halblaut sagte: „Sie spielen die Spröde, Miß, und es steht Ihnen allerdings entzückend; ich denke indessen, wir werden uns bald besser verstehen!“ Ich hatte diesmal ein passendes Wort für ihn auf der Zunge, aber er hatte sich weggewandt, ohne meine Entgegnung abzuwarten.

„Das veränderte Benehmen beider Männer gegen mich war schnell genug in dem übrigen Kreise bemerkt worden, und ich konnte in den Mienen und der Begegnungsweise meiner Umgebung nur zu gut wahrnehmen, welche Art von Betrachtungen darüber angestellt wurden; fast schien es mir aber, als sei erst dadurch unser Bariton ermuthigt worden, mir Aufmerksamkeiten zu widmen, die in seiner gebundenen Stellung schon an sich Beleidigungen waren, und trotz der entschiedensten Zurückweisung mich auf Tritt und Schritt mit seiner süßschmachtenden Miene zu verfolgen. Heute aber erst, wo er sich, dem Dufte nach, einmal wieder durch eine Quantität Grog auf die gehörige Gefühlshöhe für die Vorstellung gebracht, ist er soweit gegangen, wie Du es gesehen – mag er indessen jetzt bei Seite bleiben, ich habe noch der beiden Vorigen zu erwähnen. – Es war vorgestern, und wir befanden uns auf der Fahrt von Louisville hierher. Außer den Damen unserer Gesellschaft, welche immer zeitig ihr Bett suchten, war fast kein weiblicher Passagier auf dem Dampfboote, und ich saß Abends noch allein im Damensalon, allerhand Träumereien hingegeben. Da kam der Director an und bat, noch ein Viertelstündchen mit mir plaudern zu dürfen; ich mochte es nicht abschlagen, so gewiß ich auch war, dadurch einen neuen Stoff zu heimlichen Klatschereien zu geben, und mit einem förmlichen, fast ehrerbietigen Wesen trug er sich einen Stuhl in meine Nähe. Es war nichts mehr und nichts weniger als ein Heirathsantrag, welchen er mir machte. Er zog Papiere aus der Tasche, um mir nachzuweisen, daß er nicht an unser jetziges Unternehmen gebunden sei, sondern ein Vermögen besitze, das ihm genug zum Unterhalt abwerfe; setzte aber hinzu, daß er sehnlichst wünsche, an meiner Seite der Kunst dienen zu dürfen, bis ich selbst den Geschmack an ihrer Ausübung verlieren würde. Seine ganze Rede war so würdig und gehalten, jedes Wort athmete so viel Achtung gegen mich, daß ich mich nicht nur nicht beleidigt fühlen konnte, sondern daß ich ihm nicht einmal, obgleich mein Auge auf sein ergrautes Haar fiel, durch eine schroffe Abweisung wehe thun mochte. Ich sagte ihm, daß ich noch nie an einen Schritt, wie er ihn mir vorgeschlagen, gedacht habe, daß er selbst wohl auch besser thue, mich erst längere Zeit kennen zu lernen, und daß wir Beide für die nächste Zeil sein Wort lieber als noch nicht gesprochen ansehen wollten. Er reichte mir, ohne durch eine Miene seine Täuschung zu verrathen, mit einer Verbeugung die Hand. „Mein Wort ist gesprochen, Mademoiselle,“ sagte er, „und es wartet Ihrer Entscheidung, mögen Sie diese nun jetzt oder erst zu späterer Zeit geben!“

„Am nächsten Abend erreichten wir St. Louis, der vorausgegangene Agent erwartete uns, und ich konnte es nicht hindern, daß er die Uebrigen den Auswärtern im Hotel überließ, mit mir aber selbst ging, um mir mein Zimmer zu bezeichnen. „Ich muß einige Worte von Wichtigkeit zu Ihnen reden, Miß, ehe ich wieder abreise, lassen Sie mich fünf Minuten bei Ihnen eintreten,“ sagte er, als wir die Thür erreichten; ehe ich jedoch einen Entschluß fassen konnte, war er bereits im Zimmer und zündete, wie um meine Besorgnisse zu beseitigen, eine helle Gasflamme an. Ich war ihm nothgedrungen gefolgt, er zog, als sei ich bei ihm zum Besuch, und er nicht bei mir, einen Stuhl für mich herbei, und als ich, mit dem festen Entschlusse keine Art von Ungebührlichkeit zu ertragen, mich gesetzt hatte, begann er: „Ich denke, Miß Heyer, daß wir Beide in dem einen Punkte gleicher Meinung sein werden, bei unserer jetzigen Reise den möglichst besten Gewinn herauszuschlagen. Vielleicht wissen Sie aber, daß Mr. Fonsride in Allem, was über den Geschmack hinausgeht, ein pures Kind ist, und daß ich es bin, der das ganze Geschäft macht, während Sie [356] in Ihrer Person allein die künstlerische Anziehungskraft bilden. Jetzt frage ich Sie, warum wir Beide uns für den Nutzen Anderer quälen sollen? Nehmen Sie Ihr Talent und meine Geschäftsroutine von der Truppe, und es bleibt nichts. Ich schlage Ihnen ein Compagnieqeschäft zwischen uns vor, am liebsten für das ganze Leben als Mann und Frau, was Ihnen auch zugleich die sicherste Garantie für meine Ehrlichkeit bietet; in acht Tagen will ich bessere Kräfte als die jetzigen bei einander haben, und in zwei Jahren sollen Sie eine reiche Frau sein. Was sagen Sie zu der Idee, die Ihnen vielleicht unerwartet kommt, die Sie aber jeder Abhängigkeit entreißt und Ihnen den vollen Ertrag Ihrer Begabung zusichert, Miß?“

„Ich sage, daß ich meinen eingegangenen Contract halten werde,“ erwiderte ich ihm kalt. „Im Uebrigen habe ich meinen jetzigen Beruf mehr der Befriedigung, welche mir die Kunst gewährt, als eines hohen Gewinnes wegen ergriffen.“

„Genau, was ich als erste Antwort von Ihnen erwartete,“ lachte er, „indessen, meine theure Miß,“ setzte er ernster hinzu, „wissen Sie nun, warum ich Ihnen näher trat, und ich denke viel zu hoch von Ihrem Verstande, als daß ich nicht die nähere Erwägung meines Vorschlags von Ihnen erwarten sollte. Selbst wenn man nicht nur dem Gewinne allein nachgeht, wird der Kluge nicht seine besten Kräfte opfern, nur um andern Leuten die Taschen zu füllen – namentlich wenn er es in der Hand hat, sich eine eigene sorgenfreie Zukunft zu gründen. In einigen Tagen sehen wir uns wieder,“ setzte er, seinen Platz verlassend, hinzu, „und dann wollen wir den Gegenstand noch einmal aufnehmen.“

„So –“ schloß Mathilde mit einem tiefen Athemzuge ihre Erzählung, „so ist jetzt meine augenblickliche Stellung in dieser Truppe. Die Conflicte, die sich daraus entwickeln müssen, scheinen mir schon heute Abend mit der handgreiflichen Zurückweisung Meier’s begonnen zu haben, und will ich den nachfolgenden aus dem Wege gehen, will ich die Unannehmlichkeiten meiner haltlosen Lage nicht bis zum Boden durchkosten, so muß ich einen raschen, bestimmten Entschluß fassen – und nun, Max, nachdem Du Alles gehört hast,“ fuhr sie fort, ihre Hand auf die seine legend, „sprich Deine Gedanken gegen mich aus – offen, so offen als ich mich Dir gegeben!“

Reichardt nahm des Mädchens Finger leicht zwischen seine beiden Hände, und in seinem Gesichte begann es wie ein klarer, beglückender Entschluß aufzuleuchten. „Als Du in New-York nicht wußtest, wohin allein in der großen Stadt,“ begann er lächelnd, ihr in das große, tiefe Auge blickend, „da führten wir das Geschwister-Verhältniß zwischen uns ein, Mathilde. Wir hätten das, trotz aller obwaltenden Verhältnisse, wohl nicht gethan, wenn unsere Seelen nicht etwas Verwandtes gehabt hätten, das uns zu einander zog. Das Geschwister-Verhältniß erwies sich nicht ganz stichhaltig,“ fuhr er mit einem neuen Lächeln fort, vor welchem sich ihre Wangen leicht färbten, „und heute, wo Du Dich fragst, wohin allein in der weiten Welt, sitzen wir wieder berathend bei einander. Warum ergreifen wir nun nicht ein Auskunftsmittel, das so nahe liegt, Mathilde? Mir sind die besten Hoffnungen auf einen reichen Erwerb durch Unterricht hier gemacht, um Dich wird sich Alles reißen, was nur einer Sängerin bedarf – wirf das wandernde Leben von Dir, gieb mir die Hand, und wir gehen morgen früh zum nächsten Friedensrichter, um uns durch keine Lage dieses Lebens wieder von einander trennen zu lassen!“

Es war ein Ton der vollsten Innigkeit, mit welchem die letzten Worte gesprochen waren, und des jungen Mannes Auge glänzte wie in der vollsten Genugthuung seines Herzens. In Mathildens Gesicht war eine glühende Röthe eingetreten; aber sie schlug den Blick nicht nieder, ihre Hand umfaßte warm die seinige, und plötzlich brachen wie zwei helle Bäche die Thränen aus ihren Augen.

„Mathilde, warum denn weinen?“ rief Reichardt, als überkomme ihn selbst eine plötzliche Rührung; das Mädchen aber erhob sich rasch und neigte sich über ihn, zwei, drei rasche, heiße Küsse brannten auf seinen Lippen, dann, in ausbrechendem Schluchzen, wandte sie sich nach dem andern Ende des Zimmers.

Der junge Mann war aufgesprungen. „Gott, was ist es denn, Mathilde? habe ich denn mehr gesagt, als nur völlig natürlich ist?“ rief er; sie aber wandte ihm das Gesicht langsam wieder zu. „Laß nur, es ist schon vorüber,“ sagte sie, während in ihren Zügen ein Lächeln mit ihrer Erregung zu kämpfen schien.

„Ich danke Dir, Max,“ fuhr sie herantretend und ihre Hand ihm entgegenstreckend, fort. „ich danke Dir aus der Tiefe meines Herzens, denn Du hast mich so glücklich gemacht, wie Du es selbst nicht weißt – aber, Max, es kann ja nun- und nimmermehr sein, was Du aussprachst!“

[381] An diese Loggien, die gleichsam einen Corridor bilden, schließen sich die Zimmer an, die der Welt unter dem Namen der „Stanzen (Zimmer) Raphael’s“ bekannt sind. Sie enthalten die berühmten Freskomalereien dieses Meisters und geben in verschiedenen Abtheilungen eine Verherrlichung der Idee des Christenthums. Von den vielen Meisterwerken der vaticanischen Gemäldesammlung gedenken wir nur der Transfiguration Raphael’s und der Madonna di Foligno. Die Antiken sind aufgestellt in dem Appartements Borgia (Alexander’s VI.), wo sich auch die gedruckten Bücher der Bibliothek seit 1840 befinden, namentlich aber in dem „Belvedere“ (eigentlich einer Villa Innocenz’ VIII., welche Julius II. mit dem Vatican vereinte und die später erweitert wurde). Hier finden sich die großen Sammlungen: Galeria lapidaria mit mehr als 3000 meistens Grabmälern entnommenen Reliefs; dann das Museo Chiaramonti, von Pius VII. angelegt und mit Statuen, Reliefs etc. angefüllt; dazu gehört der von demselben Papst erbaute Saal, welcher den neuen Flügel des Belvedere (il braccio nuovo) begreift und der an Reichthum kostbarer Marmorarten alle übrigen Säle des Vaticans übertrifft. Keine andere Antikensammlung in der Welt läßt sich jedoch mit dem Museo Pio Clemente vergleichen, denn dasselbe birgt, um nur das Ausgezeichnetste zu erwähnen, den berühmten Torso des Hercules, den herrlichen Apollo, die wundervolle Gruppe des Laokoon, eine Statue des Nils, die kolossale Statue des Antinous und tausend andere Arbeiten, an denen sich das Auge des Kunstkenners nicht satt sehen kann. Es ist dieses Museum der Glanzpunkt des ganzen Vaticans bis auf diesen Tag geblieben. Wenn Julius II. einen Kunsttempel geschaffen, sorgte Sixtus V. für eine der Wissenschaft geweihte Halle und baute die Prachträume der Bibliothek. Man kann sich eine Idee von den dort aufgespeicherten Schätzen der Wissenschaft machen, wenn man bedenkt, daß die vaticanische Bibliothek mindestens 70,000, nach Einigen 200,000, nach Anderen sogar 400,000 Bände enthält, neben denen sich gegen 40,000 Handschriften befinden, die größtentheils zu den ältesten und besten zählen.

Derselbe Sixtus V. erbaute auch denjenigen Theil des Palastes, der die rechte Seite unseres Bildes einnimmt und die gewöhnliche Residenz der Päpste ist. Hier wohnt Se. Heiligkeit, der jetzt regierende Pio nono, während die Eminenz den Cardinal-Staats-Secretairs Antonelli im obern Stockwerke thront. Unter Urban VIII. wurde die prachtvolle Scala regia (Haupttreppe), der officielle Haupteingang des Vaticans, gebaut. Man gelangt zu ihr durch das Säulenportal auf der linken Seite unseres Bildchens. Auf einer vierfachen Folge von Marmorstufen führt die Scala regia zwischen ionischen Marmorsäulen zum Haupteingang und bildet eine Perspektive von wundervoller Schönheit. Hier befindet sich auch die Wache der Schweizergarde, der letzten schwachen Hülfe, auf welche der vielbedrängte Pio nono sich zu stützen versucht. In unseren Tagen ist noch eine neue Seitentreppe hinzugekommen, ein durch die Munificenz Pius’ IX. errichteter Prachtbau, der an der Stelle der früheren Rampe direct in den Hof der Loggien hinaufführt. Dieses Werk ist eben vollendet. Aus der Zeit Urban’s VIII. endlich datirt die große Vorhalle, die Bernini mit so großem Talent ausgeführt hat. Wir sehen auf unserer Zeichnung die eine Hälfte des größten Meisterwerks, das dieser Künstler in der Architektur geschaffen. Die unzähligen Statuen, die den Porticus schmücken, gehören sämmtlich der Schule Bernini’s an, sind aber nur von decorativem Werth. Um schließlich noch einen Begriff von der riesenhaften Ausdehnung dieses Gebäudes zu geben, bemerken wir nur, wie fast alle Quellen die Anzahl der darin enthaltenen Säle, Zimmer etc. auf 11,000 angeben, wohl hinreichend, um den Vatican als die größte aller Residenzen dieser Welt erscheinen zu lassen.

Es liegt im Dunkel des Schicksals verhüllt, wie lange der Vatican noch die Residenz der Päpste bleiben wird. Vielleicht entscheidet schon die nächste Zukunft die brennende Frage, ob nicht der neue König von Italien Rom zu seinem ersten Herrschersitz erwählen wird und darf; dann könnte vielleicht der heilige Vater, seiner weltlichen Krone beraubt, sich gezwungen sehen, seinen Wohnsitz wie früher im Quirinal aufzuschlagen, wenn er es nicht, wie bereits früher, vorzieht, in der Fremde ein Ruhelager zu suchen, auf welches er sein müdes Haupt in Frieden niederzulegen vermag.



[382] Andere den Ansprüchen genügen, welche ich an eine befriedigende Zukunft zu stellen habe.“

Reichardt sah in ihr Auge, das nur unsicher seinen Blick auszuhalten schien, und ein Gefühl von Wehmuth stieg in seinem Herzen auf. Es war ihm, als könne er das Mädchen verstehen, die es vorzog, ihr Herz mit seinen Schätzen zu begraben, als es hinzugeben, wo ihm niemals dieselbe heiße Flamme entgegengeschlagen hätte, und ein Leben der kalten, nüchternen Vernunft zu beginnen – und doch erschien ihm ein solcher Entschluß in der Fülle der Frische und Jugendkraft, welche sie belebten, wieder so unnatürlich, daß dieser nur aus einem Gemüthe entsprungen sein konnte, das mit jeder andern Hoffnung fertig ist!

„Warst Du nicht schon mit Dir einig, Mathilde, ehe Du meine Ansicht verlangtest?“ fragte er.

„Ich bin es jetzt noch nicht, Max,“ erwiderte sie, ihre Sicherheit wieder gewinnend, „aber ich habe eingesehen, daß ich, um zu dem rechten Ziele zu gelangen, Dir meine Fragen bestimmt stellen muß. Antworte nur ebenso, ich habe Dir einen vollen Einblick in die Charaktere und die Verhältnisse gegeben. Der Director mag seine fünfundvierzig Jahre zählen, aber sein Geist ist jugendlicher, als der vieler unserer jungen Männer. Er ist ein durch und durch nobler Charakter und die Kunst seine eigentliche Lebenslust. Er mag mich ebensowenig lieben als ich ihn, aber gegenseitige Achtung und gemeinschaftliche Neigungen bilden wohl einen haltbaren Ersatz für das, was sich oft Liebe nennt. Er ist in mancher Beziehung ein Original, wohl in andern ein halbes Kind, aber vielleicht kann hier meine eigene Selbständigkeit zu einer Ergänzung helfen. – Nun, Max?“ setzte sie nach einer Pause hinzu, als der junge Mann ihr nur mit einem stillen Blicke ins Gesicht sah.

„Warum fragst Du denn noch?“ erwiderte er, wie in halber Gedrücktheit. „Wenn ich nun auch sagte, was sich einer solchen Verbindung entgegenstellen läßt, so könnte es doch kaum mehr sein, als Du Dir selbst längst gesagt haben mußt; im Uebrigen aber ist Dein Entschluß bereits so vorbereitet, und Jeder muß immer selbst am besten wissen, was zu seiner Befriedigung gehört, daß meine Worte gewiß am wenigsten ins Gewicht fallen können –“

„Bist Du unzufrieden, Max, daß ich mich Dir gegeben habe wie ich bin, mit allen Schroffheiten, die wohl in mir sein mögen?“ unterbrach sie ihn, seine Hand von Neuem fassend, „daß ich mir einmal den seltenen Genuß gegönnt, zu sprechen, wie es mir auf der Seele gelastet?“

„Mathilde!“ rief Reichardt, welchen bei dem halbanklagenden Blicke des Mädchens das ganze Mitgefühl für sie wieder überkommen hatte, „es ist ja nur der Schmerz der aus mir spricht, der Schmerz, daß ich kein befriedigendes Glück für Dich schaffen kann, aber auch keines in Deinen Entschlüssen sehe, trotz alle der herausgekehrten lichten Seiten, mit denen Du Dich selbst zu täuschen suchst!“

„Lassen wir die Sache jetzt!“ erwiderte sie, wieder hell zu ihm aufblickend, „es wird spät, und ich verspreche Dir, mich nicht zu übereilen. Ich habe morgen früh den Director zu mir bestellt, aber es liegt noch eine lange Nacht zwischen jetzt und morgen. Sei nach dem Frühstücke wieder bei mir, dann werden wir Beide mit ruhigerem Auge die Dinge betrachten. Und nun gute Nacht, Max!“ – Mit einem stillen Kopfschütteln war Reichardt die Treppe nach den untern Räumen hinabgeschritten. Er fühlte sich unmuthig, kaum wußte er aber, ob in Folge der Zurückweisung seines Antrags, oder aus Sorge über Mathildens Wahl, die ihm noch immer kaum anders als ein Verzweiflungsschritt erscheinen wollte. Jedenfalls war das Bild, welches er sich von der nächsten Zukunft im Zusammenleben und Wirken mit ihr geschaffen, zerronnen, und doch hätte er am wenigsten von ihr ein Hinderniß für die Verwirklichung desselben erwartet. Aber sie war jetzt eine Andere, als er sie in New-York gekannt, und wenn er sich auch nicht in ihrer Liebe zu ihm getäuscht hatte, so bot ihm diese eigenthümliche Natur doch so viel neue Seiten, daß er das schutzlose Mädchen, welches damals seine Schwester geworden, kaum aus ihr herauszuerkennen vermochte.

Er war in den Ausgang des Hotels getreten, überlegend, ob er in seinem erregten Zustande schon das Bett suche, oder noch einen Gang durch die hellerleuchteten Straßen mache, als eine bekannte Stimme neben ihm laut wurde. „Hatten Sie mir nicht einige Fragen vorzulegen, Sir? Sie sehen, daß ich Ihnen gern die Mühe spare, mich zu suchen!“ klang es, und als er den Kopf wandte, sah er in des Agenten Gesicht, das eine ironische Ruhe bewahren zu wollen, aber einen innern Ingrimm nicht verbergen zu können schien. Reichardt hatte trotz Mathildens Mittheilungen noch immer keine Ahnung, weshalb der Mensch sich an ihm reiben zu wollen schien, aber dieser kam ihm in seiner jetzigen Stimmung kaum ungelegen.

„Lassen Sie uns nach dem Speisezimmer gehen, wo wir wohl ungestört sein werden,“ erwiderte er mit einem finstern Kopfnicken und schritt dem Andern nach dem bezeichneten Raume, welcher nur noch von einer halbeingedrehten Gasflamme nothdürftig erleuchtet war, voran. Die die Mitte des großen Zimmern durchschneidende Tafel war noch mit aufgethürmtem Geschirr und einem Haufen Messern und Gabeln, die sich zu einem großen Vorlegemesser wie die Brut desselben ausnahmen, besetzt; Reichardt lehnte sich bequem gegen den Tisch, schlug die Arme in einander und sah mit hochaufgerichtetem Kopfe seinem Gegner, welcher vorsichtig die offene Thür schloß, entgegen. „Ich wünsche einfach zu wissen, Sir,“ fragte der Deutsche, sobald sich der Agent nach ihm kehrte, „was Ihre auffallend höhnische Miene, mit welcher Sie mich seit meinem Eintritt ins Hotel verfolgt haben, zu bedeuten hat, und erwarte, wenn ich sie nicht als sichtliche Beleidigung Ihrerseits betrachten soll, eine genügende Erklärung.“

„Die Erklärung sollen Sie jedenfalls haben,“ erwiderte der Amerikaner, während ein spöttischer Zug um seinen Mund einem bösartigen Ausdrucke seines ganzen Gesichts Platz machte; „im Uebrigen aber steht es Ihnen frei, sich so beleidigt zu fühlen, als Sie Lust haben; ich bin völlig bereit, für meine Worte einzustehen!“

„Ich höre, Sir!“ sagte Reichardt, die Augen zusammenziehend und sich fester gegen den Tisch stützend. Der Mensch schien einen ernstlichen Streit mit ihm zu suchen, und wenn auch der Deutsche gern einen solchen vermieden hätte, so war er doch fest entschlossen, sich in keiner Weise zu nahe treten zu lassen.

Very well, Sir“, entgegnete der Andere finster. „Sie treten hier als Bruder der Miß Heyer auf; zufällig weiß ich aber, daß zwischen Ihnen und der Lady gerade so wenig Verwandtschaft besteht, als zwischen uns Beiden hier – ich kann Ihnen sogar, falls Sie Ihre Lüge zu behaupten gedächten, meinen Gewährsmann nennen, es ist einer Ihrer Freunde, der mit Ihnen und der Lady über See gekommen ist, ein Kupferschmied Meißner, in der Whiskyfabrik von „Johnson und Sohn“ in New-York beschäftigt; und jetzt, Sir, werden Sie mir wohl nicht verwehren, meine Betrachtungen über das wunderbare Geschwisterverhältniß gerade so anzustellen, wie es mir beliebt.“

Reichardt hatte seinem Gegner fest in’s Auge gesehen und kaum merklich die Farbe gewechselt. Jetzt zog er sein Notizbuch hervor, einige Worte darin notirend, und barg es ruhig wieder an seinem früheren Orte. „Wollen Sie mir wohl sagen, wie Sie mit diesem Kupferschmied Meißner zusammengetroffen sind?“ fragte er dann kalt.

„O, Sie haben mit der einfachen Angabe noch nicht genug!“ gab der Agent, grimmig lachend, zurück. „Sie sollen Alles hören, damit Sie sich nicht zu beklagen haben. Es war am Abend nach dem Engagement der Miß Heyer, daß ich in einem deutschen Locale von der vorzüglichen Acquisition, welche mir gelungen, sprach und von einem jungen Manne angeredet ward, der sich nach einem Mr. Reichardt, dem bisherigen Beschützer der jungen Lady, erkundigte. Es konnte mir nur lieb sein,“ fuhr er, das Gesicht zu einem häßlichen Lächeln verziehend, fort, „etwas über die Vergangenheit unseres neuen Mitgliedes zu hören, und ich erfuhr wohl auch Alles, was nöthig ist, um die Art des bisher schon bestandenen Geschwisterverhältnisses zu verstehen. Verlangen Sie noch mehr Erläuterungen, Sir?“

In Reichardt’s Gesicht war langsam ein dunkeles Roth gestiegen, aber er hielt sichtlich an sich. „Sie werden weder Miß Heyer noch mich mit Ihren Andeutungen beschmutzen können,“ sagte er, „nur sich selbst, Sir! Sie lassen ein Verhältniß der schlimmsten Art ahnen und denken doch daran, derselben Lady Ihre Hand zur Ehe zu bieten. Sie beschimpfen sie, während Sie die Antwort auf Ihren Antrag erwarten. Ich kann verstehen, daß Sie bei Ihren Voraussetzungen die Eifersucht gepeinigt hat, seit ich hier bin, daß Sie möglicherweise in mir ein Hinderniß für [383] Ihre Pläne gesehen. Aber nur die bodenloseste Gemeinheit kann unter solchen Verhältnissen zu Werke gehen, wie Sie es gethan. Gegen Sie mein Verhältniß zu Miß Heyer zu rechtfertigen, halte ich völlig unter meiner Würde. Was die Lady betrifft, deren Ehre zu vertreten ich kaum noch ein Recht habe, so wird Ihnen morgen früh die gebührende Antwort werden.“

„Halt an!“ rief der Amerikaner mit funkelnden Augen, als Reichardt Miene machte, seine Stellung zu verlassen. „Sie glauben mir alles Das so ohne Weiteres sagen zu dürfen? Sie fürchten sich, mir das Wort „Lügner“ in’s Gesicht zu werfen und wollen auf Umwegen davon schlüpfen –“

„Bleiben Sie mir vom Leibe, Sir!“ unterbrach ihn Reichardt, nach dem Handgelenk seines Gegners fassend, welcher die Faust dicht vor seinem Gesichte erhoben. Dieser rang einen Moment mit verbissenen Lippen, um seine Hand zu befreien, und nahm dann einen kurzen Ansatz zum Stoße in des Deutschen Gesicht. Eine kräftige Armbewegung des Letzteren warf den Amerikaner zwei Schritte zurück. Zugleich aber fuhren Reichardt’s Hände mechanisch eine Waffe suchend nach dem Tische – er sah den Ausdruck der vollen Wuth in seines Gegners Gesichte, sah diesen mit hochgezogenen Schultern eine Boxer-Stellung annehmen und wußte, daß er dessen Kräften in keiner Weise gewachsen war. Seine Finger fühlten den Griff eines großen Messers. „Bleiben Sie mir vom Leibe, oder es geht nicht gut!“ rief er, als er den Agenten lauernd einen halben Schritt gegen sich thun sah, aber im nächsten Momente schon führte dieser mit vorgehaltenem linken Arme einen Faustschlag gegen den Deutschen – ein kurzer Aufschrei erfolgte, der Angreifer taumelte zurück und brach in sich zusammen; in Reichardt’s Hand aber blitzte das große Vorlegemesser, das er erfaßt und zu seinem Schutze vorgestreckt hatte.

Eine volle Minute lang herrschte Todtenstille in dem düster erleuchteten Raume – nur aus dem „Bar-Room“ herüber klangen lärmende Stimmen und lautes Gelächter – Reichardt stand bewegungslos wie eine Statue, auf den am Boden liegenden Mann blickend. Plötzlich aber schien das volle Bewußtsein dessen, was geschehen, über ihn zu kommen. Sein Gesicht wurde leichenbleich, und das Messer entfiel seiner Hand. „Er hat es selbst gethan, er selbst!“ preßte es sich in heiserem Tone aus seiner Brust. Da fühlte er seine Schulter berührt und fuhr in einem Schrecken, der alle seine Glieder durchzuckte, auf. „Machen Sie, daß Sie fortkommen, Sir,“ hörte er, „ich habe gesehen, wie Alles gekommen ist, aber des schwarzen Mannes Zeugniß gilt so viel als nichts, und Sie werden als Fremder einen bösen Stand haben!“

„Ich hab’s nicht gethan – aber fort, fort, es ist wahr!“ rief der Deutsche, wie von Entsetzen gepackt einen neuen Blick auf den regungslosen Körper werfend. „Helft mir, Bob, helft mir, ich zahle’s Euch gut!“ wandte er sich dann hastig an den Neger. „Schließt die Thür hier und holt meinen Koffer und Violinkasten von Nr. 5. Es ist ein kurzer Weg, um das Gepäck bis zum Flusse zu schaffen, und ich finde sicher ein Boot, das mich mit fortnimmt!“ Er riß sein Portemonnaie aus der Tasche und griff von den beiden Zehndollars-Goldstücken, welche er neben einigem Papiergelde noch besaß, eins heraus und reichte es mit fliegender Hand dem Schwarzen.

„Es wäre schon recht, Sir,“ erwiderte dieser ängstlich mit der Hand zuckend, als dürfe er das Gebotene nicht berühren, „ich kann aber nicht so weit vom Hause weg, ohne vermißt zu werden, und es muß doch auch für den Gentleman hier gesorgt sein – zwei Straßen von hier hält eine Reihe Miethkutschen, bis dahin wollte ich das Gepäck wohl schaffen –“

„Gut, Bob, also bis dahin – Ihr findet dort mich und Euere zehn Dollars!“

Reichardt sah noch, wie der Schwarze die Gasflamme ausdrehte, und hatte dann im fliegenden Schritte das Haus verlassen, den Weg nach der bezeichneten Ecke einschlagend. In seinem Kopfe begann es wirr rundum zu gehen. Nur hier und da noch fiel aus einem der Verkaufslocale ein Schein auf die dunkle Straße, und fast hätte er die kleine Zahl der noch bereit stehenden Wagen passirt, ohne sie zu bemerken. Er stellte sich dicht am Ende des letzten auf und ließ den Blick scharf nach dem Hotel hinabschweifen. In dem erwarteten Schwarzen concentrirten sich im Augenblicke die wenigen Gedanken, welche er noch fassen konnte. Daneben aber schwirrten dunkele Bilder, der vollbrachte Mord, die mögliche Entdeckung, seine Gefangennahme und hülflose Lage im fremden Lande, vor seiner Seele, ohne indessen zur bestimmten Form gelangen zu können, und erst als er eine breite Gestalt mit einer Last auf der Schulter vom Fußwege herüberbiegen sah, war er im Stande, sich der peinigenden Vorstellungen zu entschlagen.

„Hier, Bob!“ rief er, und der Herankommende folgte der Weisung. – „Nur rasch, damit ich nicht vermißt werde!“ flüsterte dieser, den Koffer nach dem Kutschersitz hinaufreichend, und kaum hatte ihm Reichardt den versprochenen Lohn in die Hand gedrückt, als er auch schon im Schatten der Wagenreihe wieder verschwunden war.

„Wohin, Sir?“ fragte der Kutscher, als Reichardt in das Gefährt sprang.

„Nach der Levee – aber schnell. Es können kaum mehr als fünf Minuten bis zum Abgange des Bootes sein!“

„Welches Boot, Sir?“ war die neue Frage, während die Peitsche auf die Pferde fiel.

„Die Mary Brown!“ entgegnete der Deutsche, um nur einen Namen zu nennen, und der Wagen rasselte vorwärts.

Erst als die erleuchteten Dampfschiffe vom Flusse heraufschimmerten und der Wagen hielt, fuhr er aus seinen Gedanken auf, „Hier ist das Boot,“ rief der Kutscher zur Erde springend, „Sie haben nicht viel Zeit zu verlieren!“ Er hatte die Zügel zurückgeworfen, den Koffer erfaßt und eilte mit diesem einem großen Fahrzeuge zu, das bereits in dicken Wolken den Rauch von sich blies. Reichardt hatte mechanisch den Wagen verlassen und blickte auf – – – es war wirklich die Mary Brown, wie die riesige, matt beschienene Inschrift auswies, und mit einer Empfindung, als thue sich plötzlich ein sicheres Asyl vor ihm auf, eilte er seinem Gepäck nach und sprang an Bord. Er hatte kaum den Kutscher bezahlt, als das Boot schon sich aus der Reihe der übrigen Fahrzeuge zu schieben begann, und mit einem Gefühle unendlicher Erleichterung sah er das Ufer sich weiter und weiter entfernen, bis das Boot sich endlich dem Laufe des Stromes nach drehte und bald die letzten Lichter der großen Stadt in der Dunkelheit verschwanden.

Jetzt erst stieg er die Treppe nach dem Salon hinauf; kaum hatte er sich aber von dort nach der Office gewandt, als er seinen Arm gefaßt fühlte. „Was der Donner!“ hörte er, „meinen Sie, wir haben wieder Nebel zu erwarten?“ und das gutgelaunte Gesicht des Capitains sah ihm beim Umblicken entgegen.

„Hoffe es nicht, Sir!“ erwiderte er die ihm entgegengestreckte Hand schüttelnd, „möchte nur ein Stückchen Wegs mit Ihnen wieder zurückgehen!“

All right, Sie sind zu jeder Zeit als Gast auf der „Mary Brown“ willkommen, Sir, wissen das, Sir,“ war die freundliche Antwort’ „es ist noch keine halbe Stunde her, daß wir von Ihrer Mordsfiedel sprachen – wo ist sie? müssen sie gleich einmal herbeiholen!“

Reichardt hatte in diesem Augenblicke ein Gefühl, als habe ihm Jemand einen Schlag gegen den Kopf versetzt. Die Violine – wo war sie? Jetzt erst entsann er sich, daß er weder beim Aufladen seines Gepäcks, noch beim Abladen desselben etwas davon bemerkt. Was bisher überall seine erste Sorge gewesen, hatte er in der Verwirrung seiner Gedanken aus dem Auge gelassen.

„Einen Moment, Capt’n!“ rief er, „Sie mahnen mich da an eine entsetzliche Nachlässigkeit!“ Er eilte die Treppe hinab, wo sein Gepäck niedergesetzt war; aber außer seinem Koffer war keine Spur von einem anderen Stücke zu entdecken. Die Zähne auf die Unterlippe gebissen sah er in die Nacht hinaus und strebte, sich jede Minute, seit er das Hotel verlassen, wieder zurückzurufen – es war schon richtig, der Neger hatte nur den Koffer nach dem Wagen gebracht, hatte jedenfalls in seiner Eile sich nach weitern Effecten in dem Zimmer gar nicht umgesehen. Der Verlust an und und für sich war in der Lage des jungen Mannes schon von Bedeutung. Ein noch erhöhtes Gewicht aber erhielt er dadurch, daß in dem Innern des Deckels Reichardt’s voller Name verzeichnet und so der beste Anhalt für seine Verfolgung geboten war. Mußte doch auch das Zurücklassen des Instruments an sich schon auf eine übereilte Abreise deuten und den ersten Verdacht auf ihn lenken.

Mit gesenktem Kopfe nahm er seinen Weg wieder nach den obern Räumen und war froh, dem Capitain nicht gleich wieder zu begegnen.

[401] Eine neue halbe Stunde mochte verflossen sein, als sich rasche Tritte auf der Treppe, welche nach der Office führte, hören ließen. Ein zweiter junger Mann, in der ganzen Eleganz der fashionablen Welt, trat mit gehobenem Kopfe, die Cigarre im Munde und die Reitpeitsche in der Hand, ein, und die Familienähnlichkeit verrieth dem wartenden Reichardt sofort, daß er wieder einen der Johnson’s vor sich hatte.

„Sie werden erledigen, was etwa vorfallen sollte, Mr. Black,“ sagte der Eingetretene nach einem kurzen Morgengruße, „ich habe ein Engagement, das mich bis Nachmittag aus der Stadt hält – hoffentlich wird es hier nichts von besonderer Wichtigkeit geben!“

Der Buchhalter hustete ohne aufzusehen.

„Haben Sie mir sonst irgend etwas zu sagen, Sir? “ fragte der Erste nach einer kurzen Pause und schlug wie in leichter Ungeduld die Reitgerte gegen seine Wade.

„Es ist heute der 14.,“ begann jetzt der Alte, ohne den Kopf zu wenden, „und um elf Uhr ist Termin in der Sache gegen James Miller wegen Unterlassung der contractmäßigen Getreidelieferung. Wenn Sie, Mr. William Johnson, der den Vertrag abgeschlossen, aus der Stadt wollen, so sehe ich keinen andern Weg, als die eingeklagte Forderung gegen den Mann fallen zu lassen.“

Der Fashionable preßte die Lippen auf einander und machte einen raschen Gang durch das Zimmer. „Sie haben Recht,“ sagte er dann stehen bleibend, „ich habe das übersehen. Ich werde also nur den kurzen Ritt nach Frost’s hinaus machen und dann wieder hier sein. Ist sonst noch etwas, Mr. Black?“

Der Genannte wandte sich jetzt langsam um. „Hier ist ein junger Mensch, der als Porter bestellt worden ist – weiß nicht von wem,“ sagte er, die buschigen Augenbrauen zusammenziehend, „wieder ein Deutscher und scheint mir schon mehr Bescheid auf Officen zu wissen, als ich bei solchen Leuten gern habe!“

William Johnson wandte rasch den Kopf nach dem sich erhebenden Reichardt, und die Augen der beiden jungen Männer, die kaum zwei Jahre im Alter auseinander sein konnten, trafen sich und blieben zwei Secunden wie unwillkürlich in einander hängen; dann aber überlief der Blick des Erstern die ganze Erscheinung des Applicanten. Reichardt hatte wohl seinen ältesten Anzug für sein erstes Auftreten gewählt, aber der Sitz der Kleider, die Feinheit seiner Wäsche, das volle, elegant gescheitelte Haar und die ganze Haltung des jungen Mannes verriethen ohne Weiteres den Menschen aus der „guten“ Gesellschaft. Was in der Seele des Musternden vorging, konnte Reichard nicht errathen, aber die Mienen des Ersteren nahmen, als er seine Inspection vollendet und die ersten Fragen an den Deutschen richtete, einen Ausdruck von hochmüthiger Nonchalance an, welcher diesem bis in’s Herz weh that. „Es ist schon richtig.“ wandte er sich dann an den Buchhalter zurück, „Bill garantirt für den Mann, und das ist mir lieber, als jemand von der Straße weg in’s Haus zu nehmen – falls er genügend englisch versteht, kann er hier bleiben, und James mag ihn von dem, was er zu thun hat, unterrichten. In zwei Stunden bin ich wieder zurück.“ Er klatschte mit der Reitpeitsche gegen seine Beinkleider und verließ mit zurückgeworfenem Kopfe den Raum.

Reichardt war bleich geworden; fast wollte ihm diese Behandlungsweise, gegen die er nicht gestählt gewesen war, absichtlich erscheinen, und doch hätte er sich nicht die Spur eines Grundes dafür angeben können. Er hörte nicht, wie der Buchhalter sich mit einem unzufriedenen Brummen wieder abwandte, und erst als dieser ein Stück Papier nach dem äußersten Rande des Pultes schob und ihm mit einem lauten: „Hier schreiben Sie, was ich Ihnen sagen werde!“ eine Feder hinhielt, wurde er seinen Empfindungen entrissen. Er folgte der Aufforderung und warf, ohne einen Zug von Bitterkeit unterdrücken zu können, mit seiner gewöhnlichen Leichtigkeit das ihm dictirte Formular eines Verladungsscheins auf das Papier. Der jüngere Johnson hatte neugierig von seiner Arbeit aufgesehen und beobachtete, als erwarte er ein Amüsement, wie der Alte die Schriftprobe vor sich nahm; dieser indessen schien nach der Länge seiner Prüfung jeden Buchstaben studiren zu wollen, ließ einzelne grunzende Laute hören und schob endlich mit einem: „Können etwas davon lernen!“ das Papier dem jungen Clerk hinüber. Dann wandte er sich mit einem kurzen Husten nach dem Deutschen. „Sie mögen den Besen nehmen und mit Ihrer Arbeit fortfahren; Mr. Johnson ist einverstanden, daß Sie hier verwandt werden, sagen Sie mir aber zuerst Ihren vollen Namen – die Porters werden im Hause bei ihren Taufnamen gerufen – und dann wird Ihnen Mr. James Johnson hier, an den Sie sich wenden mögen, das Weitere über Ihre Arbeit sagen!“

Ein erhöhtes Roth war in Reichardt’s Backen gestiegen, als er von Neuem die Feder ergriff, um seinen Namen niederzuschreiben; er wartete nicht die Versuche des Buchhalters, eine Aussprache dafür zu finden, ab, warf, sobald er das Zimmer verlassen, den Rock von sich und begann, als wolle er sein verletztes Gefühl betäuben, mit Hast das Reinigungswerk der äußeren Räume. Erst als er die Treppe hinab gefegt hatte und eine Art Scheu in sich [402] fühlte, die begonnene Arbeit bis auf die offene Straße fortzusetzen, hielt er inne. „Entweder geh’ ganz von hier weg und gieb auf, was du unternommen,“ sprach er nach einer Pause vor sich hin, „oder schäme dich nicht dessen, was dich nährt; sei das, was du einmal bist, ganz und überlasse das Uebrige der Zukunft!“ und als gehe er daran, eine Heldenthat zu vollbringen, kehrte er den zusammengefegten Schmutz nach der Straße hinaus, machte sich dann an das Reinigen des untern Raumes und fegte sodann gründlich den Seitenweg der Straße, wie er dies oft von den Porters anderer Geschäftshäuser hatte thun sehen. Jetzt fühlte er, daß er den Berg überstiegen hatte und was nun noch kommen mochte, sollte ihn fertig und vorbereitet finden.




Reichardt’s Stellung im Hause hatte sich schon nach Verlauf der ersten Wochen eben so bestimmt herausgebildet, als er selbst einen klaren Einblick in die Verhältnisse seiner Umgebung erhalten hatte. Drei erwachsene Söhne waren in dem Geschäft thätig, von welchen der mittlere die Fabrik und das Lager beaufsichtigte, während der älteste, William, bereits Mitglied der Firma, die allgemeine Oberleitung an Stelle des alten, wenig sichtbaren Vaters versah, und der jüngste, James, als Clerk in der Office arbeitete.

Den controlirenden Geist in dem ganzen Etablissement aber bildete der alte Black, unter dessen Augen die jungen Johnsons herangewachsen, unter dessen Leitung sie ihre ersten Arbeiten begonnen und dessen überwachendem Einfluß sich selbst der junge Chef nicht zu entziehen vermochte. Reichardt’s Arbeitskreis wies ihn zunächst nach der Office. Er hatte die gewöhnlichen Geschäftsausgänge zu besorgen, war bei den Verladungen beschäftigt und für die Sicherheit und Ordnung der vordern Räume verantwortlich. In den ersten Tagen hatte der Buchhalter mit grämlichem Auge jede seiner Arbeiten bewacht und controlirt, während James von weitem das Thun und die ganze Erscheinung des Deutschen mit einem stillen Interesse zu beobachten schien; als aber der Kupferschmied, sobald er wahrgenommen, wie sich Reichardt in seine neue Lage gefunden, erzählt hatte, daß dieser nur Porter geworden sei, um das amerikanische Geschäft von unten auf kennen zu lernen, daß er aus einer der besten Familien in Deutschland stamme und so viel Kenntnisse besitze als nur irgend ein deutscher Buchhalter oder Correspondent – da hatte James hie und da ein Gespräch mit dem Neueingetretenen begonnen, und Reichardt’s freies, herzliches Entgegenkommen hatte bald ein Verhältniß zwischen Beiden geschaffen, das wenigstens, so lange Beide sich im Geschäft neben einander bewegten, den Deutschen oft die Stellung, in welcher er sich befand, vergessen ließ – der Buchhalter aber schien sich bald nur noch mit einzelnen sonderbaren Blicken, welche er auf den jungen Deutschen warf, zu begnügen, und dieser begann mit einem eigenthümlich wohlthuenden Gefühle das aufkeimende Vertrauen des Alten wahrzunehmen. Der Einzige, dessen Benehmen sich völlig gleich blieb, war William Johnson. Er schien entweder den neuen Porter gar nicht zu bemerken, oder wenn er ihm etwas zu sagen hatte, geschah es mit demselben sonderbar musternden Blicke über Reichardt’s Aeußeres und dem vornehm nachlässigen Tone, welche das erste Zusammentreffen Beider bezeichnet hatten; der Letztere aber hatte schon seit dem ersten Tage sich das Wort gegeben, sich durch eine Behandlungsweise, welche seine Stellung mit sich bringen konnte, niemals wieder aufregen zu lassen, und nahm sie als ein Uebel, das vorläufig ertragen werden mußte.

Eine so lebhafte Genugthuung nun auch der Kupferschmied über die Weise empfand, in welcher sich Reichardt in seine Lage und die ungewohnte Arbeit gefunden, so wenig war er doch mit dessen außergeschäftlichem Leben zufrieden. Er schien auf ein stetes Beisammensein, auf eine rechte Cameradschaft gerechnet zu haben; Reichardt aber, bei aller Herzlichkeit, mit welcher er den Freund behandelte, hielt sich doch fern von der Gesellschaft, in welcher der Letztere sich bewegte. Er nahm seine täglichen Mahlzeiten wie am ersten Tage seiner Ankunft mit dem Kupferschmied zusammen; wenn aber dieser dann irgend ein Bierhaus aufsuchte, ging jener nach dem geschlossenen Geschäft zurück, brannte sich in der Office eine Gasflamme an und begann sich hier den Abend auf seine eigene Art zu vertreiben – diese bestand aber in dem Studium der Unterschiede zwischen der englischen und deutschen Buchhaltung, wie er sie in einem der praktischen englischen Lehrbücher, das sich wie gebräuchlich in der Office befand, vorgefunden; sodann in der Durchsicht des Brief-Copirbuchs, welches ihm eine Menge noch unbekannter Wendungen im kaufmännischen Style zeigte, und wenn auch Meißner nicht begreifen konnte, wie ein Mensch nach anstrengender Tagesarbeit so den Abend verbringen könne, mit nichts als dem Hund und einer Cigarre zur Gesellschaft, so durfte er doch kaum etwas gegen ein Streben, wie es sich in des Freundes Beschäftigung aussprach, sagen und er ergab sich darein, wenn auch unmuthig und brummend.

Indessen vergingen zwei Monate in der sich gleichmäßig abspinnenden Arbeit; Reichardt hatte einsehen lernen, daß der Kupferschmied wahr gesprochen, daß trotz aller Anerkennung, die ihm wurde, von einer Aenderung seiner Lage im Geschäfte selbst keine Rede sein könne, und oft, wenn er Nachts, den Hund zu seinen Füßen, wachend im Bette lag, wenn alle die Bilder seiner amerikanischen Erlebnisse an ihm vorüberzogen, begann er sich Phantasien zu machen, auf welche Weise ihm wohl von auswärts ein Glück kommen könne.

Es war ein heller Spätnachmittag zu Anfang des December. Bis Mittag hatte es einen leichten Schnee geworfen, dann war die Sonne durchgebrochen und hatte in den Straßen ein Meer von flüssigem Schlamm geschaffen. Reichardt hatte sich einen starken Besen hervorgesucht, um den Seitenweg, so weit sich das Haus erstreckte, zu reinigen, und begann seine Arbeit mit vollem Eifer. Eine Equipage, die, einem andern Fuhrwerk ausweichend, nahe dem Fußwege herangerollt kam und ihn zu bespritzen drohte, machte ihn zurücktreten und aufsehen; der Wagen war vorüber, aber der Deutsche stand ihm wie gebannt nachstarrend, eine jähe Röthe hatte sein Gesicht übergossen und war einer gleich rasch folgenden Blässe gewichen. Reichardt hatte in ein Paar Augen gesehen, die plötzlich eine Erinnerung wie an einen verschwundenen, glänzenden Stern in ihm wachgerufen – aber die Augen hatten sich bei seinem Anblicke wunderbar belebt, es war ihm fast gewesen, als habe die feine Gestalt, welcher sie gehörten, eine Bewegung der Ueberraschung gemacht – Reichardt hatte von Allem, was der Wagen enthielt, nichts gesehen als dies eine Gesicht, es war vor ihn getreten, wie die Verkörperung seiner süßesten Träume, er hatte den milden Stern wieder erkannt, der ihm an der Seite Harriet’s, die wie ein Meteor in sein Leben geschweift, in Saratoga ausgegangen war, dessen Erinnerung selbst in den verlockendsten Augenblicken seiner letzten Vergangenheit nicht von ihm gewichen – und hier hatte sie ihn, die Straße fegend, wieder gesehen.

Ein halbes Dutzend Häuser etwa mochte die Equipage passirt haben, als sie plötzlich nach dem Seitenweg bog und hier anhielt. Ein junger, eleganter Mann sprang heraus und nahm raschen Schritts seinen Weg zurück, direct auf den jungen Deutschen los, der krampfhaft seinen Besen gefaßt, das Halten des Wagens beobachtet hatte. Ein Lächeln der Befriedigung glitt über das Gesicht des Herankommenden, als er den gespannten Ausdruck in Reichardt’s Mienen bemerkte, zugleich aber schien sein Auge begierig jede Einzelnheit in dem Aeußern des Dastehenden erfassen zu wollen. „Pardon, Sir,“ sagte er herantretend, „ich möchte mir Ihren Namen erbitten!“

„Max Reichardt, Sir!“ erwiderte Jener, während er langsam den Kopf hob und seine Augenbrauen sich wie in einem aufsteigenden Gedanken leicht zusammenzogen.

Very well, Sir! und sagen Sie mir wohl auch mit gleicher Liebenswürdigkeit, wo und in welcher Stellung Sie sich hier befinden?“

„Halloh, was ist denn das?“ klang plötzlich eine Stimme seitwärts, „der elegante Charles Frost zu Fuß bei diesem Schmutze?“ William Johnson war es, der soeben vom Pferde gesprungen war und sich jetzt näherte.

Der Angeredete wandte nur leicht den Kopf zurück. „Ah, Johnson!“ sagte er, „Sie entschuldigen mich, ich habe einige Worte mit dem Gentleman hier zu reden, und meine Schwester erwartet mich mit dem Wagen.“

Der junge Geschäftsherr hob den Kopf, und eine sichtliche Befremdung ging durch seine Züge, als der von ihm Begrüßte seinen Arm vertraulich unter den des Deutschen schob und diesen einige Schritte seitwärts führte.

„Sie verschwenden jedenfalls Ihre Freundlichkeit an mir, Mr. Frost,“ begann jetzt Reichardt stehen bleibend, während ein lebendiges Roth in sein Gesich, trat, „ich bin nichts als gewöhnlicher Porter in dem Geschäft von Johnson und Sohn, also augenblicklich keine Person, die Ihrer Aufmerksamkeit werth ist.“

[403] „Porter – so’?“ erwiderte der Andere mit einem Ausdruck von Laune, während seine Augen sich auf’s Neue der ganzen Erscheinung des vor ihm Stehenden bemächtigen zu wollen schienen, „Porters sind jedenfalls äußerst nützliche Personen, nur weiß ich nicht, welcher Seite des Geschäfts sich so viel Geschmack abgewinnen läßt, daß es möglich wird, sich ihm ganz zu widmen.“

Reichardt’s Augenbrauen zuckten wieder. „Die Noth, Mr. Frost, die Sie allerdings nicht kennen werden, lehrt Geschmack an Manchem finden, das sonst nicht munden will. Ich bin mit Empfehlungsbriefen an mehrere der besten Häuser nach New-York gekommen und glaube, daß ich allen nicht übertriebenen Ansprüchen genügt hätte. Ich habe nirgends einen Platz für mich finden können und ehe ich wieder, wie ich es zu Anfang gethan, mein geringes musikalisches Talent zum Tanzfiedeln oder möglicherweise zur Biermusik verwende, habe ich nach einer Beschäftigung gegriffen, die mich ehrlich nährt und mich wenigstens nicht ganz aus meinem eigentlichen Wirkungskreise bringt. Das ist Alles, Sir!“

Das Gesicht des jungen Frost hatte während der erregten Worte des Sprechenden seinen bisherigen Ausdruck verloren. „Ich habe mich vielleicht zu weit gehen lassen,“ sagte er, mit einem höflichen Ernst seinem Gesellschafter die Hand bietend, „ich habe Ihnen nicht weh thun wollen, Sir! – Und wie lange sind Sie bereits in dieser gezwungenen Stellung?“ fuhr er fort, als Reichardt ihm leicht seine Hand gereicht. „Sie müssen meine Neugierde entschuldigen, der nur das Bedauern über dis Schicksal eines so talentvollen Mannes wie Sie zu Grunde liegt –“

„Ich bin seit zwei Monaten hier, Sir!“ erwiderte der junge Deutsche, als wolle er damit weitere Höflichkeiten abschneiden, und mit einem: „Dank Ihnen, Sir, und nochmals Entschuldigung!“ wandte sich der Andere von ihm, raschen Schrittes nach der wartenden Equipage zurückgehend. Reichardt sah ihm eine Secunde lang nach, dann aber, als wolle er sich für den Augenblick aller Gedanken entschlagen, begann er mit Hast seinen Besen wieder zu rühren und hielt nicht an, bis die begonnene Arbeit gründlich vollendet war.

In dem untern Raume des Hauses stand William Johnson, sich mit dem Hunde beschäftigend, und hob bei Reichardt’s Eintritte den Blick, ihn aufmerksam in dessen Gesicht ruhen lassend. „Sie kennen den jungen Mr. Frost? “ fragte er.

„Ich bin früher mit der Familie in Saratoga zusammengetroffen !“ erwiderte der Eingetretene leichthin und wandte sich nach dem hintern Theile des Raumes. Johnson blickte ihm nach, als sei er unschlüssig, ob er noch weitere Fragen thun solle, stieg dann aber langsam die Treppe nach der Office hinauf.

Reichardt hatte seinen Besen in die Ecke geworfen, setzte sich, als er sich allein sah, hinter den Fässern auf die überlaufenden Lagerbalken nieder und drückte die Augen in seine beiden Hände.

Das war also der junge Frost gewesen, mit dem er gesprochen – Margaret hatte ihn trotz Besen und Schmutz wieder erkannt und den Bruder nach ihm abgeschickt. Aber was konnte der Grund zu dem auffälligen Schritte sein? Hatte er doch in Saratoga kaum zwei Worte mit dem Mädchen gesprochen und, von Harriet in Beschlag genommen, ihr nicht die kleinste Aufmerksamkeit erweisen können, die übrigens seine damaligen Verhältnisse ohnedies verboten haben würden. Worin lag das Interesse für ihn, das sogar den Bruder vermochte, seinetwegen den fashionablen Johnson bei Seite zu lassen? Und der junge Frost schien seine Fragen als so natürlich, selbstverständlich betrachtet zu haben, daß er sich nicht einmal die Mühe gegeben, einen andern Grund dafür anzugeben, als theilnehmende Neugierde. Nun ja, war denn das zuletzt auch nicht Grund genug? Man hatte ihn als fashionablen Menschen, dann als Tanzfiedler mit einigem Talente gesehen, von Harriet war er als Organist weggesandt worden, und nun fand man ihn die Straße fegend. Die Neugierde war jetzt befriedigt, vielleicht folgte ein bedauerndes „schade um ihn!“ und damit war Alles zu Ende. Noch einmal ließ Reichardt Margaret’s feines, kindlichklares Gesicht, in welchem die beiden tiefblauen Augen wie ein paar stille, milde Sterne standen, vor seiner Seele aufsteigen, dann erhob er sich rasch, mit der Hand über das Gesicht fahrend, als wolle er damit jeden Gedanken an das eben stattgefundene Ereigniß hinwegstreichen. „Schaffe Dir keine Bilder, Max, mache Dir keine Hoffnungen, die sich kaum verwirklichen können,“ sprach er halblaut vor sich hin, „Du machst Dir die Gegenwart nur noch schwerer!“ und doch war es ihm, als er an seine weiteren Arbeiten ging, immer und immer wieder, als sei ihm eine neue Hoffnung erblüht – aber als drei, vier Tage vergingen, ohne daß das Geringste die Eintönigkeit seines gewöhnlichen Lebens unterbrach, da erblaßte auch das eigenthümliche Vorgefühl einer bessern Zukunft, das er mit sich herum getragen, und eine trübe Empfindung von Täuschung, die er sich doch selbst nicht gestehen wollte, nahm von seiner Seele Besitz.

Es war am Morgen des fünften Tages, als Reichardt von dem Buchhalter nach der Office gerufen ward. „Es sind da Erkundigungen über Sie bei uns eingezogen worden,“ begann der Alte hustend, „kann nicht sagen, zu welchem Zwecke, vermuthe aber, Sie werden sich nach einer andern Stelle umgethan haben. Sind wir Ihnen nicht gut genug, oder haben Sie sich über etwas zu beklagen?“

Wie ein Lichtstrahl allen stillen Hoffnungen plötzlich ihre frischen Farben wieder gebend, war die Mittheilung in Reichardt’s Seele gedrungen. Sein Auge glänzte auf, der Blick des Buchhalters aber, der des jungen Mannes Gesicht beobachtete, ward nur noch unmuthiger.

„Ich hatte weder Zeit noch Gelegenheit, mich nach einem andern Platze umzusehen,“ erwiderte der letztere, frei in das Gesicht des Alten blickend, „und kann Ihnen auch für die Behandlung in meiner jetzigen Stellung nur danken, Mr. Black. Daß ich aber in dieser Stellung nicht an meinem rechten Platze bin, so sehr ich auch bestrebt war, sie auszufüllen, daß ich, nachdem ich meine frühere Zeit nur hinter dem Comptoirpulte zugebracht, von Herzen gewünscht habe, wieder eine gleiche Beschäftigung zu erhalten, darf ich Ihnen ebenso offen gestehen, und Sie werden nichts Unrechtes darin finden –“

„Weiß nichts von einer Clerkstelle,“ brummte der Buchhalter, sich halb wegkehrend, „es ist nur nach Ihrer Zuverlässigkeit und Ihrem sonstigen Leben gefragt worden, und die Clerks sind nicht so selten, daß man sie unter unsern Porters suchen müßte – aber das geht mich nicht weiter an. Was ich sagen wollte, ist nur, daß ein ordentlicher Mann, wie ich Sie kenne und wie ich Ihnen auch das Zeugniß gegeben habe, nicht ohne Weiteres seinen Platz verläßt, sobald er etwas Besseres zu haben glaubt, und daß ich, der ich allein die Noth bei jedem Wechsel habe, wenigstens drei Tage Kündigung von Ihnen verlange –“

„Ich will Ihnen das gern versprechen, Sir,“ unterbrach ihn Reichardt, seiner innern Spannung nachgebend, „noch weiß ich aber nicht einmal, um was es sich handelt!“

„Sie sollen sich um elf Uhr in der Office von Augustus Frost einfinden, und ich will Ihnen wegen Ihrer Zeit nichts in den Weg legen,“ entgegnete Black, sich mit unzufriedener Miene nach seinen Büchern wendend. „Sie mögen jetzt gehen, aber,“ fuhr er den Kopf wieder zurückdrehend fort, „wenn es nicht gerade ein großes Glück ist, was sich Ihnen bietet, so denken Sie daran, daß Johnson und Sohn ebenso viel thun können, wenn es verlangt wird, als andere Leute. Im Uebrigen habe ich Ihr Wort.“ Mit einer Art Knurren schlug er jetzt das messingbeschlagene Hauptbuch auf und schien von Reichardt’s Anwesenheit keine weitere Notiz nehmen zu wollen.

Dieser hatte rasch die Thür hinter sich; in dem äußern Raum aber blieb er stehen und faßte mit beiden Händen seinen Kopf. „Betrüge Dich nicht, Max, bleibe kalt und hoffe lieber nichts – es ist nirgends ein Grund da, der ein mehr als gewöhnliches Interesse für Dich geweckt haben könnte!“ sprach er mit halblauter gepreßter Stimme vor sich hin. Im nächsten Augenblicke aber streckte er dennoch erregt beide Arme von sich: „Gott, wenn sich trotzdem eine Aussicht für mich eröffnete!“ Er sah nach der Uhr – noch hatte er fast eine Stunde Zeit, und in wenig Sprüngen war er in dem engen Verschlage unter der Treppe, das sein Lager und seine Reisetasche enthielt. Sorgfältig reinigte er sich und kleidete sich um. Der meist für seinen Gebrauch im untern Raume befindliche Wohnungs-Anzeiger wies ihn nach dem Südende der Stadt, dem Viertel der Banken und großen Commission-Häuser, und nach kaum zwanzig Minuten schritt er, auch äußerlich wieder ganz Gentleman, nach der Straße hinaus.

Je näher er der bezeichneten Stadtgegend kam, je weniger konnte er einer nervösen Erregung Herr werden, und als ihm endlich die gesuchte Firma in altehrwürdigen, halb verblichenen goldenen Lettern, die in voller Harmonie mit der verwitterten Außenseite des großen steinernen Hauses standen, entgegenblickte, mußte [404] er einige Minuten stehen bleiben, um die nöthigste Ruhe zu gewinnen. Aber erst als er sich lebhaft vergegenwärtigte, wie er nach Verlauf weniger Minuten wieder hier stehen könne, gänzlich enttäuscht durch irgend eine verhältnißmäßig unbedeutende Ursache, die seine Berufung veranlaßt, begann er die Rückkehr seiner Selbstcontrole zu fühlen und er wandte sich nun raschen Schritts dem breiten, offenen Eingange des Gebäudes zu, welcher zwischen einer Reihe starker geschlossener Thüren des Erdgeschosses nach den obern Stockwerken führte. Eine hohe Glasthüre am obern Ende der Treppe ließ den Ankommenden in einen hellen, eleganten Raum blicken, in welchem hinter einem niedrigen, die ganze Breite der Office durchlaufenden Gitter ein halbes Dutzend Clerks emsig an ihren Pulten arbeitete, und mit einem neuen Herzklopfen öffnete er die Thür. Kein anderer Laut, als ein zeitweises Rauschen von Papier oder das Kritzeln der Federn ließ sich in dem weiten Zimmer hören, kein Auge wandte sich bei dem Klappen der Thür auch nur einen Moment von der Arbeit, und Reichardt meinte in dem sich bietenden Bilde die ganze Bedeutsamkeit eines großen Handlungshauses zu fühlen. Er mußte eine kurze Zeit warten, ehe der nächststehende Clerk nach seinem Begehren fragte.

„Mr. Augustus Frost hat mich um elf zu sprechen verlangt!“ sagte der Eingetretene mit unwillkürlich gedämpfter Stimme; „Max Reichardt, Sir!“

Ohne weiteres Wort schritt der Clerk einer offenen Thür zu, in welcher er verschwand. Nach wenigen Minuten schon kehrte er indessen zurück, öffnete das Gitter und lud den Wartenden ein, ihm zu folgen. Reichardt betrat ein anstoßendes Zimmer, in welchem ein einzelner alter Herr an einem Pulte zwischen zwei großen feuerfesten Geldschränken arbeitete; die Thür zu einem dritten Zimmer öffnete sich, und der junge Mann befand sich in einem kleinen, von dem Dufte einer Havannah durchschwängerten Raume, der seinem Blicke wie das Ideal eleganten Comforts entgegentrat. Vor einem dunkelbraunen, mit reicher Schnitzerei versehenen Pulte saß, nachlässig in einen Armsessel zurückgelehnt, eine kräftige Männergestalt mit vollem, stahlgrauem Haare, im Gespräche mit zwei Personen, welche seitwärts auf einem der beiden Plüsch-Divans Platz genommen hatten. Schwere Damastvorhänge dämpften das einfallende Tageslicht; das dunkele marmorne Kamin zierte eine Pendeluhr in weißem, von vier Statuetten, den vier Jahreszeiten, getragenem Alabaster-Gehäuse. Zwei große Oelgemälde deckten einen Theil der geschmackvoll gefirnißten Wände, und der schwere Fußteppich machte jeden Laut der Schritte unhörbar. Der Eingetretene erkannte in den Zügen des Mannes vor sich sofort dasselbe Gesicht, das er in Saratoga an Margarets Seite bemerkt, und wenn auch in diesem Augenblicke eine tiefe Falte zwischen den Brauen ihm einen Ausdruck von Unmuth verlieh, so konnte doch selbst dieser das eigenthümlich ernste Wohlwollen, welches den Grundcharakter der Züge zu bilden schien, nicht ganz verwischen.

Reichardt war zwei Schritte vorgetreten. „Setzen Sie sich, Sir,“ rief ihm der Hausherr mit einem leichten Kopfnicken entgegen und deutete auf einen der umherstehenden Sessel. Dann aber, als kümmere ihn des jungen Mannes Gegenwart nicht, fuhr er, die Augen noch dichter zusammenziehend, in seiner unterbrochenen Rede fort: „Ich muß Ihnen sagen, Gentlemen, daß ich grundsätzlich mit der Sache nichts zu thun haben mag. Der Mann ist öffentlicher Beamter und hat Unterschleife begangen. Sie sagen, das Geld sei zum Besten der Partei verwandt worden und seine Parteifreunde dürften ihn jetzt nicht stecken lassen. Well, Gentlemen, ich fürchte nicht, daß unsere Partei so weit herabgekommen ist, daß sie dergleichen Mittel zu ihrer Erhaltung sanctioniren müßte. Ich halte es im Gegentheil für eine dringende Nothwendigkeit, daß sie durch gänzliche Desavouirung des Geschehenen ihre Ehre von jedem Verdachte säubere. Ich wenigstens würde mich lieber selbständig außer jeder Partei hinstellen, ehe ich mich auf die von Ihnen vorgeschlagene Weise zum offenen Beförderer und Beschützer der nur schon zu sehr eingerissenen Corruption machte. Wer im Stande ist, anvertrautes Gut zu irgend einem eigenen Zwecke zu verwenden, der existirt für mich nicht mehr, mag er nun ein hochgestellter Beamter ooer der letzte meiner Clerks sein. Vielleicht mögen Ihnen diese Ansichten als ziemlich außer der Mode erscheinen, ich verdanke ähnlichen Grundsätzen aber den ganzen Weg, welchen ich vom armen Gehülfen aufwärts gemacht habe, und will in meinen alten Tagen nicht erst noch von der gewohnten Richtschnur abweichen.“

Ein Blick des Verständnisses ward jetzt zwischen den beiden Dasitzenden gewechselt und Beide erhoben sich zu gleicher Zeit. „Wir können die Angelegenheit nicht ganz in der strengen Weise, wie Sie, Mr. Frost, betrachten, da wir nach unserer genauen Bekanntschaft mit dem Betreffenden von seiner völligen Ehrenhaftigkeit überzeugt sind,“ erwiderte der Eine. „Was er gethan, wurde nur von seinem Eifer für den Erfolg der Partei und im Drange des Augenblicks hervorgerufen. Indessen kann es uns natürlich nicht beikommen, Ihre strengere Anschauungsweise bekämpfen zu wollen, und wir müssen uns eben an einige andere Freunde wenden, welche der Theilnahme für einen unglücklichen Mann auch einmal ihr Recht geben.“

Um den Mund des alten Handelsherrn hatte sich ein bitterer Spott gelegt, als das Wort „Ehrenhaftigkeit“ fiel; jetzt erhob er sich ebenfalls. „Ich kann nichts dagegen haben, Gentlemen, was Andere thun wollen, und Ihnen nur meine Ansicht wiederholen, daß jede falsche Theilnahme für das Verderbniß innerhalb der Partei den Weg zu deren Ruin pflastert.“ Er neigte leicht den Kopf und folgte den Davongehenden bis nach der Thür. Dann kehrie er nach seinem Platze zurück, schlug die Arme in einander und blickte eine lange Weile wie im tiefen Nachdenken durch das hohe Fenster. Erst als Reichardt, der es für Pflicht hielt sich bemerkbar zu machen, ein leichtes Räuspern hören ließ, wandte er den Kopf, und der Zug von stiller Sorge, welcher aus seinem Gesichte gelagert, machte einem ruhigen Lächeln Platz. „Fast hätte ich Sie vergessen, Sir,“ begann er, sich erhebend und einen Sessel in seine Nähe ziehend. „Nehmen Sie hier Platz. – Wir sind ja wohl halbe Bekannte von Saratoga,“ fuhr er fort, als der junge Mann seinem Winke gefolgt war, und ein Zug von Laune spielte um seinen Mund, als in Reichardt’s Gesicht bei der Andeutung seiner damaligen Wirksamkeit ein leichtes Roth stieg. „Sie wurden, so viel ich höre, von der wilden Hummel, der Tochter meines Freundes Burton, nach dem Süden gesprengt und haben es bei Ihrer Rückkehr vorgezogen, lieber Porter zu werden, als zu Ihrem frühern Ernährungszweige zu greifen. Well, Sir, um ohne Umschweife zu reden, es sind einzelne Gründe vorhanden, die mich wünschen lassen, Ihnen nützlich zu sein – Sie selbst werden indessen am besten wissen, in welcher Weise dies geschehen kann. Sie hatten ja wohl den Plan, eine Organistenstelle anzunehmen. Ich habe einigen Einfluß bei einzelnen hiesigen Kirchengemeinden; oder insofern Sie tüchtig genug in Ihrem Fache sind, könnte Ihnen der lohnendere Weg als Musiklehrer unter den besseren Familien hier geöffnet werden, und die nöthigen Mittel für den Anfang würden sich wohl auch finden –“ er hielt inne, als erwarte er eine Rückäußerung.

Auf Reichardt’s Gesicht hatten Röthe und Blässe mit einander gewechselt. „Ich weiß nicht, Mr. Frost, wodurch ich Ihre so freundliche Beachtung verdient habe,“ erwiderte er mit einer Stimme, der er umsonst Festigkeit zu geben versuchte. „Indessen würde sich kaum einer meiner Wünsche in der angegebenen Richtung erstrecken. Ich bin von Haus aus Kaufmann, und mein sehnlichstes Verlangen ist es, wieder in den alten Berufsweg einbiegen zu können.“

„Mein Sohn hat mir etwas davon gesagt,“ nickte Frost, „indessen gestehe ich Ihnen, daß mir Ihre Neigung zur Musik und Ihre Fertigkeit darin sich kaum mit dem kaufmännischen Geschäfte, das, wenn es recht betrieben werden soll, jeden andern Gedanken absorbiren muß, vereinigen lassen will. Ich war zu dem Glauben gekommen, daß sich aus Ihnen etwas Ganzes machen ließe –“

„Ich weiß, wie vollkommen Recht Sie haben, Sir,“ unterbrach ihn Reichardt, ohne in seiner Erregung die Unhöflichkeit zu bemerken, welche er beging, „ich habe aber bereits mit einer Fertigkeit gebrochen, die ich nur ausübte, um den nothwendigsten Unterhalt zu erwerben. Ich habe kein Instrument mehr, und seit ich, wieder in New-York bin, concentriren sich meine heißesten Wünsche nur in der Erlangung eines Platzes, sei es auch vorläufig der unbedeutendste, welcher mir ein Vorwärtskommen in meinem langgewohnten Wirkungskreise ermöglicht.“

[430] Der alte Kaufmann sah, als verfolge er einen Gedanken, prüfend in das Auge des vor ihm sitzenden Reichardt. „Die kaufmännische Laufbahn ist für einen jungen Menschen ohne Vermögen vielleicht die undankbarste, welche ihm unser Land bietet,“ sagte er nach einer Weile langsam, „und unter Hunderten, die als junge, hoffnungsreiche Clerks begonnen, werden siebenundneunzig alt und grau am Pulte, wenn sie es nicht vorziehen, irgend ein Kleingeschäft auf dem Lande zu beginnen und zu verbauern, während kaum drei durch Glück oder besondere Befähigung sich den Weg in die große Geschäftswelt bahnen. Jeder andere Beruf giebt mehr Aussicht zur Erlangung einer Selbstständigkeit, zur spätern Gründung einer Häuslichkeit als der des unvermögenden Clerks im Bank- oder Großhandelshause. Ihnen aber muß schon der Anfang doppelte Schwierigkeiten bieten – Sie kennen noch nichts von den Eigenthümlichkeiten des amerikanischen Geschäfts, Sie werden, trotz Ihrer guten Hand und Ihres geläufigen Englisch, von denen mir irgendwo eine Probe unter die Augen gekommen, ganz neu zu lernen haben, während eine andere Branche, wie die Musik, Ihnen sogleich Erfolg und bestimmte Aussichten eröffnen würde.“

Reichardt saß einige Secunden wortlos. Der reiche Handelsherr vor ihm, den keine Beziehung an den armen, unbekannten Deutschen knüpfen konnte, hatte schon einmal von Gründen geredet, die ihn wünschen ließen, Reichardt nützlich zu sein. Jetzt wollte er wieder eine schriftliche Probe von dessen Englisch unter den Augen gehabt haben – die Begegnung mit Margaret’s Bruder und dessen eigenthümliche Erkundigungsweise nach seiner Stellung trat daneben vor die Seele des jungen Mannes. Aber nur wie im Fluge berührten die Gedanken sein Gehirn, und kaum wurde er sich der selbstgestellten Frage, was dem Alles zu Grunde liegen könne, bewußt.

„Ich habe mich in den letzten zwei Monaten jeden Abend ernstlich mit der amerikanischen Buchführung und der kaufmännischen Correspondenz beschäftigt,“ erwiderte er jetzt, seine Erregung beherrschend, „und wenn ich auch vielleicht noch nicht im Stande bin, alle Schwierigkeiten, welche sich mir entgegenstellen werden, recht zu würdigen oder meine Zukunft in ihrem wahren Lichte zu erkennen, so weiß ich dennoch, daß Alles, was in mir lebt, auf meine alte Branche hinweist, daß ich die Kraft fühle, mich durch jede Schwierigkeit hindurchzuarbeiten, und daß in dieser Ueberwindung meine einzige, wahrste Befriedigung liegen würde. Ich habe die Musik zur Verschönerung müßiger Stunden geliebt und gepflegt. Seit ich sie aber habe zum Broderwerb in’s Joch spannen müssen, ist es mir völlig klar geworden, daß ich am wenigsten zum wirklichen Musiker geschaffen bin. Kaufmann könnte und würde ich ganz und mit allen meinen Seelenkräften sein – Musiker immer nur wie ein Mensch, der aus seiner Heimath getrieben in einem fremden Lande irrt.“

Frost senkte wie nachdenkend den Kopf. „Well, Sir,“ begann er endlich, „ich habe gesagt, daß ich Ihnen nützlich zu sein wünsche, und ich werde sehen, was sich thun läßt, wenn ich auch auf die Art Ihrer Wünsche nicht ganz vorbereitet war.“

In diesem Augenblicke sprang die Thür auf, und mit raschem, elastischem Schritte trat der junge Frost ein, einen Blick leichter Ueberraschung auf den jungen Deutschen werfend.

„Hier ist Dein Mann, John!“ rief ihm der Alte entgegen, „es ist aber nicht viel mit ihm zu machen, er will als Kaufmann leben und sterben.“

„Vorläufig doch nur leben!“ lachte der Eingetretene, dem sich erhebenden Reichardt die Hand bietend. „Nun?“ wandte er sich dann an seinen Vater. Eine Frage und eine Antwort schien in den Blicken Beider gewechselt zu werden. – Jedenfalls handelt es sich erst um die Zustimmung!“ sagte der Letztere und drehte den Kopf wieder nach dem Deutschen. „Mein Sohn ist der Ansicht, daß wir selbst noch eine Arbeitskraft gebrauchen könnten,“ fuhr er fort. „Ich habe es für meine Pflicht gehalten, Ihnen die volle Wahl in ihren Entschließungen zu lassen, und wünschte, Sie hätten nur mehr Gelegenheit gegeben, etwas für Sie zu thun. Wollen Sie eine Stellung in unserem Geschäfte, die sich eben nur nach Ihren Leistungen richten kann, annehmen, so treten Sie in die Reihe der übrigen Clerks, und Sie haben sich Ihre Zukunft selbst zu schaffen –“

Reichardt that einen Schritt gegen den Sprechenden und faßte im Drange seiner Gefühle dessen Hand, während er den Thränen nicht wehren konnte, die hell in seine Augen traten. „Mr. Frost, Sie machen einen so glücklichen Menschen, wie Sie es vielleicht selbst nicht ahnen,“ sagte er, „ich weiß nicht, wodurch ich mich Ihrer Güte würdig gemacht haben könnte, aber ich weiß, daß ich Ihr Vertrauen rechtfertigen werde –“

All right, Sir! ein einfaches Engagement ist keine so große Sache,“ erwiderte Jener, des jungen Mannes Hand schüttelnd. „Bringen Sie heute Ihre Angelegenheiten in Ordnung und treten Sie morgen ein. Sollten Sie aber etwas Geld brauchen, so sagen Sie es dreist, und es steht Ihnen ein Vorschuß zu Diensten.“

„Ich danke Ihnen für die neue Freundlichkeit, Mr. Frost, aber ich habe nur eine Bitte,“ gab Reichardt zurück. „Ich habe unserm Buchhalter, Mr. Black, eine dreitägige Kündigung zugesagt, und wenn er mich auch jetzt nicht halten könnte, so möchte ich doch den alten Mann für sein Vertrauen nicht zuletzt noch eine Täuschung erleben lassen –“

„Und da wollen Sie noch drei Tage die Straße fegen?“ rief der alte Kaufmann lachend, aber mit großen verwunderten Augen den Deutschen anblickend. „Ich sehe, Sie sind in mehrfacher Beziehung eine Ausnahme von unsern jetzigen jungen Leuten, und ich will Niemand hindern, sein Wort halten –“

„Es handelt sich nur darum, einen ordentlichen Menschen in meinen Platz zu schaffen,“ fiel Reichardt, dem das Blut in die Backen gestiegen war, dem Redenden in’s Wort.

All right, Sir!“ winkte Frost, noch immer lachend, „machen Sie die Angelegenheit mit meinem Sohne ab, der Sie in Ihre neuen Pflichten einführen wird, sobald Sie frei sind!“ Er wandte sich dem Fenster zu, und John, welcher mit sichtlichem Interesse der letzten Verhandlung gefolgt war, winkte dem jungen Manne mit [431] dem Kopfe. „Jetzt kommen Sie eine halbe Stunde mit mir,“ sagte er mit halbgedämpfter Stimme, „und dann wird sich das Uebrige finden.“ Er faßte leicht Reichardt’s Arm und führte ihn nach dem zweiten Zimmer. „Hier will ich Sie gleich dem Mr. Bell, unserm allgeachteten Cassirer vorstellen, unter dessen Leitung Sie wahrscheinlich arbeiten werden,“ fuhr er fort. „Mr. Bell, dies ist Mr. Reichardt, der erste junge Mann, dem der alte Black bei Johnson’s ein rühmliches Zeugniß ausgestellt hat, den er nicht aus seinen Händen lassen will, der sich indessen zu Ihrer Disposition stellen wird.“

Der Angeredete legte langsam und sorgfältig die Feder aus der Hand, hob ein graues, scharfes Auge und ließ einen langen, prüfenden Blick über die ganze Erscheinung des Vorgestellten laufen. Dann erst neigte er grüßend den Kopf. „Soll mich freuen, Sir,“ sagte er, „wenn wir uns recht verstehen lernen!“

„Ich hoffe das, Mr. Bell,“ erwiderte Reichardt, freimüthig seinem Blicke begegnend, „wenigstens soll mein Eifer das Gegentheil nicht verschulden!“ Der Cassirer antwortete nur durch ein neues Kopfneigen und nahm, wie zum Zeichen der Entlassung, seine Feder wieder auf.

„Kommen Sie weiter!“ sagte Reichardt’s Begleiter und schritt diesem voran durch das Vorzimmer nach dem Ausgange. „Jetzt kennen Sie Ihren nächsten Vorgesetzten, wenn ich so sagen darf,“ fuhr er fort, als Beide neben einander die Treppe hinabstiegen, „und ich hoffe, Ihren früheren Worten nach, daß Ihnen die nöthige Grundlage für die vorkommenden Arbeiten nicht fehlen wird. Der Mann hat Eigenthümlichkeiten, die Sie schnell entdecken werden, ist aber noch lange kein Black. Mit dem übrigen Personale mache ich Sie später bekannt, und nun,“ schloß er, den leichten Ton wieder anschlagend, den Reichardt zuerst an ihm kennen gelernt, „lassen Sie uns eine Flasche Wein mit einander trinken und von einigen andern Dingen reden!“ Er nahm einen rascheren Schritt an, und schweigend gingen die beiden jungen Männer neben einander dem Broadway zu.

In Reichardt’s Herzen sang und klang es wie Jubelstimmen, und doch war es ihm, als dürfe er seinem neuen Glücke noch kaum trauen, als müsse Alles zuletzt auf einen Irrthum hinauslaufen. Konnte er sich doch nicht den entferntesten Grund für die Freundlichkeit, welche ihm geworden, denken; denn daß man ihn in Saratoga zum Tanze hatte fiedeln sehen, gab sicher die wenigste Ursache dafür, und die zeitweisen Andeutungen des alten Handelsherrn, welche auf eine nähere Bekanntschaft mit Reichardt’s Thun und Können hinwiesen, machten ihm die ganze Angelegenheit nur noch räthselhafter.

„Kommen Sie hierher!“ rief jetzt der junge Frost, die Stufen zu dem Eingange des „Astorhauses“ hinaufspringend. Er schien hier völlig bekannt zu sein und schritt seinem Begleiter durch eine Reihe von Zimmern voran, bis ihnen ein schwarzer Aufwärter entgegentrat, welcher indessen beim Erkennen des Voranschreitenden eine Seitenthür aufriß. „Eine Flasche Wein und Cigarren, Dick!“ rief der letztere, und kaum hatten sich Beide in dem nur mittelgroßen, mit bequemen Divans, gepolsterten Lehnsesseln und kleinen marmornen Tischen elegant ausgestatteten Raume niedergelassen, als auch schon der Schwarze den Tisch mit zwei Gläsern besetzte, die Champagnerflasche mit einer Schnelle entkorkte, welche seine häufige Uebung verrieth, und eine Spiritusflamme für die Cigarren entzündete. „Der Amerikaner scheint kaum einen anderen Wein zu kennen als Champagner – ich weiß, daß er in Deutschland für den Morgen nicht gebräuchlich ist!“ sagte der junge Frost wie entschuldigend, als er die Gläser füllte, „indessen ist er jedenfalls besser, als der Essig, den man selbst in unsern bessern Hotels noch immer als Rheinwein vorgesetzt erhält, und nun brennen Sie eine Cigarre an, trinken Sie auf eine glücklichere Zukunft, und dann beantworten Sie mir einige Fragen so ausführlich als Sie können. Ich habe genug von Ihnen gehört, um Sie als einen ganz vorzüglichen jungen Mann zu achten, dessen Freundschaft ich mir gern erwerben möchte. Demohngeachtet ist mir Einzelnes in dem Interesse, was mein Vater und speciell meine Schwester an Ihnen nehmen, noch dunkel, und dennoch scheint mir gerade dies mein eigenes Interesse am lebhaftesten zu berühren. Aber trinken Sie!“

Die Gläser klangen zusammen, und schweigend, aber mit sichtlicher Spannung sah dann Reichardt einer weitern Aeußerung seines Gesellschafters entgegen, zu welcher dieser soeben den rechten Anfang zu suchen schien.

„Sie haben, so viel ich weiß, Miß Harriet Burton kennen lernen,“ begann endlich der junge Frost, die Champagner-Perlen in seinem Glase verfolgend und nur dann und wann einen kurzen Blick in Reichardt’s Gesicht werfend, „und um gleich offen Farbe zu zeigen, sage ich Ihnen, daß ich dem Mädchen mehr zugethan bin, als alle den fashionablen Puppen, wie sie hier unsere Gesellschaft bilden. Harriet ist mit meiner Schwester Margaret erzogen worden, und mein Umgang mit jener war ein völlig zwangloser und vertraulicher; aber erst als ich erfuhr, daß sie mit irgend einem mir unbekannten Menschen verheirathet werden solle, wurde ich mir bewußt, wie sehr ich an diesem frischen, kecken Charakter hing, von dem wohl in mir selbst mehr Verwandtes leben mag, als sich für meine Stellung recht eignen will. Indessen ließ sich damals, wo noch nicht einmal eine entfernte Andeutung wärmerer Gefühle meinerseits gefallen war, nichts thun, als mit möglichst bester Miene zu resigniren, und ich hatte mich schon gefaßt gemacht, bei Harriet’s nächstem Wiedererscheinen in unserm Hause den unglücklichen „Beau“ einer Mrs. Soundso vorzustellen, als mir Margaret mittheilt, daß die projectirte Verbindung sich wieder zerschlagen habe, dann von Ihnen und Ihrer Mitwirkung bei dem Bruche, wie von Ihrer gezwungenen Abreise von dort zu reden beginnt, die ganze Angelegenheit aber in einer Weise behandelt, daß ich wohl neue Hoffnungen schöpfen durfte, aber in den verschiedenen Lücken und Unklarheiten auch allerhand Märchengeheimnisse ahnen mußte, in die sich nicht wohl eindringen ließ. Daß Sie nur dabei eine ziemlich interessante Persönlichkeit wurden, ist wohl nur natürlich, und ich gestehe Ihnen eben so offen, daß Ihre Entfernung aus Harriet’s Heimath mich mit einer gewissen Befriedigung erfüllte, da mir Ihre Verhältnisse zu dem Mädchen durchaus unklar geblieben waren. So traf ich Sie mit meiner Schwester zwei Monate später vor Johnson’n Hause, die Straße fegend; Margaret’s Theilnahme, Sie in einer solchen Lage zu sehen, war mir völlig erklärlich, und mein eigenes Interesse trieb mich an, Erkundigungen über Ihre Stellung einzuziehen – befremdend aber war es mir, als ich am nächsten Tage meinen Papa, der sich sonst nicht von schnellen Eindrücken hinreißen läßt, Ihrer erwähnen höre – meine Schwester hatte vorher ein Gespräch von einer vollen Stunde in seinem Cabinet mit ihm gehabt – als ich den Auftrag erhalte, unter der Hand Nachricht über den Grad Ihrer allgemeinen Zuverlässigkeit einzuziehen, und daneben einzelne Worte fallen, die auf eine ganz bestimmte Kenntniß Ihres Wesens und auf die Art hindeuten, wie Sie sich im Süden gestellt oder zu Harriet gestanden haben – was weiß ich? Ich bin kein Mensch, der sich die Kenntniß dessen, was ihm anscheinend vorenthalten werden soll, erzwingen mag. Eins nur wußte ich, daß Ihre ganze Erscheinung und die Weise, in welcher Sie mir begegnet, einen Eindruck auf mich hervorgebracht hatten, der mich ohne Weiteres zu Ihrem Freunde gemacht; und so beschloß ich, das Nöthige in Ihrem Interesse zu thun, in Bezug auf meine eigenen Angelegenheiten aber mich an die directe Quelle, an Sie selbst, zu wenden. – So,“ fuhr er fort, die Gläser neu füllend, „und nun sprechen Sie sich so offen aus, als ich es selbst gethan, kehren Sie sich auch nicht daran, daß mir irgend eine Eröffnung weh thun könnte – ich will nur klar sehen; besonders aber möchte ich wissen, wie weit Ihre eigene Aufrichtigkeit gegen mich geht.“

Reichardt hatte den Blick unverwandt auf dem Gesichte seines Gesellschafters ruhen lassen, und diesen traf beim Aufsehen ein Auge voll so warmer Empfindung, daß er wie unwillkürlich die Hand nach dem jungen Deutschen ausstreckte. „Well, Sir, werden Sie ohne Rücksicht gegen mich reden?“ fragte er.

„Lassen Sie mich Ihnen einfach sagen,“ erwiderte Reichardt, die gebotene Hand fassend, „daß kein Gefühl gegen Miß Burton, das Ihnen nur die leiseste Unruhe machen könnte, in mir lebt oder jemals gelebt hat; daß nur die Sorge für meine Selbsterhaltung und der jungen Lady Musikliebe mich in ihre Nähe brachte, und daß bei allem Uebrigen, was durch mich in Bezug auf ihre Verhältnisse geschah, ich fast nur als ein Werkzeug des Zufalls wirkte. Verlangen Sie die Einzelnheiten, so will ich sie Ihnen geben, so weit meine Kenntniß reicht; zugleich aber nehmen Sie mein Wort als ehrlicher Mann, daß das Räthselhafte, was Ihnen das Interesse von Mr. und Miß Frost für einen unbedeutenden Menschen, wie ich bin, bieten mag, für mich in demselben Maße besteht und daß ich noch bis zu diesem Augenblicke fürchte, meine [432] neugeborenen Hoffnungen wie eine Seifenblase zerspringen zu sehen.“

Der junge Frost schien den Sinn jedes fallenden Wortes mit seinen Augen durchdringen zu wollen. „Und glauben Sie,“ fragte er nach einer kurzen Pause langsam, „daß auch die junge Lady keine anderen Empfindungen für sie in Ihrem Herzen vermuthet?“

Reichardt’s Wangen färbten sich leicht. „Wenn ein vollkommen klares, bestimmtes Aussprechen eine Meinung schaffen kann,“ erwiderte er in derselben nachdrücklichen Weise, in welcher die Frage gestellt war, „so muß sie wissen, daß ich keines wärmeren Gefühls als das eines freundlichen Dankes gegen sie fähig war.“

„Und diese Aussprache hat stattgefunden?“

„Sogar schriftlich, Mr. Frost, da ich nicht persönlich mich bei ihr verabschieden konnte.“

Der junge Amerikaner sah einige Secunden lang in das offene Auge des Deutschen. „Ich glaube Ihnen, Sir,“ sagte er dann des letzteren Hand drückend, „und selbst wenn Sie mir etwas verschwiegen hätten, so weiß ich, daß es nichts sein kann, was meiner Ehre auch für künftige Fälle im Geringsten zu nahe treten könnte – und so bitte ich Sie, lassen Sie uns Freunde sein. Ich weiß, ihr Deutschen nehmt das Wort tiefer und bedeutsamer, als es gewöhnlich der Amerikaner thut, und es muß das deutsche Blut von meinem Vater sein, was mich oft nach einem Freunde in diesem bessern Sinne hat verlangen lassen –“

„Wenn ich Ihnen genüge, Sir,“ unterbrach ihn Reichardt angeregt, „so sollen Sie haben, was Ihnen fehlt, und von ganzer Seele sei es Ihnen gegeben –“

„Gut, Sir, ich werde Sie an Ihr jetziges Wort mahnen,“ erwiderte Frost, des Deutschen Hand fester drückend, „und so lassen Sie uns jetzt die Gläser darauf leeren!“

Die Linke beider junger Männer führte eben den Champagner zum Munde, als die Thür aufsprang und lachend eine kleine Anzahl neuer Gäste erschien. „Halloh, hier ist auch Jemand, der Trauer anlegen wird; was, Frost?“ rief einer der Eintretenden. „Wir sprachen eben von dem Manne mit dem Deficit und seinen köstlichen Soirées, die nun verschwinden werden, ebenso wie die beiden armen Mädchen –“

Reichardt hatte aufgesehen und neben dem Sprechenden William Johnson’s Gesicht erblickt, das wie in starrer Befremdung die Stellung der beiden Dasitzenden wahrgenommen, sich dann aber rasch abgekehrt hatte.

„Laßt doch die Mädchen, die wahrlich keine von den schlimmsten waren!“ rief Frost, sich mit einem Lachen, das eine aufsteigende Mißstimmung zu verdecken schien, erhebend; „ich denke, sie werden jetzt so viel Noth mit sich selbst haben, daß wir sie nicht noch zwischen uns herumziehen sollten.“

„Ganz Frost, ganz Frost!“ klang die Antwort zurück, „aber hierher, Gentlemen, im Sitzen läßt sich das Thema viel besser erörtern!“

„Lassen Sie uns bei ihnen Platz nehmen,“ raunte der Erstere dem jungen Deutschen zu, als die Angekommenen sich um einen der Tische gruppirten, „ich werde dadurch zugleich Gelegenheit haben, Sie mit einem bestimmten Typus aus der New-Yorker Gesellschaft bekannt zu machen.“

„Warten Sie damit, bis ich in meiner neuen Stellung bin,“ gab Reichardt halblaut zurück, „ich habe jetzt nicht einmal das Recht, über meine Zeit zu disponiren, bin augenblicklich noch Porter und mag mich als solcher nicht mit meinem fashionablen Principal zu derselben Gesellschaft setzen.“

Ein Zug von Humor glitt über das Gesicht des Andern. „Well, gehen Sie und machen Sie sich baldigst los,“ sagte er; „das ganze Verhältniß könnte wahrlich Stoff zu dem besten Spaße geben!“ Er begleitete seinen Gesellschafter, die Hand vertraulich auf dessen Schulter gelegt, bis nach der Thür, und Reichardt beeilte sich, den Heimweg zu nehmen.

[433] Reichardt fühlte nur allzugut, daß es trotz aller Gewissenhaftigkeit jetzt die härteste Aufgabe für ihn sein würde, noch drei Tage in seiner bisherigen Stellung zu verbleiben; indessen hoffte er in möglichster Kürze einen Ersatzmann durch Vermittelung des Kupferschmieds zu erhalten. Wenn er jetzt an das treue Gesicht des Letzteren und die Miene dachte, welche sich bei der Erzählung des Geschehenen darauf legen würde, stieg die ganze Empfindung des Glücks, welches ihm geworden, von Neuem in seiner Seele auf.

Gleichzeitig aber trat auch Margaret’s Bild in seine Gedanken, sie, welche den Haupteinfluß auf sein Schicksal geübt haben mußte – hatte doch John Frost eines fast stundenlangen Gesprächs, welches sie augenscheinlich in seinem Interesse mit ihrem Vater gehabt, erwähnt – Reichardt kannte nichts von den Beweggründen des Mädchens, aber er mochte jetzt auch nicht darüber grübeln und Gedanken in sich aufkommen lassen, die ihn später vielleicht nur zu einem getäuschten Narren machen konnten, selbst wenn der ganze unendliche Unterschied zwischen ihren Verhältnissen und den seinen nicht bestanden hätte.

Es mußten während seiner Abwesenheit Verpackungen stattgefunden haben, denn der ganze untere Raum des Geschäftshauses wie der äußere Seitenweg lagen voll Stroh- und Holzüberbleibsel. Reichardt, ohne sich seines versäumten Mittagsmahls zu erinnern, kleidete sich schnell um und griff dann nach dem Besen, erst wollte er die nächsten Arbeiten beseitigen, ehe er die nöthigen Schritte für seine Entlassung that. Er war eben in voller Beschäftigung, um den Seitenweg zu säubern, als William Johnson raschen Schrittes ankam, mit finsterm Blicke stehen blieb, als wolle er zu dem Deutschen reden, dann aber wie sich besinnend in’s Haus ging. Es währte nur kurze Zeit, so trat der Kupferschmied aus der Thür. „Was haben Sie denn um Gotteswillen ausgefressen?“ sagte er an den Arbeitenden herantretend, „der Aelteste von den Johnsons hat mich nach Ihnen geschickt, als habe er den Laufpaß für Sie schon in der Tasche, und wandelt jetzt in der Office herum, wie ein Bulldog an der Kette!“

„Müssen eben zusehen, was er will, Meißner,“ versetzte Reichardt, lächelnd in das ängstliche Gesicht des Andern sehend und seinen Besen bei Seite stellend, „ich denke, wir trinken heute Abend noch ein paar Flaschen Wein mit einander!“

„Na, wenn das Wein giebt –!“ erwiderte der Erstere kopfschüttelnd und folgte mit leisen Tritten dem rasch die Treppe hinauf eilenden Freunde.

William Johnson stand leicht an eines der Pulte gelehnt, als Reichardt in die Office trat, und sein Blick schien sich zwei Secunden lang in das unbefangene Auge des Deutschen einbohren zu wollen. „Wollen Sie mir gefälligst sagen, wer Sie sind, Sir?“ fragte er dann.

„Porter bei den Herren Johnson und Sohn, wie Sie vielleicht wissen, Sir!“ erwiderte Reichardt mit einem leichten Lächeln.

Der Amerikaner preßte einen Augenblick die Lippen zusammen. „Und wie kommen Sie dann heute Morgen in ein Zimmer des Astorhauses, das nicht für Jedermann da ist?“

„Ich hatte Urlaub von Mr. Black erhalten – das Uebrige aber ist wohl meine eigene Angelegenheit.“ „Very well, Sir!“ entgegnete Johnson mit einem häßlichen Lächeln, „Sie werden aber einsehen, daß ich nicht ferner in Gefahr kommen mag, mit meinen eigenen Porters an denselben Tisch zu gerathen – lohnen Sie den Mann ab, Mr. Black.“

„Ich begreife nicht, Sir,“ erwiderte Reichardt ruhig, obgleich sein Auge einen erhöhten Glanz anzunehmen begann, „warum Sie mir in dieser absichtlich verächtlichen Weise begegnen. Die augenblickliche Beschäftigung macht hoffentlich den Gentleman nicht, und ich verlange die gleiche Behandlung, welche ich Ihnen selbst angedeihen lasse.“

„Ich behandle meine Leute, wie es mir selbst gutdünkt.“

„Gut, Sir, ich gehöre aber seit den letzten Minuten nicht mehr zu Ihren Leuten und werde mir sonach die erforderliche Höflichkeit zu erzwingen wissen, wo sie mir versagt werden sollte. – Ich bedaure aufrichtig, Mr. Black,“ wandte sich der Sprechende an den Buchhalter, „daß ich meines Wortes gegen Sie auf diese Weise entbunden werde. Mr. Augustus Frost lachte zwar über meine Gewissenhaftigkeit, noch drei Tage die Straße fegen zu wollen, gab mir aber Recht, daß Worthalten das Erste für den Kaufmann ist – jetzt mag sich Mr. William Johnson fragen, ob er ebenso gewissenhaft eine Porterstelle ausfüllen könnte, als er leicht darüber zu verfügen versteht. Sollte irgend eine Auskunft von mir verlangt werden, so finden Sie mich in Mr. Frost’s Cassenzimmer.“

„Es ist noch etwas von Ihrer Bezahlung rückständig!“ ließ sich jetzt der Alte hören, der während der ganzen Verhandlung in sichtlichem Unmuthe seine Bücher auf- und zugeschlagen hatte.

„Ich weiß es, Sir, und ich werde mir das Geld, das ehrlich verdient ist, holen lassen!“ erwiderte Reichardt; dann machte er eine leichte, ernste Verbeugung gegen den jungen Geschäftsherrn, welcher den Kopf stolz zurückgeworfen, aber leichenbleich in seiner [434] früheren Stellung verharrt war, und verließ das Zimmer. Er hatte kaum den ersten Fuß auf die Treppe nach dem untern Raum gesetzt, als er zwei Arme seinen Hals umschlingen fühlte, „’s ist weiß Gott so, immer nur laufen lassen, was sich nicht halten läßt!“ hörte er des Kupferschmieds mühsam unterdrückte Stimme. „Sie werden noch ein großer Kerl, ich sag’s Ihnen, Reichardt, und ich muß jetzt eine Stunde mit Ihnen gehen, sollten sie mich auch Ihnen nach zum Teufel jagen!“


Vierzehn Tage waren vergangen, seit Reichardt das Ziel seiner nächsten Wünsche erreicht hatte; er war Clerk in einem großen Handlungshause und seine Zukunft lag sorgenfrei vor ihm; demohngeachtet hatte Alles, was er sich bei seinem ersten Eintritte in das Geschäft geträumt, ein gänzlich verändertes Ansehen gewonnen. Er war den Clerks in der vorderen Office, denen der junge Frost an seinem durch ein besonderes Gitter abgetrennten Pulte präsidirte, als neuer College vorgestellt worden, damit aber war auch seine Einführung völlig geschehen, und Niemand kümmerte sich weiter um ihn. Sein Arbeitsplatz befand sich in dem zweiten Raume neben dem Cassirer, und die gewöhnlichen Begrüßungen schienen die einzige Verbindung zwischen den Inhabern der beiden Zimmer zu bilden. Reichardt hatte anfänglich auf wenig mehr, als auf seine Arbeit geachtet; in der ersten Woche, die, nach der Art der ihm zugetheilten Arbeit, ihm wie eine gewährte Frist für seine Information erschienen war, hatte er sich mit allen Kräften in das noch fremde Feld geworfen, hatte hier indessen schneller, als er gehofft, die alten bekannten Wege, wenn auch theilweis unter veränderter Form, wiedergefunden und mit voller Lust sich einer Vervollständigung der ihm nothwendigen Kenntnisse hingegeben.

Doch mit dem Tage seines Eintritts waren auch die Persönlichkeiten des alten, wie des jungen Frost gänzlich andere geworden, als sie ihm zuerst erschienen. Kalt, einen Tag wie den andern, ging der alte Chef durch das Cassenzimmer, nur hie und da ein paar kurze Fragen an den Cassirer richtend, die eben so kurz von diesem beantwortet wurden, und nur ein einziges Mal, beim Anfange der zweiten Woche, war er an Reichardt’s Platze stehen geblieben und hatte mit einem Anfluge des früheren Wohlwollens gesagt, daß die Leistungen des jungen Mannes genügen würden, sobald er in seinem Eifer zu lernen wie bisher fortfahren werde. Der junge Frost aber schien nur durch ein zeitweiliges Kopfnicken, wenn er durch das Cassenzimmer ging, die mit Reichardt geschlossene Freundschaft anerkennen zu wollen; er kam später und ging früher als die Uebrigen, und so war der Deutsche nie wieder zum Austausch eines Wortes mit ihm gekommen. Nur einmal war Jener am Arme eines andern jungen Elegants ihm auf der Straße begegnet, hatte leicht seine Hand ergriffen und im Vorübergehen geäußert: „Halloh, Reichardt, wir sehen uns jetzt kaum mehr, warum kommen Sie nicht einmal nach unserm Hause?“ und manchen Tag danach hatten diese Worte noch in den Ohren des neuen Clerks geklungen, ohne daß er ihnen dennoch mehr Bedeutung beilegen mochte, als der einer absichtslos hingeworfenen Aeußerung. Er kannte ja wohl den amerikanischen Gebrauch, formlose kurze Besuche in dem „Parlor“ einer Familie abzustatten; dazu aber gehörte wenigstens, als Bekannter des Hauses angesehen zu werden, und welchen Grund hatte er, der jüngste Clerk im Geschäft, darauf Anspruch zu machen?

In irgend einer andern Stellung, die er durch Frost’s Vermittelung erlangt hätte, wäre ein freies Herantreten an die Familie in der Ordnung gewesen, und fast glaubte er jetzt den Sinn der Worte, mit welchen der alte Frost ihn zum Clerk angenommen: „Es thut mir leid, nicht mehr für Sie thun zu können!“ zu verstehen. Seine ganze Stellung hatte sich anders gestaltet, als sie ihm vorgeschwebt; hier in Amerika existirte nicht die Art von Familienband, welche in Deutschland meist die Mitglieder eines Geschäfts an den Prinzipal und seine Interessen knüpfen, hier war das einfache Contractverhältniß zwischen Arbeitendem und Zahlendem – Reichardt fühlte sich völlig allein, und oft, wenn er nach Dunkelwerden einen einsamen Spaziergang durch die Straßen machte, konnte ihn trotz des wohlthuenden Gefühls, eine sichere Stellung erlangt zu haben, eine wehmüthige Empfindung überschleichen, wenn aus einem öffentlichen Locale die Töne eines Pianos und einer Geige heraufklangen; er mußte sich bisweilen zwingen, an irgend einem obscuren Bierkeller vorüberzugehen und nicht hinabzusteigen, um Bekanntschaft mit einem gewesenen Collegen zu machen, dessen Spiel ein besseres Auditorium verdient gehabt.

Manchen Abend war Reichardt, nur um ein Ziel für seinen Gang zu haben, nach dem Boardinghause gewandert, in welchem er den Kupferschmied wußte. Genügte ihm dieser auch nicht, weder seiner Erziehung noch seiner ganzen Lebensanschauung nach, so war es doch eine so treue Seele, wie sie Reichardt in seinem jetzigen Alleinstehen nur bedurfte, und es that ihm zugleich wohl, die Genugthuung zu bemerken, mit welcher Jener ihn empfing, einen Stuhl für ihn abstäubte und sich dann entfernte, um zu dem gemeinschaftlichen Ausgange den Sonntagsrock anzuziehen. Saßen sie dann in irgend einem Locale besserer Art bei einander, so schien es Meißner für seine Pflicht zu halten, die Unterhaltung zu führen, und hatte aus seinem frühern Leben so viele der eigenthümlichsten Schnurren und Erinnerungen vorräthig, daß Jener kaum mehr zu thun brauchte, als sich den Eindrücken, welche dieses kräftige, praktische Gemüth auf ihn übte, hinzugeben.

Es war ein dunkler, stiller Abend. Von dem bedeckten Himmel fielen langsam große Schneeflocken nieder, als Reichardt von einem Gange nach der Wohnung des Kupferschmieds, den er nicht angetroffen, zurückkehrte. Er war Broadway hinabgegangen und überlegte eben, auf welche Weise er den Abend verbringen solle, als er plötzlich seinen Namen nennen hörte. Von den Stufen des Astorhauses kam ihm ein junger Mann entgegen. „Ausgezeichnet, daß ich Sie treffe, Sir; Sie müssen mir einen ganz speciellen Gefallen thun,“ hörte er die Stimme des jungen Frost, „ich kann nicht gut von der Gesellschaft weg, sonst würde ich Sie nicht plagen – kommen Sie herein, Sir!“

Reichardt folgte nach der Office des Hotels, wo der Vorausgeschrittene einige Worte auf ein Stück Papier warf und dann den jungen Deutschen bei Seite zog. „Sie wissen, wo Mr. Bell, unser Cassirer, wohnt?“ fragte er. Reichardt bejahte etwas verwundert. „Er geht Abends nie aus,“ fuhr der Erstere fort. „bringen Sie ihm diesen Zettel und bitten Sie ihn, mir sogleich durch Sie den vermerkten Betrag zugehen zu lassen und die besondere Mühe, die ihm der Gang nach unserer Office verursachen mag, zu entschuldigen. Dann kommen Sie mit dem Gelde hierher, nach dem kleinen Zimmer, in welchem wir schon einmal bei einander waren, und ich werde dadurch Gelegenheit erhalten, Sie endlich in die Gesellschaft unserer jungen Leute einzuführen.“ Mit einem vertraulichen Kopfnicken eilte er davon, und Reichardt ging, um den ihm gewordenen Auftrag auszuführen, wenn ihm auch die 500 Dollars, welche ihm bei einem Blicke auf das Papier entgegensahen, ein innerliches Kopfschütteln abnöthigten. Es war zum Zwecke eines abendlichen Vergnügens jedenfalls eine ziemlich starke Summe, selbst für einen reichen jungen Mann.

Nach Kurzem hatte er das Haus, in welchem der Cassirer seine Wohnung und Kost hatte, erreicht – es war eines der kleinen Privathäuser, wie sie sich noch aus ältern Zeiten in dem untern Theile der Stadt fanden, jetzt aber fast sämmtlich von den Geschäftslocalen verdrängt worden sind und nach Nennung seines Namens öffnete sich vor Reichardt rasch der Parlor, in welchem sich der Gesuchte steif von einem Stuhle neben dem Kaminfeuer erhob. An der andern Seite des Kamins aber saß eine ältliche, hagere Lady in Schwarz, und schien in ihrer ganzen Haltung nur ein Seitenstück zu dem Cassirer abgeben zu wollen. „Mrs. Reynolds, meine Wirthin!“ stellte dieser förmlich vor und griff sodann nach dem Zettel in Reichardt’s Hand. Dieser wiederholte die Entschuldigungsworte des jungen Frost, Jener aber schien die wenigen Zeilen zu drei, vier Malen bedächtig zu überlesen, bis er endlich die grauen Augen langsam hob und sie mit einem Ausdrucke von Mißfallen auf den jungen Deutschen heftete. „Sie kommen vom Astorhause, Sir?“ fragte er.

„So ist es, Mr. Bell!“ erwiderte der Befragte einfach, „ich passirte zufällig, als mich Mr. John Frost mit dem Auftrage betraute.“

„Zufällig! “ wiederholte der Andere, mit einem eigenthümlichen Lächeln die Augen wieder auf das Papier sinken lassend; „ich werde indessen sogleich bei Ihnen sein!“

Er verließ das Zimmer, und die Lady am Kamin sah wortlos mit sorgenvoll gerunzelter Stirn in’s Feuer, als sollten ihre Züge das ausdrücken, was der alte Gentleman sichtlich unausgesprochen gelassen – nach wenigen Minuten indessen erschien dieser, durch einen warmen Ueberwurf geschützt, wieder, und Reichardt [435] schritt an seiner Seite der Office zu, ohne daß auf dem Wege ein Wort zwischen Beiden gefallen wäre; Reichardt fühlte, daß irgend etwas in der Angelegenheit, die er übernommen, nicht ganz in Ordnung sein müsse; er indessen, welcher nichts als einen Botengang gethan, mochte nicht das erste Wort darin ergreifen.

Der Cassirer öffnete die verschiedenen Thüren und zündete dann im Cassenzimmer eine Gasflamme an, öffnete einen der in die Wand eingemauerten Geldschränke und zählte fünf Hundert Dollarsnoten vor Reichardt auf den Tisch, sorgfältig die erhaltene Anweisung an demselben Orte verwahrend. Reichardt barg das Geld in sein Portemonnaie und sagte dann aufsehend: „Ich denke, Mr. Bell, Sie haben mir noch irgend etwas zu sagen; ich bin ein abgesagter Feind von allen halben Andeutungen, besonders wenn ich nichts davon verstehe.“

Der Angeredete schloß langsam die äußere Thür des Geldschranks und wandte sich dann nach dem Sprechenden. „Sie sind zufällig beauftragt worden, das Geld zu holen, Sir?“ fragte er.

„Durchaus zufällig, Mr. Bell! Ich kam von der obern Stadt, als mich Mr. Frost anrief.“

„Und Sie wissen nicht, zu welchem Zwecke es verwandt werden soll?“

„Habe nicht die entfernte Idee davon, Sir!“

„Sie kennen auch nicht das so komfortable eingerichtete kleine Zimmer im Astorhause?“

„Ich habe es einmal gesehen, Sir, ehe ich hier in’s Geschäft trat, und dann nicht wieder.“

„Ah! – nun, Mr. Reichardt, ich glaube Ihnen, denn ich habe keinen Grund für das Gegentheil – glauben aber Sie auch mir eins!“ sagte der Cassirer, die Brauen dicht zusammenziehend. „In diesem kleinen Zimmer im Astorhause, in welchem der Teufel seine Hütte aufgeschlagen hat, sind mehr Seelen verloren gegangen, als Sie in Ihrer Unerfahrenheit ahnen mögen, und mehr vielversprechende junge Leute thun dort allabendlich die ersten Schritte auf dem breiten Pfade, von welchem die Bibel redet, auf dem Pfade zu ihrem Untergange, als es einer von ihnen selbst weiß. Ich habe trotz der kurzen Zeit Ihrer Anwesenheit im Geschäft Interesse an Ihnen genommen, Sir; Sie schienen mir nicht in die gewöhnliche Art der hiesigen jungen Leute einzuschlagen; ich habe sogar schon in Bezug auf Sie an die Zeit gedacht, so fern sie auch noch liegen mag, in welcher ich vielleicht meinen jetzigen Posten verlassen möchte – Alles dies, Sir, würde ein einziger Abend in jenem kleinen Zimmer, welcher Sie dort anwesend fände, ausstreichen können – Sie gehen heute einen schlüpfrigen Weg, denken Sie an mich, Sir, und Gott gebe, daß ich morgen früh dasselbe klare Auge bei Ihnen wiederfinde, wie heute Abend.“ Er winkte dem Deutschen, voranzugehen, und folgte ihm dann schweigend, das Licht löschend und jede einzelne Thür sorgfältig verschließend. Als Reichardt, kaum daß er den Fuß der Treppe erreicht, sich umsah, strich soeben der Cassirer steif an ihm vorüber, ohne ein weiteres Wort laut werden zu lassen.

Wenn der Alte durch Abschreckung auf das Herz des jungen Clerks hatte wirken wollen, so hatte er den entgegengesetzten Weg eingeschlagen – konnte sich dieser doch trotz aller Worte noch keine Vorstellung dessen machen, was in dem kleinen Zimmer Entsetzliches vorging, und so fest er auch in seinem Entschlusse war, sich keiner Handlung, die nicht streng mit seinen allgemeinen Grundsätzen übereinstimmte, hinzugeben, so konnte er doch auch eine Neugierde auf das, was er zu sehen bekommen werde, nicht von sich weisen. Als er das Astorhaus kaum erreicht, kam ihm schon aus den hintern Zimmern der junge Frost entgegen. „Gott sei Dank, daß Sie da sind; die schönsten Chancen habe ich bereits verpassen müssen,“ rief dieser und zählte flüchtig das ihm dargereichte Geld durch, „jetzt aber kommen Sie mit mir, wir gehen halbpart heute Abend, ich habe eine Idee, daß Sie Glück bringen müssen.“

„Einen Augenblick!“ erwiderte Reichardt, dem plötzlich ein volles Verständniß aufging, halblaut. „Sie spielen?“

„Gewiß! und Sie haben kaum jemals wieder so viel Gelegenheit, sich mit den jungen Leuten aus unserer Haute volée bekannt zu machen als heute Abend!“ war die Antwort.

„Ich gehe einige Minuten mit Ihnen, aber stellen Sie mich nirgends vor, noch verlangen Sie von mir, irgend einen Antheil am Spiele zu nehmen,“ entgegnete Reichardt, der sichtlichen Ungeduld des Andern nachgebend, „liegt Ihnen aber nichts Besonderes an mir, so ist es vielleicht besser, wenn ich ruhig nach Hause gehe.“

John Frost blieb plötzlich stehen und warf einen forschenden Blick in das Gesicht des Deutschen. „Ich will gehängt werden,“ sagte er unmuthig, „wenn Ihnen der alte Bell nicht eine Predigt gehalten und von dem breiten Pfade zu Hölle und Verdammniß gesprochen hat; – ich habe Sie lieb, Reichardt, und möchte nicht, daß Sie Ihre Abende Gott weiß wo verbringen, möchte, daß Sie in die Gesellschaft eingeführt werden, in die Sie gehören, und so stellen Sie sich zu mir, und kümmern Sie sich um nichts Weiteres!“

Der Sprechende hatte leicht Reichardt’s Arm erfaßt und führte ihn bei den letzten Worten nach den hintern Räumen. Dort öffnete sich nach einem eigenthümlichen Klopfen des Amerikaners eine Thür vor ihnen; zwei leere, halbdunkele Zimmer wurden durchschritten, und jetzt erst that sich auf erneutes Klopfen der kleine comfortable Raum auf, welchen Reichardt bereits kannte.

Das Zimmer war fast gänzlich von Gästen besetzt; demohngeachtet herrschte eine Stille unter diesen, welche die Eintretenden unwillkürlich ihren Schritt dämpfen ließ – nur zu Zeiten durch einzelne laute Worte unterbrochen, wie sie das Spiel an den verschiedenen Tischen hervorrief.

Der Thür gegenüber erhob sich eine Art Büffet mit halb gefüllten Flaschen, Gläsern und Cigarrenkisten regellos besetzt. Rechts von diesem hatte ein langer Tisch die Hauptzahl der Anwesenden um sich versammelt, während links kleinere Partien derselben um die übrigen Tische gruppirt saßen.

Nirgends hob sich beim Oeffnen der Thür auch nur ein Auge, und Frost wandte sich rasch nach dem Haupttische, wo eine Art „deutsches Faro“ gespielt zu werden schien, und gab seinem Gefährten einen Wink, ihm zu folgen. Reichardt ließ zuerst einen Blick über das sich ihm darbietende Bild laufen, und lehnte sich dann zur Seite des Divans, auf welchem der Andere Platz genommen hatte, gegen die Wand, von hier aus langsam die einzelnen Personen musternd. Es gab viel jugendliche Züge unter den Anwesenden, in denen sich noch unverhohlen die verschiedenen Empfindungen je nach dem Gange des Spieles aussprachen; aber es fehlte auch nicht an Gesichtern, denen man die Gewohnheit einer derartigen Unterhaltung ansah, die den Launen des Glücks entweder mit einer Art vornehmer Gleichgültigkeit folgten, oder ihre momentane Erregung nur durch ein kurzes Verziehen des Mundes andeuteten.

„Alles verkehrt heute! immer kommt meine Karte zu früh oder zu spät,“ murrte Frost, nachdem er sich durch einen raschen Aufblick von Reichardt’s Nähe überzeugt hatte. „Nehmen Sie ein paar Minuten meinen Platz, Sir,“ fuhr er sich erhebend fort, „vielleicht packen wir dann das rechte Ende.“

„Lassen Sie mich vom Spiele weg! “ erwiderte Reichardt, fast ängstlich bei Seite tretend – nach einigen Beobachtungen war es ihm, als hätte er selbst für einen hohen Preis jetzt keine Karte anrühren können, „es ist Grundsatz von mir, niemals zu spielen, und ich möchte diesem, selbst auf fremde Rechnung, nicht untreu werden.“

„Ob ihn der alte Bell nicht unter den Fingern gehabt hat!“ rief Frost mit unterdrückter Stimme, während ein launiger Zug mit dem Unmuthe in seinem Gesichte kämpfte; „ist Ihr Gewissen wirklich so zart, Reichardt?“

„Und er hat Recht, Frost!“ ließ sich jetzt eine dritte Stimme neben ihnen hören. „Junge Leute in seiner Stellung sollten sich noch nicht einmal nach einem Spiellocale umsehen –“ Reichardt’s rasch aufblickendes Auge traf auf ein hämisches Lächeln in William Johnson’s Gesicht – „ich werde einige Minuten für Sie pointiren, wenn Sie es wünschen.“

„Wäre es nicht äußerst passend, Sir, daß sich Jeder um seine eigenen Verhältnisse und das, was ihm fehlt, bekümmerte?“ gab der Deutsche, den Kopf mit aufleuchtenden Augen hebend, zurück.

„Bst, bei allen Glücks- und Unglücksgöttern! “ rief Frost mit unterdrückter Stimme, seine Hand auf Reichardt’s Mund legend, „jedes laute Streitwert hier ist Landesverrath und rächt sich unvermeidlich! – Aber er hat Recht, Will, und ich sehe nicht den entferntesten Grund für diese Herausforderung Ihrerseits –“

„Ich glaube wohl nur zu Ihnen gesprochen zu haben, John, da ich mit dem Gentleman hier wohl kaum in irgend einer gesellschaftlichen Beziehung stehen kann,“ erwiderte Johnson, sich zum Gehen wendend; „was ich aber sagte, drückte nur eine Billigung seines Verfahrens aus. Lassen wir das, und machen wir unser Spiel!“ Er schritt leicht davon; Frost aber drehte den erregten Deutschen mit einer kräftigen Armumschlingung nach der entgegengesetzten [436] Seite. „Ruhig, mein Junge, wenigstens jetzt, oder wir können nach den Statuten schnellstens in’s Freie expedirt werden!“ raunte er in Reichardt’s Ohr. „Hier ein Glas zur Abkühlung, und damit ist die Sache bis zu einer andern beliebigen Zeit abgemacht – ich mag im Grunde den aufgeblasenen Bengel selbst nicht, und Sie werden noch Gelegenheit genug finden, ihm den rechten Standpunkt zu zeigen.“

Er hatte seinen Gesellschafter nach dem Büffel geführt, drängte ihm hier eine Erfrischung auf, mischte sich selbst aus verschiedenen Flaschen ein Getränk und wandte sich dann nach seinem verlassenen Platze zurück, welchem gegenüber jetzt Johnson einen Stuhl gefunden hatte. Als Reichardt nach einer kurzen Zeit, die er zu seiner Beruhigung gebraucht, folgte, hatte sich zwischen den beiden jungen Amerikanern ein eigenthümliches Spiel entsponnen. Johnson, wie absichtslos, wartete stets, bis sein Gegenüber seinen Aussatz gemacht, und wählte dann die nächsthöchste Karte für sich; Frost hatte entschiedenes Unglück, während die meisten von Johnson’s Aussätzen gewannen. Trotz der scheinbaren Absichtslosigkeit aber hatte der Erstere schnell genug die eigenthümliche Verfahrungsart bemerkt. „Suchen Sie etwas unter der Weise, meinen Karten zu folgen, Sir?“ fragte er halblaut, ohne das Auge vom Tische zu heben.

„Nichts, als Ihrem heutigen Mißgeschick zuvorzukommen,“ erwiderte Johnson, mit einem leichten Lächeln aussehend, „Sie sprachen selbst von ihrem schlimmen Glücke, Sir!“

Frost erwiderte nichts und machte gelassen seine weiteren Aussätze; nur wer ihn genauer beobachtete, wie es Reichardt that, konnte, sobald den Spielenden ein neuer Verlust traf, dem fast immer ein Gewinn seines Gegenüber folgte, ein scharfes Zucken seiner Lippen bemerken. Nach einer Weile überblätterte er spielend den Rest des ihm gebliebenen Geldes und lehnte sich dann, den Gang des übrigen Spiels beobachtend, auf dem Divan zurück.

Johnson machte eine ähnliche Bewegung auf seinem Stuhle und pausirte gleichfalls.

„Halten Sie es für angenehm, Sir,“ begann Frost plötzlich, „sich als Fußgestell für das Spielglück eines Andern brauchen zu lassen, wie Sie es mit mir zu thun scheinen?“

Johnson’s Lippe kräuselte sich wie im leichten Spotte. „Regen Sie sich doch nicht unnöthig auf, John,“ sagte er gedämpft, „was thue ich denn? Ich mache gern einzelne Experimente beim Spiel, das ist Alles. Ist Ihnen aber meine Person wirklich so fürchterlich, so thue ich Ihnen gern den Gefallen und gehe.“

„Fürchterlich? glaube kaum, Sir!“ versetzte der Erstere mit einem halbverächtlichen Zucken um seine Mundwinkel, „aber lästig, Sir, unangenehm, wie es alles Aufdringliche wird.“

Der Andere wurde bleich und schien gegen eine aufsteigende Erregung zu kämpfen. „Ich hoffe, Sir, meine Aussätze machen zu können, wie es mir selbst gut dünkt?“ sagte er nach einer Weile langsam.

Frost antwortete nicht, begann aber mit einem Theile seiner Banknoten das Spiel von Neuem – nach zwei Abzügen war der Aussatz verloren; rasch, wie trotzig, ließ er den ganzen übrigen Rest folgen, und in kaum längerer Frist war auch dieser verschwunden. Mit einem halben Fluche zwischen den Lippen erhob er sich.

„Diesmal bin ich hoffentlich außer Verdacht,“ rief Johnson, sein halbspöttisches Lächeln wieder aufnehmend, „und jetzt thun Sie Ihre querköpfigen Gedanken bei Seite, disponiren Sie über meinen Baarvorrath und lassen Sie uns mit irgend Jemand ein vernünftiges Privatspiel machen!“

Frost gab einen unmuthigen Laut von sich, von dem man nicht wußte, war er ablehnend oder annehmend, und wandte sich nach dem Büffet. Reichardt sah ihn dort zweimal nach einander sein Glas leeren, und den Deutschen überkam es plötzlich wie eine unbestimmte Sorge um jenen. Er wußte nicht, bis zu welcher Höhe der Beträge Verlust oder Gewinn hier getrieben wurde und ob das, was Frost bereits verloren, als bedeutend galt; aber er hatte die beginnende Aufregung des Letzteren bemerkt und ahnte, wie weit diese ihn gerade an einem Unglückstage führen könne. Und daneben hatte Reichardt während des ganzen Abends das eigenthümlich ernste Gesicht des alten Cassirers, mit welchem dieser ihm das Geld eingehändigt, nicht auf den Gedanken bringen können; bei jeder neuen Anzahl Banknoten, welche verloren ging, war es vor ihn getreten, und jetzt meinte er es fast mit einem Ausdruck der Mahnung vor sich zu erblicken. Halb unwillkürlich war er dem jungen Manne gefolgt. „Werden Sie noch länger hier bleiben, Sir?“ fragte er, an das Büffet tretend.

„Ei, natürlich – glauben Sie, ich soll wie ein gerupftes Huhn weggehen?“ war die Antwort.

„Und doch wäre das besser, Sir, als sich noch hinterdrein die Haut abziehen zu lassen. Sie haben ausgemachtes Unglück heute Abend – lassen Sie die Karten. Mr. Frost, und kommen Sie weg mit mir!“

Frost hob plötzlich den Kopf und blickte dem Deutschen eine Secunde lang scharf in’s Auge. „Handeln Sie vielleicht nach einem Auftrage des alten Bell, Sir?“ fragte er. In Reichardt’s Gesicht schoß das Blut, er öffnete den Mund und schloß ihn wieder, als finde er nicht sogleich eine Erwiderung.

„Ein Schlag in’s Gesicht wäre mir lieber gewesen als das!“ sagte er endlich, sich wegdrehend; im gleichen Augenblicke aber fühlte er auch seinen Arm gefaßt.

„Bleiben Sie, Sir, es war nicht so schlimm gemeint!“ rief der Amerikaner mit halb unterdrückter Stimme, „ich bin ärgerlich, das ist Alles – sprechen Sie aber auch jetzt nicht vom Gehen, wo ich zum Wenigsten dem glatten Johnson noch einen Denkzettel anzuhängen habe.“

„Well, Sir,“ erwiderte Reichardt, sich langsam zurückwendend, „und gerade deshalb möchte ich Sie bitten, mit mir wegzugehen!“

„Aber beim –! welches Interesse haben Sie denn dabei?“

Reichardt faßte den Arm seines Gesellschafters und trat mit ihm noch einen Schritt weiter von den Spieltischen weg. „Sie haben mir einmal gesagt, Sir,“ begann er hier, den Blick voll in Frost’s Auge ruhen lassend, „ich solle Ihr Freund sein, und das ist es, was mich zu Ihnen reden läßt. Ich weiß nicht, wie weit Ihre gehabten Verluste Sie berühren, denn mir fehlt noch jeder Maßstab für die Verhältnisse; ich weiß aber, daß Sie schon jetzt nicht mehr kalt sind, daß jeder neue Verlust Sie nur immer hartnäckiger machen wird das Verlorene wieder beizubringen, ohne darin auf eine Grenzlinie zu achten; daß Sie bei Ihrem heutigen Unglück nur das Opfer für Andere abgeben müssen, und daß sich, wenn Sie morgen früh mit kaltem Kopfe überschlagen werden, ein Debet für Sie herausstellen kann, das, auf diese Weise entstanden, selbst einen John Frost zu erschrecken vermöchte. Sparen Sie, wenn einmal gespielt sein muß, Ihre Revanche auf bis zu einem glücklicheren Tage, Sir; und selbst wenn Sie mir jetzt nicht Recht geben möchten, so thun Sie es, um mir zu zeigen, daß die Freundschaft, die Sie mir angeboten, nicht nur allein in Ihren Worten bestanden hat.“

„Sie sind jedenfalls ein eigenthümlicher Mensch, Reichardt,“ erwiderte Frost, den jungen Deutschen mit einem lächelnden Blicke betrachtend, „und ich würde sagen, die ganze Sache ist gar nicht der vielen Worte werth, wenn sie mich nicht wieder ein Stückchen näher mit Ihnen bekannt gemacht hätte. Ich soll also heute als ein gerupftes Hühnchen fortgehen und mich nicht einmal nach den Federn umsehen – very well! Sie sollen Ihren Willen haben, und die ganze Gesellschaft mag heute in Gottes Namen zum – und so weiter. Für die Zukunft aber, wenn wir uns wieder hier treffen sollten, werde ich mit Ihnen einen ganz besonderen Contract machen. Kommen Sie also!“ – „Frost, was beim Donner, Sie gehen?“ sagte Johnson, dem Angerufenen in den Weg tretend.

„Müssen das mit meinem Freunde Reichardt hier ausmachen,“ erwiderte dieser lachend, ohne sich aufhalten zu lassen, „er will mich durchaus nicht in Ihren gefährlichen Händen wissen!“

Johnson war, die Stirn runzelnd, zurückgetreten; aber als die beiden Andern das Zimmer bereits verlassen, stand er noch den Blick auf die Thür geheftet und brummte zwischen den Zähnen: „Wer ist dieser Mensch eigentlich?“ –

[449] Die Morgendämmerung des nächsten Tages hatte sich kaum erst durch einen leicht bedeckten Himmel Bahn gebrochen; Reichardt streckte sich noch in seinem Bette und wartete, daß die im Kamin aufgebauten Kohlenstücke in rechten Brand gerathen sollten, als plötzlich die Thür aufsprang, und John Frost mit einem lachenden: „Richtig, hier haust er!“ eintrat. „Bleiben Sie liegen!“ rief er, als der junge Deutsche in wortloser Ueberraschung auffuhr, „dehnen Sie sich noch einmal und empfinden Sie, was es heißt, ein warmes Bett zu haben; ’s ist Manchem in der letzten Nacht nicht so gut geworden. Bei Gott, Reichardt,“ lachte er auf, „wenn ich Sie nicht schon lieb gehabt hätte, so würde ich Sie von heute an in mein Herz schließen – so eine Teufelsgeschichte!“

„Aber sagen Sie doch um Gotteswillen, was mir die Ehre verschafft, Sie in meiner Hütte zu sehen,“ begann Reichardt, „jetzt, wo kaum erst Milch und Bäckerwagen ihre Besuche machen –“

„Sollen Alles hören, Sir! bleiben Sie nur in Ihrer Ruhe, und ich werde ’s mir auch so bequem machen, als es sich thun läßt,“ erwiderte der junge Amerikaner, sich einen Stuhl zum Feuer und sich langsam eine Cigarre anbrennend; „die Sache ist die, Sir, daß ich soeben von der Polizeistation komme, wo ich unsern Freund Johnson nebst fünf oder sechs Andern recognoscirt habe. Unser kleines Zimmer im Astorhause ist letzte Nacht, etwa zwei Stunden nachdem Sie mich von dort weggezogen, von der Polizei überrumpelt, – die ganze Gesellschaft aber aufgehoben und nach dem Stationsgebäude abgeführt worden. Es muß ein ganz ungeheurer Verrath stattgefunden haben, mag der Teufel wissen, durch wen. Der Polizei-Capt’n hat den Schlag und das Paßwort gehabt, und der hintere Ausgang, zu dem nur Wenige den Weg von außen wissen, ist so besetzt gewesen, daß die armen Kerls die Ratte im Sack haben spielen müssen. – Well, Sir,“ fuhr er lachend fort, „ein großer Theil von den Uebelthätern hat sich durch herbeigeholte Verwandte und Bekannte noch während der Nacht legitimiren können und ist vorläufig entlassen worden; unser Johnson aber und noch einige mit ihm fürchteten nichts mehr, als daß der Streich zur Kenntniß ihrer Verwandten käme, und so wurde denn eine Botschaft an mich abgeschickt. Ich aber saß gerade irgendwo, nur nicht zu Hause, in einem allerliebsten Eckchen, und die glatte, patente Gesellschaft mußte die lange Nacht auf der Pritsche verbringen. – Bei Jingo,“ rief er, plötzlich aufspringend, „was meinen Sie, Reichardt, wenn wir Beide darunter gewesen wären? An den Kopf wär’s allerdings nicht gegangen, aber ich gestehe Ihnen jetzt ganz offen, daß ich lieber zwei Finger verlieren, als meinem Vater als arretirter Spieler unter die Augen treten möchte – und wenn jetzt mein erster Weg mich nach Ihrem Boardinghause geführt hat, trotztem es wohl die ungelegenste Zeit zu Besuchen ist, so mögen Sie daraus sehen, wie ich an Sie gedacht habe. – Aber,“ lachte er plötzlich wieder auf, „hätten Sie doch die Gesichter gesehen, als ich vor einer Stunde, nachdem ich beim Nachhausekommen den Hülferuf gefunden, in das Stationshaus trat. Ein strahlendes Licht in tiefster Finsterniß ist gar nichts gegen den Effect, den meine Erscheinung machte. Johnson ist trotz mancher unangenehmen Seite immer noch ein ganz leidlicher Junge – seinen Hochmuthsteufel in Bezug auf Sie werde ich ihm auch noch austreiben – und es hat mir wirklich wohlgethan, ihn für so manche Grobheit, die er gestern Abend hat anhören müssen, jetzt aus seinem Elende zu reißen – ja,“ unterbrach er sich plötzlich, „dabei fällt mir aber etwas Anderes ein. Wir haben morgen Danksagungstag, und es ist eine alte Sitte in unserm Hause, daß wir Kinder, meine Schwester und ich, einige unserer genauesten Bekannten Abends zur Vertilgung eines Truthahns bei uns sehen. Dazu sind Sie also jetzt feierlichst eingeladen, denn ich hoffe, Reichardt, daß ich Sie jetzt zu meinen genauesten Bekannten zählen darf!“ Er hatte sich mit ausgestreckter Hand nach dem Bette gewandt; der junge Deutsche aber war mit beiden Füßen zugleich unter seiner Decke hervor in’s Zimmer gesprungen.

„Erst muß darauf der nöthige Kratzfuß folgen!“ rief er mit einem Lachen, in dem sich seine ganze innere Genugthuung aussprach: „im Uebrigen aber kann ich Ihnen nicht mehr sagen, als ich schon gethan,“ setzte er hinzu, Frost’s Hand ergreifend, „disponiren Sie über mich, Sir!“

„All right, Sir. ich, bedarf auch keiner Worte mehr,“ gab Frost mit einem kräftigen Händedruck zurück, „jetzt aber vergessen Sie das Nächste nicht und fahren Sie in Ihre Hosen!“ – Eine Stunde später saß Reichardt auf seinem Arbeitsplatze in der Office. Er war einer der Ersten, und als er langsam seine Bücher aufschlug, meinte er die Sauberkeit und Accuratesse seiner Zahlencolonnen selbst noch nie so bemerkt zu haben, wie heute, glaubte er noch nie so zufrieden mit seiner Stellung wie jetzt gewesen zu sein. In ihm lebte ein Gefühl, als sei ihm ein unerwartetes Glück geworden, oder er habe eine fröhliche Nachricht erhalten, und wenn er, in seine Arbeit versenkt, bisweilen aufblickte, um sich zu besinnen, was ihn in eine so glückliche Stimmung versetzt, war es doch nichts, als die Einladung in das Frostsche Haus für morgen Abend. Als er sich aber endlich ertappte, wie er vor [450] sich hinstarrte, sich Margaret’s Bild in allen Einzelnheiten, wie er sie in Saratoga gesehen, vor die Seele stellte, und sich in diese lachenden, dunkelblauen Augen versenkte, da rieb er sich unzufrieden die Stirn. „Auf diese Weise hätte das Glück lieber wegbleiben sollen!“ brummte er, „aber hoffentlich werden Wille und Verstand auch noch ein Wort zu sagen haben! “ und wie befriedigt von dem Gedanken überließ er sich wieder der frühern innern Behaglichkeit.

Er hatte so eben eine für den heutigen Tag bestimmte Rechnungs-Aufstellung begonnen, als der Cassirer eintrat und bei Reichardt’s Anblick wie verwundert den Kopf hob. „Schon hier, Sir?“ fragte er, mit einem eigenthümlichen Seitenblick an sein Pult tretend.

Der Angeredete sah auf – es war das erste Mal, daß der alte Bell ein außergeschäftliches Gespräch mit ihm begonnen. „Ich denke, es ist nicht mehr früh, Sir,“ erwiderte er, „wenigstens habe ich schon ein Stück Arbeit unter den Händen weg!“

„Haben Sie?“ fragte der Alte mit einer sonderbaren Trockenheit, „in der Regel arbeitet es sich nicht gut, wenn man schlecht geschlafen hat!“

Reichardt blickte von Neuem auf. „Ich weiß nicht, Sir, ob Sie meinen Schlaf Ihrer Berücksichtigung würdigen,“ erwiderte er, als wisse er nicht recht, was aus den Worten des Cassirers zu machen, „ich darf Ihnen aber in diesem Falle sagen, daß er nie besser war, als in letzter Nacht!“

„Ah!“ zog der Alte, den Kopf langsam in den Nacken legend, „und so sind Sie auch jedenfalls recht sanft und weich gebettet gewesen? “

Durch Reichardt’s Gehirn schoß plötzlich ein Gedanke, welcher Licht in die sonderbaren Fragen des Alten brachte, zugleich aber ein helles Lächeln in dem Gesichte des Deutschen hervorrief. „Sie sind mit Ihren Vermuthungen wohl nicht ganz auf der rechten Fährte, Mr. Bell,“ sagte er, „es scheint mir fast, als wollten Sie auf einen Vorgang, welcher letzte Nacht im Astorhause stattfand, hindeuten –“

„Well, Sir, und wenn dem so wäre?“ erwiderte der Cassirer, während sein Auge, wie im Unmuth über den leichten Ton des jungen Mannes, einen strengen Ausdruck annahm.

„So habe ich eben nichts damit zu thun gehabt!“ versetzte Reichardt, ohne sein Lächeln unterdrücken zu können. „So viel ich weiß, hat der Ueberfall gegen ein Uhr stattgefunden; um elf Uhr aber hatte ich mit Mr. Frost das Haus bereits verlassen und lag kurz darauf schon weich und warm in meinem Bette –“

Der Cassirer schwieg einige Secunden, hielt aber das graue durchdringende Auge so fest auf Reichardt’s Gesicht geheftet, als wolle er in dessen Seele lesen. „Und dennoch scheinen Sie so genau zu wissen, was vorgegangen?“ versetzte er endlich.

Reichardt’s Lächeln verschwand und ein rasches Wort schien auf seine Lippen zu treten, das er aber, wie sich besinnend, zurück drängte. „Sie meinen sicher nicht damit, Mr. Bell, daß Sie einen Zweifel in meine Wahrheitsliebe setzen könnten?“ sagte er, fast wie bittend, und die Augen des Alten suchten vor seinem Blicke eine Secunde lang den Boden; „ich habe das erste Wort über die Angelegenheit erst heute Morgen erfahren.“

„Und Sie sagen, auch Mr. John Frost habe den Platz so früh verlassen?“ begann der Cassirer wieder, das Auge wie in unruhiger Spannung hebend.

„Wir haben miteinander die Straße betreten, Sir!“

Bell warf durch den halbgeöffneten Eingang einen Blick in das vordere Zimmer und schloß dann die Thür. „Haben Sie wohl irgend ein Bedenken, mir zu sagen, Sir, was den jungen Frost gerade gestern vermocht, seiner ganzen Gewohnheit zuwider so früh dort aufzubrechen?“ fragte er, sich langsam seinem Pulte wieder zuwendend; „es ist ein reiner Privatgrund, welcher mich zu der Frage veranlaßt.“

„Well, Mr. Bell, Sie bildeten selbst die Grundursache,“ erwiderte Reichardt und konnte sich eines neuen Lächelns nicht erwehren, als das Gesicht des Andern sich mit einem plötzlichen Ausdrucke von fragender Verwunderung nach ihm hob; „Sie sprachen gestern Abend zu mir über das Spiel im Astorhause; aber mehr noch als Ihre Worte blieben Ihre Blicke in meiner Erinnerung, mit denen Sie von jeder Hundertdollarsnote Abschied zu nehmen schienen; ich sah, daß John Unglück hatte, daß er in seiner Erregung vielleicht weiter gehen würde, als er es wohl mit kaltem Blute thäte, und überredete ihn, mit mir das Local zu verlassen –“

Der Cassirer nickte langsam, den ersten Blick forschend in des jungen Mannes Gesicht gerichtet, als wisse er noch immer nicht, wie weit er trauen dürfe.

„Und ich glaube, Sir,“ fuhr Reichardt fort, „daß nach Allem, was ich erfahren, der Vorfall in der letzten Nacht den besten Eindruck für alle Zukunft auf ihn hervorgebracht hat.“

„Vielleicht, Sir, vielleicht!“ erwiderte der Alte, nach einem langen Blicke in das offene, ehrliche Auge des Deutschen, „vielleicht hätte aber eine schärfere Lection noch besser ihre Wirkung gethan.“

Ein sonderbarer Gedanke schoß plötzlich durch Reichardt’s Kopf. „Das heißt, Sir,“ fragte er lachend, „es wäre besser gewesen, wenn John und ich diese Nacht auf der Polizei-Pritsche hätten zubringen müssen?“

„Von Ihnen sprach ich nicht, Sir – und die Sache hat sicher auch ihr Gutes, gerade so, wie sie geschehen ist – indessen läßt sich hier nur wenig darüber reden,“ erwiderte der Cassirer und hob das Ohr horchend; „nehmen Sie Ihr Mittagsbrod heute mit mir, Sir, und wir werden eine Stunde zu ungestörtem Austausch unserer Gedanken finden, die uns vielleicht Beiden gut thun wird.“

„Ich habe keinen Grund, Ihre freundliche Einladung auszuschlagen, Sir,“ sagte Reichardt etwas überrascht, wandte sich aber nach seiner Arbeit, als jetzt die Thür aufsprang und Augustus Frost langsam durch das Zimmer schritt, während John ihm rasch folgte und gleichzeitig mit ihm in das hintere Zimmer eintrat.

Der Cassirer, über seine Papiere gebeugt, schüttelte den Kopf. „Jetzt beichtet er ihm die ganze Geschichte und malt sie so komisch aus, bis der Alte nicht mehr ernst bleiben kann und ihn mit einem leichten Verweise entläßt,“ brummte er; „dann geht es auf dem alten Wege weiter, bis die Rücksicht vor dem Vater einmal nicht mehr besteht und das Geschäft sich jeden Abend am Rande des heimlichen Verderbens befindet. Es bedürfte einer scharfen Lection oder eines gewaltigen Einflusses, sollte ihn sein Weg einmal zum Bessern führen; aber aus alle diesen fashionablen Spielern ist noch selten mehr geworden, als fashionable Davonläufer und fashionable Selbstmörder.“ Er nickte brummend mit dem Kopfe und schien sich dann ganz in die Zahlreihen vor sich versenkt zu haben.

Reichardt saß noch eine geraume Weile, ehe er die Gedanken ganz seiner Arbeit wieder zuwenden konnte; es war ihm, als habe er durch Bell’s wenige Worte einen tieferen Blick in die Verhältnisse des Frost’schen Hauses gethan, als ihm dies auf anderem Wege möglich geworden; kaum vermochte er sich ein ansprechenderes Verhältniß zwischen Vater und Sohn zu denken, als der Cassirer es mit einem Zuge hingestellt hatte, und dessen weiter ausgesprochene Befürchtungen erschienen ihm, wie er John kannte, fast nur als die Ergebnisse eines halb verschrumpften griesgrämigen Herzens; hätte er es doch jetzt allein unternehmen mögen, den jungen Mann ganz vom Spieltisch wegzuhalten. Damit aber kam die Erinnerung an Bell’s Einladung, die er sich ohne eine bestimmle Absicht des Letzteren nicht denken konnte, bis er sich endlich aller fremden Gedanken mit Macht entschlug und seine Aufmerksamkeit den vor ihm liegenden Büchern zuwandte. Der Cassirer aber schien während seiner Arbeiten die Thür zu des Chefs Zimmer nicht aus dem Auge zu lassen; es war fast schon eine Stunde verflossen, seit Vater und Sohn bei einander waren, und mit jeder neuen Viertelstunde schien sich eine größere Befriedigung auf Bell’s Gesichte zu lagern.

„Hoffentlich schlägt einmal die Vernunft durch!“ sagte er soeben, als sich die Thür öffnete und John in seiner gewöhnlichen leichten Haltung aus seines Vaters Zimmer trat.

„Mr. Bell,“ sagte er mit einem eigenthümlichen Lächeln, „hier ist Mr. Reichardt, der mich gestern Abend vor einer ganz unangenehmen Klemme bewahrt hat, einer Klemme, die für ihn selbst die unangenehmsten Folgen hätte haben können, so unschuldig er auch dabei war. Ich habe gar nichts dawider, Sir, daß Sie auf mich keine Rücksicht nehmen, daß Ihnen selbst mein Name so wenig gilt, daß Sie ihn in die Berichte des Polizeigerichts aufgenommen zu sehen wünschen; aber Sie hätten Schonung gegen einen jungen Mann üben sollen, von dem Sie wußten, daß er nur in meinem Auftrage handelte, und dessen Zukunft Sie mit dem einzigen Streiche, welchen Sie ausführten, vernichten mußten. – Well, [451] Freund Reichardt,“ wandte er sich dann an den Deutschen, „ich denke, wir werden in eine ähnliche Gefahr nicht wieder gerathen; die Lehre, welche uns Mr. Bell zu geben gedachte, war sicherlich gut gemeint, wenn auch herber, als sich sonst mit der christlichen Liebe verträgt!“ Er nickte dem jungen Manne zu und verschwand in dem vorderen Zimmer. Bell blickte, den Kopf hoch aufgerichtet, blaß und starr vor sich hin; Reichardt aber sah plötzlich den Gedanken bestätigt, welcher ihm schon vorher gekommen, daß der Cassirer es gewesen sei, welcher die Aufhebung des Spielzimmers veranlaßt, und das Nachfolgende gab ihm die völlige Gewißheit.

„Ich weiß nicht,“ begann der Cassirer nach einer kurzen Pause steif, „wodurch der junge Mann zu einer Annahme, wie die ausgesprochene, berechtigt ist; es fällt mir aber auch gar nicht ein, eine That zu leugnen, die für jeden gewissenhaften Menschen in meiner Stellung zur Gewissenspflicht wird, sobald er den Verderb dessen, was ihm zum großen Theile anvertraut ist, vor Augen sieht. Ich habe beobachtet monatelang, ich bin selbst zum Oeftern in diesem Locale gewesen, in welchem die reichen jungen Leute zu künftigen Bankerotteurs vorbereitet und die ärmeren zu Betrügern an ihren Prinzipalen, zu Fälschern und Zuchthaus-Candidaten gemacht werden; ich habe dennoch nicht eher etwas thun mögen, bis ich sah, daß eine junge Seele, die mir nahe stand, von welcher sich so manches Gute erwarten ließ, in den allgemeinen Canal zum Verderben hineingezogen werden sollte – yes, Sir!“ fuhr er mit Selbstbewußtsein fort, „ich bin es gewesen, welcher der Polizei die Angaben über die Vorgänge im Astorhause gemacht und ein energisches Einschreiten gefordert hat; Sie haben sich selbst vor den Folgen bewahrt, und ich habe mich mehr darüber gefreut, Sir, als Sie selbst wissen können; aber auch im andern Falle würde ich dafür gesorgt haben, daß Sie von der Lection nicht weiter als nothwendig betroffen worden wären.“

Reichardt fühlte eine Art Mitleiden mit dem Manne, der plötzlich in die Lage versetzt war, sich gegen ihn rechtfertigen zu müssen; zugleich aber lehnte sich auch sein Stolz gegen diese heimliche Bevormundung, welche sich ihm plötzlich zeigte, auf. „Ich habe keine Verantwortung Ihrerseits gefordert, Mr. Bell, und Sie mögen in jeder Beziehung Ihrem Gewissen nach gehandelt haben,“ sagte er in einem Tone voller Bescheidenheit, „ich möchte nur, daß Sie daran gedacht hätten, wie wenig der Mensch das Schicksal eines andern Menschen in der Hand hat. Glauben Sie denn wirklich, ich hätte wieder einen Fuß auf meinen jetzigen Platz, der mir mit so viel Vertrauen übergeben worden, gesetzt, wenn ich in einer Weise compromittirt war, wie es hätte geschehen können? Glauben Sie mir, Mr. Bell, der Mensch soll nie Vorsehung spielen wollen.“

Ein eigenthümliches Mienenspiel begann jetzt in dem Gesicht des Amerikaners, bis seine Züge nach und nach fast den Charakter einer Art von Zerknirschung annahmen. „Sie haben Recht, junger Mann, Sie haben nur zu Recht, der Mensch überhebt sich nur zu leicht und er soll sich nicht schämen, es einzugestehen. Wir werden aber darüber noch mehr sprechen. Ich hoffe, Sir, Sie werden mir doch die Freude machen, das Mittagsbrod mit mir zu theilen.“

„Ich habe durchaus keinen Grund, warum ich es nicht sollte, Sir!“

„Danke Ihnen, Sir,“ war die Antwort, mit welcher sich der Cassirer sichtlich zufrieden seiner Arbeit wieder zuwandte.

Fast wortlos hatte am Mittage Bell den jungen Deutschen seiner Wohnung zugeführt, und der Letztere, welcher der sonderbaren Haltung seines Vorgesetzten gegenüber kaum wußte, welchen Ton er anschlagen solle, fühlte sich erleichtert, als er sich sogleich nach dem Speisezimmer an den wartenden Mittagstisch geführt sah.

„Ich bringe meinen jungen, aber würdigen Freund Reichardt, dem wir gestern Abend großes Unrecht gethan, als Gast mit,“ sagte der Cassirer zu der harrenden Lady, „und ich denke, er wird uns auch in der Zukunft dann und wann seine Gegenwart schenken!“ Reichardt verbeugte sich leicht, wenn ihm auch die ausgesprochene Hoffnung etwas wunderlich vorkam, und haschte nur im Fluge einen Blick der Wirthin, der bei Bell’s Worten wunderbar aufgeleuchtet war. Der Cassirer wies dem jungen Manne seinen Platz an, wie auch seine ganze übrige Weise viel mehr die des Hausherrn als die eines einfachen Kostgängers war, und nöthigte seinen Gast nach Beendigung des schweigsamen, nur von den nöthigsten Worten unterbrochenen Mahls, ihm nach dem Parlor zu einem Platze am Kaminfeuer zu folgen.

„Ich will von dem, was geschehen ist, nichts mehr erwähnen, Sir,“ begann Bell hier, sich langsam durch das dichte, grau gemischte Haar fahrend, während Reichardt gespannt des Kommenden harrte. „Hatte ich vielleicht auch nicht mit Bedacht genug gehandelt, so werden Sie doch vielleicht heraus gefühlt haben, daß mich eine Theilnahme für Sie dazu leitete, die sich leicht verstehen läßt, wenn auch Ihnen selbst die Gründe dafür noch nicht ganz klar sein mögen. Sie sind mit Liebe Kaufmann, sonst hätten Sie wohl Mr. Augustus Frost’s Interesse für Sie in anderer, augenblicklich gewinnbringenderer Weise benutzt – Sie haben sich nicht den übrigen jungen Leuten im Geschäfte und deren oft wenig empfehlenswerthen Vergnügungen angeschlossen, und ich habe Sie sogar schon zweimal in unserer Episkopal-Kirche gesehen – Sie haben sich Ihren Arbeiten mit allem Eifer und trotz Ihrer Leistungen mit einer Bescheidenheit unterzogen, die Leuten in meiner Stellung wohlthut – und was ich von Ihrem übrigen Leben weiß, hat mir ebenso gezeigt, daß Sie anders sind, als man es von unseren Clerks gewöhnlichen Schlags gewöhnt ist. Ich habe aber ebenso gut gewußt, Sir, daß man in Ihrem Alter, bei allen guten Anlagen, kein Engel ist, daß man meist erst in reiferen Jahren nach manchem Ringen und Kämpfen zu dem innern Halte gelangt, auf welchen der Mensch allein sich verlassen kann; ich wußte, daß die Verführung an Sie herantreten und vielleicht Alles zu Grunde richten würde, was bis jetzt meine Theilnahme für Sie geweckt, was Ihnen einen Weg für Ihre Zukunft eröffnen konnte, und sah mit Sorge, wie John Ihnen seine besondere Aufmerksamkeit schenkte. Es ist ein junger Mann mit vielen tüchtigen Eigenschaften; aber in seinen Verhältnissen, die kaum eine Mühe oder einen Kampf von ihm fordern, schießen die Giftpflanzen am üppigsten auf. Well, Sir, Sie sind nicht der ersten Verführung erlegen, wie ich fürchtete, aber nichts kann Ihnen eine Sicherheit für die Zukunft geben – Sie kennen die mannigfachen Verhältnisse nicht, in welche Sie ganz naturgemäß gerathen müssen, sobald Sie mit Ihrer jetzigen Stellung völlig vertraut sein und sich nach Abwechselung und Zerstreuung sehnen werden – und so, wenn Ihnen an einem ruhigen, ungehinderten Vorwärtskommen liegt, hören Sie einen Vorschlag, den ich Ihnen, ohne den gestrigen Vorfall, erst später gemacht haben würde – werden Sie Mitglied unserer Kirche, Sir! Der tüchtige Fond, welchen Sie in sich haben, wird dadurch den Halt bekommen, ohne den wir Menschen nun einmal nichts sind, als schwaches Rohr im Winde. Außerdem aber wird es mir nicht allein möglich werden, Sie mit der Zeit in einen ganzen Kreis respectabler Familien einzuführen und so Ihr Privatleben angenehm zu machen – Sie werden auch Ihrem ganzen geschäftlichen Fortkommen die beste Stütze geben. Einem jungen Manne, der neben geschäftlicher Tüchtigkeit im kirchlichen Kreise gut angeschrieben steht, kann es nie fehlen, und ich würde Ihnen schon heute die naheliegendsten Beweise dafür geben können, wenn Sie eine Weile zu den Unseren gehört hätten –“

Er hob die bis jetzt gesenkt gewesenen Augen und begegnete Reichardt’s ruhigem Blicke, der indessen einen Ausdruck zu enthalten schien, welcher ihn in seiner Rede innehalten ließ. „Sie wollten mir entgegnen, Sir?“ fragte er nach einer Pause zögernd.

„Wenn Sie zu Ende sind, möchte ich mir wohl zwei Worte erlauben,“ erwiderte der Deutsche und um seinen Mund spielte es wie ein Zug gutmüthiger Laune. „Ich danke Ihnen zuerst herzlich für Ihre gute Meinung von mir, obgleich Sie mir damit zu viel Ehre anthun, Sir!“ fuhr er fort. „Daß ich meine Arbeiten gethan und nach besten Kräften weiter thun werde, hat seinen einfachen Grund in meiner Neigung dafür und meinem handgreiflichen Vortheile – alles Uebrige aber haben die Verhältnisse so gefügt. Ich hätte recht gern mit einzelnen der Clerks eine freundliche Verbindung angeknüpft, wenn es sich hätte thun lassen, denn das Alleinstehen war mir nichts weniger als angenehm – im Uebrigen aber hält mich ein angeborener Widerwille von den gewöhnlichen Ausschweifungen junger Leute zurück. In der Kirche bin ich der vorzüglichen Orgel und des recht braven Gesanges halber gewesen – ich bin aber auch ein leidenschaftlicher Freund aller andern guten Musik, Mr. Bell, sei sie nun im Concert oder in der Oper, und wenn ich wohl schon deshalb schlimm zu einem Kirchenmitglied taugte, so muß ich Ihnen leider bekennen, daß mir auch in jeder andern Beziehung der innere Beruf dafür abgeht. – Ich erkenne alle die Vortheile, Sir, welche sich mir bieten könnten,“ fuhr er lebhafter fort, als der Cassirer eine leichte Bewegung, wie um ihn [452] zu unterbrechen, machte; „aber es kann doch nichts Traurigeres für einen jungen warmblütigen Menschen geben, als aus reiner Berechnung einen Weg einzuschlagen, zu dem ihn nicht eine einzige Regung in seinem Innern treibt, den Heuchler zu machen und den frischen Jugendmuth sich abkaufen zu lassen. So sehr ich begreife, Mr. Bell, wie Männer von älteren Jahren sich der kirchlichen Richtung zuneigen können, so sehr widern mich doch junge Leute mit frommen Gebehrden und stillen Gesichtern an. Da haben Sie Alles, wie es in mir lebt, Sir, und habe ich mich vielleicht zu freimüthig ausgesprochen, so betrachten Sie es zugleich als Bürgschaft, daß Sie mich stets so nehmen dürfen, wie ich mich gebe.“

Der Cassirer hatte dem letzten Theile der Rede mit immer steifer gehobenem Kopfe zugehört. „Sie sind ein Deutscher – ich hätte daran denken sollen,“ erwiderte er jetzt, während ein Zug von Geringschätzung um seinen Mund zuckte; „es wird unter den jungen Deutschen, Turner oder wie sie sonst heißen mögen, überhaupt nichts auf Religion gegeben.“

Reichardt’s Backen färbten sich höher. „Ich habe immer angenommen, Sir, daß Religion und Kirche zwei verschiedene Begriffe sind, und bin ziemlich überzeugt, daß jeder denkende Mensch seine Religion in sich trägt, mag er auch zu keiner Kirche gehören,“ erwiderte er, sichtlich eine leichte Erregung unterdrückend, „und meine Religion, Mr. Bell, wenn sie auch nicht bei jeder Handlung oben auf schwimmt, hat mich bis jetzt noch nicht betrogen. Ich verachte Ihre Kirche durchaus nicht, Sir, und habe mir meine Gedanken darüber bereits gebildet – bei der unbeschränkten Freiheit und Unabhängigkeit, zu welcher die amerikanische Jugend erzogen wird, mag sie als nothwendiger Zügel wie zur Veredelung der Sitte vollkommen an ihrem Platze sein. Wir Deutschen aber sind, wenn wir hier herüber kommen, schon so gezügelt, daß wir keiner neuen Schranke bedürfen, um die friedsamsten Menschen abzugeben – und wenn Sie meine Bescheidenheit lobten, Sir,“ schloß er lächelnd, „so mögen Sie sie ruhig ebenfalls nur auf Rechnung des deutschen Charakters schreiben.“

„Ich denke, Sir, im Augenblicke haben Sie sich durchaus nicht genirt!“ sagte Bell, die Mundwinkel in die Höhe ziehend. „Es thut mir leid, nicht das für Sie thun zu können, was ich gern möchte,“ fuhr er, sich langsam erhebend, fort, „indessen kann das auf unser jetziges Verhältniß natürlich keinen Einfluß üben.“ Er sah nach der Uhr und wandte sich dann mit einem kalten „ich glaube, es wird Zeit für die Office sein!“ nach seinem Hute. Der Deutsche folgte seinem Beispiele, und Beide nahmen in derselben Schweigsamkeit, welche sie herbegleitet, ihren Weg nach dem Geschäftshause wieder zurück.

Das stattgefundene Gespräch hatte wohl nach Bell’s Aeußerung keinen Einfluß auf das Verhältniß zwischen ihm und Reichardt üben sollen. Dennoch fühlte der Letztere schon an demselben Nachmittage, wie ein ganz anderer Geist in dem Cassenzimmer zu wehen begann. Der Cassirer hatte sich immer kalt und gemessen gegen ihn benommen, aber seine Worte waren meist von einer höflichen Freundlichkeit begleitet gewesen. Jetzt indessen schien sein Gesicht stets von Stein zu werden und ein Ladestock in seinem Halse zu stecken, sobald sich der junge Clerk an ihn zu wenden hatte. Seine zur Verständigung unumgänglich nothwendigen Worte aber hätten, um ihren Zweck zu erreichen, nicht um eine Sylbe kürzer sein dürfen, und wo sonst die Arbeiten des Deutschen unbesehen bei Seite gelegt worden waren, da hatte jetzt Bell überall kleine Ergänzungen und Verbesserungen vorzunehmen. Es waren sämmtlich Dinge, über die sich kaum etwas hätte sagen lassen, selbst wenn Reichardt seiner Empfindung darüber hätte Worte geben wollen, und so nahm er sich vor, nichts von dem veränderten Benehmen des Cassirers zu bemerken und ruhig seine Pflicht fort zu thun. Trotzdem aber und wenn er sich auch vordemonstrirte, daß der Alte eben nur Clerk wie er selbst sei, von dem sein Schicksal am wenigsten abhänge, konnte er sich doch eines stillen Drucks, wie die Ahnung eines bevorstehenden Unglücks, nicht erwehren, und erst als gegen Abend der alte Frost durch das Zimmer schritt, bei ihm stehen blieb und mit einem halben Lächeln sagte, er habe gehört, daß Reichardt zu dem morgenden Truthahn eingeladen sei, und es werde ihn freuen, den jungen Mann einmal in seinem Hause zu sehen, ward es wieder völlig hell in seinem Innern. Er warf einen Seitenblick nach dem Cassirer hinüber, der mit dicht zusammengezogenen Brauen in seinen Papieren kramte. Dann aber ließ er den bunten Bildern, wie sie bei dem Gedanken an Margaret und den bevorstehenden Festabend in ihm auftauchten, freien Lauf, und Bell schien jetzt am wenigsten in der Stimmung zu sein, ihn darin zu stören.

Eine volle Stunde hatte Reichardt am andern Abend fertig für die Gesellschaft in seiner Wohnung dagesessen, ehe es Zeit zum Gehen war. Er hatte auf das Sorgfältigste Toilette gemacht, und dennoch war er viel zu früh damit fertig geworden. Er hatte die Zeit damit verbracht, sich zu stählen gegen den Eindruck, den er sich jetzt schon überkommen fühlte, wenn er sich dem Mädchen gegenüberstehend dachte, das, seit sie ihm zuerst entgegen getreten, wie ein stilles, süßes Bild in seinem Herzen gelebt hatte, und das er jetzt in dem ganzen Nimbus von Reichthum und Stellung wiedersehen sollte. Er machte sich endlich mit dem festen Vorsatze zum Gehen fertig, sich mit allen Kräften zu beherrschen, um sich nach keiner Seite hin eine Blöße zu geben, oder auch nur ahnen zu lassen, was in seinem Innern vorgehe – stand ihm doch wie ein Gespenst die Lächerlichkeit vor der Seele: der jüngste Clerk nach der Tochter des Hauses schmachtend! Dennoch, als er den Weg nach Frost’s Hause zurückgelegt hatte und die Thürklingel zog, war es ihm, als gehe er der Entscheidung seines ganzen Schicksals entgegen.

Eine hohe, erleuchtete Halle empfing ihn, als sich der Eingang aufthat, von deren Ende ihm helles Mädchengelächter entgegentönte. Der öffnende Diener nahm ihm, kaum daß er seinen Namen genannt, seine Umhüllung ab und führte ihn dem Geräusch zu nach einer der hintern Thüren, die er vor dem Angekommenen aufriß.

„Halloh, da ist Reichardt!“ klang diesem die Stimme John’s entgegen, welcher in der Mitte des großen, reichen Zimmers stand und soeben in irgend einer lustigen Erzählung unterbrochen zu sein schien; „nur herein und ganz sans gêne, wir sind en famille. wie Sie wissen!“ und Reichardt fühlte unter der Zwanglosigkeit der Aufforderung seine Selbst-Controle, die ihn einen Augenblick beim Oeffnen der Thür fast hatte verlassen wollen, zurückkehren. Er sah, als er eintrat und einen raschen Blick um sich warf, eine kleine, aus jungen Damen und jungen Elegants gemischte Gesellschaft, deren Augen sich sämmtlich nach ihm gewandt hatten, zerstreut im Zimmer umhersitzen, während er neben dem Kaminfeuer die Figur des alten Frost erkannte. John ließ ihm indessen zu keiner längeren Betrachtung Zeit. „Ladies und Gentlemen,“ rief er des Deutschen Hand ergreifend, „mein sehr lieber Freund Reichardt, den ich Ihrem besonderen Wohlwollen empfehle – und nun hier,“ fuhr er, sich gegen den Vorgestellten wendend, fort, „meine Schwester Margaret, die Sie ja wohl schon kennen –“ Reichardt sah eine leichte Gestalt sich erheben und stand mit zwei Schritten vor ihr. Er wußte, daß er jetzt vor Allem sich zusammenzuraffen hatte, und doch, als er in dieses liebe, milde Gesicht blickte, das bei seinem Näherkommen wie in heller, lächelnder Befriedigung aufleuchtete, als er ihre kleine weiche Hand faßte, die sie ihm nach amerikanischer Sitte entgegenstreckte, meinte er dem Gefühle des Glücks, welches in ihm aufwallte, kaum gebieten zu können. Er hörte ihre Bewillkommnungsworte, die so herzlich klangen, als stände er mit ihr auf völlig gleicher Stufe, und unwillkürlich bog er sich nieder, um ihre Hand zu küssen. Aber mit einem leichten Lachen entzog sie ihm ihre Finger. „Das ist europäische Sitte, die wir nicht verstehen, Sir!“ rief sie, und als Reichardt aufblickte, sah er ein hohes Roth über ihre Wangen gegossen, während ihre Augen nur unsicher die seinigen auszuhalten schienen – er fühlte das Blut in sein eigenes Gesicht steigen, und nur eine kräftige innere Anstrengung, hervorgerufen durch ein Gefühl von Gefahr, in welcher er schwebte, befreite ihn zum Theil von der ihn überkommenden Befangenheit. „Es ist der Ausdruck hoher Achtung gegen eine Dame,“ sagte er, sich leicht verbeugend, „und so mag ich nicht um Entschuldigung bitten, Miß Frost, selbst wenn ich angestoßen hätte!“ Er bemerkte noch, wie das frühere klare Lächeln auf ihr Gesicht zurückkehrte, dann sah er sich vor die übrigen Ladies geführt, er hörte Namen, um sie im nächsten Augenblicke wieder zu vergessen, und erst als ihm der alte Frost mit seinem wohlwollenden Lächeln die Hand drückte, erlangte er seine völlige Sicherheit wieder.

[478] Mit einiger Verwunderung sah Reichardt jetzt William Johnson’s Gesicht unter den jungen Männern, deren Namen ihm genannt wurden, aber kaum verrieth eine leise Gezwungenheit, mit welcher dieser ihm die Hand bot, das eigenthümliche Verhältniß, in welchem Beide zu einander standen, und als der Deutsche Platz genommen, begann jener mit einer Sicherheit das Gespräch aufzunehmen, welche dem Ersteren schnell zeigte, daß Frost’s Haus ein gewohnter Boden für den jungen Handelsherrn sein müsse. Schweigend begann Reichardt, während die unterbrochene Unterhaltung wieder in vollen Fluß kam, eine genauere Musterung der Gesellschaft, aber erst nach längerer Zeit wagte er es, sein Auge über Margaret streifen zu lassen – er begegnete ihrem Blicke, der, von einem eigenthümlichen Lächeln begleitet, auf ihm ruhte, sich aber, sobald sich ihre Augen getroffen, leicht wegwandte, und der junge Mann fühlte auf’s Neue, wie sehr er sich selbst unter Controle zu halten habe, wolle er nicht eine Neigung zu einer unbesieglichen Macht in sich wachsen lassen, die ihn wohl unglücklich machen, aber ihn nie zu einem Heile führen konnte.

„Aber in Anbetracht besagten Truthahns, der noch eine Weile auf sich warten lassen wird, möchte ich eine kleine Appetitreizung vorschlagen,“ begann jetzt John, sich erhebend. „Wenn,“ fuhr er sich nach einer der Ladies wendend fort, welche die einzige schon ziemlich verblühte Rose unter den übrigen kaum aufgebrochenen Knospen bildete, „wenn Miß Henderson uns die Quadrille spielte, die sie nur allein in dieser Art zu spielen versteht, so tanzen wir zuerst ein paar Touren durch!“

„Ich unterstütze den Antrag!“ – „und ich vereinige meine Bitten an Miß Henderson!“ klang es von Seiten der jungen Männer; das weibliche Personal aber hatte sich im Fluge um die Genannte lachend und zuredend versammelt, und sichtlich geschmeichelt erhob sich diese, um sich nach dem Piano im Hintergrunde des Zimmers zu wenden. Reichardt wußte jetzt, was dieser Persönlichkeit, die ihrem Alter nach zu keinem der übrigen Gäste paßte, eine Einladung in den Familiencirkel verschafft hatte; sein Blick flog über die sich erhebenden tanzlustigen Gruppen, die nur den ersten Ton zu erwarten schienen, um das Quarree zu bilden; er traf von Neuem auf Margaret, und ein Ausdruck von Aufforderung blickte ihm aus ihrem Gesichte entgegen, der alle seine Nerven in Erregung setzte; mit Macht drängte es ihn, sich den Platz an ihrer Seite zu sichern, im nächsten Augenblicke aber stand auch schon sein Entschluß, jeder Versuchung möglichst aus dem Wege zu gehen, wieder vor ihm – noch schwankte er in hartem innerm Kampfe, da rauschten die Accorde der Einleitungstakte auf, die jungen Männer flogen den Damen entgegen, Johnson schien der bevorrechtete Bewerber um Margaret zu sein, denn keiner der Uebrigen machte auch nur einen Versuch, ihm ihre Hand streitig zu machen; fast meinte aber Reichardt, als sie ihrem Tänzer die Hand bot, einen bedauernden Blick von ihr aufzufangen.

„Sie tanzen nicht, Sir?“ rief ihm John zu, very well, so thu’ ich es!“ und damit eilte er der einzigen noch übrigen Dame zu – der Deutsche bemerkte jetzt erst, daß die Zahl der Anwesenden, wenn der junge Frost und die Pianospielerin abgerechnet wurden, genau zu einem Quarree ausreichte, und daß er sich also jedenfalls später einer der jungen Ladies werde anzuschließen haben. Aber waren sie denn neben Margaret nicht sämmtlich ohne alles Interesse für ihn, von der verblühten Pianospielerin bis zur jüngsten herab? Die erstere hätte noch am meisten seine Theilnahme wecken können, er fühlte etwas Verwandtes zwischen ihrem Schicksale und seinem frühern, und wenn er sich ihrer annahm, mußte er sich gewiß alle die übrigen jungen Leute verbinden. Er nickte sich selbst Beifall für seinen Entschluß zu und hob freier den Kopf. Ihm gegenüber schien eben Johnson seinen vollen Humor in der Unterhaltung mit seiner Tänzerin sprudeln zu lassen, und das beifällige Lachen, welches sich auf deren Gesicht zeigte, wollte dem Deutschen fast wehe thun; er wartete, ob sie den Blick nicht noch einmal nach ihm wenden werde; aber die Quadrille begann, lustig und nur der Tanzlust hingegeben rauschten die Paare durcheinander, und Reichardt fühlte mitten in der fröhlichen Umgebung plötzlich ein Gefühl von Alleinstehen über sich kommen, wie es ihm nur in den trübsten Zeiten seiner vergangenen Fahrten geworden war.

Am liebsten hätte der Deutsche dem lustigen Gewühle gar nicht mehr zugesehen und sich in eine Fenstervertiefung zurückgezogen, um mit sich allein zu sein. So wenig wirklichen Grund er auch für die Verstimmung, welche ihn überkommen, hätte angeben können, so meinte er dennoch ihre volle Berechtigung zu fühlen, meinte es noch nie so empfunden zu haben, wie fern er dem ihn umgebenden Gesellschaftskreise stand – aber der gute Ton verlangte jetzt ein Verdecken seiner inneren Regungen; er mußte lächelnd das Auge auf den Tanzenden ruhen lassen, mußte sehen, wie Johnson seine Unterhaltung mit Margaret völlig in der leichten, sichern Weise eines bevorzugten Bekannten führte, wie seine Worte in gleicher Weise von dem in Heiterkeit strahlenden Mädchen erwidert zu werden schienen, und unwillkürlich kam ihm der Gedanke, daß Beide doch durch Stellung und Verhältnisse ein wie für einander geschaffenes Paar abgäben. Damit aber glaubte er auch plötzlich in Bezug auf Johnson’s Beziehung zu der Familie klar zu sehen, und die zwanglose Weise von dessen Auftreten war ihm erklärt; damit verstand er auch die eigenthümliche Inkonsequenz in dem bisherigen Benehmen des jungen Frost dem Andern gegenüber; Johnson als Mensch mochte Jenem nicht ganz behagen, aber gegen den künftigen Schwager mußten Rücksichten genommen werden – Reichardt mochte nichts mehr von dem Paare sehen; seine Augen blickten starr unter die Uebrigen, während doch keiner seiner Gedanken bei dem war, was sich ihm bot, und erst als am Ende der Quadrille das Quarree sich auflöste, raffte er sich wieder zum Bewußtsein der Gegenwart auf.

„Aber, by George, Reichardt, ich denke, Sie werden nicht den ganzen Abend so steif dasitzen bleiben!“ trat John lachend an ihn heran.

„Sicher nicht,“ erwiderte der Angeredete, sich erhebend, „aber ich bin unter den Uebrigen fast noch ganz fremd, und die Fühlhörner wollen erst ausgestreckt sein. Sagen Sie,“ fuhr er halblaut fort, seinen Arm vertraulich unter den des Andern schiebend und einem fast peinlichen Drange in ihm folgend, „steht nicht Mr. Johnson ihrer Familie näher, als ich bis jetzt gewußt?“

Der junge Frost sah den Frager groß an, warf dann einen Blick hinüber, wo Johnson in eifrigem Gespräche vor Margaret und einer ihrer Freundinnen stand, und wandte dann das Auge mit einem eigenthümlichen Ausdruck von Laune nach Reichardt zurück. „Ich weiß von nichts Besonderem,“ sagte er, „indessen will ich nachfragen, wenn Ihnen etwas daran liegt –“

Reichardt griff fast erschrocken nach des Andern Arm; da sah er plötzlich, wie sich Margaret mit ihrer Nachbarin erhoben hatte und in gerader Linie auf ihn loskam – er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Gesichte wich. „Nicht wahr, Mr. Reichardt,“ sagte sie herankommend, und dem Angeredeten war es bei dem süßen Tone, der ihm entgegenklang, als fülle sich sein Herz zum Zerspringen, „Sie lassen uns eine deutsche Composition auf dem Piano hören? der Genuß wird uns so selten, und wir müssen die Gelegenheit wahrnehmen!“

Reichardt verbeugte sich schweigend, er wußte, daß er kein Wort hätte sprechen dürfen, ohne seine Bewegung zu verrathen; schon in der nächsten Secunde aber hatte er wieder die volle Macht über sich gewonnen. „Sie haben nur zu befehlen, Miß!“ sagte er langsam aufblickend und traf auf ein Auge, das wie in fragender Befremdung auf ihm ruhte. Er hielt den Blick aus, es war ihm wie eine Art Wollust, alle überquellenden Empfindungen zurückzudrängen und nur die halbe Bitterkeit, welche sich in ihm gebildet, blicken zu lassen – es war eine Selbstqual, er wußte es, aber er fand Festigkeit darin und mit einer leichten Neigung des Kopfes wandte er sich dem Piano zu.

Monate war es her, daß er keine Taste unter den Händen gehabt, und er griff in die Claviatur des prachtvollen Instruments, als wolle er mit einem Male Alles, was ihm das Herz belastete, von sich werfen. Bei seinen ersten Accorden schon waren die Gespräche verstummt, und einzelne der Anwesenden hatten in seiner [479] Nähe Platz genommen; aber bald dachte Reichardt kaum mehr an die Gesellschaft. Wie der Zuspruch einer befreundeten Seele, der er sich voll hingeben durfte, waren ihm seine eigenen Töne entgegen geklungen; er goß sein Herz mit dem ganzen Grollen, dem er nicht einmal einen Namen zu geben wußte, aus und fühlte, wie nach jedem Griffe sich seine Brust freier und befriedigter hob; weicher und milder wurden seine Gänge, es war ihm, als habe er in der Fremde wieder den Weg nach seiner rechten Heimath gefunden, und fast willenlos begann er als Thema des geordneten Spiels. „Zieh’n die lieben, goldnen Sterne auf am Himmelsrand.“ So fremd das Lied an die Ohren seiner Umgebung schlagen mochte, so allein stand auch er jetzt mit seinem Empfinden in den selbstgewählten Verhältnissen – und sie, die ihm Ersatz für eine ganze Welt hätte geben können, stand so weit über ihm, hatte sicherlich ihre Herzensbefriedigung schon in dem eigenen Kreise gefunden und ahnte nichts von dem, was in dem Innern des armen Teufels, den ihre Vermittelung erst von Hausknechtsarbeit erlöst, vorging, und wahrlich! sie sollte es auch niemals ahnen – mit einer kräftigen Dissonanz unterbrach er sein Spiel und senkte wie in Selbstvergessenheit den Kopf. dann aber, als bringe ihn die lautlose Stille um ihn her zur klaren Besinnung zurück, ließ er eine wilde Cadenz über die Tasten laufen und schloß in furiosem Tempo den „Yankee-Doodle“ daran. Selbsthohn, Aerger über die Weichheit, in welche er gerathen, regierten seine Finger, aber er half sich dadurch am leichtesten aus seiner bisherigen Stimmung und mit einer sonderbaren Selbstgenugthuung begann er immer carrikirter, immer trivialer die Melodie herunter zu trommeln.

No, Sir, no! das ist abscheulich!“ rief eine Stimme neben ihm, „Sie stürzen die Menschen kopfüber aus ihren schönsten Träumen!“ Reichardt brach mitten im Stücke ab und erhob sich rasch, und ein mehrstimmiges Gelächter um ihn her schien den vermeinten Spaß, den er eben vollführt, gebührend belohnen zu wollen. Neben sich sah er die Pianospielerin stehen, die mit einer Art liebenswürdigen Schmollens zu ihm aufblickte; als er aber das Auge unter die lachenden Gesichter der Uebrigen warf, sah er Margaret’s Züge, ernst und bleich, mit einem Ausdrucke von Sorge sich nach ihm heben, eine Secunde lang blieb ihr Blick forschend in dem seinen hängen, dann wandte sie sich ab und machte dem alten Frost Platz, welcher die Gruppe durchbrach und auf Reichardt zuschritt. „Haben Sie uns das alte Vaterland im Vergleiche zu dem neuen zeigen wollen?“ sagte er gutgelaunt, „fast war es mir so bei dem Kontraste, welchen Sie hinstellten.“

„Ich weiß wirklich selbst kaum, was ich gespielt habe, Sir,“ erwiderte der junge Mann in einer leichten Befangenheit, „ich wollte nur aus der Schwärmerei und den Dissonanzen, zu denen sie geführt, wieder in’s praktische Leben zurück.“

„Geschwankt haben Sie wenigstens nicht dabei,“ lächelte Frost; „Beides ließe sich aber vielleicht auf diesem Felde versöhnen, wenn Sie dann und wann mit John Abends heran kämen; es hängt mir selbst immer noch etwas von der deutschen Musikliebe an.“

„Sie wissen, Mr. Frost, daß Sie ganz über mich zu verfügen haben,“ erwiderte Reichardt sich verbeugend, während das Blut in seine Wangen stieg, um dann langsam einer tiefen Blässe Raum zu geben. Frost hatte sich mit einem freundlichen Kopfnicken weggewandt, und die Pianospielerin sprach zu dem Deutschen; dieser aber ward ihrer in dem Drange widerstreitender Empfindungen, welche Frost’s Einladung in ihm wach gerufen, kaum gewahr, und erst als jene sich mit einer directen Frage, deren Endworte er glücklicher Weise auffing, sich nach ihm wandte, wurde er sich seiner Zerstreutheit bewußt. So, das sah er, durfte er sich nicht ferner gehen lassen, wenn er nicht auffallen wollte, und alle Gedanken zusammennehmend, wandte er sich dem Gespräche mit seiner verblühten Nachbarin, die soeben über deutsche Musik schwärmte, zu, bis endlich der junge Frost herantrat und ihn mit einer Entschuldigung gegen seine Gesellschafterin bei Seite zog. „Lassen Sie mir den Wermuthstropfen für heute Abend, ich bin schon darauf vorbereitet,“ sagte der letztere, „unser Truthahn ist bereit, nur da Sie sich wahrscheinlich noch keine Nachbarin engagirt, so kommen Sie zu meiner Schwester!“

Nur einen Moment zuckte es wie Widerstreben in dem Deutschen; in dem nächsten aber wußte er, daß es hier keinen Ausweg gab, daß ihm der härteste Kampf nicht erspart werden sollte, und daß er diesen zu bestehen habe nach besten Kräften. In möglichst freier Haltung folgte er dem Freunde quer durch das Zimmer nach einer lachenden Gruppe und stand in der nächsten Minute vor Margaret, aus deren Zügen bei seinem Anblick plötzlich der lachende Ausdruck schwand. „Reichardt möchte Dich zu Tische geleiten, Schwester, und es ist gut, wenn wir rechtzeitig Paare bilden!“ sagte John kurz und wandte sich wieder davon; des Mädchens Blick aber ruhte still und ernst auf Reichardt’s Gesicht, bis dieser ihr den Arm bot und sie in langsamer Promenade durch das Zimmer führte. Er hatte ihr forschendes Auge gesehen, und jedes leichte Wort, mit dem er hätte eine Unterhaltung einleiten können, schien damit wie aus seinem Gedächtnisse gestrichen zu sein; er fühlte ihren Arm leicht wie eine Feder auf dem seinigen ruhen, und eine Empfindung, wie er sie nie vorher gekannt, rieselte durch seine Nerven; er wußte, wie albern er erscheinen mußte, ohne Laut an ihrer Seite zu gehen, während sich um sie her lachend und scherzend die übrigen Paare formirten und selbst der alte Frost mit einer launigen Rede sich bei der Pianospielerin als John’s Stellvertreter einführte, so lange dieser abwesend sei – und doch schien ihm sein Gehirn jeden leidlichen Gedanken zur Anknüpfung einer Unterhaltung verweigern zu wollen. Da hörte er plötzlich seine Begleiterin halblaut in deutscher Sprache beginnen: „Ich hatte mich gefreut, Mr. Reichardt, Sie bei uns zu sehen; Harriet Burton hat mir so Mancherlei von Ihnen geschrieben, daß Sie immer fast wie ein längst Bekannter vor mir standen –!“ Wie in halber Zögerung waren die Worte gesprochen; dennoch klang etwas so Ermuthigendes darin zu Reichardt’s Seele und der deutsche Laut schlug so verwandt an sein Ohr, daß es ihm wurde, als löse sich eine beengende Fessel vor ihm; unwillkürlich mußte er den Blick nach der Redenden wenden und begegnete einem Auge, das wie in scheuer Prüfung zu ihm aufsah.

„Sie sind so unendlich freundlich gegen mich, Miß Frost, daß ich kaum weiß, wie ich Ihnen danken soll!“ erwiderte er in einem Tone, der seinen Worten jeden Charakter von Phrase nahm, und wie in leichter Verwunderung blickte sie von Neuem auf.

„Was thue ich denn Besonderes?“ fragte sie, „aber Sie sind anders, Mr. Reichardt, als ich Sie nach unserm ersten Zusammentreffen in Saratoga mir vorstellte; selbst wohl, als ich Sie durch Harriet habe kennen lernen, und ich hatte mich wirklich auf den heutigen Abend gefreut –“ sie hielt plötzlich inne, als habe sie zu viel gesprochen, und ein leichtes Roth trat in ihr Gesicht; Reichardt aber hätte den feinen Arm, der auf dem seinen lag, fest an sich drücken mögen; es erschien ihm wie eine wahre Seligkeit, der er nicht zu widerstehen vermochte, allen Zwang, den er sich angethan, von sich zu werfen, sich dem vollen Zauber, der auf ihn einwirkte, hinzugeben und dann kommen zu lassen, was da kommen möge. „O, wissen Sie nicht, Miß Margaret,“ erwiderte er, und es war ihm als springe ein ganzer Strom von Lust in ihm auf, „wie wenig der Mensch und seine Stimmungen von ihm selbst abhängen, wie zehnerlei böse Geister, als da sind Rücksicht und Convenienz, Unterschied in Stellung und Lebenslage, und wie sie sonst noch heißen mögen, ihm die glücklichsten Stunden verbittern können? So lange der Mensch nichts zu verlieren hat, kümmert er sich kaum darum und faßt keck hin, wo er ein Glück zu sehen vermeint; kaum daß er aber etwas erobert hat, muß er auch fühlen, welcher Unterschied ihn von Glücklicheren trennt, und muß den bösen Geistern ihren Zoll zahlen. Nicht wahr, Sie meinen, jetzt schwatze ich vielen Unsinn? aber lassen Sie es, Miß Frost, Sie sollen mich heute ganz so haben, wie Sie mich vielleicht erwartet haben mögen!“

Sie war mit sichtlicher Aufmerksamkeit seinen Worten gefolgt. „Aber was haben denn Ihre bösen Geister mit unserem heutigen Abende zu thun?“ fragte sie, das große Auge wie in neuem Forschen auf sein Gesicht heftend, „sind wir denn, wie wir hier beisammen sind, nicht völlig außerhalb ihrer Kreise?“

„Meinen Sie, Miß?“ erwiderte er, und es wurde ihm, als müsse sich jetzt sein Herz weit öffnen und Alles, was es zum Uebermaße gefüllt, in ihr Ohr ausströmen. „Dort geht Ihr bisheriger Tänzer und Gesellschafter,“ fuhr er fort und strebte vergebens, seine Stimme frei von seiner innern Bewegung zu halten; „was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen das zuflüstern wollte, was ihm wohl seine Stellung erlaubt; wenn ich kein anderes Dictat kennte, als die Regungen in mir, denen ich gleichberechtigt mit jedem Andern folgen dürfe – wäre es nicht halber Wahnsinn, Miß Margaret? Und doch wäre das, was in mir lebte, vielleicht tiefer und wahrer, als Ihre Salonmenschen jemals fühlen können, [480] doch bräche mit ihm, da es getödtet und begraben werden müßte, vielleicht der Jugendmuth und die beste Kraft in mir zusammen – meinen Sie nicht, daß die bösen Geister auch hier thätig sein können? Aber lassen Sie nur, Miß,“ fuhr er lebhafter fort, als ein leises Zucken ihres Armes ihn wie ein elektrischer Funke berührte, „Sie werden niemals von ihnen berührt werden, und ich hätte ja nicht einmal ein Wort davon gesprochen, wenn es nicht willenlos Ihrer Aufforderung gefolgt wäre!“

Schweigend gingen Beide weiter, bis er den Blick nach ihr zu wenden wagte. Sie hatte den Kopf halb gesenkt, und er sah nur einen Theil ihres feinen, bleichen Gesichts. „Aber Sie sind mir nicht böse, Miß Frost?“ fragte er zögernd.

Sie sah langsam, einen eigenthümlichen Ernst in ihren Zügen, auf. „Warum soll ich Ihnen böse sein?“ fragte sie halblaut; ihr Auge aber schien tiefer und dunkler zu werden, ein leises[WS 2] Beben machte sich darin bemerkbar, als sie sprach; doch wie zurückgescheucht von dem Ausdrucke in Reichardt’s Blicke, suchte es wieder den Boden.

„Der Truthahn wartet, Ladies und Gentlemen, und Sie erlauben mir, mich als Festmarschall an Ihre Spitze zu stellen!“ wurde in diesem Augenblicke John’s Stimme laut, „vorwärts, Reichardt, mir gleich nach, damit keine längere Zögerung entsteht!“ und lachend formirte sich hinter dem ersten Paare der Zug.

[494] Eine glänzende Tafel empfing in dem gegenüberliegenden Zimmer die Eintretenden. Formlos und unter lauter Scherzreden erfolgte das Niedersitzen; als aber Reichardt von dem ihm zugefallenen Platze aufsah, traf sein Auge auf Johnson, der, sein Gegenüber bildend, mit zusammengezogenen Brauen des Deutschen ganze Erscheinung zu mustern schien, sich aber dann dem ihm vorgesetzten Teller zuwandte. Bald klang ringsumher nichts als das Klappern der Messer und Gabeln, und Reichardt dankte im Augenblick dem amerikanischen Gebrauche, schweigsam die Haupttheile einer Mahlzeit einzunehmen; er erhielt wenigstens Zeit, sich zu sammeln. Margaret saß an seiner Seite, nicht von ihrem Teller aufblickend; dachte er aber daran, mit ihr ein Gespräch von leichter Färbung beginnen zu müssen, so marterte er sich wieder vergebens ab, einen Anknüpfungspunkt dafür zu finden. Alles, was die Uebrigen vereinte, geselliges Leben und Tagesgeschichte, war noch eine fast unbekannte Welt für ihn, und den einzigen Vereinigungspunkt, den sie auch wohl nur berührt hatte, um mit ihm auf gleich bekanntem Boden zu stehen, Harriet Burton, mochte er ihr gegenüber am wenigsten zum Gegenstande eines Gesprächs machen.

„Haben die Ladies schon von der merkwürdigen Fête gehört, mit welcher Dr. Hostell’s neues Haus eingeweiht werden soll?“ begann Johnson, seinen Teller zurückschiebend und unter die als Dessert aufgestellten Mandeln und Rosinen greifend.

Dr. Hostell, der Patentmedicin-Mann?“ lachte eine Stimme.

„Derselbe,“ fuhr der Sprecher fort, „er wird mit einem noch nicht dagewesenen Glanze Bresche in unsere aristokratischen Kreise schießen und sich den Eintritt in die gute Gesellschaft erzwingen; es wird so viel Erstaunliches von dem, was die Partie bieten soll, berichtet, daß die Neugierde schon unsere Ladies nicht ruhen lassen wird.“

Margaret hob den Kopf, als sei ihr die Gelegenheit willkommen, ihre bisherige Stellung aufzugeben, und ein Schein von Lächeln ging über ihr Gesicht.

„Bill macht Unsinn!“ rief John’s Stimme vom untern Ende der Tafel herauf, „Hostell hat Geld gemacht, bleibt aber immer der Patentmedicin-Mann und nichts weiter.“

„Warum, Sir?“ rief Johnson, „wir leben in einem Lande, in dem nichts unmöglich ist. Heute ist Einer Porter und hat morgen in der besten Gesellschaft Zutritt, heute schlägt Hostell seine letzte Sassaparilla-Kiste zu und empfängt morgen, vom Geschäfte zurückgezogen, die Leute aus der fünften Avenue!“

Ein einziger Blick des Sprechenden hatte Reichardt bei Erwähnung des „Porters“ gestreift, aber diesem das ganze Blut zum Herzen getrieben. „Und so wohl auch umgekehrt,“ begann er plötzlich, „junge Leute in guter Stellung voll Porter-Rohheit, fashionabler Dünkel mit der wunderlichsten Hohlheit gepaart – es sind allerdings die eigenthümlichsten Gegensätze, die besonders dem Fremden hier im Lande entgegentreten!“ Eine augenblickliche Stille folgte den Worten des Deutschen; es war, als ahne Jeder die verdeckte Bedeutung derselben, bis sich unter den einzelnen Paaren ein allgemeines Gespräch zu entwickeln begann. „Glauben Sie nun an die bösen Geister?“ wandte sich Reichardt halblaut an seine Nachbarin.

Sie schlug langsam das große Auge zu ihm auf. „Warum kümmern Sie sich so viel darum und bauen nicht auf den guten Geist in Ihnen selbst?“ fragte sie; aber es war ein Blick so still und ernst, der ihn traf, daß ihm plötzlich die Erwiderung, welche er sich hatte entreißen lassen, als das Thörichtste seines ganzen Lebens erscheinen wollte.

Für ein wirkliches Glück sah Reichardt es an, daß schon nach Kurzem der Wunsch nach einer Fortsetzung des Tanzes laut wurde; er hatte kaum mehr aufsehen mögen; als sich aber die Gesellschaft endlich erhoben hatte und die Mädchen, wie von einem Zwange erlöst, lachend nach dem andern Zimmer flatterten, zog er den jungen Frost bei Seite. „Ich fühle mich so unwohl, Sir,“ sagte er, „daß ich am besten thun werde, nach Hause zu gehen; wäre ich in gewöhnlicher Stimmung, so hätte ich auch nicht den faux pas in Bezug auf Johnson begangen; und ich weiß, Sie thun es mir zu Liebe, meine Entschuldigung gegen Mister und Miß Frost so zu übernehmen, daß kein falsches Licht auf mich fällt!“

John sah den jungen Mann einige Secunden schweigend an, während er dessen Seele ergründen zu wollen schien. „Sie sind der sonderbarste Mensch, Reichardt, der mir noch vor Augen gekommen,“ erwiderte er dann; „Johnson ist ein Esel, und ich hätte ihn vielleicht noch derber abgeputzt, als Sie es gethan – seinethalber gehen Sie aber doch sicherlich nicht –“

„Ich bin krank, Sir, nichts Anderes,“ unterbrach ihn der Deutsche, „und wenn Sie freundlich gegen mich sein wollen, so glauben Sie mir ohne weitere Worte und lassen mich ganz unbemerkt davon schlüpfen.“

Der Andere blickte mit neuem Forschen in die Augen des Sprechenden. „Es steckt Ihnen irgend etwas quer im Kopfe, Sir; das ist es!“ sagte er, „und ich wollte, Sie sprächen dreist heraus, was es ist. Aber,“ fuhr er fort, als Reichardt eine fast ängstliche Bewegung zur Entgegnung machte, „ich will Sie nicht zum Bleiben zwingen, so sehr mir auch Ihr Entschluß in mehrfacher Beziehung leid thut. Kommen Sie, wenn Sie durchaus nicht anders wollen!“

„Aber ich übergebe mich Ihrer Freundschaft, John, daß ich durch keine Mißdeutung lächerlich werde!“

„Werde Alles besorgen, Sir, wenn ich auch nichts weiter weiß, als daß der Teufel aus Ihnen klug werden mag!“

Beide waren nach einer Art Garderobe am Ende der Vorhalle gegangen, Reichardt hüllte sich in seinen Ueberrock und hatte in den nächsten Minuten unbemerkt das Haus verlassen. Er athmete freier auf, als er die kalte Luft der Straße fühlte, und verfolgte raschen Schritts, ohne einem Gedanken Macht über sich zu gestatten, den Weg nach seinem Boardinghause. Erst als er dort in seinem Zimmer Licht angezündet hatte, blieb er in der Mitte des kalten Raumes stehen und sah starr vor sich nieder. „Es ist recht so,“ sagte er nach einer Pause halblaut, „was habe ich mit diesen reichen, fashionablen Menschen zu thun, unter denen ich doch, nur immer der arme Clerk bleibe? Soll ich mir das Herz in Stücke brechen, wenn es fühlt und verlangt, wie Andere? Aber warum bin ich gegangen? habe ich doch vorausgewußt, was kommen mußte,“ fuhr er fort, den Kopf hebend und die Faust gegen die Stirn drückend, „habe mich selbst wahnwitzig in den Strudel gestürzt –!“ Er machte einen raschen Gang durch das Zimmer und blieb dann von Neuem stehen. „O Margaret!“ rief er plötzlich wie im Ausbruche des bittersten Wehes und schlug beide Hände vor das Gesicht, auf den nächststehenden Stuhl sinkend.

Es war manche lange Stunde verflossen, ehe er das Bett suchte und die innere Ermattung ihm die Augen schloß, und als ihn am Morgen die Frühstücksglocke weckte, war es ihm, als sei jedes Glied an ihm halb zerschlagen.

Fast eine Stunde mochte er bereits seinen Arbeitsplatz in der Office eingenommen haben, und er begann sich soeben zu wundern, daß sich der pünktliche Cassirer noch nicht eingestellt hatte, als John aus dem vordern Raume in’s Cassenzimmer trat und die Thür hinter sich zuzog. „Nun, die Krankheit vorüber?“ rief er launig, an den arbeitenden Deutschen herantretend, warf aber den Kopf zurück, als er in das Gesicht des Aufblickenden sah. „By George, Sie sehen schlecht aus, Mann,“ sagte er, „was ist denn los mit Ihnen? ich denke doch nicht, daß Sie im Geschäft Streiche wie gestern Abend machen werden?“

„Hat keine Gefahr, Sir,“ erwiderte Reichardt mit einem halben Lächeln. „Ich bin völlig wieder wohl, und denke mich auch so zu halten!“

„Well, Sir, das ist gut – aber wegen gestern Abend,“ versetzte der Andere, noch immer das bleiche Gesicht des Deutschen betrachtend, „es hat mir etwas Mühe gekostet, die Gesellschaft über Ihr Davonlaufen zu beruhigen; die Mädchen schienen sich sämmtlich für Sie interessirt zu haben, und die alte Miß Henderson war ganz unglücklich!“ Reichardt fühlte seine Brust enger werden; er glaubte jeden nächsten Augenblick hören zu müssen, wie sich Margaret geäußert, und kaum wußte er, sollte er es wünschen oder [495] fürchten, – John aber brach mit einem: „Doch die Hauptsache, weshalb ich kam!“ ab und zog die Stirn in Geschäftsfalten. „Mr. Bell wird für zwei oder drei Tage abwesend sein,“ fuhr er fort, „ob er krank ist, ob er Hochzeit mit seiner Wirthin machen will, oder was sonst los ist, weiß ich nicht. Vater hat seine Zustimmung gegeben, und es fragt sich jetzt nur, ob Sie glauben, während der Zeit allein fertig werden zu können.“

Reichardt sah überrascht auf, und seine Backen singen an, sich wieder leicht zu röthen. „Ich denke, in voller Kenntniß über das Nothwendige zu sein,“ erwiderte er, „wenn mir so viel Vertrauen geschenkt werden soll –“

„Und so weiter!“ unterbrach ihn John; „um das Vertrauen handelt es sich jetzt nicht, das haben Sie, ohne Umstände gesprochen, vom ersten Tage an in noch größerem Maße besessen, als ich selbst vielleicht, wenn ich auch heute noch nicht weiß, wo der Haken steckt. Die Frage drehte sich um die Fähigkeit und die Arbeit. Sie erklären sich der Stellvertretung für gewachsen, also übergebe ich Ihnen in aller Feierlichkeit die Cassenschlüssel. Vater empfiehlt Ihnen nur noch an, Bell’s Bücher unberührt zu lassen und nichts als ein Memorandum bis zu dessen Rückkehr zu führen, und so ist mein Geschäft abgethan, Sir!“

Reichardt hatte mit einem Gefühle, das sein ganzes Innere hob und allen Schmerz der letzten Nacht in den Hintergrund drängte, die beiden Schlüssel ergriffen und verließ sein Pult. „Ich hoffe, das in mich gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen, Sir,“ sagte er, „und ich bitte Sie nur um die Freundlichkeit, hier zu bleiben, bis ich den Cassenbestand mit dem letzten Tagesabschluß verglichen habe.“

Nach einer Stunde saß Reichardt wieder allein und blickte wie in tiefen Gedanken über seine Bücher weg. „Ich werde sein Vertrauen rechtfertigen, weiß ich auch nicht, woher es kommt,“ sagte er leise vor sich hin, „ich werde es rechtfertigen, selbst da, wo es am bittersten und schwersten ist. Das ist der gute Geist, der die bösen von mir halten soll!“


Drei Wochen nach dem soeben Erzählten waren vergangen, Wochen, von denen Reichardt meinte, daß sie ihn fünf Jahre älter gemacht, und doch hatten sie kaum etwas von besonderer Bedeutung gebracht. Bell hatte nach seiner Rückkunft mit deutlich ausgedrücktem Befremden Reichardt’s bisherige selbstständige Verwaltung seines Amtes bemerkt, hatte eine lange Prüfung des von diesem geführten Memorandums vorgenommen und dem alten Frost, als dieser beim Durchgehen des Zimmers lächelnd gefragt, ob Alles in Ordnung sei, kopfschüttelnd erwidert, er sehe bis jetzt noch nichts Unrechtes, indessen lasse sich das nicht im Augenblicke beurtheilen, und er liebe es nicht, Unverantwortliche mit Geschäften voller Verantwortlichkeit zu betrauen, worauf Jener mit einem leichten Kopfnicken bemerkt, daß alles Geschehene unter seiner eigenen Verantwortlichkeit erfolgt sei, was wohl genügen werde. Dem Cassirer schien es indessen nicht zu genügen, wenigstens sah Reichardt sein Memorandum, ohne in die Bücher übertragen zu werden, zur Seite gelegt, aber bei jedem darauf Bezug habenden Falle wie im regen Mißtrauen von Neuem geprüft, sah Bell’s eigenthümliche Schroffheit und Kälte gegen sich nur im Zunehmen, und ein Gefühl von Bitterkeit hatte sich in dem jungen Manne festzusetzen begonnen, das ihm alle frische Arbeitslust zu nehmen drohte.

Reichardt war am Ende der Woche nach langem, unangenehmem Rathpflegen mit sich selbst eben zu dem Entschlusse gelangt, sich um keine Miene des Cassirers mehr zu kümmern, und wenn auch ohne Freude, so doch ohne steten Aerger seiner Pflicht nachzuleben, als sich ihm John beim Verlassen der Office anschloß. „Meine Schwester möchte Sie sehen, Reichardt,“ sagte er, „sie hat Sie schon im Verlauf der Woche einmal erwartet, ich habe Sie aber entschuldigt und ihr eine so herzzerreißende Schilderung von Ihrem leidenden Aussehen gemacht, daß sie seitdem Ihrer mit keinem Worte mehr erwähnt hat – kommen Sie aber doch einmal Abends!“

Reichardt hatte nur zwei kurze Blicke in das Gesicht des Sprechenden geworfen; als er sich aber jetzt von diesem trennte, mußte er sich die eigenthümliche Miene wieder vor das Auge stellen, mit welcher Jener zu ihm getreten war. Ahnte er etwas von dem, was in Reichardt’s Innern vorging, und ließ im Stillen seinen Humor spielen? Es war ein unangenehmer Abend, welchen der Deutsche verbrachte. Er konnte Margaret’s Bild, von allem Reize umkleidet, wie er sie sich im Hause waltend dachte, nicht aus der Seele bringen. Daneben aber stand John, wie der lebendige Mephisto, ihr Reichardt’s „leidendes Aussehen“ schildernd und sich über den Aerger des Mädchens oder auch wohl ihre wegwerfenden Worte belustigend. Und doch stieg auch dazwischen wieder das große, seltsam forschende Auge, mit welchem sie ihn betrachtet, vor ihm auf, daß er sich hätte hinein versenken und alles Uebrige vergessen mögen.

Die zweite Woche hatte ihren Anfang gleich der vergangenen genommen, nur daß Reichardt sich bestrebte, die möglichste Gleichgültigkeit dem Wesen des Cassirers entgegenzusetzen und diesen nur in Fällen, wo es sich nicht umgehen ließ, als überhaupt anwesend zu betrachten, und er fühlte schon nach den ersten zwei Wochen, daß sein Verfahren nicht ohne Wirkung blieb. Bell schien bei der angenommenen zwanglosen Weise, mit welcher der junge Mann sich von seinem Platze erhob und das Zimmer durchschritt, die Papiere auf des Cassirers Pult niederlegte oder wortlos beim Schluß der Arbeitszeit die Office verließ, sich unbehaglich zu fühlen. Er griff oft rasch Reichardt’s vollendete Arbeit auf und richtete, als wolle er nur eben etwas sagen, verschiedene Fragen darüber an den Deutschen, die von diesem nur leicht und kurz beantwortet wurden. Es kam schließlich zu Erklärungen und scharfen Worten, die zwar die Schranken der Höflichkeit nicht überschritten, das gegenseitige Verhältniß aber in scharfe Grenzen zogen.

Von diesem Augenblicke an schien sich Keiner der Beiden mehr um den Andern zu bekümmern. Reichardt’s bereits gesammelte Erfahrung ermöglichte es ihm, seine Arbeit ohne ein Wort der Frage zu verrichten, und Bell schien von des Andern Thätigkeit nur Notiz zu nehmen, wenn dessen Arbeiten auf seinem Pulte lagen.

An demselben Tage aber schien John den Deutschen erwartet zu haben, als dieser die Office verließ. „Well, Sir,“ sagte er leicht, „Sie sind der Einladung meiner Schwester nicht gefolgt – geht mich auch nichts an, und Sie mögen das mit ihr abmachen. Vater äußerte aber gestern Abend, daß er Sie gern einmal wieder spielen hörte, und wunderte sich über Ihr Ausbleiben.“

„Ich werde kommen, Sir, wenn es gewünscht wird,“ erwiderte Reichardt, „sagen Sie mir nur den Abend.“

Der junge Frost blieb, wie von dem Tone des Sprechenden betroffen, plötzlich stehen und sah diesem in’s Gesicht. „Jetzt, Reichardt,“ sagte er, des Andern Arm fassend, „kommen Sie mir einmal nicht weg, bis ich weiß, was mit Ihnen los ist. Hat Sie etwas in unserm Hause gebissen, daß Sie dort krank wurden und nicht wieder hin mögen?“

„Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß ich nur die Angabe der Zeit erwarte?“ erwiderte Reichardt, während das Blut leicht in sein Gesicht stieg.

„Zeit! man kommt zu irgend einer Zeit, wo man gern hingeht, Sir!“ gab John mit einem halben Kopfschütteln zurück. „Ich will Ihnen nichts entlocken, was Sie für sich behalten wollen, aber Sie sind mir seit dem Danksagungstage eine ganz fremde Persönlichkeit geworden.“

„Lassen Sie nur, Sir, und bestimmen Sie mir einen Tag!“

„Gut, so kommen Sie heute und Sie treffen uns sämmtlich zu Hause.“

Reichardt schlug einige Stunden später, fast ohne Erregung, den Weg nach Frost’s Hause ein. Er war sich jetzt seiner Gefühle völlig bewußt, aber sie lagen bewältigt tief im Allerheiligen seines Herzens, und wenn er auch wußte, daß er einem fortgesetzten leichten Verkehr in Margaret’s Gesellschaft nicht gewachsen war, so glaubte er doch für die Dauer eines Abends eine volle Herrschaft über sich bewahren zu können.

Er traf nur den alten Frost in dem Zimmer, in welches er gewiesen ward. Dieser aber hieß ihn mit sichtlicher Befriedigung sich niederlassen, sprach erst über allgemeines New-Yorker Leben und äußerte sein Befremden, als er von Reichardt’s Zurückgezogenheit hörte. Als aber John geräuschvoll mit der Nachricht von dem bevorstehenden Fallissement eines Handelshauses eintrat, spann sich das Gespräch auf das geschäftliche Feld hinüber, und ehe Reichardt, der sich bei dem zwanglosen Tone fast heimisch zu fühlen begann, nur wußte, wie er dazu gekommen, sah er sich schon mitten in einer warmen Erörterung über europäische und amerikanische Geschäftsehre, kritisirte er New-Yorker Speculation im Vergleiche mit deutscher Solidität, und mit einem leisen Lächeln folgte der alte Geschäftsherr seinen Darlegungen.

[496] Das Gespräch ward durch Margaret’s Eintritt unterbrochen, welche rasch auf den Gast zutrat. Dieser hatte sich erhoben, hatte nur einen einzigen Blick in ihre Augen, die wie in einer stummen Frage auf ihm ruhten, geworfen und dann die ihm entgegengestreckte Hand an seinen Mund gezogen, ohne diesmal Widerstand zu finden; er wurde sich dessen aber erst später bewußt, denn mit des Mädchens Herantritt war ein Wiederschein der ganzen Befangenheit, wie sie sich während des letzten Zusammenseins mit ihr seiner bemächtigt, über ihn gekommen, und jeder Versuch, die Herrschaft über sich zu gewinnen, schuf nur einen Zwang in seiner äußerlichen Kundgebung, dessen er sich völlig bewußt war, ohne ihn von sich streifen zu können. Er folgte der Aufforderung zum Pianospiel; er spielte aus seiner Erinnerung, verwebte diese mit seinen eigenen Gedanken und gab Allem, was in ihm lebte, Ausdruck; aber es konnte nicht immer gespielt sein, und als er sich erhob, überhörte er fast des alten Frost anerkennende Worte vor Margaret’s wunderbar tiefem Blicke, der an ihm hing, aber zu Boden floh, als er sein Auge traf. Und eine sonderbare Unterhaltung war es, welche jetzt folgte. John hatte sich in einen Lehnstuhl geworfen, schien zu beobachten und ließ nur hie und da ein Witzwort hören; Reichardt hatte eine Bemerkung des alten Frost aufgegriffen und bestrebte sich etwas zu sagen, ohne doch zu einem freien Gedanken gelangen zu können, und der alte Gentleman unterbrach ihn, um seiner Ansicht selbst den rechten Ausdruck zu geben; Margaret lauschte den gesprochenen Worten, bald aber stockten diese gänzlich, und John meinte endlich, es werde dieser Unterhaltung nicht viel schaden, wenn sich Reichardt noch einmal an das Piano setze, eine Aufforderung, welcher der junge Mann mit erleichtertem Herzen nachkam. Als er sich aber zuletzt wieder erhob, hielt er es für das Beste, nicht noch einmal den Versuch zu einem allgemeinen Gespräche abzuwarten und sich bei Zeiten zu verabschieden. Der alte Frost bedauerte, daß er schon so früh aufbreche, drückte ihm aber mit einer Herzlichkeit die Hand, welche dem Deutschen bis tief in die Seele wohlthat. John meinte, Reichardt sei der wunderlichste Heinrich, der ihm noch vorgekommen. Margaret erhob sich leicht, als er sich gegen sie verbeugte, ohne indessen das Auge vom Boden zu heben, und als Reichardt die Straße erreicht und sich zum Heimweg wandte, fühlte er eine Anwandelung sich selbst zu ohrfeigen. „Was können sie über mich denken, als mich für einen gesellschaftlichen Simpel zu halten?“ brummte er vor sich hin, „und wie mag sie urtheilen?“ klang es in ihm, er sprach es aber nicht aus, und erst nach einer geraumen Weile begann er wieder einen Halt in sich zu fühlen. „Mögen sie es doch,“ brummte er auf’s Neue, „so bin ich wenigstens vor ferneren Einladungen sicher, kann jedem neuen Kampfe aus dem Wege gehen und erhalte Ruhe –“ aber es war dennoch ein tiefer, halbunterdrückter Seufzer, welcher dieser Selbsttröstung folgte.

Von diesem Zeitpunkte an schien jeder lichte Punkt aus dem Einerlei seines täglichen Arbeitens und Lebens gewichen zu sein. Sein Verhältniß zu dem Cassirer blieb genau dasselbe, nur daß dieser ihm mit jedem Tage mehr Arbeiten zuschob und selbst oft mehrere Stunden die Office verließ. Der Deutsche fand dann beim Aufsehen stets einen Zettel auf dem Rande seines Pultes: „Mr. Reichardt wird mich bis zu meiner Rückkunft vertreten,“ und sah den Schlüssel zur Casse im Schlosse. Oft glaubte er aber, wenn er in das Gesicht des rückkehrenden Cassirers blickte, fast mehr Hohn als Vertrauen in der übergebenen Verantwortlichkeit zu finden, besonders da Bell meist Stunden zu seinen Ausgängen wählte, in denen er erfahrungsmäßig am wenigsten vermißt werden konnte. John aber schien den jungen Deutschen kaum mehr zu bemerken, und wenn sich ja einmal Beider Augen trafen, begegnete der letztere einem Blicke, den er sich nur in ein stillbedauerndes Kopfschütteln zu übersetzen vermochte.

[497]

No. 32.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Die dritte Woche war zu Ende gegangen, und Reichardt fühlte in einzelnen Stunden eine so trostlose Leere in sich, während es ihm doch zu andern Zeiten ward, als möge er sich hinsetzen und sein übervolles Herz einmal recht gründlich ausweinen, daß er am liebsten seine Stellung ganz verlassen und sich ein anderes Schicksal gesucht hätte, wenn er nur gleich gewußt, wohin. Es war am Freitag Abend, als er sich plötzlich des Kupferschmieds entsann, den er so lange nicht gesehen hatte, und auch, kaum daß er ein kurzes Abendbrod eingenommen, den Weg nach dessen Wohnung einschlug; aber keine Ahnung über die eigenthümliche Wendung seines Schicksals, welcher er damit entgegenging, stieg in ihm auf; er dachte an nichts, als sich nur einmal das Herz frei zu sprechen.

Meißner „der Kupferschmied“ empfing den Freund mit einem herzhaften Halloh, als er diesen in das allgemeine Gastzimmer seines Boardinghauses treten sah. „Haben Sie wirklich den Weg noch gefunden?“ fragte er, während er den Angekommenen nach einer entfernten Ecke führte; „ich hätte beinahe einmal den kühnen Gedanken ausgeführt, Sie in Ihrer Wohnung heimzusuchen, wenn man nur immer wüßte, zu welcher Zeit man solchen feinen Herren am wenigsten ungelegen kommt.“

„Höhnen Sie nur, ich hab’s diesmal verdient!“ gab Reichardt zurück, während er sich bequem an einem der Tische niederließ. „Wenn Sie sonst nichts vorhaben, Meißner, so bleiben wir hier, ich denke, wir sind hier ungestörter als irgendwo anders!“

„All right, Sir!“ erwiderte der Kupferschmied, seinen Stuhl näher heranziehend und einen aufmerksamen Blick in das Gesicht des Anderen werfend, „wenn Sie etwas vom Herzen herunterzuthun haben, so sitzen wir hier wenigstens unbehorcht. Zuerst aber,“ fuhr er fort, dem herbeikommenden Aufwärter die vollen Biergläser abnehmend, „trinken Sie jetzt herzhaft, damit Leib und Seele in die rechte Stimmung kommen, und dann packen Sie aus, gründlich und frischweg.“

„Muß ich denn stets etwas auf dem Herzen haben, wenn ich zu Ihnen komme?“ fragte Reichardt lächelnd, „oder habe ich etwas Derartiges angedeutet?“

„Brauchen auch nichts anzudeuten,“ erwiderte Meißner, „ich darf nur Ihr Gesicht ansehen und weiß dann immer so ziemlich, was los ist; heute aber gefallen Sie mir weniger als je – und deshalb sage ich, trinken Sie!“ Er stieß sein Glas gegen das des Andern, und als dieser endlich seiner Aufforderung gefolgt, setzte er sich bequem zum aufmerksamen Hören zurecht. Reichardt mußte über die Bestimmtheit lächeln, mit welcher jener seinen Mittheilungen entgegen sah, indessen that es ihm wohl, ohne weitere Einleitung über das, was ihn bedrückte, sprechen zu können, und nach kurzer Zögerung, als suche er nach einem Anfange, sagte er: Ich glaube nicht, Meißner, daß ich noch lange in meiner jetzigen Stellung werde aushalten können; da haben Sie gleich Alles, was mir auf der Seele liegt!“ Er hielt inne und warf einen Blick in des Kupferschmieds Gesicht; dieser aber verzog keine Miene; nur seine sich vergrößernden Augen zeigten die Spannung an, mit welcher er das Folgende erwartete, und Reichardt, den Kopf in die Hand gestützt, begann zu erzählen, was in seinen äußeren Verhältnissen ihm die letzten Wochen gebracht. Er sprach zuerst von der herzlichen Freundlichkeit der beiden Frosts und dem eigenthümlichen Vertrauen, das ihm geworden war; er erzählte, wie sehr er in einzelnen Momenten sich dadurch gehoben und glücklich gefühlt – eine warme Anhänglichkeit an Vater wie Sohn klang aus jedem seiner Worte – mit einem halben Seufzer aber, als verweile er zu lange bei diesen Bildern, brach er ab und begann die Schilderung des Cassirers und seiner Erlebnisse mit diesem, erzählte von den anfänglichen stillen Kämpfen, dem herbeigeführten Bruche, und wie endlich die gegenseitigen Beziehungen, das ganze Leben und Arbeiten in der Office zur völligen Unerträglichkeit geworden. Es war eine Art Selbstgenugthuung, die sich Reichardt durch das in seiner ganzen Schroffheit und Kälte hingestellte Bild des Cassirers schuf, es erleichterte ihn, das einmal in Worte fassen zu können, was er nur immer still mit sich hatte herumtragen müssen; daneben aber war es ihm, als habe er sich selbst zu beweisen, daß Bell und dessen Verfahren ganz allein hinreichend seien, um ihm das Verbleiben in dem Geschäfte zur Unmöglichkeit zu machen – und dieses Letztere glaubte er auch dem Kupferschmiede beim Schlusse völlig klar gemacht zu haben. Er fühlte sich leichter und freier, als er gegen ein befreundetes Herz einmal heruntergesprochen hatte, was, nach und nach angesammelt, wie ein Alp auf ihm gelastet.

Was sonst noch im Hintergründe seiner Seele lag, schmerzend und schwer, das sollte ein verhülltes Heiligthun bleiben, und er hatte sich das Wort gegeben, es nicht einmal gegen sich selbst mehr zu berühren.

Der Kupferschmied war mit sichtlichem Interesse Reichardt’s Erzählung gefolgt, als dieser aber jetzt schwieg und ihn, wie eine Aeußerung erwartend, anblickte, legte sich ein Zug von leichtem Spott um seinen Mund. „Und ich soll wirklich glauben, Professor,“ sagte er nach einer kurzen Pause, „daß es Ihr steifbeiniger Cassirer ist, dem Sie das Feld räumen und dem Sie so Ihre [498] besten Hoffnungen opfern? No, Sir!“ fuhr er kopfschüttelnd fort, während ein leises Roth in Reichardt’s Gesicht stieg. „Sie sind nicht der Mann, der sich von so einem Steine aus seiner Straße sprengen ließe – ich habe Sie in schwierigeren Verhältnissen gesehen, Mann, und kenne Sie! – Und so soll ich wohl auch glauben,“ fuhr er, scharf in des Andern Gesicht blickend, fort, „daß Sie nur wegen des Cassirers Ihre Farbe verloren haben, während Ihre Verhältnisse doch sonst die angenehmsten sein könnten, daß Sie wie in stillem Harme beinahe schon eine ganz spitze Nase bekommen, nur weil Sie dem Ladestock in Ihrer Office den Gefallen thun müssen, sich über ihn zu ärgern? No, Sir!, das dürfen Sie dem Meißner nicht sagen –“

„Aber Sie haben doch gehört, daß es eben diese Verhältnisse sind, die mich so peinigen!“ unterbrach ihn Reichardt, ohne einen Anflug von Verlegenheit ganz unterdrücken zu können.

„Ich kann mir ja wohl denken,“ fuhr der Andere fort, ohne auf den Einwurf zu achten, „daß Sie nicht jetzt schon eine Zukunft aufgeben würden, die vor kurzem noch ein lebendiges Paradies für Sie war, wenn nicht eine ganz bestimmte gewichtige Ursache dafür vorhanden wäre – ich werde Ihnen aber natürlich nicht abfragen, was Sie verschweigen wollen – immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt – und so sagen Sie mir nur wenigstens, ob Sie schon andere Aussichten haben, oder was Sie sonst zu thun gedenken.“

„Sie gehen zu rasch, Meißner, so weit bin ich noch lange nicht,“ versetzte Reichardt, in das Glas vor sich sehend, als wolle er des Andern Blick vermeiden, „weiß ich doch noch nicht einmal, wie ich meine Stelle aufkündigen soll, ohne wie ein Narr oder ein Undankbarer zu erscheinen.“

„Das mögen wirklich Viele für die richtigen Bezeichnungen halten,“ erwiderte der Kupferschmied trocken, „ich sehe aber, wie kalt Sie die Dinge betrachten, und es wird sich freilich wenig gegen die Unmöglichkeit, in Ihren jetzigen Verhältnissen zu bleiben, sagen lassen.“

„Es ist so, Meißner!“ sagte der junge Mann, mit voller Bestimmtheit dem Blicke des Fragers begegnend, „ich habe mich gegen Sie ausgesprochen, so weit es möglich war, und so lassen Sie das abgethan sein.“

„Gut! aber Ihr ferneres Unterkommen ist damit nicht abgethan,“ warf der Andere, sich jetzt ereifernd, ein, „und danach haben Sie zu sehen, ehe Sie zur Kündigung gehen. Mr. Frost, denke ich, wird wenig Lust haben, Ihrer Ausdauer ein großes Zeugniß auszustellen; der Geschmack zum Porterspielen wird Ihnen jetzt wohl auch vergangen sein; Bekanntschaften haben Sie schwerlich schon genug, um etwas Anderes ergreifen zu können – “

„Ich weiß Alles, was Sie sagen wollen,“ unterbrach Reichardt den Sprechenden und ließ den Kopf schwer in die Hand sinken, „ich habe mir den größten Theil davon schon selbst gesagt, und doch werde ich mich dem Glück oder Unglück überlassen müssen -“

„Gut, so sind wir damit fertig – ein anderes Bild!“ rief der Kupferschmied, mit einer eigenthümlichen Mischung von Aerger und Humor. „Das gnädige Fräulein vom Schiffe ist wieder hier, wenn Sie es noch nicht wissen – sie scheint aber jetzt im Ernste eine gnädige Frau geworden zu sein.“

„Wer – Mathilde?“ fragte Reichardt überrascht aufsehend. Der Andere nickte. „Ich begegnete ihr gestern Mittag am Broadway, wie sie in Sammt und Seide einen alten Gentleman mit sich schleifte. Ich hätte gern gesehen, was sie bei meinem Anblicke für ein Gesicht ziehen würde, aber sie bogen in’s Prescott-Haus ein, eben als ich mich bemerkbar machen wollte.“

Reichardt sah, wie von einem Gedanken berührt, in des Erzählers Augen. „Und Sie sind sicher, daß Sie sich nicht getäuscht haben?“ fragte er.

„Ich denke, wenn man fast eine Viertelstunde braucht, um sich zu überzeugen, ist man ziemlich sicher!“

Reichardt schien noch immer seinen früheren Gedanken zu verfolgen. „Ziehen Sie Ihren andern Rock an, Meißner,“ sagte er endlich, „wir machen ihr einen Besuch!“

„Ich?“ rief der Kupferschmied sich wie entsetzt von seinem Stuhle erhebend, „soll mich der Himmel bewahren! In meiner Bekanntschaft mit ihr steht nichts von einem Vergiß mein nicht; sie hat mir auf dem Schiffe meine Gedanken über ihre Verhältnisse vom Gesicht ablesen können.“

„Aber ich versichere Sie, daß sie gegen mich mit der größten Freundlichkeit von Ihnen gesprochen hat!“

„Das ist ihre Sache, ich mag aber solche Frauenzimmer nicht, die auf Spekulation nach Amerika gehen und sich da lieber einen reichen Graubart einfangen, als zu leben und zu arbeiten wie die andere Jugend –“

„Meißner!“

„Nun ja, das ist ein Punkt, in dem wir noch niemals übereingestimmt haben, also lassen wir die Sache, und Sie gehen allein. Werden wenigstens gleich hören können, was aus dem Menschen geworden ist, den Sie damals in St. Louis – – Sie wissen ja! – Dummes Zeug!“ unterbrach sich der Redende, als Reichardt’s Gesicht sich in der plötzlich wachgerufenen Erinnerung verfärbte, „wir hätten längst irgend eine Andeutung, wenn nicht Alles in Ordnung wäre! – aber noch eins,“ fuhr er fort, als sich der Andere erhoben hatte, und faßte dessen Hand, „ich habe eine Art Ahnung, was Sie so schnell zu der Gnädigen treibt – thun Sie keinen raschen Schritt, der Sie aus Ihrer jetzigen Stellung bringen könnte, Reichardt! Ich weiß nicht, welche Mücken Ihnen im Kopfe stecken; aber wenn Sie mit dem alten Herrn wie mit dem jungen so stehen, wie Sie sagten, so kann es doch gar nichts geben, was sich nicht ausgleichen ließe – denken Sie daran, wie schwer das erlangt wird, was sich so leicht aufgeben läßt!“

Reichardt drückte mit warmer Empfindung die ihm gebotene Hand. „Sie sind ein lieber, treuer Freund, Meißner, und Sie wissen, wie ich es anerkenne,“ sagte er, „wenn ich Ihnen aber auch Alles zeigen wollte, was in mir lebt, so würden Sie meine Gefühlsweise doch eben so wenig verstehen, als ich oft die Ihrige; glauben Sie mir, was ich thun werde, muß ich thun, um meiner selbst willen!“

„So gehen Sie denn Ihren Weg – ’s ist schon richtig, daß wir nicht Einer wie der Andere sind; der Herrgott wird ja aber wohl Kostgänger von meiner Sorte auch nothwendig haben!“ erwiderte der Kupferschmied, und man wußte nicht, war es Aerger oder Weichheit, was in seinem Tone klang. „Wenn Sie aber einmal wieder Ihren Vortheil „Ihrer Gefühlsweise“ halber weggestoßen haben, und Sie wissen nicht mehr wie sich zu helfen, so denken Sie wieder daran, wo der Kupferschmied zu Hause ist!“

Er nickte kräftig mit dem Kopfe, stürzte den Rest seines Bieres hinab und geleitete dann schweigend den Andern nach dem Ausgange des Zimmers.

Reichardt wanderte schnellen Schritts durch die Straßen. Noch war er sich nicht völlig klar, welchen Zweck er bei dem rasch unternommenen Besuche verfolgte; die Verhältnisse, welche er antraf, sollten ihn erst zurechtweisen – er wußte aber, daß dem neuen, trostlosen Bilde seiner Zukunft gegenüber, wie es Meißner vor ihm aufgerollt, die Nachricht von Mathilde’s Anwesenheit ihn wie eine neue Hoffnung, wie ein Ausgangspunkt seiner jetzigen Kämpfe berührt hatte; er wußte, daß er auf dem Wege war, möglicherweise Alles von sich zu werfen, was ihn bisher gequält, und damit auch alles Glück seines Herzens, alle Befriedigung durch seine jetzige Stellung; aber dies Glück war schmerzlicher für ihn geworden, als jede äußerliche Plage, und alle geschäftliche Befriedigung wollte er gern opfern, wenn er nur fortkommen konnte aus diesem Wirrsale mit sich selbst, das ihn aufzureiben drohte.

Er hatte kaum einen raschen Blick in das Fremdenbuch des „Prescott-Hauses“ gethan, als ihm auch schon die Einzeichnung: „Fonfride and Lady“ entgegenblickte; ohne langes Besinnen sandte er seine Karte nach dem angemerkten Zimmer, und die rückfolgende Einladung brachte ihn schnell vor die ihm bezeichnete Thür. Von innen klang ihm eine leicht hingeworfene Cadenz entgegen, die aber alle seine Nerven in Erregung setzte, und mit leise bebendem Finger klopfte er.

Es war Mathilde, und doch war sie es auch nicht, welche dem Eintretenden lächelnd entgegenkam. Trotz ihrer augenscheinlichen Ungezwungenheit lag etwas in ihrer Haltung, in der Art ihrer Bewegung, selbst in ihrem Blicke, was an die „große Dame“ erinnerte und ihre ganze Erscheinung in einer Weise verändert hatte, wie es Reichardt in den wenigen Monaten seit ihrer Trennung kaum für möglich gehalten. Als er ihre Hand ergriff, die sich nur mit einem leichten, flüchtigen Drucke um die seine schloß, mußte er unwillkürlich an das Wiedersehen zwischen ihnen auf der [499] Bühne in St. Louis denken, und als ob sie die Gedanken in seinem Auge lese, stieg ein leichtes Roth in ihren lächelnden Zügen auf, und mit einem wärmeren Drucke schlossen sich ihre Finger auf’s Neue um die seinen.

„Da ist er, Fonfride,“ wandte sie sich an den Mann zurück, der sich bei Reichardt’s Eintreten langsam aus einem Lehnstuhle erhoben hatte und dem jungen Deutschen, trotz des leichten Grau in seinem dunkeln Haare, mit seinen lebendigen Augen und frischen Zügen um fünf Jahre jünger erscheinen wollte, als er ihn zuletzt gesehen, „da ist er, der uns beinahe in einen Criminalproceß verwickelt hätte –“

„Sein Sie völlig ruhig, Monsieur – ich freue mich, Sie wieder zu sehen,“ rief der Angeredete lachend, dem Deutschen die Hand entgegenstreckend, „ich weiß, daß Sie nur die Ehre Ihrer damaligen Schwester, meiner jetzigen Frau, vertreten haben; der Stevens, der fou, glaubte, noch als Sie schon weg waren, einen grand coup auszuführen, wenn er mir Ihr Geschwister-Verhältniß mittheilte. Zu seinem Glücke ist er mit einem Stiche in’s Fleisch davon gekommen – gut war es aber immer, daß Sie sich allen difficultés entzogen – doch nehmen Sie Platz!“

„Bei alledem ist er ein ungetreuer Mensch,“ begann Mathilde wieder, als sich Reichardt mit fühlbarer Erleichterung, trotzdem er während seiner letzten Erlebnisse wenig an sein Abenteuer in St. Louis gedacht, niedergelassen hatte; „seine klangreiche Geliebte hat er aller Gefahr preisgegeben, während er seinen prosaischen Koffer sorgsam gerettet hat!“

Ein Blitz des Verständnisses ging durch die Seele des jungen Mannes. „Sie haben von meiner Geige etwas gehört?“ fragte er erregt; trotz seiner augenblicklichen Bewegung aber fühlte er seine Unsicherheit in der Weise, der jetzigen Mistreß Fonfride zu begegnen, und sein „Sie“ war mit einem Blicke auf beide Anwesende begleitet. Fast schien aber Mathilde eine ähnliche Schwierigkeit in Gegenwart ihres Mannes zu fühlen; nur mit einem Lächeln, welches dem jungen Manne die ganze frühere Zeit seines Zusammenlebens mit ihr zurückrief, nickte sie ihm zu und erhob sich, um in dem anstoßenden Zimmer zu verschwinden.

„Sie hoffte damals bestimmt, noch einmal mit Ihnen zusammenzutreffen,“ sagte Fonfride, welcher ihre Bewegungen verfolgt hatte, „und so nahm sie das Instrument, als wir Ihre Entweichung entdeckten, an sich.“

Eine kurze Pause erfolgte, in welcher es dem jungen Manne fast wurde, als gehe er dem Wiedersehen mit einer geliebten Person entgegen; war ihm doch die Geige immer wie eine lebendige Vertraute gewesen, welcher er Alles klagen durfte, die ihm geantwortet und ihn getröstet hatte, und er konnte sich einer lebhaften Bewegung nicht erwehren, als Mathilde mit dem ihm so wohl bekannten Kasten zurückkehrte.

„Hier, Bruder Max, ist die Verlorene,“ sagte sie, und alles Fremdartige, was Reichardt in ihrem Wesen gefunden, schien völlig daraus hinweggestrichen; „noch keine Hand hat sie wieder berührt, und ich wünsche nur, daß auch Du ihr durch keine neue Nebenbuhlerin entfremdet sein magst.“

„Sie hat nichts zu fürchten gehabt,“ erwiderte jener, wohlthuend von dem zwanglosen gewohnten „Du“ angeregt, „habe ich doch in New-York noch nicht einen einzigen Bogenstrich gethan, bin sogar der Kunst ganz untreu geworden – aber,“ setzte er mit leichtem Sinken des Tones hinzu, „bin auch wohl bestraft dafür.“

„Das heißt – Du hast den Rückweg in Deinen früheren Beruf gefunden,“ fragte Mathilde aufmerksam, „und – fühlst Dich nicht glücklich darin?“

Reichardt neigte den Kopf und öffnete den Violinkasten; es war ihm, als sei er eben dabei, eine Unwahrheit zu sagen; war ihm doch sein gegenwärtiger Beruf so lieb, daß er unter andern Verhältnissen seine vollste Befriedigung darin gefunden haben würde, daß er selbst während aller Kämpfe der letzten Zeit den Verlust seiner Geige nur in einzelnen flüchtigen Augenblicken empfunden hatte. „Bist Du wohl ganz glücklich, Mathilde, daß Du der Kunst entsagt hast?“ fragte er langsam aufsehend.

Sie blickte ihn wie verwundert an; an ihrer Stelle nahm der frühere Director das Wort. „Madame Fonfride der Kunst entsagt, Monsieur?“ rief er, den Kopf rasch aufrichtend, „wie kommen Sie zu der Annahme? Ah, Sie treffen uns hier unthätig und allein – eh bien, wir sind für den Augenblick zu einem Stillstand gezwungen; der Stevens war ein großer coquin, aber ein guter Agent, und seit Sie ihn unbrauchbar für uns gemacht, sind unsere Arrangements zum großen Theile fehlgeschlagen. Jetzt habe ich für das äußere Management unserer Angelegenheiten eine andere Verbindung angeknüpft, und sobald wir damit in Ordnung sind, werden wir auch unsere unterbrochene Reise wieder aufnehmen. – wir haben übrigens viel von Ihnen, Monsieur, gesprochen,“ fuhr er lebhaft fort, „obgleich ich Ihre Fertigkeit noch nicht einmal habe bewundern können – nehmen Sie Ihr Instrument und lassen Sie etwas hören!“

Reichardt hatte, indem er seine Geige erblickt, auf der noch nicht einmal eine Saite gerissen war, nur der Aufforderung bedurft, um dem in ihm plötzlich erwachten Drange zum Spiel zu genügen. Mit einer lebhaften Befriedigung aber hatte er auch von der neu in Aussicht stehenden Kunstreise gehört, und die Hoffnung, sich durch einen Anschluß an die Gesellschaft mit einem Male Allem, was jetzt auf ihm lastete, entziehen zu können, war in bestimmten Umrissen vor ihn getreten. Es galt wohl jetzt nur, dem Manne vor ihm zu zeigen, was er konnte, und ihm damit das Vortheilhafte seines Engagements vor die Augen zu stellen. Er hatte das Instrument aus dessen weichem Lager genommen, stimmte es, prüfte den Bogen und warf dann einen hellen Blick in Mathildens Augen. Ein Lächeln des Verständnisses antwortete ihnen, und er begann in großem, kräftigem Tone die Einleitung zu dem variirten Proch’schen Liede, in welchem er und Mathilde sich zum ersten Male zusammen gefunden hatten. Reichardt fühlte, daß er in seinem Spiele nichts verloren hatte, daß sich im Gegentheil alle aufgesparte Kraft und die ganze Tiefe seiner Empfindung in die Töne zu ergießen schienen, und als bei Beginn des Themas Mathildens Stimme, die er noch nie in dieser Fülle und klaren Sicherheit gehört zu haben meinte, einsetzte:

„Ziehn die lieben, goldnen Sterne,“

stieg eine stille, lichte Begeisterung in ihm auf, die, sobald Mathilde bei der beginnenden Durcharbeitung die ursprüngliche Melodie übernahm, sich auch auf diese zu übertragen schien. Fonfride, der während des Anfanges sich in seinen Stuhl geworfen und mit der Miene eines mehr und mehr befriedigten Kritikers Reichardt’s Spiel verfolgt hatte, that bei Mathildens Einsatz überrascht die Augen groß auf; bald aber begann er sich langsam in die Höhe zu richten, sein Gesicht röthete sich, und als endlich Violine und Stimme, einander begleitend, im Nachklang des Themas am Schlusse erstarben, schien er wie in Verzückung noch immer den entschwundenen Tönen zu lauschen, bis Mathildens aufbrechendes Lachen ihn wieder zu sich selbst zu bringen schien. „Oh, mon dieu“ sagte er mit einem tiefen Athemzuge, „warum habe ich denn das nicht früher gehört! Setzen Sie sich doch gleich einmal hierher, Monsieur,“ fuhr er fort, als finde er erst jetzt seine Lebhaftigkeit wieder, „Sie dürfen uns ja nicht wieder verlassen, Sie haben ja zehntausend Dollars in Ihrem Bogen, wie Stevens sagen würde – oh cher enfant, warum mußte ich denn das jetzt erst hören!“

Reichardt that lächelnd seine Geige bei Seite und nahm seinen frühern Platz ein, während Mathilde mit einem Leuchten in ihren Mienen, als sei ihr selbst die größte Genugthuung geworden, sich auf dem Divan ihm gegenüber niederließ. – Eine volle Stunde währte ein erregtes Gespräch zwischen den Dreien, und als Reichardt endlich das Hotel verließ, war es in seine Hand gegeben, seine gegenwärtige Lage mit einer leichten, gewinnbringenden Stellung in Fonfride’s Concert-Truppe zu vertauschen; zu seiner Sicherheit hatte sogar der Director die Garantie für ein volles Jahr übernommen.

Je weiter indessen Reichardt seinen Weg durch die stillen Straßen verfolgte, je langsamer wurden seine Schritte – er hätte niemals geglaubt, daß es ihm so schwer werden könnte, sich durch einen raschen Entschluß seinen augenblicklichen Verhältnissen zu entreißen – und doch wußte er, daß er nicht bleiben durfte, nicht bleiben konnte.

Als er sein Boardinghaus erreicht hatte, trat ihm aus dem bereits leeren Parlor plötzlich der Kupferschmied entgegen. „Gott sei Dank, daß Sie endlich kommen,“ rief dieser bei seinem Anblicke, „ich dachte schon, Sie würden die halbe Nacht ausbleiben, und, doch mußte ich Ihnen noch sagen, was ich aus purer Eselei heute Abend vergessen hatte!“

„Was – wirklich nur der vergessenen Mittheilung wegen [500] haben Sie sich den Weg gemacht und bis jetzt gewartet?“ fragte Reichardt mit einem Lächeln voll halben Zweifels und führte den Gast nach dem Parlor zurück. „Wollten Sie nicht auch nebenbei hören, zu welchem Punkte meine Verhandlungen mit der „Gnädigen“ geführt?“ fuhr er launig fort, als ihn ein Blick durch den Raum versichert, daß sie allein waren.

„Hatte nicht daran gedacht!“ erwiderte Meißner, den Kopf schüttelnd, „jetzt allerdings sehe ich, daß etwas darauf ankommt, ob Sie noch dasselbe Interesse für das Geschäft Ihres Principals haben, als früher!“

„Etwas Geschäftliches?“ fragte der Andere aufmerksam, „ich werde immer mein Interesse für Frost’s bewahren, Meißner, selbst wenn ich bereits aus ihrer Office geschieden wäre, was noch nicht einmal der Fall ist.“

„So hören Sie eine Minute und thun Sie dann, was Ihnen gut dünkt; nennen Sie mich auch einen Esel, wenn Sie wollen, daß ich erst jetzt damit herausrücke,“ sagte der Kupferschmied, sich vorsichtig umsehend und dann nach einer der Fenstervertiefungen gehend. „Seit Sie von Johnson’s weg sind,“ fuhr er fort, nachdem ihm Reichardt mit einiger Befremdung gefolgt war, „scheint der alte Black sein besonderes Zutrauen auf mich übertragen zu haben. Ich muss wenigstens jeden Abend vor dem Geschäftsschlusse zu ihm kommen, und er hat immer einige besondere Aufträge für mich. Als ich heute Abend nach der Office kam, sitzt der alte Mann bleich wie der Tod vor einem Briefe, der eben angekommen sein mußte, und steht, als er mich sieht, von seinem Sessel auf, als könne er kaum seinen Beinen trauen. „Bill, holen Sie mir rasch einen Wagen,“ sagt er, „lassen Sie sich aber vor den Anderen nichts Besonderes anmerken!“ Als ich aber mit dem Wagen zurück bin, liegt der Alte mit dem Kopfe auf seinem Pulte und weiß von sich selbst nichts. Zum Glück war der Doctor nebenan zu Hause, der ihn wieder zu einer Art halber Besinnung brachte, sich aber dann auch gleich mit ihm in den Wagen setzte und den Kranken nach seinem Quartier schaffte. Ich hatte mir nichts anmerken lassen sollen, sagte also auch dem Doctor von dem Briefe nichts; schickte aber den Porter fort, um Einen von den jungen Johnson’s aufzutreiben – der alte Herr liegt schon seit einer Woche hart krank von denen war aber wie gewöhnlich kein Einziger daheim, und so hielt ich es für das Beste, selbst einmal in den Brief, der offen dalag, zu sehen. Ich bin noch immer schlecht in Meinem Englischen beschlagen, aber ich buchstabirte doch so viel heraus, daß das Schiff Mary Lee zu Grunde gegangen und nur die Mannschaft gerettet worden sei, daß die telegraphische Depesche darüber, allem Anscheine nach im Interesse einer Versicherungs-Compagnie, die irgend einen Schlag auszuführen beabsichtige, zurückgehalten werde, und daß jeder an der Ladung Betheiligte am Besten thue, sofort nach dem Rechten zu sehen. Ich wußte nicht, ob ich nicht mit jedem Worte, das ich über den Inhalt redete, mehr verderben, als gut machen konnte, und ließ die Schrift, wo sie war und wo sie morgen früh doch von den Johnson’s sogleich entdeckt werden muß. Als Sie zu mir kamen, vergaß ich über Ihrem blassen Gesichte sogar die ganze Geschichte, und erst später fiel mir ein, daß Frost’s an der Sache wohl ebenso betheiligt sein könnten, als Black oder Johnson’s, und daß ich Ihnen jedenfalls noch ein Wort darüber sagen müßte –“

„Und wo ist der Brief jetzt – wird ihn nicht der alte Black längst haben holen lassen?“ unterbrach ihn Reichardt eifrig.

„Der Alte ist noch immer nicht ganz bei rechter Besinnung,“ erwiderte der Andere, „ich fragte in seinem Hause nach, ehe ich hierher ging, und gerade deshalb habe ich Ihnen jedes Wort von der Geschichte erzählt.“

Reichardt machte sichtlich erregt einen raschen Gang durch das Zimmer. „Ich muß das Papier selbst sehen, Meißner,“ sagte er, plötzlich stehen bleibend; „Frost’s sind wirklich zu einem großen Theile an der Ladung der Mary Lee betheiligt, und was geschehen kann, um einen Schwindel der Versicherungsgesellschaft zu verhindern, muß sofort geschehen. Dazu gehört aber wenigstens ein gegründeter Verdacht, der sich nur durch den Brief selbst feststellen läßt – können wir jetzt nach der Office von Johnson’s gelangen? der Porter schläft ja wohl im untern Raume, und ein Vorwand muß sich finden –“

„Können? Natürlich können wir!“ rief der Kupferschmied, fuhr sich aber auch zugleich mit der Hand hinter die Ohren, „was dann aber, wenn der Brief morgen früh nicht mehr da ist? dann um das einfache Hineinsehen wird es Ihnen ja wohl nicht zu thun sein!“

„Hören Sie, Meißner,“ rief Reichardt, den Andern bei beiden Armen ergreifend, „morgen ist der Brief wahrscheinlich nicht mehr werth als ein Stück Papier; heute aber können wir neben Frost’s Capitale wohl auch das Interesse von Johnson oder Black retten. Wagen Sie einmal für den schlimmsten Fall Ihre Stelle, Sie machen damit, wenn Sie Ihr Englisch nicht betrogen hat, den Einsatz für einen viel bedeutenderen Gewinn „Vorwärts also!“ rief der Kupferschmied, seinen Hut fester auf den Kopf schlagend, „die Sache ist mir ein Bischen spitzig, aber Sie haben wohl noch keinem Menschen zu etwas Unrechtem gerathen –“

„Und hoffe es auch niemals zu thun, verlassen Sie sich darauf!“ gab Reichardt zurück, und in der nächsten Minute hatten die beiden jungen Männer scharfen Schritts den Weg nach Johnson’s Geschäftshause eingeschlagen. „Es ist kaum elf,“ sagte der Kupferschmied, welcher an der nächsten Laterne seine Uhr gezogen hatte, nachdenklich, „und wahrscheinlich ist der jetzige Porter, der seine Abende gern lange benutzt, noch nicht einmal zu Hause. Wir könnten uns wohl, wenn wir nicht zwei oder drei Stunden warten wollen, einen Weg von dem Hinterhause nach der Office bahnen, könnten aber auch dabei als ganz ordinaire Einbrecher abgefaßt werden – wenn’s aber durchaus sein müßte –“

No, no!“ erwiderte Reichardt, der sich über den todesverachtenden Ton von Meißner’s letzten Worten eines Lächelns nicht erwehren konnte, „wir sind die Personen, von denen jetzt Alles abhängt, und dürfen uns deshalb keiner unnöthigen Gefahr aussetzen. Sehen wir, wie wir die Sachen finden, und nehmen dann unsere Maßregeln – vorläufig vertraue ich auf gutes Glück; die ganze Sache ist zu sonderbar an mich gekommen, als daß ich einen Fehlschlag sehr fürchten sollte!“

„Auch ein guter Glaube – aber nur los; einmal eine Sache unternommen bin ich zu Allem fertig!“ brummte der Kupferschmied, und schweigend setzten Beide nebeneinander ihren Weg fort.

[513] Die Straße war völlig menschenleer, als Reichardt und Meißner ihr Ziel erreichten, und Letzterer, der mit einem Entschlusse fertig geworden zu sein schien, begann ohne Zögen, an einer der großen Thüren zu pochen; aber nur ein lautes gewaltiges Bellen antwortete. „Ob uns das Vieh nicht einen Strich durch die Rechnung machen wird?“ sagte der Kupferschmied, sich umkehrend; „es ist wie ein Wolf bei Nacht und will nur den Porter, der mit ihm schläft, kennen.“

„Ich meine doch, mich sollte der Kerl noch kennen,“ erwiderte Reichardt herantretend; „vor weiterem Pochen aber lassen Sie mich eine Untersuchung anstellen: ist der Porter zu Hause, so muß der Schlüssel innen stecken!“ Er wandte sich nach der nächsten Thüre, welche den gewöhnlichen Eingang bildete, öffnete sein Taschenmesser und schob dieses in das Schloß: wie überrascht aber wandte er sich wieder zurück. „Die Thür ist offen, Meißner,“ sagte er halblaut, „aber kein Schlüssel da!“

„Richtig, wieder einmal eine Lumpenwirthschaft!“ versetzte dieser herzutretend, „warum wollen die Herren keinen gewissenhaften Deutschen nehmen und stellen einen liederlichen Irischen herein! Der Mensch ist mit einem halben Stiche weggegangen und hat vergessen zu schließen!“ Er versuchte die Thür aufzudrücken, aber ein grimmiges Knurren dahinter ließ ihn davon abstehen. „Ohne Spectakel wird’s schwerlich abgehen,“ fuhr er bedenklich fort, „und die Polizei ist niemals weit von hier.“

„Lassen Sie mich nur,“ gab Reichardt, die Thür fassend, zurück. Down. Watch!“ rief er in kurzem, bestimmtem Tone, und das Knurren verstummte; er öffnete vorsichtig den Eingang, aber kurz vor ihm blickten ihm zwei glühende Augen aus der Dunkelheit entgegen, und ein neues bissiges Knurren schien ihn zu warnen. Nach einem eigenthümlichen Fingerschnipp und zwei schmeichelnden Worten des Eintretenden schien das Thier indessen unsicher zu werden; ein zweifelndes, unzufriedenes Brummen ließ sich hören, und als Reichardt es in bestimmter Weise lockte, kam es vorsichtig schnüffelnd heran, um indessen nach wenigen Secunden der Untersuchung eine Art freudiges Winseln hören zu lassen und den jungen Mann zu umspringen. Nur mit Mühe erwehrte sich dieser der Erkennungsliebkosungen des ungeschlachten Thieres, wandte sich dann aber, diesem die Ohren krauend, nach dem hintern Theile des Raums. „Jetzt, Meißner, rasch den Brief,“ rief er, „ich beschäftige den Hund so lange, und werden wir überrascht, so haben wir nachsehen wollen, weshalb die Thür hier offen gewesen ist!“

All right, Sir!“ rief der Kupferschmied halblaut zurück und eilte die Treppe nach der Office hinauf; der Hund hob bei dem Laute den Kopf und wurde unruhig; ein Ruf Reichardt’s aber, welcher den Raum unter der Treppe öffnete und auf das Bett klopfte, brachte ihn schnell zu dem willkommenen Lager. Nach kaum drei Minuten schon klangen Meißner’s zurückkehrende Tritte, die jedenfalls leise sein sollten, obgleich jede Treppenstufe darunter krachte; noch einmal hatte der Wartende das aufmerksame Thier zu beruhigen, und folgte dann rasch dem Gefährten, der ihn mit einem: „Teufelsgeschichte das! aber Alles in Ordnung!“ empfing, dann aber nach einem Rückblicke auf die unverschlossene Thür halblachend hinzusetzte: „Der Hund ist wahrlich das beste Schloß, ich will an den Kerl denken!“

Reichardt antwortete nicht und ging nur mit starken Schritten dem nächsten, noch erleuchteten Bierlocale zu, wandte sich hier nach dem unbesuchtesten Theile des Raums und nahm mit sichtlicher Ungeduld den erbeuteten Brief aus des Kupferschmieds Hand. Sich auf einen Stuhl werfend, begann er langsam, als wolle er jedes Wort erwägen, die Durchsicht, während des Kupferschmieds Augen an seinen Zügen hingen; ehe aber noch die späten Gäste von den Anwesenden recht bemerkt worden waren, hatte sich der Lesende schon wieder erhoben, nickte dem Gefährten mit einem eigenthümlich glänzenden Blicke zu und schritt, von diesem gefolgt, wieder zur Thür hinaus. „Es sind noch viel bestimmtere Dinge hier, Meißner, als Sie haben herauslesen können,“ sagte er, als Beide die Straße wieder betreten hatten, in hörbarer Aufregung, „und der alte Black muß einen sehr ergebenen Freund haben, um solche Mittheilungen zu erhalten; jedenfalls haben Sie heute Abend den gescheidtesten Streich Ihres ganzen Lebens ausgeführt – und nun vorwärts, vielleicht ist bei Frosts noch Jemand wach!“

„Wird ziemlich Eins werden, ehe wir dorthin kommen!“ brummte der Kupferschmied, nach seiner Uhr sehend.

„Hilft nichts, Meißner, Sie müssen die Nacht mit durch machen!“ war die von rascherem Schritte begleitete Antwort, „wer weiß, ob Sie nicht irgend eine Art Zeugniß abzulegen haben!“

„Der Bill ist immer da, Sir!“ erwiderte der Andere wie in verletzter Würde, „glauben Sie aber, man hat in Aussicht auf eine trockene Nacht keinen Durst, daß Sie sich nicht einmal Zeit zu einem Glase Bier nehmen?“

Reichardt wandte den Blick vorwärts. „Dort winkt noch ein Stern,“ sagte er, nach einer einsamen bunten Laterne an der matterleuchteten Häuserreihe zeigend, „nehmen Sie aber da gleich Vorrath!“

[514] „Ohne Sorge, Sir, sobald der Mensch nur weiß, was ihm bevorsteht.“

Es war wirklich schon eine halbe Stunde über zwölf, als die beiden jungen Männer den Weg nach dem entfernten fashionablen Stadttheile zurückgelegt hatten, und kein einiges Fenster in Frost’s Hause zeigte noch einen Lichtschimmer. Ohne indessen lange zu zögern, zog Reichardt kräftig die Klingel, mußte dies aber noch einige Male wiederholen, ehe sich in dem meist zu Dienstboten Wohnungen benutzten Unterbau des Hauses ein Fenster öffnete. „Wecken Sie sogleich den jungen Mr. Frost,“ sagte der Außenstehende in bestimmter Weise, „geben Sie ihm hier meine Karte und melden Sie, daß ich in dringenden geschäftlichen Angelegenheiten komme! “

„Mr. John Frost ist noch nicht zu Haus!“ klang es zurück.

„So wecken Sie den alten Herrn!“ rief Reichardt ungeduldig.

„Ich weiß nicht, ob ich darf, Sir!“ war die Antwort; eine Stimme aus dem Innern aber schien die Bedenklichkeiten des Sprechenden zu beseitigen, ehe der Angekommene zu einer neuen Antwort gelangt war. Das Fenster schloß sich; eine lange Weile aber verstrich, während Reichardt ungeduldig den kalten Vorplatz stampfte und mehr als einmal sich versucht fühlte, von Neuem die Klingel zu ziehen – der Kupferschmied aber, sich die Häuser im Laternenschein betrachtend, langsam auf dem Seitenwege spazieren ging – ehe sich die Thür aufthat und ein Gesicht sich vorsichtig herausstreckte. „Sind Sie allein, Sir?“ klang es; Meißner aber, welcher beim Oeffnen der Thür herangekommen war, nahm dem Befragten, der nicht sogleich zu wissen schien, was zu erwidern, die Antwort ab. „’s ist nur eine ganz vernünftige Vorsicht,“ rief er, „gehen Sie allein, Reichardt, und lassen Sie mich nur bald wissen, ob ich nothwendig bin!“

Reichardt schlüpfte kopfschüttelnd in das Haus; nach wenigen Minuten aber schon ward auch sein Begleiter von seinem Spaziergang abgerufen, und eine halbe Stunde später trat der Erstere allein wieder heraus, raschen Schritts durch die kalten Straßen den Heimweg suchend.

Reichardt verbrachte fast den ganzen Rest der Nacht ohne Schlaf in seinem Bette. Der alte Frost hatte nach der ersten Erregung, welche seine Mittheilung hervorgerufen, ihn mit einer Herzlichkeit behandelt, die ihm trotz des Dankgefühls, welches den alten Handelsherrn bewegen mochte, doch zu weit gegen seinen „jüngsten Clerk“ zu gehen schien, und die, so wohl sie ihm im Augenblicke, besonders in Gegenwart des Kupferschmieds, auch gethan hatte, doch jetzt von Neuem einen harten Kampf in ihm hervorrief. Er hatte Frost’s Vertrauen, von welchem John so Mancherlei wissen wollte, gerechtfertigt – was konnte ihm aber diese einfache Pflichterfüllung in seinen innern Kämpfen helfen? blieb er denn nicht trotzdem immer der, der er war? Fast erschien ihm die Gelegenheit, bei Fonsride’s Concerttruppe anzukommen, wie ein Rettungsanker vor der Versuchung, in seinen jetzigen Verhältnissen zu bleiben, die er immer mächtiger wiederkehren fühlte, sobald Margaret’s Züge neben des alten Frost’s wohlwollendem Gesichte und John’s launigen Mienen vor ihm aufstiegen; er begriff, daß nur ein männlicher, starker Entschluß ihn aus diesem Zwiste mit sich selbst, aus der immer wiederkehrenden Selbstqual reißen konnte – und als gegen Morgen endlich der Schlaf über ihn kam, stand es fest in ihm, schon am nächsten Tage seinen Austritt aus dem Geschäfte anzuzeigen.

Es war schon fast Mittag am nächsten Tage, und noch saß Reichardt allein im Cassenzimmer. Kurz nach seinem Eintritte hatte ihm einer der übrigen Clerks die Cassenschlüssel mit der Ordre überbracht, Bell’s Stelle während des Morgens zu versehen; aber auch weder von John noch von dessen Vater hatte sich etwas erblicken lassen. Reichardt fühlte sich so müde und abgespannt, daß er kaum einmal daran dachte, zu welchem Resultate wohl die Entdeckung des beabsichtigten Schwindels geführt haben möge; wohl versuchte er einige Male sich seinen Arbeiten zuzuwenden, aber seine Gedanken drehten sich nur immer um sein heutiges Ausscheiden und seine nächste Zukunft. Er war nicht nur völlig mit sich einig, sondern fühlte auch eine Ruhe, als liege Alles, was in ihm einer Erregung fähig war, erschlafft danieder.

Gegen Mittag endlich hörte er John’s rasche Tritte im vordern Zimmer und sah ihn gleich darauf bei sich eintreten. „Wissen Sie wohl, Sir,“ sagte dieser, die Thür schließend, „daß Sie der böswilligste Mensch sind, den ich kenne?“ Reichardt sah überrascht auf und blickte in ein lachendes Gesicht, das sich vergebens zu bemühen schien, den Ausdruck des Ingrimms nachzuahmen. „Ja, thun Sie nur verwundert,“ fuhr der Sprecher fort; „gestern Abend will ich Sie besuchen, muß Sie in einer wichtigen Angelegenheit sehen, und gerade an diesem Abend sind Sie ausgegangen; ich gehe an die verschiedensten Orte, um Sie zu finden, bleibe zum ersten Male nach jenem Abend im Astorhause über ein Uhr aus; und gerade währenddem kommen Sie mit einer so wichtigen Sache in unser Haus, daß ich mich hätte prügeln mögen, nicht meinem alten Papa zur Hülfe an der Seite gewesen zu sein. Ist das nicht die reine Bosheit von Ihnen, Sir? – O Sie Hauptkerl, geben Sie mir einen Kuß, Reichardt!“ rief er plötzlich, wie in ausbrechender Empfindung, und faßte den Deutschen bei beiden Ohren.

„Ist schon Alles gesichert?“ fragte dieser, etwas befremdet von der eigenthümlichen Erregtheit des Andern, die ihm selbst die Rettung des großen Capitals nicht ganz erklären wollte.

„Gesichert? was? Ah, die Versicherungssumme!“ rief der Amerikaner mit einem leichten Erröthen; „ob mir nicht im Augenblicke etwas ganz Anderes durch die Gedanken ging! Glücklich gesichert, Sir! wir hätten aber wohl keine Stunde später kommen dürfen! Es müssen von den Schlauköpfen schon bedeutende Summen auf die Seite geschafft worden sein, nur der heutige Tag war jedenfalls bestimmt, die Insolvenz der Gesellschaft zu erklären. Was wir mit unserer Beschlagnahme erlangt haben, wird uns und auch wohl den alten Black decken, dessen Interesse wir, als einfachen Act der Gerechtigkeit, mit vertreten ließen, Johnson aber mit seiner Getreidespeculation, an der sich sein Buchhalter, glücklicherweise unter eigenem Namen, betheiligt hatte, wird mit verschiedenen Anderen einen harten Schlag erleiden. Wir können es nicht ändern; warum ist er stets überall, nur nicht in seiner Office! Jetzt aber zu Anderem! – Schon Mittag?“ fuhr er sich unterbrechend fort, als in dem vorderen Zimmer das Geräusch der sich erhebenden Clerks laut wurde, „desto besser, so sind wir ganz ungestört. Sie essen heute bei uns, Reichardt, was ich Ihnen hiermit an Stelle jeder formellen Einladung mittheilen will und nun lassen Sie es uns eine halbe Stunde in Vaters Zimmer bequem machen; er wird den ganzen Tag nicht hier sein – kommen Sie!“ und damit wandte er sich, dem Deutschen voran, nach dem angedeuteten Raume, den der Letztere bis jetzt nur einmal und damals mit so ganz anderen Gefühlen betreten hatte.

Reichardt war bei der Einladung zum Mittagstisch blaß geworden und zögerte einige Secunden, che er dem Voranschreitenden folgte. Er wußte, daß jetzt der Augenblick da war, um den Entschluß, der über seine nächste Zukunft entschied, zur That werden zu lassen.

Als er das hintere Zimmer betrat, kam ihm John, sich mit der einen Hand eine Cigarre anbrennend und mit der andern dem Eintretenden die offene Havannahkiste hinhaltend, entgegen, und fast nur mechanisch griff dieser in den Vorrath.

„Dort sind Zündhölzer!“ rief der Erstere, nach dem eleganten Feuerzeug deutend, und warf sich dann in einen der Divans, „jetzt setzen Sie sich hierher und hören zuerst eine Neuigkeit!“

„Ein Wort vorher, Mr. Frost,“ sagte Reichardt, und der Ton seiner Stimme verrieth den Druck, unter welchem er sprach, „ich werde kaum Ihrer Einladung zum Mittagstisch folgen können – und,“ fuhr er mit einem tiefen Athemzuge fort, „ich möchte gleich die Gelegenheit wahrnehmen, um Ihnen zu sagen, daß ich mich entschlossen habe, wieder zu meiner frühern Beschäftigung als Musiker zurück zu kehren. Es bietet sich mir gerade jetzt eine passende Chance dafür, und wenn Sie Mr. Frost bitten wollten, mich ohne jede weitere Frage, die mir aus mancherlei Gründen nur peinlich werden müßte, zu entlassen, so würden Sie mir einen Freundschaftsdienst erweisen, der mich Ihnen zu jedem Danke verpflichtete.“

John hatte sich langsam aufrecht gesetzt, seine Augen schienen mit jedem Worte des Sprechenden größer zu werden, bis er, als Reichardt geendet, diesen regungslos mit offenem Munde anstarrte. Plötzlich aber schnellte er in die Höhe und legte seine Hand auf des Andern Schulter. „Das ist doch unter allen Umständen nur ein toller Spaß, Sir!“ rief er, „und ich muß Ihnen sagen, daß es ein schlechter ist –“

„John, ich bitte Sie herzlich, machen Sie mir das, was geschehen muß, nicht noch schwerer,“ unterbrach ihn Reichardt fast [515] flehend, „ich spreche so ernst, wie vielleicht noch niemals in meinem Leben.“

„Es ist Ihr Ernst, daß Sie von uns wegwollen? jetzt gleich wegwollen?“ fragte der Erstere, langsam jedes Wort betonend, „und auch nicht einmal einen Grund dafür angeben wollen?“

„Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich mein altes Geschäft wieder ergreifen möchte und soeben eine günstige Chance dafür habe –?“ erwiderte der Deutsche, aber vor John’s festem, klarem Blicke stockte seine Stimme.

„Sie haben es ja nicht gelernt, Flausen zu machen, eben so wenig als ich, Reichardt!“ sagte der Andere nach einer kurzen Pause. „Ich weiß, daß etwas Störendes in Ihrer Seele liegt, ich habe es in so Manchem, das Ihr Wesen zu einem ganz eigenthümlichen machte, wahrgenommen; aber Sie hatten mir versprochen, mein Freund zu sein, und so meinte ich immer, die Zeit werde kommen, wo ich Sie ganz verstehen würde. Ich weiß auch jetzt, daß Sie mit dem alten Bell auf einem Fuße gestanden haben, der Jedem das Geschäft hätte verleiden müssen – er hat es selbst in seiner steifen Ehrlichkeit heraus gesagt und auch seinen Versuch, Sie zum Kirchenmitgliede zu machen, nicht verschwiegen – Bell ist indessen seit heute Morgen beseitigt; er ist in der Marine-Bank zum Cassirer ernannt worden, ein Posten, nach dem er lange gestrebt – wahrscheinlich hat der Kircheneinfluß auch sein Bestes dabei gethan, und er wird endlich seine fromme Wirthin mit ihrem Grundbesitz heirathen. Wenn ich nun auch noch nicht weiß, was Vater beabsichtigt, so glaube ich doch kaum, daß nach dem, was Ihnen das Geschäft seit letzter Nacht schuldig ist, an einen neuen Cassirer gedacht werden wird –“

„Sie sagen da etwas, John, was Sie wohl kaum verantworten können,“ unterbrach ihn Reichardt, in dessen Gesicht das Blut aufstieg und wieder ging; „wäre es aber auch wirklich so, ich ginge doch – müßte gehen, John, und Sie sollen auch nicht vergebens mich an unsere Freundschaft erinnert haben. Mit der Stunde, in welcher ich New-York verlasse, wird mein Inneres klar vor Ihnen liegen, und Sie werden mir Gerechtigkeit widerfahren lassen, werden sagen: Er hatte Recht und er konnte nicht anders!“

In dem Blicke des jungen Amerikaners begann es plötzlich wie eine Art Verständniß aufzusteigen, sein Auge wurde größer und dunkler und mit eigenthümlicher Betonung, sagte er: „Sie wissen jedenfalls schon, daß Harriet Burton hier ist?“

„Harriet Burton?“ entgegnete der Deutsche, merkbar überrascht, „woher soll ich das wissen? Ihre Ankunft würde mir unter andern Umständen allerdings interessant sein – aber was habe ich jetzt mit ihr zu thun?“

John ließ den Blick lang und tief in dem Auge des Andern ruhen. „Reichardt,“ sagte er dann, während sein Ton weich wurde, „Sie erinnern sich vielleicht unseres ersten Gesprächs im Astorhause – fühlen Sie wirklich nichts für das Mädchen? Sagen Sie nur Ja oder Nein, ich weiß, Sie können nicht lügen!“

Einen Augenblick trat es wie eine Art Verwunderung in die Züge des Deutschen ; dann erwiderte er mit einem leichten Lächeln, das alle Gespanntheit aus seinem bisherigen Gesichtsausdruck zu nehmen schien: „Was ich einmal mit Bestimmtheit sage, John, das mögen Sie als sicher hinnehmen: Harriet ist ein vorzügliches Mädchen in jeder Beziehung, aber unsere Naturen passen zu einander wie Feuer zum Wasser, und ich würde mich nie mehr für sie interessiren können, als für jeden andern reichen Charakter.“

„Jedenfalls aber müssen Sie in einer bestimmten Beziehung zu ihr stehen,“ entgegnete der Andere, wie noch nicht völlig überzeugt, „denn trotz der Erneuerung meiner frühern, ziemlich speciellen Bekanntschaft mit ihr war ihre erste Frage nach Ihnen – Margaret hat ihr sicher von Ihren letzten Schicksalen Nachricht gegeben – und als ich Sie gestern noch spät aufsuchen wollte, geschah dies eben nur Harriet’s wegen: sie scheint mir so viel auf Sie zu geben, daß ich ein längeres Gespräch mit Ihnen haben wollte, ehe ich mich bestimmt gegen das Mädchen aussprach.“

„Jedes Gespräch über sie aber, das nicht einmal zu etwas führen könnte, wird unnöthig, sobald ich gehe,“ sagte Reichardt. „Glauben Sie mir doch, John, daß mir mein Entschluß einen langen, bittern Kampf gekostet hat, einen Kampf, den Sie noch völlig verstehen sollen, und so gewähren Sie mir doch den letzten Freundschaftsdienst, um den ich Sie gebeten, und erschweren Sie mir nicht durch andere Angelegenheiten einen Schritt, der der schwerste meines ganzen Lebens ist!“

„Aber –“ Der junge Amerikaner schlug sich mit der Faust auf den Schenkel, dann zündete er langsam die erloschene Cigarre wieder an, wanderte einige Male das Zimmer auf und ab und blieb dann vor dem Deutschen stehen. „Sie können nicht so formlos von hier weg, Reichardt,“ sagte er, „mögen auch Ihre Gründe sein, welche sie wollen. Ich muß erst meinen Vater davon benachrichtigen, und auf jeden Fall nehmen Sie Ihr Mittagsbrod mit uns. Sie werden sich den Mädchen gegenüber, die Sie erwarten, nicht zum auffälligen Sonderling machen wollen, denn ich hätte nicht einmal eine Erklärung für Ihr Ausbleiben. Ich werde mit meinem Vater sprechen, und das Uebrige findet sich nachher.“

Auf Reichardt’s Gesichte spiegelte sich ein Kampf der verschiedenartigsten Empfindungen, bald aber schien sich ein Entschluß daraus hervor zu ringen. „Ich werde kommen, Sir,“ versetzte er, „und wenn Sie jetzt hier bleiben, werde ich sogleich die Zeit benutzen, um mich umzukleiden.“

„Ich halte Sie nicht, wenn Sie nicht bleiben wollen,“ erwiderte John, während ein Ausdruck von Trauer in seinen Mienen aufstieg, „Sie wissen indessen, daß Sie bis drei Uhr Zeit haben!“

„Ich weiß es, aber es ist jedenfalls besser, wenn wir unser Gespräch enden. Ich habe Ihnen gesagt, John, daß Sie mich völlig verstehen werden, und so lassen Sie uns abbrechen.“ Der Redende hielt dem jungen Amerikaner die Hand hin, welche dieser schweigend, aber mit einem leisen Kopfschütteln drückte, und Jener verließ das Zimmer, den Weg nach seinem Boardinghause einschlagend.

Obwohl jetzt der erste, schwerste Schritt für sein Ausscheiden gethan war, so fühlte sich Reichardt fast noch beklommener als vorher. Er hatte in einer Art Trotz gegen seine eigenen Gefühle zugesagt, in Frost’s Hause zu sein, er hatte gemeint, daß die Gewißheit, Margaret zum letzten Male zu sehen und dann allen Kämpfen mit sich selbst entrückt zu sein, ihm die nöthige Sicherheit geben werde, daß Harriet’s Gegenwart ableitend auf seine Stimmung wirken würde. Als er sich jetzt aber das Bild der beiden Mädchen vor die Seele hielt, meinte er noch niemals die Tiefe seiner Liebe für Margaret so empfunden zu haben, wie in diesem Augenblicke, und es überkam ihn ein Bangen vor diesem letzten Begegnen mit ihr, das ihn noch jetzt hätte wortbrüchig werden lassen, wenn es nur irgendwie angänglich gewesen wäre. Erst als er die nöthige Toilette gemacht und, nach der Office zurückgekehrt, den jungen Frost nicht mehr anwesend fand, raffte er sich zu dem erforderlichen Muthe, seinen Entschluß fest und mit der rechten Ruhe durchzuführen, auf. Seine Erklärung dem alten Frost gegenüber, wenn sie nothwendig werden sollte, fürchtete er nicht: er wußte, daß er von diesem vielleicht mißverstanden werden konnte, aber nicht durch Fragen gequält werden würde.

Als es Zeit zum Gehen war, steckte er die Cassenschlüssel zu sich, sagte dem ältesten Clerk im vordern Zimmer, daß er binnen zwei Stunden wieder zurück sein werde, und bald hatte ihn ein Wagen der Pferde-Eisenbahn in die Nähe von Frost’s Haus gebracht. Dort wies ihn der öffnende Diener nach dem vordersten Zimmer, und von einem Sessel am Fenster sah er Margaret sich erheben und ihm langsam entgegentreten. Ein Blick durch den Raum hatte ihn überzeugt, daß er allein mit ihr war, und alle Selbstcontrole in sich aufrufend, sprach er die gewöhnlichen Worte der Begrüßung. Er hatte kaum dabei aufgesehen, aber der leise Klang ihrer Antwort ließ ihn den Blick heben. Das Mädchen stand seltsam bleich vor ihm, während doch ihr großes Auge still und dunkel auf ihm ruhte; nur zwei Secunden lang hingen Beider Blicke ineinander, Reichardt aber meinte darin eine halbe Welt voll Empfindungen in sich aufsteigen zu fühlen; ein Gedanke, keck und vermessen, durchfuhr sein Gehirn: ihr Hände zu fassen, ihr mit aller Gluth seines Herzens zu sagen, was in ihm lebte, was er für sie fühlte; er ging ja doch, was konnte ihm noch Schlimmeres werden? und dann hatte er doch einmal sein Herz geleert aber der Klang der ersten Worte, mit welchen sie ihn anredete, ließ ihn alle kühnen Entschlüsse vergessen.

„Sie wollen uns verlassen, Mr. Reichardt?“ begann sie.

„John sagt. er könne nicht mit Ihnen fertig werden, und hat einen Verdacht, daß Harriet’s Ankunft Sie zu Ihrem Entschlusse gebracht – Niemand weiß doch aber besser als ich, daß sie keinen Einfluß auf Sie übt, und so habe ich, da wir heute eine halbe Stunde später essen werden, auf Sie gewartet –“ sie stockte vor [516] dem Ausdrucke, der in des jungen Mannes Augen lebendig wurde, und ein leichtes Roth stieg in ihren bleichen Wangen auf.

„Miß Frost, ich weiß nicht, wie ich zu der Güte komme, mit der Sie mir begegnen,“ erwiderte er, ohne ein Beben der Erregung in seiner Stimme unterdrücken zu können, „ich bin der jüngste, vielleicht der unbedeutendste Clerk in Mr. Frost’s Geschäfte – was liegt daran, wenn ich gehe?“

Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck von Ernst und Trauer an. „Und haben wir Ihnen denn nicht gezeigt, daß wir Sie mehr achten, als es Ihre augenblickliche Stellung vielleicht erforderte?“ erwiderte sie mit einem eigenthümlich tiefen Klang ihrer Stimme, „was ist es denn, was Sie von uns treibt? Ich weiß, daß Vater gern das Mögliche für Ihre Zufriedenstellung thun würde.“

„Aber es giebt eben halbe Unmöglichkeiten, Miß,“ sagte er, seinen Blick mit einer Art Trunkenheit, die ihn überkam, in ihr Auge versenkend; „seien Sie doch barmherzig und fragen Sie nicht länger,“ setzte er in zitterndem Tone hinzu, „ich muß ja gehen, Margaret – ich muß – ich muß!“

Wie ein Blitz leuchtete es bei seinen letzten Worten plötzlich in ihren Augen auf, ein tiefes Roth schoß in ihr Gesicht, dann aber wandte sie sich ab, und Reichardt wußte, daß er errathen war, daß er sich zu weit hatte hinreißen lassen und nun wohl völlig mißverstanden wurde – er hätte kaum gewußt, was im Augenblicke sagen, wenn nicht das Oeffnen der Thür ihn aus seiner momentanen Verlegenheit befreit hätte. Beider Augen wandten sich nach dem Geräusch, und den beiden Frost’s voran trat Harriet Burton in’s Zimmer. Ihr Gesicht war bleicher und magerer geworden, seit Reichardt sie zuletzt gesehen, aber das ruhige, helle Lächeln, das bei des jungen Mannes Erblicken, von einem leichten Roth begleitet, darin aufstieg, verlieh ihr einen wunderbaren Reiz. „Da ist er ja!“ sagte sie ohne alle Befangenheit auf ihn zutretend und ihm die Hand reichend; zugleich aber flog ihr Blick auch nach Margaret hinüber, dann auf Reichardt zurück, und ein Ausdruck von Verständniß begann sich in ihren Zügen geltend zu machen, der den Deutschen in neue Verlegenheit zu stürzen drohte.

„Sie bereiten mir durch Ihr Erscheinen eine Ueberraschung, Miß Burton, die ich für kaum möglich gehalten hätte,“ sagte er, nur um einige Worte zu sprechen.

„Und Sie haben, wie ich höre, eine desto unangenehmere für uns im Sinne!“ fiel sie lebhaft ein, „ich habe aber behauptet, daß hier jedenfalls nur ein Mißverständniß zu Grunde liegen könne, und habe mich vermessen, diesem auf die Spur zu kommen –“

„Lassen wir das Alles bis nach dem Essen und denken vorläufig nicht daran,“ unterbrach sie der alte Frost, „ich hoffe, ein offenes Wort zwischen Mr. Reichardt und mir wird seinen Zweck nicht verfehlen. Lassen Sie uns jetzt zu Tische gehen!“ Er wandte sich halb nach der Thür, und John eilte herbei, um einer der jungen Damen seinen Arm zu bieten. Wie ein halbscheuer Vogel aber kam Margaret herbeigeflattert, sich Harriet’s Arm bemächtigend und diese nach der Thür mit sich fortreißend. Reichardt aber fühlte einen schmerzenden Druck auf seiner Brust – sie hatte seine Begleitung vermeiden wollen.

„Recht artig von Margaret!“ sagte John, halb launig, halb verdrießlich dem Paare nachblickend, „very well, so müssen wir uns einander führen!“ Er fasste den Arm des Deutschen, mit diesem den Uebrigen folgend. „Ich bin schon halb ein glücklicher Mensch, Reichardt!“ flüsterte er in leiser Hast seinem Begleiter zu, „Harriet ist liebenswürdiger als je, und nun um Gotteswillen machen Sie uns keinen schwarzen Strich durch unsern heitern Tag!“

„Alles Glück, John!“ erwiderte der Angeredete nur, während sie in das Speisezimmer traten, und warf hier einen freien Blick umher. Margaret’s letzte Bewegung hatte ihm plötzlich eine Sicherheit und seinem Entschlusse eine Bestimmtheit gegeben, von denen er kaum wußte, wie sie entstanden.

Gestattete schon das Mahl bei seiner amerikanischen Natur und der Gegenwart des aufwartenden Dieners keine belebte Conversation, so schien doch auf der kleinen Gesellschaft noch ein besonderer Druck zu lasten. John hatte zwar einige Witzworte versucht, aber weder bei Harriet, welche das still neben einander sitzende andere junge Paar zu beobachten schien, noch bei dem alten Frost, der sich mehr als je in eigene Gedanken versunken zeigte, Anklang gefunden und endlich nach einem verdrießlichen Rundblick geschwiegen. In Reichardt war es wohl aufgestiegen, als solle er mit einigen Worten den Bann, der augenscheinlich nur seinethalber auf den Uebrigen lag, brechen, zugleich aber kam ihm dies in seiner gegenwärtigen Lage wieder als völlig unpassend vor, und schon nach kürzerer Zeit, als es wohl sonst geschah, erhob sich der Hausherr so schweigsam, als er sich gesetzt. Als aber jetzt Margaret seinem Beispiele folgte und Reichardt an ihrer Bewegung den wiederholten Plan sah, sich an Harriet anzuschließen, schoß es in diesem plötzlich wie ein schmerzlicher Grimm auf, der ihm hätte die Thränen in die Augen treiben können. John hatte sich indessen Harriet’s bereits bemächtigt, und wie in halber Scheu wandte sich die Zurückbleibende nach dem Deutschen.

„Dürfen Sie mir denn nicht noch einen freundlichen Blick gönnen, Miß?“ sagte dieser, langsam neben ihr das Zimmer verlassend, „es ist ja doch das letzte Mal, daß ich zu Ihnen rede!.“

Sie sah nicht auf und antwortete nicht, als sie aber in der Thür des vorderen Zimmers Harriet ihrer wartend erblickte, eilte sie von seiner Seite der Ersteren entgegen. Reichardt preßte die zitternden Lippen aufeinander und nickte dann kurz und bestimmt mit dem Kopfe.

Als er das vordere Zimmer betrat, sah er die Mädchen, von John begleitet, soeben durch eine Seitenthür verschwinden, und nur der alte Frost schien ihn zu erwarten. „Setzen Sie sich ein paar Minuten zu mir her, Sir,“ sagte der Letztere, einen Stuhl heran ziehend, „es ist wohl für uns Beide das Thunlichste, ohne weitere Zögerung zu sagen was zu sagen ist.“ Er ließ sich langsam auf einen der Lehnsessel nieder, und nicht ohne einen leichten Anflug von Beklommenheit setzte sich Reichardt ihm gegenüber.

„Ehe wir zur wirklichen Frage, die ich durch John’s Mittheilung kenne, gehen,“ fuhr der alte Handelsherr, sich zurücklehnend, fort, „muß ich einige Worte vorausschicken. Sie werden wahrgenommen haben, daß Ihr Eintritt in mein Geschäft in etwas eigenthümlicher Weise stattfand, daß er überhaupt nur erfolgte, weil ich Sie gern aus Ihrer damaligen Stellung in eine Ihren Wünschen entsprechende Lage versetzen wollte. Ich darf hier wohl auch hinzufügen, daß ich Sie von dem ersten Tage Ihres Eintritt an nicht wie jeden gewöhnlichen Clerk, später aber immer als den Freund meines Sohnes behandelt, daß ich Ihnen ein Vertrauen gezeigt habe, wie es sich ein junger Mann Ihres Alters bei so kurzer Anwesenheit im Geschäfte nicht leicht zu rühmen hat.“

Reichardt, etwas bleicher geworden, neigte sich zustimmend. „Well, Sir,“ fuhr der Sprechendee ruhig fort, „es gab natürlich Gründe für meine Handlungsweise. Ich hatte Sie in Saratoga nur einmal flüchtig gesehen und nur etwas von Ihrem Wesen und Ihrer Lage durch Margaret erfahren, hörte aber von Ihren spätern Schicksalen in Tennessee. Sie hatten es dort in der Hand, eins der wohlhabendsten, interessantesten Mädchen des Staates zu heirathen und schlugen es aus, durch Gründe bewogen, die auf einen hier zu Lande seltenen Charakter deuteten und eine Gesinnungsweise verriethen, auf welche wenigstens das Geld nie als Verführungsmittel wirken kann. Wie ich diese Gründe und überhaupt Ihren ganzen innern Menschen kennen lernte,“ sprach er weiter, ohne auf Reichardt’s sichtliche Ueberraschung zu achten, „sollen Sie hören. Sie hatten auf Ihrer Dampfbootfahrt nach St. Louis, in einer Art Dankgefühl gegen Harriet, einen Brief an diese begonnen und die Ergießungen Ihres Innern jeden Tag fortgesetzt, und wenn etwas zur Beruhigung des verletzten Gemüths des Mädchens beigetragen, wenn etwas dazu geholfen hat, sie die Tollheit ihres damals beabsichtigten Schrittes erkennen zu lassen, so sind es Ihre Zeilen gewesen. Erst einen Monat später vertraute sie meiner Tochter brieflich die ganze Angelegenheit und sandte die von ihnen empfangenen Blätter mit. Im nächstfolgenden Monate aber sah Margaret Sie die Straße fegen, und als sie Ihre damalige Stellung erfahren, gab sie mir Einsicht in Harriet’s Papiere und drang in mich, Sie auf irgend eine Weise Ihrer unwürdigen Lage zu entreißen.“

Er hielt einige Secunden inne, während sich in Reichardt’s Innerem die widerstreitendsten Empfindungen kreuzten und ihm nur das Eine klar war, daß nach diesen Eröffnungen seines Bleibens in dem Hause um so weniger sein könne.

[529] „Sie übertrafen schon in der ersten Woche die Erwartungen, welche wir von Ihren kaufmännischen Leistungen gehegt hatten. Mr. Reichardt,“ begann Frost auf’s Neue, sich langsam über die Stirn streichend, „Sie gewannen sogar dem alten Bell Interesse ab, so wenig er es Ihnen auch damals wohl hat merken lassen; aber erst nach dem Spielabend im Astorhause, der mir, mit dem früheren zusammen, gewissermaßen ein vollendetes Bild von Ihnen gab, stieg der Wunsch in mir auf, Sie für längere Zeit an uns zu fesseln, und ein hingeworfenes Wort des alten Bell, daß er sich in Ihnen gern einen tüchtigen Nachfolger erzöge, zeigte mir den einzuschlagenden Weg; gestern aber trafen zwei Dinge zusammen, welche meinen Entschluß zur Reife brachten: Bell’s schon eine Zeit lang vorausgesehene, aber jetzt erst erfolgte Ernennung zum Cassirer der Marine-Bank, und die entschlossene, umsichtige Weise, in welcher Sie von dem Geschäfte einen schweren Verlust fern hielten. Ich beabsichtigte, Sie heute mit der interimistischen Führung des Cassirer-Amts zu betrauen, der ich nach kurzer Probezeit natürlich die Bestätigung hätte folgen lassen.“

Er hielt von Neuem inne, vor sich auf den Boden blickend, während Reichardt, bleich, die Lippen wie in einem schmerzlichen, aber festen Entschlusse auf einander gepreßt, das Auge auf seinem Gesichte haften ließ.

„Well, Sir,“ begann der alte Herr aufsehend wieder, und schien mit seinem Blicke jeden Zug in Reichardt’s Gesicht studiren zu wollen, „ich habe Ihnen das Alles gesagt, um Ihnen zu zeigen, wie weit ich in meiner Offenheit gegen Sie gehe, um Ihnen zugleich das Verhältniß, in welchem Sie zu meinem Hause stehen, klar zu machen. Sie wollen weg von uns, Sie haben das als Ihren unwiderruflichen Entschluß angekündigt, und bestehen Sie nach dem so eben Gehörten noch darauf, so werde ich Ihnen sicher nicht das Geringste in den Weg legen – – “ er machte eine Pause und blickte den vor ihm Sitzenden wie zu einer Aeußerung auffordernd an.

„Mr. Frost,“ erwiderte Reichardt, und strebte umsonst einen Druck, der auf seiner Stimme lastete, zu entfernen, „es hätte wahrlich nur der frühern Güte und Freundlichkeit bedurft, um mich hier zu halten, wenn eine Möglichkeit zu bleiben für mich vorhanden, wäre –“ er hielt inne und mußte sich mit Macht zwingen, Frost’s forschenden Blick auszuhalten. Eine leichte Falte legte sich jetzt zwischen die Augenbrauen des Letztern.

Very well,“ erwiderte er, „was ich aber verdient zu haben glaube, Mr. Reichardt, ist wenigstens die Angabe eines irgend plausiblen Grundes. Haben Sie nach meiner offenen Aussprache gegen Sie noch immer kein Vertrauen zu mir gewonnen, so werden Sie wenigstens einsehen, daß man ein Geschäft nicht so augenblicklich ohne Angabe einer Ursache verläßt –!“

Reichardt fühlte sein ganzes Innere zu dem Manne hingezogen, er fühlte sich weich werden, er hätte ihm mögen sein ganzes Herz ausschütten und dann ohne Abschied davon gehen; aber er bezwang sich. „Ich hatte es mir durch John als letzte Freundlichkeit erbeten, Mr. Frost,“ sagte er, „ohne weiter an mich gestellte Fragen gehen zu dürfen; ich weiß, daß ich mich der Verkennung dadurch aussetze, aber ich kann und darf es im Augenblicke nicht ändern –!“

Very well, Sir,“ erwiderte Frost, sich wie in leichtem Unmuthe erhebend, während Reichardt seinem Beispiele folgte, „ich, kann Sie nicht zwingen zu reden; indessen – trotz der Bestimmtheit Ihres Entschlusses will ich dies noch nicht als Ihr letztes Wort ansehen. Ueberlegen Sie bis heute Abend, und dann möge es Ihnen noch immer freistehen, mir die Cassenschlüssel abzuliefern oder in eigenem Verwahr zu behalten. Ich werde Sie nach dem Geschäftsschluß hier erwarten.“

„Ich werde zur Zeit hier sein, Sir! “ erwiderte der Deutsche, der nicht den Muth in sich fühlte, einem solchen Verfahren gegenüber kurz abzubrechen, sich leicht verneigend und wandte sich, von dem Andern einige Schritte geleitet, nach der Thür.

Wie ein Stein begann es sich auf Reichardt’s Brust zu legen, als er das Haus verlassen und der nächsten Eisenbahnlinie zuschritt. Er wußte, daß das Glück zum zweiten Male in seinen Weg getreten war, daß er nur die Hand ausstrecken durfte, um sich die Thür zu den besten Kreisen der Gesellschaft, zu einer erfolgreichen Carriere zu öffnen; daß, wenn er von sich stieß, was sich ihm jetzt bot, von Neuem ein haltloses Leben ohne Ziel und ohne eigentliche innere Befriedigung vor ihm stand – und doch schien es ihm jetzt mehr als je eine Unmöglichkeit, in seiner bisherigen Stellung zu bleiben. Was Harriet aus Laune oder einer Wallung ihres südlichen Blutes für ihn gethan, als sie ihn einer unwürdigen Lage entriß, das war von Margaret aus Erbarmen und Mitleid geschehen; in seiner jetzigen Stellung war er gewissermaßen ihr Geschöpf, und nur zu gut meinte er jetzt ihr heutiges Wesen verstehen zu können. Wie sollte er ihr gegenüber ausdauern, ohne sich selbst aufzureiben? Er mußte ja gehen! Was ihm aber die Ausführung seines Entschlusses am schwersten machte, das war die [530] Freundlichkeit des alten Frost, der er so gern genug gethan hätte, wenn er nur gekonnt hätte!

Er hatte den Eisenbahnwagen bestiegen, war in die Nähe des Geschäftshauses gelangt und hatte dieses erreicht, ohne sich dessen nur recht selbst bewußt zu sein, und erst als er beim Eintritt in die Office einige bereits wartende Geschäfte zu erledigen fand, raffte er sich zum Bewußtsein der nächsten Gegenwart auf. Er hatte eben seinen Platz im Cassenzimmer wieder eingenommen und wollte sich auf’s Neue seinen Gedanken überlassen, als sich die Thür langsam öffnete und des Kupferschmieds Gesicht sich vorsichtig hereinbog. „Ausgezeichnet, daß Sie allein sind, Professor!“ rief dieser halblaut und schlüpfte in’s Zimmer; „müssen übrigens hier verdammt gut angeschrieben stehen; die Herren da vorn haben mich mit einer Artigkeit hereingewiesen, die ich kaum einem von ihnen zugetraut hätte.“

Reichardt, welchem in seiner gedrückten Stimmung der bekannte Ton wie eine Herzstärkung an’s Ohr schlug, erhob sich lächelnd und zog einen Stuhl herbei. „Etwas Neues, Meißner?“ fragte er. „Weiß nicht, was Ihnen von meinen Neuigkeiten noch neu ist,“ erwiderte Jener, sich niederlassend, „hätte mich ihrethalber auch nicht hier herauf gewagt, wie der Kranich unter die Pfauen; ich komme wegen etwas Anderem, wegen des alten Mr. Black, den die Freude wieder ganz auf die Beine bringt, freilich nicht so geschwind, als er gestern umfiel. Es war mein Erstes heute Morgen, als ich nicht mehr bei der Teufelsgeschichte nothwendig war, nach seinem Hause zu gehen – ruhig wieder in’s Geschäft zu gehen, hatte ich, ehrlich gestanden, noch keinen rechten Muth – schenkte dem Doctor klaren Wein ein, und der gab dem alten Manne tropfenweise so viel davon, als er auf einmal vertragen konnte, und ich sage Ihnen, schon die erste Portion brachte ihn zu richtigen klaren Sinnen zurück – zuletzt aber saß er mit gefalteten Händen da, und die Thränen liefen ihm hell über die Runzeln, und –“ der Erzähler unterbrach sich mit einer Grimasse und schlug mit der Faust auf sein Knie, „das Wasser trat mir beinahe selber in die Augen, denn so was hätte ich mein Lebtag nicht bei ihm zu sehen erwartet, – ich hörte dann aus ein paar Worten, daß es all sein Erspartes gewesen, was auf dem Spiele stand, und daß er sich, wenn das Geschäft gut ausgefallen, damit hätte zur Ruhe setzen wollen. Well, ich mußte hinter dem Bett hervor und erzählen; er wollte wissen, wie es mit Johnson’s stände – ich hatte wohl etwas munkeln hören, mochte’s aber nicht sagen, und dann mußte ich ihm versprechen, Sie zu ihm zu bringen, sobald Sie abkommen könnten – es schien ihm viel daran zu liegen, daß Sie kämen. Zuletzt gab er mir noch einen Auftrag an William Johnson, und jetzt hatte ich doch wenigstens einen Grund für mein Ausbleiben. Als ich in die Office trete, geht William Johnson mit langen Schritten auf und ab, während die andern Beiden mit trübseligen Gesichtern an den Pulten sitzen. „Da ist er!“ ruft der Aelteste und kommt auf mich zu, als wolle er mich verschlingen.

„Wo sind Sie im Geschäft, Sir?“ schreit er. – „Im Geschäft von Johnson and Son, Sir!“ sage ich ruhig. – „Und wenn Sie eine Entdeckung machen, so theilen Sie diese andern Häusern auf Kosten Ihrer Principale mit? “ – „Wenn Einer von den Herren Johnsons in der Office oder auch nur anderwärts zu finden gewesen wäre,“ sage ich, „so hätte ich ihnen meine Meldung gemacht, ich habe lange genug nach den Herren suchen lassen. Mr. Black wußte nichts von seinen Sinnen, und so hielt ich es für das Beste, meinen Freund Reichardt im Geschäft von Augustus Frost um Rath zu fragen. Der Brief war im Uebrigen nicht an Johnson and Son gerichtet, sondern an den alten Mr. Black, der ganz zufrieden mit dem ist, was ich gethan.“ – „Ah, Reichardt! dieser Mensch schon wieder! nun ist mir Alles erklärlich!“ sagt er, es war aber ein richtiges Zischen, mit dem er es von sich gab, und daneben habe ich selten noch so viel Haß in einem Auge gesehen – weiß der Herrgott, was er gegen Sie haben mag; „well, Sir,“ sagte er weiter, „so mögen Sie sich auch von dem Mr. Reichardt für die Zukunft beschäftigen lassen!““

„Und wenn ich es nicht thue, so werde ich jedenfalls ein Unterkommen für Sie schaffen, mit dem Sie zufrieden sein sollen,“ unterbrach ihn Reichardt, der mit reger Theilnahme der Erzählung gefolgt war, „was Frost’s für mich nicht mehr thun können, das sollen sie an Ihnen thun, und ich weiß, daß mir der alte Gentleman unter den obwaltenden Umständen meine letzte Bitte nicht abschlagen wird!“

„Das ist wenigstens einmal ein Wort, das dem Herzen wohlthut,“ erwiderte Meißner, dem Andern die breite Hand hinhaltend, „ich denke indessen in keine Verlegenheit zu gerathen. Der alte Mr. Frost muß sich wohl selbst abgefingert haben, was mir passiren könne, denn er sagte mir, als er mich heute Morgen wegschickte, wenn ich Unannehmlichkeiten haben sollte, möchte ich mich nur bei ihm melden. Aber –“ unterbrach er sich, „was sprechen Sie denn da von Ihrer letzten Bitte und so weiter? Sie werden doch um Gotteswillen nicht Ihre Mücken von gestern Abend noch im Kopfe haben?“

„Es steht genau noch so wie gestern Abend, Meißner!“ versetzte Reichardt, das Auge auf sein Pult senkend und mit der Feder Striche auf dem vor ihm liegenden Papier ziehend.

„Aber sie werden Sie nicht gehen lassen!“ rief der Kupferschmied. seine Stimme dämpfend, eifrig. „Ich habe diese Nacht hier und da ein paar Worte zwischen dem alten und jungen Herrn fallen hören, die Ihnen, denke ich, von selbst die Tollheiten austreiben werden!“

„Ist Alles schon durchgesprochen,“ erwiderte der Andere, mit einem trüben Lächeln den Kopf hebend, „ich soll Cassirer werden – aber ich kann nicht, Meißner, und werde heute Abend austreten.“

Der Kupferschmied sah dem Freunde zwei Secunden schweigend in’s Gesicht. „Nun, so gehen Sie denn –! Heiliges Gewitter!“ rief er wie in ausbrechendem Unmuthe. „Adieu!“ setzte er plötzlich hinzu und erhob sich rasch, um das Zimmer zu verlassen.

„Ich weiß noch nicht, wo Mr. Black wohnt, Meißner!“ sagte Reichardt.

Der Andere unterbrach wie nur widerwillig seine Bewegung. „Glaub’ kaum, daß es dem Alten jetzt noch viel Freude machen würde, Sie zu sehen!“ sagte er, sich nur halb zurückwendend, „aber sagen Sie mir, wo ich Sie heute Abend treffen soll.“

„Nicht heute Abend, aber morgen früh will ich Sie bis zehn Uhr in meinem Boardinghause erwarten.“

Der Kupferschmied nickte verdrießlich und schritt ohne jedes weitere Wort hinaus. Reichardt sah ihm einen Moment nach und wandte dann den Kopf mit einem tiefen Athemzuge seinem Pulte zu; nur wenige Minuten aber hing er jetzt seinen Gedanken nach, dann raffte er sich plötzlich auf und begann eine sorgfältige Ordnung aller geschäftlichen Papiere vorzunehmen; zuletzt griff er nach einer am Tage zuvor unbeendigt gebliebenen Arbeit und hatte bald in der Vollendung derselben seine ganze Aufmerksamkeit concentrirt.

Erst als die Zeit des Geschäftsschlusses herankam, erhob er sich wieder, überblickte noch einmal prüfend das Zimmer, stellte jeden Stuhl gerade und verließ dann sichern Schritts die Office.

Eine Viertelstunde später zog er an Frost’s Hause die Klingel – er war entschlossen, seinen Abschied möglichst kurz, wenn auch mit herzlichen Worten abzumachen, bei seiner Abreise von New-York aber sich ohne Rückhalt schriftlich gegen John auszusprechen, und in voller Fassung öffnete er jetzt die Thür nach dem Vorderzimmer.

Von einem der Divans erhob sich Harriet bei seinem Eintritt und legte das Buch, mit welchem sie beschäftigt gewesen zu sein schien, bei Seite; aus ihrem Blicke aber, mit welchem sie ihn begrüßte, meinte Reichardt fast einen Wiederschein ihres frühern kecken Muthwillens sich entgegen blitzen zu sehen. Es war ihm unangenehm, das letzte schwere Geschäft, zu dem er einmal vorbereitet war, nicht ohne Verzug abmachen zu können. „Ich dachte Mr. Frost hier zu treffen –“ sagte er.

„Und sind sicherlich ganz glücklich. Sir, mich an seiner Stelle zu finden,“ lachte sie, „nehmen Sie Platz – oder,“ fuhr sie fort, sein Zögern bemerkend, „darf ich Ihnen vielleicht selbst einen Stuhl herbeiholen?“

Er war genöthigt, ihren Arm zu fassen, um sie von der wirklichen Ausführung ihres Anerbietens zurückzuhalten. „Quälen Sie mich jetzt nicht, Miß Harriet,“ bat er, „und sagen Sie mir, ob ich Mr. Frost sprechen kann!“

Ihr Lachen verschwand. „Haben Sie wirklich vorher nicht eine Viertelstunde für mich, Sir? “ fragte sie, und Reichardt glaubte es fast wie Vorwurf in ihrem Auge zittern zu sehen. „Sie wollen Frost’s verlassen – ich habe kein Urtheil über Ihre Beweggründe; aber bin ich Ihnen denn so unangenehm, daß Sie mir vor Ihrem Gehen nicht zwei Worte gönnen mögen?“

„O Miß, wie falsch verstehen Sie mich!“ rief er in einem [531] Anfluge von Verlegenheit. „Mr. Frost hatte mich genau zur jetzigen Zeit hierher bestellt –! “

Very well, so sind wir schon mit einander in Ordnung,“ unterbrach sie ihn, und ein leises Lächeln trat in ihr Gesicht, „Mr. Frost wird nicht vor einer halben Stunde hier sein, Sie mögen also ruhig Platz nehmen und sich eine Viertelstunde mit mir langweilen!“ Sie hatte sich wieder bequem in den Divan niedergelassen, ihr Buch wie ein Spielzeug zwischen die Finger nehmend, während der junge Mann nothgedrungen nach einem Stuhle griff. Nachdem er sich niedergelassen, trat eine Pause ein, welche er in seiner jetzigen Stimmung am wenigsten auszufüllen vermocht hätte.

„Lassen Sie mich Ihnen gleich eine Erklärung geben, Sir,“ begann endlich das Mädchen, als wolle sie einen lästigen Zwang von sich werfen, während ein leichtes Roth in ihr Gesicht stieg; „ich wäre Ihnen nicht entgegen getreten, wie ich es gethan, wenn Sie ein anderer Mann wären, als der Sie sind, und wenn ich Ihnen jetzt von Grund meines Herzens für das, was Sie mir schrieben, danke, so erwidern Sie kein Wort darauf, aber geben Sie mir Ihre Hand und sagen Sie mir, daß Sie Harriet Burton’s Freund geblieben sind.“

„Miß Harriet,“ versetzte er, eigenthümlich von ihrem weich gewordenen Tone angeregt ihre Hand ergreifend, „war es denn etwas Anderes als die wärmste Dankbarkeit und Freundschaft, was mich zum Schreiben drängte? und warum soll ich Ihnen dieselben Gefühle nicht stets bewahrt haben?“

„Gut, Sir, und so lassen Sie es zwischen uns bleiben.“ erwiderte sie groß in sein Auge sehend und seinen Händedruck leise erwidernd, „ich denke, Harriet wird jetzt anfangen kalt und vernünftig zu werden, wie andere anständige Leute. – Aber,“ fuhr sie wie von einem andern Gedanken berührt fort, „sind Sie nicht verwundert über meine Vergnügungsreise nach dem Norden, fast mitten im Winter? – und doch,“ setzte sie, seine Antwort unterbrechend, hinzu, „sind Sie die recht eigentliche Ursache davon. – Warten Sie,“ unterbrach sie ihn auf’s Neue, „die Angelegenheit, in die Sie so tief eingeweiht gewesen, interessirt Sie jedenfalls, wenn ich sie auch nur mit wenigen Worten andeute. – Sie haben es wohl längst errathen,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, „daß Ihr ganzes Unglück in unserer Stadt nur durch die Machinationen von Curry und Young hervorgerufen worden war; nach Ihrer Abreise nun entstand eine Art Rückschlag in der öffentlichen Meinung, die Meisten schämten sich dessen, was geschehen; mehr aber als gegen Curry richtete sich der stille Unwille gegen Young, dessen thätige Theilnahme zur Aufreizung des Mob bekannt war; Curry wurde wegen seines Schwarzen als der Beschädigte mehr entschuldigt. In unser Haus kam Keiner von ihnen meines Wissens mehr, sie mochten vermuthen, daß ich im Besitz von wenigstens einem Theile ihres Geheimnisses war, und ich hatte Ruhe. Da kündigt plötzlich Young seinen Bankerott an, und zugleich durchläuft eine Sage die Stadt, daß er den Pastor Curry eines entsetzlichen Verbrechens angeklagt habe; der Pastor aber, als er habe festgenommen werden sollen, sei verschwunden gewesen und habe einen Brief hinterlassen, worin er Alles ableugne und die ganze Beschuldigung Young’s nur als einen Versuch, von ihm Geld zu erpressen, hinstelle. Young aber ließ seine Schwester vernehmen; Bob, der frühere schwarze Kirchendiener, ward, obgleich er schon bald nach dem Mob nach einer Farm im Lande geschickt worden war, herbeigeschafft, und Curry durch die Zeitungen verfolgt – seine eigene Gemeinde hatte eine Belohnung auf seine Habhaftwerdung ausgesetzt. Da – an demselben Tage, an welchem die Beschreibung seiner Person erschienen war, hatte ich noch spät Abends am Piano gesessen und versucht, die Melodie des deutschen Liedes, welches Sie bei uns gesungen, mir wieder in’s Gedächtniß zurückzurufen, und gehe im Mondlichte, das durch die Treppenfenster schien, nach dem obern Corridor hinauf, um nach meinem Zimmer zu kommen – da höre ich plötzlich ein leichtes Geräusch an der Thür, die zum Balkon führt, und herein tritt lautlosen Schritts eine Gestalt – ich erkannte sie auf den ersten Blick – es war Curry. Leise schleicht er bis zu der Thür von Mrs. Burton’s Zimmer und klopft zweimal in eigenthümlicher Weise – er war wohl nicht erwartet worden, denn er mußte eine lange Weile harren, eine Weile, in der ich glaubte, das Pochen meines Herzens, müsse mich verrathen; endlich aber nach einem dritten Klopfen öffnet sich das Zimmer, und er schlüpfte hinein.

„Ich stand noch eine geraume Zeit, die Hand gegen das Herz gedrückt, rath- und thatlos,“ fuhr die Erzählerin nach einem tiefen Athemzuge fort. „Ich hätte meinen Vater wecken sollen, aber ich hätte es nicht über mich gewonnen, selbst ihm eine Nachricht, die ich kaum hätte in Worte fassen können und deren Folgen ich nicht abzusehen vermochte, zu hinterbringen; ich war so unentschlossen und zaghaft, wie noch selten in meinem Leben, und schlich endlich leise nach meinem Zimmer. Aber ich schlief die ganze Nacht nicht, und wenn ja einmal ein halber Schlummer über mich kommen wollte, schreckte mich das leiseste, zufällige Geräusch wieder auf.

Ich war am Morgen sicher, daß Curry noch im Hause war. Beim Frühstück meldete eine unserer Schwarzen, daß Mrs. Burton wegen Unwohlsein ihr Zimmer nicht verlassen möge; Vater war an dergleichen Launen längst gewöhnt und nickte nur still mit dem Kopfe – ich aber erkannte schnell den Stand der Dinge, und eine unsägliche Unruhe über das, was mir zu thun obliege, überkam mich.

Soweit ich meinen Vater kannte, wußte ich, daß ein öffentlicher Eclat ihm seinen Frieden für lange Zeit nehmen mußte, daß er bei Entdeckung des Geschehenen seine Frau wohl zu irgend einem stillen Uebereinkommen zwingen, sich aber schwerlich öffentlich von ihr trennen werde; daneben aber fühlte ich auch, daß meinerseits ein ferneres Zusammenleben mit dieser Frau völlig unmöglich war. Ich hatte zwei Tage zuvor Briefe von Margaret und John erhalten, und als sich mir jetzt die Nothwendigkeit aufdrang, für die Zukunft nach irgend einem Halte außerhalb des väterlichen Hauses zu suchen, war ich mir auch über mein nächstes Handeln bald genug klar. Ich verbrachte fast den ganzen Morgen damit, meinen Vater schriftlich von dem Nöthigen zu unterrichten und den Schritt, welchen ich zu thun Willens war, zu rechtfertigen. Als er aber Nachmittags wie gewöhnlich nach der Farm ritt, packte ich meinen Koffer, ließ die kleine Kutsche anspannen und mich zu einer Freundin zwei Meilen von der Stadt fahren, wo der Postwagen passiren mußte. Meinen Brief hatte ich auf Vaters Schreibtisch, auffällig in’s Auge springend, zurückgelassen – und jetzt bin ich hier, um,“ setzte sie mit einem halben Seufzer hinzu, „wahrscheinlich das väterliche Haus und den schönen Süden sobald nicht wieder zu sehen. Was während meiner Reise dort vorgegangen ist, soll ich erst noch erfahren. – So!“ begann sie von Neuem, als wolle sie einen aufsteigenden trüben Gedanken von sich schütteln, „indessen ist das Alles noch nicht die Hauptsache, die ich Ihnen mittheilen und in der ich Ihre Ansicht als Freund hören möchte: Sie sind der einzige Unparteiische, zu dem ich jetzt sprechen kann: Sie verlassen heute schon das Haus, und so darf ich mich Ihnen um so eher anvertrauen.“ Sie machte, die Augen niederschlagend, eine kurze Pause, als wisse sie nicht recht, wie mit ihrer weitern Mittheilung zu beginnen. „John sagt,“ fuhr sie endlich fort, die Blätter des Buchs in ihrer Hand durch die Finger laufen lassend, „Sie seien sein bester Freund – hat er Ihnen etwas in Bezug auf mich vertraut?“ Nur einen Moment schlug sie das Auge zu ihm auf und ließ es dann wieder sinken.

„Er hat zu mir von seiner innigen Verehrung für Sie gesprochen, Miß.“ erwiderte Reichardt, welcher jetzt erst den Zweck des herbeigeführten Gesprächs zu errathen glaubte, „er hat auch wohl die Hoffnung, seinen schönsten Wunsch erfüllt zu sehen, geäußert – “

„Und was würden Sie mir rathen?“ unterbrach sie ihn, noch immer ohne aufzusehen.

„Ich soll Ihnen dabei rathen?“ rief Reichardt überrascht, „haben Sie denn nicht den besten Rathgeber an Ihrem eigenen Herzen? “

Sie blickte rasch, mit einem eigenthümlichen Lächeln zu ihm auf. „Und warum folgen Sie nicht Ihrem Herzen, Sir, wenn der Rathgeber so untrüglich ist?“

Der junge Mann verfärbte sich leicht. „Ich verstehe Sie nicht, Miß!“ sagte er nach einer augenblicklichen Pause.

„O, meinen Sie wirklich auch gegen mich den Geheimnißvollen spielen zu können?“ erwiderte sie. „Betrügen Sie sich selbst und die ganze Welt,“ fuhr sie, sich plötzlich erhebend, fort, während ein wunderbarer Glanz in ihr Auge trat, „Harriet Burton aber betrügen Sie nicht, Sir, und Harriet will Sie glücklich wissen! Ich darf Ihnen Eins sagen, und ich will es,“ fuhr sie erregt fort, ihre Hand leicht an den Arm des sich erhebenden Deutschen legend, „John ist noch der einzige Mann auf dieser Erde, den ich mir jetzt in näherer Verbindung mit mir denken könnte; [532] aber Sie möchte ich auch keinem andern Weibe gönnen, als nur meiner Margaret!“

„Miß Harriet, um Gotteswillen!“ rief Reichardt und die Sprache schien ihm im plötzlichen Schrecken versagen zu wollen; in ihrem Augen aber, das dunkel und groß auf seinem Gesichte ruhte, zitterte es wie eine gewaltsam unterdrückte Empfindung.

„Sie sollen Vertrauen zu mir haben, Sir, oder ich nehme es mir!“ sagte sie, während ihre Hand von seinem Arme glitt: „die größten Seiten Ihres Charakters scheinen nur da zu sein, um Unglück anzurichten, aber ich werde es diesmal verhüten! Warum wollen Sie fort, Sir, wenn Sie nicht meinen, Ihr Herz habe Ihnen einen schlimmen Streich gespielt, dessen Folgen Sie mit Aufopferung Ihres Glückes vorbeugen müssen? Sagen Sie doch, daß das, was mir mein Gefühl im ersten Moment gesagt und meine Augen dann bestätigten, falsch war, sagen Sie es doch, wenn Sie können!“

„Miß Harriet,“ erwiderte Reichardt, der mit Macht die ihn erfassende Verwirrung niederzukämpfen suchte, „wenn Sie nicht wollen, daß ich sofort und unverrichteter Sache das Haus verlasse, so ziehen Sie weder mich noch meine Verhältnisse in unser Gespräch –“ er mußte vor einer Erregung, die alles Blut nach seinem Herzen zu treiben schien, innehalten.

Das Mädchen sah ihm zwei Secunden lang schweigend in das bleiche Gesicht. „Ich will Ihnen nur einen kurzen Vorfall erzählen, und dann mögen Sie gehen,“ erwiderte sie ruhig. „Ich konnte mir heute Nachmittag schon im Voraus denken, was das Ende Ihres Gesprächs mit Mr. Frost sein würde, und trat, mit mir selbst fertig, da ich die Denkweise des alten Herrn ziemlich genau kenne, hier in’s Zimmer, als Sie eben das Haus verließen.

„Er will nicht reden,“ rief er mir entgegen, „und wenn ich auch sicher glaube, daß er einen genügenden Grund für sein Handeln hat, so frappirt mich doch dieses ängstliche, lichtscheue Verbergen seiner Gedanken.“ – „Wollen Sie meine Ueberzeugung hören?“ sagte ich; „er liebt Margaret, Sir, fühlt sich zu schwach, um dagegen anzukämpfen, und hält sich doch auch selbst für zu gering, um eine Hoffnung hegen zu dürfen!““

Reichardt’s Hand faßte wie in einem Krampfe den Arm der Sprecherin, während seine Augen sich fast unnatürlich erweiterten. „Harriet, Sie haben das nicht gethan,“ rief er mit einer Stimme, die ihrer ganzen Kraft beraubt schien, „sagen Sie nein, Sie wissen nicht, was Sie damit angerichtet hätten!“

„Wir wollen das abwarten. Sir, so schlecht sich auch sonst meine irdische Natur zur Schutzengelrolle eignet!“ erwiderte sie, ohne Zucken den Druck seiner Hände aushaltend, während es leise wie ein melancholisches Lächeln über ihr Gesicht glitt. „Mr. Frost,“ fuhr sie dann in ihrer frühern Weise fort, „sah mich überrascht mit großen Augen an, ohne ein Wort zu reden: bald aber klärte sich sein Gesicht zu einer Miene voll sonderbaren Ausdrucks aus: „ganz deutsch!“ sagte er vor sich hin und begann einen Gang durch’s Zimmer zu machen. „Haben Sie schon eine ähnliche Aeußerung gegen Margaret gethan?“ fragte er dann. vor mir stehen bleibend. – „Ich glaube, es wäre unvorsichtig gewesen, Sir!“ sagte ich. Er nickte schweigend. „Und was sagen Sie dazu, Harriet?“ begann er nach einer Weile wieder. – „Nichts, Sir, als daß Margaret in ihm das beste Loos ziehen würde!“ – „Also meinen Sie, daß auch Margaret –?“ – „Ich meine nur, daß sie Alles ahnt, Sir, und sich umsonst gegen ihre eigenen Gefühle sträubt –““

„Nein, nein!“ unterbrach sie Reichardt, der mit stockendem Athem jedes Wort von ihren Lippen aufgefangen hatte, „Sie wissen ja nicht – o mein Gott, mein Gott!“

„Also leugnen Sie doch wenigstens nicht mehr,“ rief sie mit plötzlich aufleuchtendem Gesichte, „und nun sagen Sie mir doch, ob sich etwa Margaret Ihnen zuerst hätte erklären sollen, oder ob Sie von Mr. Frost die vorherige Versicherung erwarteten, daß die Liebe zu einem reichen Mädchen in Amerika durchaus nichts Ungehöriges sei? sagen Sie mir doch, ob es nicht eine Feigheit ist, seinem Glücke den Rücken kehren zu wollen, nur weil man nicht den Muth hat, es zu erringen?“

„Feig?“ erwiderte er, unfähig seine Empfindungen länger zu beherrschen; „haben Sie denn wohl einen Begriff von einem Kampfe gegen sich selbst, Miß, oder kennen Sie alle die Umstände, die einen Entschluß wie den meinigen herbeiführen mußten?“

Very well,“ sagte sie mit einem Lächeln, das wie ein Siegeszeichen in seinem Gesichte aufstieg, „so werden Sie jetzt also alle Ideen, Ihre Stellung zu verlassen, aufgeben und vorläufig hier ruhig warten, bis ich wieder zurück bin!“ Sie wandte sich ohne weiteres Wort nach einer Seitenthür und verschwand dort.

Als sich Reichardt allein sah, überkam es ihn wie eine völlige Verwirrung aller seiner Gedanken, in der er sich nur der einen Frage klar bewußt war: Wohin ging sie? was beabsichtigte sie? Wie ein Wirbel ging bald die Erkenntniß, daß er völlig verrathen war, bald Harriet’s Gespräch mit dem alten Frost, dessen Ende er nicht erfahren hatte und sich nicht vorzustellen vermochte, bald der Gedanke an Margaret selbst, die sich so scheu von ihm gewandt, durch seinen Kopf; er hätte aus dem Hause stürzen mögen, um allem Kommenden auszuweichen, und doch fühlte er es zugleich tief in seiner Seele wie die Ahnung eines unaussprechlichen Glücks aufsteigen, die alle seine Nerven durchzitterte; bei jedem Geräusch im Hause zuckte er zusammen, und er dachte nicht einmal daran, nach Fassung zu ringen, hatte er doch keinen Begriff, was es sein könne, das als das Nächste ihm entgegentreten werde; aber es währte geraume Zeit, ehe seine Spannung sich lösen sollte. Da öffnete sich endlich leise dieselbe Thür, durch welche Harriet sich entfernt hatte, und Reichardt meinte jeden Nerv in sich beben zu fühlen, als er Margaret, bleich wie er selber, eintreten sah. Langsam, das große Auge ernst auf ihn gerichtet, kam sie heran, um ihren Mund indessen spielte es wie eine mühsam niedergehaltene Bewegung. „Harriet sagt mir, daß ich noch ein Wort zu Ihnen reden möchte, und Sie würden bleiben,“ sagte sie halblaut – dann schien ihre Stimme zu versagen: aber auch Reichardt. der sein Herz voll zum Springen fühlte, hätte jetzt nicht ein Wort zu sprechen vermocht, und so standen sie Blick in Blick, bis plötzlich ein Strom von Thränen in ihre Augen schoß, und sie, sich wegwendend, wieder davon eilen wollte. In dem Deutschen aber waren alle zurückgedrängten Empfindungen aufgewallt, und mit einer fast unwillkürlichen Bewegung hatte er ihre Hand gefaßt.

„Margaret, Miß Margaret, um Gotteswillen!“ rief er, ohne des Widerstrebens mit dem sie sich ihm zu entziehen suchte, zu achten, „sagen Sie mir doch, was ich thun soll, und ich werde es thun: ich will bleiben, ja ich bleibe, sobald Sie es verlangen, und müßte ich selbst dabei zu Grunde gehen – aber sehen Sie mich an, damit ich Muth dazu erhalte, gehen Sie nicht wieder so von mir, Margaret!“

Er fühlte ihren Widerstand ersterben, noch eine kurze Zeit blieb ihr Kopf abgewandt, dann aber hob er sich und mit einem wunderbar gemischten Ausdruck von Schämigkeit und hingebendem Vertrauen kehrte sie ihm das durch Thränen lächelnde Gesicht zu. Wieder standen sie Aug’ in Auge, seine beiden Hände hielten fest die ihre zwischen sich; es war ihm, als müsse er aufjauchzen und sie fest in seine Arme schließen, und doch bannte ihn der Zauber dieser unberührten Jungfräulichkeit, der wie ein Duft über sie ausgegossen schien, zurück in seine Schranken.

„Und warum bekam ich heute Mittag keinen Blick von Ihnen?“ fragte er endlich.

„Sie wollten ja gehen!“ erwiderte sie, fast mit den Worten zugleich aber brachen von Neuem die Thränen aus ihren Augen, und hastig sich losreißend eilte sie aus dem Zimmer.

Reichardt starrte ihr nach, wie in halber Verzückung: plötzlich aber streckte er, als müsse er mehr Raum in seiner Brust schaffen, die Arme weit von sich und schlug dann beide Hände vor sein Gesicht. Mitten im Gefühle seiner jungen Seligkeit indessen kam ihm der Gedanke an den alten Frost, dem er in seiner jetzigen Erregtheit unter keinen Umständen hätte entgegentreten mögen. Es drängte ihn hinaus, allein zu sein und erst klar mit sich zu werden, ehe er die übrige Welt an sich herantreten ließ, und schon nach wenigen Minuten hatte er das Haus verlassen, planlos und nur mit den Vorfällen der letzten Stunde beschäftigt in die Straßen hinein schreitend. Erst nach geraumer Zeit hob er den Kopf wieder und blickte lächelnd in der bereits einbrechenden Dunkelheit um sich, als ihm ein vorstehendes Gebäude den Weg versperrte und er sich in einem Gewirr enger Gassen fand, welche er nie zuvor kennen gelernt: schon der von einer Laterne beleuchtete Name der nächsten Straßenecke indessen zeigte ihm, daß er nicht weit von Meißner’s Boardinghaus sein könne, und wie von einem freundlichen Gedanken berührt schlug er raschen Schritts den Weg dahin ein.

„So, da sind Sie ja doch!“ rief Meißner, der im Augenblicke [533] beschäftigungslos, müßig in der leeren Gaststube saß, dem Eintretenden entgegen; schwer war es aber zu unterscheiden, ob sein Willkommen ein freudiger oder unmuthiger war, so schienen sich beide Empfindungen in seinen Zügen zu mischen: „haben Sie heute bei der Gnädigen nicht ankommen können?“

„Bei der Gnädigen?“ fragte Reichardt lachend.

„Gerade so!“ erwiderte der Andere, sein Gesicht unwillig verziehend, „ich habe mir Ihre Sache genau überlegt, und ich will Ihnen sagen, daß ich Sie jetzt vollkommen verstehe. Sie sind in das Frauenzimmer verliebt, und vielleicht um so mehr, weil sie jetzt einen alten Mann hat; deshalb gedenken Sie wahrscheinlich mit den Leuten zu gehen und lassen Ihr ordentliches Geschäft und Ihre guten Aussichten im Stiche.“

Reichardt konnte sich einer leichten Betroffenheit über die Auslegung, welche sein bisheriger Plan bei der Ausführung gefunden hätte, nicht erwehren, die aber schnell vor dem Glücke, das seine Seele füllte, verschwand. „Wissen Sie. daß es sehr unrecht ist, Meißner, einem Menschen dergleichen Dinge unterzulegen?“ sagte er, in sichtlicher Laune sich einen Stuhl herbeiziehend, „denken Sie nur, in welches Licht Sie mich damit stellen müssen.“

Der Kupferschmied warf einen halben Blick in sein Gesicht.

„Die Wahrheit wird meistens unrecht genannt,“ brummte er, „und Sie werden sie freilich jetzt nicht zugestehen!“

„Meißner, ich gehe ja aber gar nicht und bleibe, wo ich bin!“

Der Andere hob rasch den Kopf und sah dem Sprechenden scharf in die lachenden Augen. „Wollen Sie mich jetzt zum Narren machen oder haben Sie das heute Nachmittag gethan!“ rief er nach einer Pause.

„Keins von Beiden,“ erwiderte Reichardt mit dem vollen Ausdrucke des Glücks, „es ist nur eben ein Unterschied zwischen Nachmittag und jetzt. Es ist noch Alles geblieben, wie es war, Meißner, und doch hat sich auch wieder so viel geändert!“

„Ei, so geben Sie Räthsel auf, wem Sie wollen, mir aber müssen Sie beichten!“ rief der Kupferschmied aufspringend und faßte den Freund bei beiden Schultern; „kein Pardon!“ fuhr er fort, als der Andere abwehrend beide Arme gegen ihn ausstreckte, „denken Sie etwa, man quält sich Ihrethalber umsonst mit sich selbst herum und verdirbt sich den ganzen Tag?“

„Still jetzt, Meißner,“ entgegnete Reichardt ernster werdend und erhob sich, „Sie sollen Alles erfahren, sobald ich reden darf, und so fragen Sie jetzt nicht weiter. Vorläufig kommen Sie mit mir, damit wir ein ordentliches Abendbrod nehmen und eine Flasche Wein trinken; dann aber gehen wir zum alten Black.“

„Ab und zur Ruhe gewiesen, ich konnte mir es schon denken,“ brummte der Andere, die Arme sinken lassend; „aber auch gut! es dient wenigstens als Probe für eine uneigennützige Freundschaft!“

Mit einem kräftigen Kopfnicken eilte er davon, um seine gewöhnliche Umkleidung vorzunehmen.

Als Reichardt spät am Abend nach seinem Boardinghause zurückkehrte, ließ er sich noch Feder, Tinte und Papier nach seinem Zimmer bringen und schrieb an Mathildens Mann, daß seine Verhältnisse es jetzt nicht gestatteten, das ihm gemachte Anerbieten anzunehmen. An seine ehemalige Gefährtin selbst aber legte er einige Zeilen herzlichen Abschieds und freundlicher Wünsche für ihre fernere Zukunft bei, zugleich die Hoffnung aussprechend, ihr auf ihren beiderseitigen Lebenswegen einmal wieder zu begegnen. Er ging noch selbst nach dem Schalter der nahen Postoffice, um der Besorgung des Briefs am nächsten Morgen sicher zu sein. In seine Wohnung zurückgekehrt, begann er hier langsam auf und ab zu schreiten, bis er nach einer Weile, sich die Stirn reibend, mitten im Zimmer stehen blieb. Die Erregung, welche die letzten Ereignisse in ihm hervorgerufen, war vorüber, und fast wollten jetzt, wo er den letzten Schritt gethan, der ihn in seinem bisherigen Wirkungskreise festhielt, leise Zweifel in ihm aufsteigen, ob er nicht zu voreilig gehandelt. Was ihn wie in einem Zauber gefangen gehalten, während er es durchlebt, begann jetzt eine völlig verschiedene Färbung anzunehmen, und je genauer er das Geschehene betrachtete, je weniger vermochte er eine aufsteigende bängliche Ungewißheit von sich zu weisen. Hatte er doch nicht ein einziges Wort von Margaret, das ihn zu größern Hoffnungen als bisher berechtigte; von Mr. Frost’s Meinung seinen Gefühlen gegenüber kannte er nichts, als die sonderbare Miene, welche jener bei Harriet’s Mittheilung gezeigt hatte und die sich zuletzt nach allen Richtungen hin deuten ließ; und wenn er sich auch mit seinen Gedanken an Harriet klammerte, die ihn sicher nicht aus seinem Schweigen getrieben und ihm Hoffnungen gemacht haben würde, wenn nicht ein bestimmter Grund zu den letzteren vorhanden gewesen wäre, so hatte er doch schon selbst erfahren, wie leicht sich das Mädchen von einer Idee zum bestimmten Handeln fortreißen ließ, ohne die wirklich bestehenden Verhältnisse zu berücksichtigen. Langsam entkleidete er sich und suchte sein Bett, um sich von Neuem die Bilder des Tages vor die Seele zu rufen. Da trat ihm plötzlich Frost’s Aeußerung: „Ganz deutsch!“ in die Erinnerung und daneben Harriet’s spöttelnde Frage, ob er erst die allseitig genügendsten Versicherungen verlange, ehe er sich entschließe, nach einem Glücke zu greifen; – „ist es nicht Feigheit?“ klang es dann in seinen Ohren. Nein, er war nicht feig, er wäre kräftig und entschlossen in jedem andern Falle gewesen: und mochte es auch „deutsch“ sein, zu zagen, wo es galt, in eigener Sache keck nach dem Höchsten zu greifen, so würde er das jetzt wohl von sich werfen, wenn nur Margaret –! Ehe er den Gedanken indessen geendet, stand das in Thränen lächelnde Gesicht, wie es sich nach ihm gehoben, vor seinem innern Blicke, sah er in diese Augen, deren Ausdruck ihm einen Himmel in die Brust geworfen – er grübelte nicht weiter, aber tief in die Seele das vor ihn tretende Bild aufnehmend, war es seine letzte bewußte Vorstellung, ehe er entschlief. –

Es war ein eigenthümliches Gefühl, das sich Reichardt’s bemächtigte, als er am andern Morgen das Cassenzimmer betrat und von Bell’s bisherigem Arbeitsplatze Besitz nahm. Bei seinem Erwachen war ihm die neue Wendung seines Schicksals fast wie ein Traum erschienen, in dem seine am Abend zuvor durchkämpften Zweifel wie ein dunkler Punkt standen. Aber sich kräftig aus seiner Gefühlswelt aufraffend, hatte er sich den Stand der Dinge klar vor Augen gestellt, hatte erkannt, daß, möchten sich auch die ihn umgebenden Verhältnisse für oder gegen seine Hoffnungen gestalten, er ohne bestimmte Ursache nicht von Neuem zurücktreten könne, und vorläufig Allem, was sich aus den gestrigen Vorfällen entwickeln werde, ruhig entgegensehen müsse – und mit der gewonnenen Klarheit war auch seine ganze Seele durchwärmend, das Bewußtsein seiner neuen Stellung und der sich jetzt vor ihm eröffnenden Zukunft in ihm wach geworden. Demohngeachtet traten ihm bei seinem Eintritt in die Office alle Empfindungen, mit welchen er dieselbe gestern verlassen, wieder lebendig entgegen, und er konnte sich einer leichten Beklommenheit nicht erwehren, wenn er an das erste Begegnen mit dem allen Frost, dem er jedenfalls eine Erklärung schuldig war, dachte. Er war längst mit den ihm obliegenden Pflichten vertraut, aber er mochte demohngeachtet noch keine Hand an die von Bell abgeschlossenen Bücher legen, ehe nicht das erwartete Zusammentreffen vorüber war, und so blätterte er die vor ihm liegenden Papiere durch, ohne doch mit einem Gedanken bei der vorgenommenen Beschäftigung zu sein, aber jeden Tritt, der in dem vordern Zimmer laut wurde, belauschend.

Fast eine halbe Stunde mochte er in diesem Zustande verbracht haben, als er die Eingangsthür zur Office klappen und gleich darauf eine Stimme laut werden hörte, und „das ist er!“ murmelte er vor sich hin, seine ganze Fassung möglichst zusammenraffend.

Reichardt hatte sich erhoben, als Frost sichtbar wurde. Der erste Blick in das Gesicht des Eintretenden aber zeigte ihm, daß dieser von irgend einem geschäftlichen Gedanken ganz in Anspruch genommen sein mußte, und fast schien es, als wolle er ohne Aufenthalt nach dem hintern Zimmer gehen. Kurz vor der Thür des letztern erst hielt er, wie sich besinnend, seinen Schritt an und wandte sich langsam dem jungen Manne zu. „Ich war gestern leider verhindert, Ihren Entschluß entgegenzunehmen,“ sagte er, während sich ein seltsames halbes Lächeln um seinen Mund legte, „ich sehe aber, wir sind mit einander in Ordnung, und so wird es sich ja bald zeigen, wie weit das neue Arrangement unsern beiderseitigen Erwartungen entspricht. Notiren Sie sich vorläufig von heute ab denselben Gehalt, welchen Bell bisher bezogen.“ Er hielt inne und blickte, wie einen besonderen Gedanken verfolgend, in das Gesicht des Deutschen. „Johnson war heute schon bei mir,“ begann er nach kurzem Schweigen von Neuem. „und verlangt als [534] einen Act der Billigkeit, daß ich seine Forderung an die Versicherungsgesellschaft mit zur Liquidation kommen lasse, da die Nachricht von dem beabsichtigten Betruge gewissermaßen durch die Vermittelung seines Geschäfts an uns gelangt sei. Der alte Black hat, soweit es sein Interesse betrifft, bereits seine Zustimmung gegeben und wird dafür unter Einlegung seines Capitals als Partner in Johnson’s Geschäft treten, aus welchem der Vater, der ohnedies nicht viel mehr von dieser Welt zu hoffen hat, ausscheidet.

Jetzt fragt es sich, was sollen wir thun?’ Reichardt war mit aufmerksam gehobenem Kopfe und sichtlichem Interesse der letzten Mittheilung gefolgt. „Die Forderung läßt wohl eine doppelte Auffassung zu, Sir,“ sagte er jetzt, während sich sein Gesicht höher färbte. „Tritt uns Johnson nur als Geschäftsmann gegenüber, so halte ich sein Verlangen für eine reine Absurdität. Er hat durch Geschäftslässigkeit verfehlt, was wir durch Glück und ein rasches Benutzen der günstigen Chance gewonnen – das ist das einfache und allein richtige Verhältniß in der Sache, das für den Kaufmann wohl jedes weitere Wort unnöthig macht. Anders vielleicht mag sich dieses gestalten, wenn Johnson als Freund Ihres Hauses Ihre persönliche Rücksicht beansprucht, hier aber hört natürlich jedes Urtheil eines Dritten auf.“

„Gut, und was würden Sie in dem letztern Falle an meiner Stelle thun?“ fragte der alte Herr lächelnd.

Nur einen Augenblick ging es wie eine leichte Verlegenheit über Reichardt’s Gesicht. „Ich glaube nicht, Mr. Frost,“ erwiderte er dann, „daß ich die Verhältnisse genug kenne, um mich nur in die angedeutete Lage versetzen zu können.“

Frost nickte, während sich der frühere eigenthümliche Zug seinem Lächeln wieder beigesellte. „Ich will Ihnen gestehen,“ sagte er, „daß ich nicht die geringste Neigung hätte, von der gesunden kaufmännischen Ansicht, welche Sie soeben ausgesprochen, abzuweichen, wenn ich nicht Rücksicht auf Black nehmen möchte, einen alten, treuen Arbeiter, dessen ich mich schon seit Beginn meiner Carriere entsinne und der mehr werth ist, als vielleicht alle drei Johnsons zusammen. Das, was unser Geschäft verlieren muß, wenn wir Johnson zur Liquidation seiner Forderung zulassen, steht in keinem Verhältniß zu den Folgen, welche dessen Verlust für ihn und somit für Black’s alte Tage haben könnte – sie würden fast sicher den Fall des Geschäfts bringen. Indessen lasse ich gern der begründeten Meinung eines Vertrauensmannes, wie Sie es durch Ihre neue Stellung geworden sind, ihre Geltung, und so werde ich das Opfer, was zu bringen ist, auf mein Privat-Conto nehmen. Sobald Johnson kommen sollte, weisen Sie ihn zu mir!“

Er nickte leicht und wandte sich nach seinem Zimmer. Reichardt’s Brust aber war bei dem Ende des Gesprächs weit geworden und hob sich jetzt unter Empfindungen, wie er sie bisher in dem Maße noch nie gekannt. Er meinte in diesem Augenblicke sich für den Mann, der von ihm gegangen, wie für die ihm anvertraute Stellung in jede Gefahr stürzen zu können und lange noch stand er, mit dem Lächeln tiefster, glücklichster Befriedigung vor sich hinsinnend, ehe er, langsam den Kopf hebend, sich seinen neuen Arbeiten zuwandte.

Es war Mittag, als sich die Thür nach dem Vorderzimmer öffnete und John geräuschvoll eintrat. „Ich bin wirklich so sehr mit andern Dingen beschäftigt gewesen, Will, und bin es noch, daß ich kein Wort von der ganzen Sache weiß,“ hörte ihn Reichardt sagen; „wenn Vater mit dem Cassirer hat sprechen wollen – hier ist er, reden Sie zu ihm!“

Der Dasitzende blickte auf und sah in William Johnson’s Gesicht, welcher, hinter dem jungen Frost eingetreten, soeben wie in unangenehmer Ueberraschung den Kopf nach dem Deutschen wandte. „Mr. Frost hat jedenfalls von Ihrem wirklichen Cassirer gesprochen!“ sagte der Letztere, das Gesicht kurz nach seinem Begleiter kehrend.

„Das ist er, Mr. Reichardt, Sir!“ erwiderte John mit einem Lächeln, das nicht ohne einen Anflug von Schadenfreude war, „Mr. Bell hat seinen Platz jetzt in der Marine Bank. Machen Sie Ihr Geschäft ab, und ich werde einstweilen nach dem meinigen sehen!“ Er schritt rasch nach dem Vorderzimmer, Johnson in sichtlichem Kampfe mit sich selbst zurücklassend. Reichardt hatte nur einen Blick in das sich ihm wieder zuwendende Gesicht geworfen, meinte aber Alles, was in der Seele dieses gedemüthigten Mannes vorging, mitzufühlen, und hätte in seiner glücklichen, gehobenen Stimmung nicht noch eines Sandkorns Schwere neuer Demüthigung hinzufügen können. „Wenn es sich um die Versicherungs-Angelegenheit handelt, Sir,“ sagte er in freundlichem Tone. „so bin ich allerdings davon unterrichtet, indessen finden Sie Mr. Frost in seinem Zimmer, und Sie sind bereits erwartet.“ Zwischen Johnson’s Augenbrauen machte sich jetzt ein eigenthümliches Zucken bemerkbar, als wisse er nicht, welche Miene anzunehmen. „Dank Ihnen, Sir,“ versetzte er endlich, schien aber augenscheinlich noch eine Frage auf den Lippen zu haben. Wie in einem raschen Entschlusse indessen wandte er, den Kopf zurückwerfend, sich plötzlich ab und öffnete die Thür zu Frost’s Zimmer, kaum war er verschwunden, als sich auch John’s Gesicht wieder in der vordern Thüröffnung zeigte. „So!“ rief dieser halblaut, nach einem vorsichtigen Rundblick eintretend, „mich auch noch um anderer Leute Dinge zu kümmern, wenn ich selbst nicht weiß, wo mir der Kopf steht! Für’s Erste habe ich mit Ihnen zu reden, Reichardt, und zwar sehr ernsthaft,“ setzte er die Stirn runzelnd hinzu, „es ist längst Mittag, und so werde ich Sie nach Ihrem Boardinghause begleiten.“

„Doch nichts Gefährliches?“ fragte Reichardt, sich lächelnd zum Gehen fertig machend.

„Kommt auf die Umstände an, Sir!“ war die Antwort, mit welcher Jener dem Deutschen nach dem Ausgange der Office voranging. Auf der Straße angelangt schritt er, wie um ein Gespräch im Gehen zu vermeiden, seinem Begleiter immer um einen halben Fuß voraus, und Reichardt konnte sich endlich einer leichten Spannung, was der Grund dieses ungewöhnlichen Benehmens sei, nicht erwehren. Sie fanden den Parlor des Boardinghauses, wie gewöhnlich während der Mittagszeit, leer, und der Deutsche zog zwei Stühle zum Kaminfeuer, schweigend die Mittheilungen des Andern erwartend. Ohne sich aber zu setzen, legte John die Hand auf die Schulter seines Gesellschafters und sah diesem scharf in die Augen. „Sie haben Ihren Entschluß, uns zu verlassen, aufgegeben,“ begann er, „und ich weiß nur, daß ein Gespräch mit Harriet einen bedeutenden Antheil daran hat. Reichardt,“ fuhr er fort, während eine stille Gluth in sein Auge trat, „ich bin soeben dabei, mir das Glück oder Unglück meiner ganzen Zukunft zu gründen. Sagen Sie mir, was Sie zu Ihrem ersten plötzlichen Entschlusse und zu dem jetzigen schnellen Aufgeben desselben bewogen hat. Sie sind es mir durch Ihr gestriges Versprechen schuldig, und ich weiß, daß Sie mich, Ihren besten, aufrichtigsten Freund, nicht belügen werden.“

Reichardt sah verwundert in das erregte Gesicht des Sprechenden. „Was kann denn mein Entschluß mit Ihrem Glück oder Unglück zu thun haben?“ fragte er. „Sprechen Sie Ihre Gedanken aus, John, und ich will Ihnen so ehrlich antworten, als Sie es nur wünschen können.“

„Weichen Sie mir nicht aus,“ rief der Andere, wie ungeduldig, „zeigen Sie mir die rechte Ehrlichkeit und antworten Sie mir gerade und offen!“

Ein tiefes Roth stieg langsam in das Gesicht des Deutschen. „Sie wissen nicht, was Sie von mir, der sich noch selber kaum klar ist, verlangen,“ erwiderte er nach einer Pause, „demohngeachtet will ich ohne Rücksicht gegen mich Ihrer Forderung genügen; erkennen Sie aber dann, John, daß das, was ich zu sagen habe, viel besser unausgesprochen geblieben wäre, so wissen Sie, daß Sie selbst mir keine Wahl gelassen haben.“

[545] Bei diesem Bedenken Reichardt’s wurde der junge Frost, die Augen fest auf das Gesicht des Sprechenden gerichtet, einen Schatten blässer und neigte nur zustimmend den Kopf. „Sie wissen,“ fuhr Reichardt vor sich niedersetzend fort, „daß ich letzten Sommer Ihre Schwester Margaret und Harriet Burton in Saratoga traf, und daß Harriet, die mein Geigen zum Tanz ein Niggergeschäft nannte, mich als Organisten nach Tennessee schickte. Ich hatte mit Margaret damals nur wenige Worte gewechselt, und doch waren sie hinreichend gewesen, mir das ganze Herz zu öffnen, als habe ich sie schon längst gekannt, als stehe ich auf durchaus gleicher Stufe mit ihr, und während mir Harriet trotz des engen Beisammenlebens in ihrer Heimath, trotz des Dankes, welchen ich ihr schuldete, innerlich völlig fremd blieb, war Margaret meine stete und liebste Erinnerung, mein Denken im Wachen und im Traume. – Sie wissen, wie ich in Ihr Geschäft kam,“ fuhr der Redende nach einem tiefen, halbunterdrückten Athemzuge fort, „entsinnen sich des ersten Abends, an welchem ich Ihrer Schwester wieder Aug’ in Auge gegenüberstand – nun, John!“ unterbrach er sich, entschlossen den Blick hebend, „an diesem Abende kam plötzlich die Erkenntniß über mich, daß ich eine Leidenschaft unbewußt in mir groß gezogen hatte, die, so sehr sie mich auch oft beseligt, mich doch jetzt um so elender machen mußte; ich war der jüngste Clerk im Geschäfte, hatte dazu meine Stellung nur Mr. Frost’s Wohlwollen zu danken, und auch die leiseste Hoffnung für meine Herzenswünsche erschien mir Wahnsinn. Sie wissen, wie ich an diesem Abende Ihr Haus verließ, und das war der Anfang eines Kampfes gegen mich selbst, den ich redlich mit allen meinen Kräften durchfocht, der mich aber wohl aufgerieben hätte, wenn ich nicht als einzige Rettung zu dem Entschluß gekommen wäre, New-York zu verlassen. Da haben Sie Alles, was Ihnen räthselhaft erschienen sein mag!“

„Und nun?“ rief John, in dessen gespanntem Blicke ein ganz neues, verändertes Leben zu blitzen begann.

„Ich weiß kaum selbst, was ich Ihnen weiter sagen soll,“ erwiderte Reichardt, von Neuem das Auge senkend, „Harriet hatte mich errathen, überrumpelte mich und nahm mir das Wort ab zu bleiben –!“

„Das ist wirklich so?“ fragte der Andere, als wage er der Gewißheit noch nicht vollen Raum zu geben. „Und doch –“ brach er dann plötzlich aus, „ich glaube Ihnen, Reichardt, ich bin ein Esel gewesen, geben Sie mir einen Kuß!“ Beide Arme schlang er um den überraschten Deutschen und zog diesen dann mit sich auf die bereitstehenden Stühle nieder. „Ich sage Ihnen, Mann, Sie haben mit Ihren Worten einen glücklichen Menschen gemacht,“ fuhr er erregt fort, „einen doppelt glücklichen, und ich will’s Ihnen verzeihen, daß Sie mich, und sich selbst so lange auf die Folterbank gespannt haben; es ist einmal so, wo die Mädchen in’s Spiel kommen, wird auch der Klügste zum Narren! Machen Sie Ihre Sache mit Margaret fertig – ich verstehe jetzt Vieles, was mir auch an ihr unverständlich war – und nach Allem, was bis jetzt geschehen, denke ich kaum, daß Vater einen großen Schrecken über die Geschichte bekommen wird. Daß ich mich aber einen Esel nannte – well, Sir! ich war bis heute noch nicht völlig über Ihre Beziehungen zu Harriet klar; als sie hier eintraf, wollten Sie plötzlich weg; heute Morgen erfahre ich, daß ein Brief von ihrem Vater angekommen ist– wann, weiß ich nicht – der sie wieder nach Hause ruft, und eben so plötzlich entschließen Sie sich wieder zu bleiben; ich habe mich gewehrt gegen die aufsteigenden Gedanken und konnte doch nicht davon loskommen – weg damit! Sie werden mich aber besser verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß ich Harriet morgen in ihre Heimath zu begleiten und nicht ohne sie wieder zurückzukehren gedenke!“

„Und was treibt sie so schnell wieder weg?“ fragte Reichardt, in dessen Innerm es bei John’s Ergießung klarer, wolkenloser Frühlingshimmel geworden war.

„Familiengeschichten, Teufelsgeschichten!“ erwiderte der Andere, „Mrs. Burton hat kopfüber das Haus verlassen und ist abgereist, so viel ich verstehe, und Harriet soll ihren Vater nicht allein lassen. – Aber jetzt kommen Sie, um irgendwo einen Imbiß zu nehmen,“ rief er aufspringend, „ich habe noch so viel Geschäfte, daß ich nicht zum Essen nach Haus gehen kann, und Sie schenken mir die Zeit, die Sie noch haben. Heute Abend werden Sie natürlich, um von Harriet Abschied zu nehmen, in unserm Hause sein.“

Als Beide den Broadway erreichten, holten sie den alten Frost ein. „Fertig mit Johnson?“ fragte John, ihn aufhaltend.

„Ich glaube, wirklich fertig, und wir werden ihn schwerlich wieder in unserm Hause sehen!“ entgegnete der Angeredete. „Er scheint so wenig an eine wohlmeinende Ermahnung gewöhnt zu sein oder eine Verpflichtung zum Dank anerkennen zu können, daß ich ihm den Stand der Dinge völlig habe klar machen müssen, und erst, als er sich schriftlich gebunden, die Hälfte der ihm werdenden Versicherungssumme zu Black’s Einlage in sein Geschäft zu schlagen, habe ich seine Forderung bewilligt. Sein Geschäft verliert nichts bei dem Arrangement, Black aber erhält dadurch die [546] Macht, die er neben einem Menschen wie Johnson nur zu nöthig haben wird!“ Mit einem freundlichen Nicken trennte er sich von den jungen Leuten. – Der Geschäftsschluß war an diesem Abend kaum vorüber, als Reichardt sich auch schon auf dem Wege nach Frost’s Hause befand. Ein Drängen und Zweifeln, ein Hoffen und Fürchten zog ihn mit Macht dahin und als er dort die Klingel faßte, meinte er kaum anders zu fühlen, als da er zum ersten Male hier gestanden hatte.

Er fand die sämmtlichen Familienglieder in dem hintern Zimmer, wo das Piano stand, versammelt. Sein erster Blick indessen flog nach Margaret; er sah ihr Gesicht bei seinem Eintreten aufglühen, aber ein helles, klares Lächeln grüßte ihn und schuf in seiner Seele plötzlich eine Gewißheit seines Glücks, die alle seine Seelenkräfte wie mit neuem, sprudelndem Leben durchströmte. Lachend beantwortete er John’s launigen Gruß, trat mit einem fast muthwilligen Blicke Harriet’s neckendem Auge, in welchem wieder der ganze sprühende Geist früherer Zeit erwacht zu sein schien, entgegen und saß bald, ein Gefühl wie beseligende Heimath im Herzen, unter den Uebrigen.

Es waren sonderbare Stunden, welche sich an diesem Abende folgten. Oft war ein Gespräch über die gewöhnlichsten Dinge im Gange, und doch schien es mit einem Interesse und einer glücklichen Laune geführt zu werden, als läge in jedem Worte noch ein anderer, geheimer Sinn. Bald stockte die Unterhaltung wieder gänzlich, während Jedes seine eigenen Gedanken zu verfolgen oder die eines Andern in dessen Augen errathen zu wollen schien, bis der alte Frost mit einigen Worten der Unterhaltung einen neuen Anstoß gab.

„O, da fällt mir etwas ein,“ rief Harriet mitten in einer solchen Pause, „Mr. Reichardt ist gewiß einmal so freundlich, uns das deutsche Lied zu singen, das er in meines Vaters Hause vortrug. Höre ich es nicht noch einmal, so quäle ich mich gewiß wieder Tag für Tag damit ab und finde doch die Melodie nicht!“

Bereitwillig erhob sich der Deutsche, während John herzu sprang, um das Piano zu öffnen.

„Zieh’n die lieben, gold’nen Sterne,“

begann der Erstere nach der Einleitung, kaum aber hatte er die Anfangs-Strophen gesungen, als es ihn wie ein unbesieglicher Widerwille gegen das Musikstück überkam. Alle mit seiner „Schwester“ Mathilde früher durchlebten Scenen schienen von den Klängen plötzlich vor seine Seele gerufen worden zu sein. Das Lied, in diesem Kreise gesungen, wollte ihm wie eine Verhöhnung und Entweihung seiner tiefsten, besten Gefühle erscheinen, wie ein Herüberziehen der geschwundenen Trübsal in sein jetziges Glück – er brach plötzlich ab und sprang auf. „Erlassen Sie mir das Stück heute Abend,“ sagte er fast bittend, „zum rechten Vortrag gehört auch die rechte Stimmung, und seit ich meine Heimath hier gefunden habe, vermisse ich wahrlich keine andere.“

Fast unwillkürlich hatte sein Blick bei den letzten Worten Margaret’s Auge gesucht, und wie ein helles Verständniß strahlte es ihm dort entgegen; Harriet aber war aufgesprungen und rief in lustigem Spotte: „O Sie können auch sentimental sein? Zur Strafe sollen Sie jetzt gerade dies Lied weiter singen!“

„Ich schaffe Ihnen die Noten und einen englischen Text obendrein, Miß!“ gab Reichardt wie in halber Angst zurück. Zu seinem Glücke aber ließ die Meldung, daß der Abendtisch bereit sei, ein weiteres Verfahren gegen ihn nicht aufkommen.

Der alte Frost erhob sich, und die beiden Paare folgten. „O Miß Margaret,“ flüsterte Reichardt dem Mädchen zu, das leicht in seinen Arm gehangen neben ihm schritt, „wie geht es sich heute so anders zu Tische!“

Sie hob lächelnd das große Auge zu ihm. „Warum haben Sie nicht längst schon Ihre bösen Geister, die sicherlich nicht in unser Land passen, von sich gejagt?“ fragte sie.

„O, Sie haben nur zu Recht; aber wahrlich,“ erwiderte er leise, indem er mit festem Drucke die über seinem Arme hängende kleine Hand faßte, die nur kurz sich dagegen sträubte, „Sie sollen nichts mehr von Gespensterfurcht an mir wahrzunehmen haben!“

Als Reichardt zwei Stunden später seine Wohnung wieder betrat, blickte ihm vom Tische sein Violinkasten entgegen, und es wurde ihm, als merke er erst jetzt, wie lange er das Instrument, diesen verschwiegenen Freund in Leid und Freud’, vermißt habe.

Bedurfte er doch eines Vertrauten im Augenblicke mehr als je, um sich aussprechen zu können. Denn hatte er sich auch tief glücklich gefühlt, als er Margaret zu Tische geleitet, so sollte er es doch noch in größerem Maße während des Mahls selbst werden. Da hatte John, der eine Weile nachdenklich gesessen, plötzlich begonnen: „Ich denke, Vater, Du wirst Dich mit Margaret ziemlich einsam fühlen, so lange ich weg bin, und ich möchte deshalb vorschlagen, daß Ihr Reichardt als meinen Stellvertreter bei den Mahlzeiten installiret – er scheint sich ja jetzt behaglicher in unserem Hause zu fühlen!“ hatte er mit einem Blick auf Margaret hinzugesetzt, welcher dieser das Blut in die Wangen getrieben. Und der alte Frost schien angenehm von dem Gedanken berührt worden zu sein, und Reichardt hatte auf die Frage um seine Zustimmung nur mit ganzem Herzen sich zur Disposition stellen können, und so war er jetzt schon fast zum Familiengliede geworden.

Als er den Violinkasten öffnete, blickte ihm, unter die Saiten des Instruments geschoben, ein zierliches Billet entgegen. Er entfaltete es rasch und las:
„Bruder Max!

Noch einmal einen herzlichen Gruß von der Schwester. Ich empfing Deinen Absagebrief mit recht gemischten Empfindungen, aber es ist wohl besser so, daß wir unsere Wege nicht auf’s Neue vereinigen – wenigstens besser für mich, die jetzt so glücklich und zufrieden ist, als sie es nur jemals zu werden erwartete. Laß uns also Abschied von einander nehmen, und sollte uns das Leben je wieder einmal zusammen führen, so möge das von der Noth hervorgerufene Geschwister-Verhältniß aus unserer Erinnerung gestrichen sein – meinerseits glaube ich dies Mr. Fonfride zu schulden, und Dir kann ja am wenigsten an einer Vertraulichkeit gelegen sein, welche nur Deinem edelmüthigen Herzen entsprungen war. – Kaum glaube ich, daß wir unsere Kunstreisen noch für längere Zeit fortsetzen werden; sie waren ohnedies für Fonfride nur mehr das Steckenpferd des einzeln stehenden Mannes, und seit er in nähere Beziehungen zu einzelnen im gleichen Hotel mit uns wohnenden Familien getreten ist, scheint auch das Wanderfieber bei ihm nachzulassen. Er hat schon seit Deiner Absage davon gesprochen, nur eine Tour bis New-Orleans zu machen und von dort, ehe wir einen festen Wohnort wählen, mich zu einer Vergnügungsreise nach Frankreich mit hinüber zu nehmen.

So lebe denn wohl, Max, werde so glücklich als Du es verdienst, sei zum letzten Male gegrüßt und geküßt, und vergiß die Zeit, die trotz all ihrer Noth doch eine so glücklicke für mich war.

Mathilde.“ 

Reichardt blickte noch eine Weile sinnend in die Zeilen, er brachte den geschwundenen Tagen ein kurzes Todtenopfer. Dann aber rasch den Kopf hebend und mit hellen Augen vor sich, wie in eine sichtbare, sonnenbeglänzte Zukunft blickend, griff er nach seiner Geige, Alles was in ihm lebte, in der so lange entbehrten Zwiesprache mit den Klängen des Instruments ausströmend, und erst nach geraumer Zeit, als ihn ein frostiges Gefühl an seine kalte Stube mahnte, suchte er sein Bett.


Vier Wochen waren verstrichen, für Reichardt wie ein langer, heller Frühlingstag. Der alte Frost hatte mit jedem Tage mehr die unsichtbare Schranke, welche ihn trotz allen Wohlwollens von seinen Untergebenen trennte, fallen lassen und hielt den jungen Mann oft den größten Theil des Abends fest, sich in Gespräche über die verschiedensten Angelegenheiten des öffentlichen und geschäftlichen Lebens mit ihm vertiefend, oder sich bequem in den Lehnstuhl streckend, zu einer musikalischen Unterhaltung ermunternd. Mit einer ganz eigenthümlichen Befriedigung hatte Reichardt schon am zweiten Abend nach seinem Eintritt in die Familie in Margaret eine notenfeste Pianospielerin entdeckt, und am dritten Tage war seine Violine nach Frost’s Hause gewandert, wo sie von da ab ihren bleibenden Ruheplatz auf dem Piano fand. Trotz dieses engen Beisammenlebens aber war Margaret dem Deutschen äußerlich noch nicht um einen Zoll breit näher getreten, und nur ein innerliches gegenseitiges Verständniß schien ihrem Umgange mit jedem Tage eine größere Freiheit und Sicherheit zu geben; selbst als in der dritten und vierten Woche verschiedene Ball-Einladungen aus angesehenen Familien für Reichardt eintrafen, und er, eine [547] neue Bruderrolle übernehmend, oft allein an Margaret’s Seite seinen Eintritt in die fashionable Gesellschaft machte, änderte sich dieses Verhältniß nicht, in dessen Reinheit und Offenheit er sich vorläufig glücklich fühlte. Meinte er doch mit jedem Tage unverhohlener in des Mädchens Auge zu lesen, was ihm Worte nur hätten sagen können, und hätte er doch überdies kaum gewußt, wie eine nähere Erklärung mit ihr herbeizuführen.

Da wurde ihm eines Morgens ein Brief von John von der Post gebracht. Einige Mal hatte er schon durch des alten Frost’s oder Margaret’s Vermittelung Grüße von dem Abwesenden erhalten, und mit einiger Verwunderung über diese jetzige directe Zuschrift beseitigte er den Umschlag. Er las:

„Liebster Freund!

Wir sind hier auf diesem prächtigen Stück Erde, das mir recht wohl gefallen könnte, wenn ich eben kein New-Yorker Kind wäre, bald zu Ende; wir – das heißt zuerst der alte Mr. Burton, der einen Theil seiner Besitzungen bereits verkauft hat, und den Rest verwalten lassen will, bis sich ein weiterer Käufer findet, und sodann Harriet und ich, von welchen Herrschaften ich weiter unten reden werde. Sie sind, wie ich durch Harriet weiß, mit den Vorfällen in der Familie bekannt, und so erzähle ich Ihnen denn, daß Curry, der geistliche Bock, während der Nacht durch Burton selbst aus dem Schlafzimmer von dessen sauberm Weibe geholt, von einigen handfesten Negern festgehalten und dann durch den Sheriff nach dem County-Gefängniß gebracht worden ist. Der alte Gentleman hat sich durch die Entdeckung wie durch Harriet’s Entfernung so aus seiner gewöhnlichen Natur treiben lassen, daß er, ohne Schonung gegen Mrs. Burton, den klaren Sachverlauf zu Protokoll gegeben hat. Kaum ist aber die Sache ruchbar geworden, als sich auch ein Mob bildet, um das Gefängniß zu erbrechen und den Strafact in die eigene Hand zu nehmen; der Sheriff erläßt ein rasches Aufgebot an alle bessere Bürger, aber erst als das Gefängniß bereits gestürmt und der heilige Mann in den Händen des Volks, gelingt es, ihn halbtodt der kurzen Execution am nächsten Baume zu entziehen. Jetzt sitzt er in Nashville hinter Schloß und Riegel und sieht dem Zuchthause entgegen. Mrs. Burton hat sich über die ersten Schwierigkeiten durch Ohnmachten forthelfen wollen, der alte Herr aber hat noch dieselbe Nacht ihre sämmtlichen Sachen zusammenpacken lassen und sie selbst am Morgen mit der Postkutsche zu ihren Verwandten geschickt. Der Scheidungsproceß ist bereits eingeleitet, und die Entscheidung wird schnell genug erfolgen.

Als wir hier ankamen, war nun freilich der Gemüthszustand des alten Gentleman nicht eben der brillanteste, er hatte, seit er am Tage der Vorfälle von seinem Advocaten gekommen, keinen Schritt wieder aus dem Hause gethan, und als ich in der ersten passenden Stunde ihm den Vorschlag machte, mir Harriet zur Frau zu geben und mit uns nach New-York überzusiedeln, schien ich nur seinen halben Wünschen entgegen zu kommen. Er ist schneller auf meine Ideen eingegangen, als ich gehofft hatte, und was ein unermüdlicher New-Yorker zur Verwirklichung thun konnte, das habe ich gethan.

Nun aber, liebster Freund, kommt die Hauptsache.

Ich war mit Harriet schon, ehe wir New-York verließen, in Ordnung gekommen; als ich aber heute die Erwähnung unserer nahen Abreise benutzte, um sie zu nähern Festsetzungen über unsere Vereinigung zu bestimmen, erklärt sie mir, daß sie nicht eher an etwas wie Hochzeit denken werde, ehe nicht Ihr Verhältniß mit Margaret zur vollen Reife gediehen und Ihre Vereinigung bestimmt sei; beide Hochzeiten müßten zusammen gefeiert werden.

Jetzt, bester Freund und künftiger Bruder, frage ich Sie doch um Gotteswillen, wie steht es? Sie sehen, daß mir plötzlich Hände und Füße gebunden sind – melden Sie mir umgehend den Stand der Dinge, und was Sie durch einen raschen Entschluß vorher noch zu ordnen vermögen, das thun Sie – wenn nicht Ihret-, so doch um meinetwillen. Soll ich mich in Ihrer Sache an den Vater wenden, wenn Sie nicht gleich den Muth dazu finden können, so sagen Sie es, oder disponiren Sie in irgend einer Weise über mich; ich gehe jetzt für ihre allerbaldigste Schwagerschaft mitten durch den Höllenpfuhl.

Ihr John Frost.“ 

Reichardt hatte die letzten beiden Sätze der Zuschrift dreimal durchgelesen; endlich legte er sie bei Seite, stützte den Kopf in beide Hände, und ein Schauer, aus Seligkeit und Bangen gemischt, überkam ihn. Plötzlich aber, wie zu einem Entschlusse gelangt, erhob er sich und blickte nach der Uhr. Es war noch über eine Stunde bis zur Mittagszeit im Frost’schen Hause. Behutsam riß er das erste Blatt des Briefs herab, faltete den Rest zusammen und dann rasch nach seinem Hute greifend verließ er die Office, in dem vordern Zimmer hinterlassend, daß er binnen einer Stunde wieder zurück sein werde.

Er hatte den Weg nach seiner jetzigen zweiten Heimath eingeschlagen und traf Margaret am Piano. Mit einer leichten Verwunderung in ihren Zügen erhob sich das Mädchen, als sie den Eintretenden erkannte, die sich noch zu erhöhen schien, als Reichardt herantrat und das bewegte Auge, ohne sogleich das erste Wort finden zu können, auf sie geheftet hielt.

„Ich habe soeben einen direkten Brief von John in Bezug seines Verhältnisses zu Harriet erhalten, der mich veranlaßt, Sie einige Minuten allein zu sehen, Miß Margaret,“ begann er endlich, „und ohne Sie mit dem übrigen Inhalte zu plagen, bitte ich Sie nur, diese beiden Schlußsätze aufmerksam zu lesen.“

Er reichte ihr mit leise bebender Hand den Brief, mit dem Finger die genannte Stelle bezeichnend. Sie warf noch einen kurzen, fast forschenden Blick in sein Gesicht und neigte dann den Kopf nach der Schrift – Reichardt hielt sie fest im Auge. Plötzlich schoß ein tiefes Roth in ihre Wangen, sich von hier aus über Stirn und Hals verbreitend: sie wandte sich, die Hand mit dem Briefe sinken lassend, rasch ab und schritt nach dem Fenster. Einen Augenblick nur stand Reichardt unschlüssig, im nächsten wußte er, daß jetzt der Augenblick da sei, sich volle Klarheit zu schaffen, und kühn im innern Drange schritt er ihr nach.

„Margaret, Sie wenden sich von mir?“ fragte er, an ihre Seite tretend, und die volle Tiefe seiner Empfindung zitterte in seiner Stimme, „bin ich ein Thor gewesen, daß ich einer Hoffnung Raum gab und nicht floh, als ich noch die Kraft dazu hatte?“

Sie blieb wortlos in ihrer Stellung.

„Margaret,“ begann er dringender, „sehen Sie mich an und reden Sie ein Wort zu mir, ich kann nicht so von Ihnen gehen, ohne daß Alles, was ich bis jetzt mein Glück und meine Zukunft genannt, über mir zusammenbricht; sagen Sie mir, bin ich Ihnen nichts – nichts als der gewöhnliche Gesellschafter gewesen? – Margaret!“ und aller Drang seines Herzens, die ganze Weiche seines Gefühls lag in dem Tone dieses letzten Wortes.

Da hob sie langsam den Kopf; noch glühte ihr Gesicht, und um den frischen Mund bebte es wie ein Widerspiegeln ihrer erregten Seele, aber aus ihrem tiefen, feuchtglänzenden Auge blickte dem Harrenden eine ganze Welt von Liebe entgegen und ließ es wie einen urplötzlichen Rausch über ihn kommen. Er hatte sie umschlungen und wußte kaum, wie es geschehen, er bedeckte sie, die widerstandslos in seinen Armen hing, mit Küssen und fand sich erst wieder, als sie, eng an ihn geschmiegt, das Gesicht an seiner Brust geborgen hatte. Bald aber, wie sich zusammenraffend, erhob sie den Kopf und faßte seine beiden Hände. „Gehen Sie jetzt,“ sagte sie fast ängstlich, „gehen Sie, Vater kann jeden Augenblick hier sein!“

„O, er soll bald Alles wissen – ich fürchte ja die bösen Geister nicht mehr,“ rief Reichardt im überquellenden Bewußtsein seines Glücks, „aber,“ setzte er plötzlich in deutscher Sprache hinzu, „sag’ ein mal nur „Max“ zu mir, Margaret, und ich gehe!“

Ein Lächeln voll tiefer Seele breitete sich über ihr Gesicht.

„Geh jetzt, Max!“ erwiderte sie deutsch und auf’s Neue von einem dunkeln Roth übergossen, barg sie den Kopf an seiner Schulter. – Den Rückweg nach der Office machte Reichardt fast nur mechanisch. Sich gewaltsam von den immer neu aufsteigenden Erinnerungen an die eben durchlebte Scene losreißend, hatte er alle seine Gedanken auf den nächsten, schwersten Schritt gerichtet, der sich als unmittelbar folgend aus dem jetzt vollbrachten entwickelte. Es wäre ihm unmöglich gewesen, zum Mittagstisch zu bleiben und dem alten Frost ruhig unter die Augen zu treten; eine Frage über sein Ausbleiben konnte nicht fehlen, und ehe er sich mit einer Lüge [548] half, war es besser, das, was einmal geschehen mußte, sofort zu thun – John sollte nicht sagen, daß er keinen Muth gehabt. Er wollte gerade und offen an Margaret’s Vater schreiben, ehe dieser wieder mit ihm zusammentraf. Trotz dieses klaren Entschlusses hatte er, in der Office angelangt, dennoch ein starkes Gefühl von Zagen zu überwinden, ehe er nach der Feder griff, um die letzte Entscheidung seines Schicksals herbeizuführen, und eine geraume Zeit währte es, ehe er die passenden Anfangszeilen gefunden und seine Sätze in Fluß kamen.

Was er schrieb, war der völlige Abdruck seines Innern. Er schilderte mit kurzen Worten seinen früheren Seelenkampf, der ihn zu einem Verlassen des Geschäfts gedrängt, bis Harriet’s Dazwischenkunft Hoffnungen in ihm geweckt, deren Erfüllung bisher als einfache Unmöglichkeit vor ihm gestanden; er erzählte von dem inneren Glück, welches ihm seitdem durch das engere Zusammenleben mit der Familie erblüht und daß er wohl noch lange keinen weiteren Schritt zu einer Aenderung dieser Verhältnisse gewagt hätte, wenn nicht John’s Brief, welchen er beilegte, ihn zum Handeln getrieben. Er bekannte, daß soeben eine Verständigung zwischen ihm und Margaret stattgefunden, daß er aber nicht vermöge, ruhig zu sein, ohne seinem väterlichen Freunde die volle Sachlage eröffnet zu haben. Er sprach keine Bitte aus, äußerte keine Hoffnung, der Brief war nichts als ein vertrauungsvolles Bekenntniß, und so, als er ihn noch einmal durchlesen, schloß er ihn mit einem tiefen Athemzuge und sandte ihn durch einen der Porters nach Frost’s Hause. Es war halb vier Uhr geworden, als er geendigt; aber er wußte, daß Frost vor Vier nie seine Wohnung verließ.

Und nun folgte eine Stunde „Hängens und Bangens in schwebender Pein.“ Bald wollte ihm der rasch gethane Schritt als die größte Uebereilung seines ganzen Lebens erscheinen, bald traten ihm wieder Frost’s wohlwollende Züge vor die Augen, und er suchte sich zu vergegenwärtigen, welchen Ausdruck sie wohl beim Lesen seines Briefs annehmen würden, bald überredete er sich selbst, daß es in der Lage, in welcher er sich befand, kaum einen andern Weg als den eingeschlagenen für ihn hätte geben können. Es war halb fünf Uhr geworden, ohne daß er zu einem Striche an seinen Arbeiten gekommen wäre; mit jeder weiteren Minute aber begann mehr eine stille Bangigkeit über Frost’s verzögerte Ankunft sich seiner zu bemächtigen, und doch, wenn er sich ihn eintretend dachte, hätte er die Entscheidung gern noch weiter hinausgeschoben.

Da öffnete sich plötzlich, ohne daß er ein vorheriges Geräusch vernommen, die Thür; ernst trat der alte Handelsherr in’s Zimmer und schritt mit einem: „Kommen Sie herein, Reichardt!“ hindurch. – Der Angeredete aber hätte nicht zu sagen vermocht, ob die Worte kurz oder freundlich gewesen waren. Nur einige Secunden gebrauchend, um mit einem kräftigen Athemzuge seine Brust zu erweitern und seinen ganzen Muth zusammenzuraffen, folgte er.

Frost hatte sich auf einen der Divans geworfen und deutete mit einem: „Setzen Sie sich einmal hierher, lieber Freund!“ auf einen bereits herbeigezogenen Stuhl. Wie sich einen Moment sammelnd blickte er vor sich nieder, Reichardt aber meinte während dieser Pause sein eigenes Herz schlagen zu hören.

„Sie haben mir einen Brief gesandt,“ begann endlich der Erstere aufsehend, „und ich muß Ihnen sagen, daß Vieles des darin Enthaltenen mir nicht ganz unbekannt war, wenn ich auch kaum einen so raschen Schritt wie Ihren heutigen von Ihnen erwartete. Wie alt sind Sie wohl, Sir?“

„Ein und zwanzig Jahr geworden!“ erwiderte der Deutsche halblaut.

„Very well, und Margaret ist erst siebzehn,“ nickte Frost: „ich gestehe Ihnen aber, daß ich die allzufrühen Heiratben nicht liebe, wenn ich auch Ihrer geistigen Reife gern vollen Credit gebe. Selbst John hat noch Zeit, besonders da durch die Uebersiedelung von Harriet’s Vater jede Nothwendigkeit für eine beeilte Vereinigung der jungen Leute wegfällt, und ich werde ihm noch heute meine Ansicht darüber mittheilen, indessen,“ fuhr er nach kurzem Schweigen fort, während dem langsam die Farbe aus Reichardt’s Backen gewichen war, „will ich gern diese Gelegenheit wahrnehmen, um Ihnen offen meine Absichten und Wünsche in Bezug auf Sie mitzutheilen, so wenig ich auch daran dachte, daß dies jetzt schon geschehen solle. Sie sind mir lieb, Reichardt, ich habe Vertrauen zu Ihrem Charakter und Ihrer eigenthümlich gebildeten Natur, und ich, habe mir gesagt, daß Sie einmal für John, sobald dieser das Geschäft übernähme, eine nothwendige Ergänzung bilden würden, während einige Mängel Ihrerseits, wenigstens Mängel für unser Amerika, die gerade aus Ihren besten Eigenschaften entspringen, durch John paralysirt werden müßten. Ich habe mir ferner gesagt, als ich die erste Ahnung von Ihrer Neigung zu Margaret erhielt, daß es ein reiner Gewinn sei, wenn deren mütterliches Vermögen für das Geschäft durch Sie erhalten blieb, und so gesteht Ihnen der Kaufmann, daß ihre Wünsche mit dem natürlichsten Interesse meinerseits zusammentrafen, denen ich als Mensch, der ich selbst meine Carriere vom armen Clerk aus gemacht habe, kaum etwas entgegen zu setzen gehabt hätte. Aber Sie sind noch in einem Alter, Reichardt, in welchem sich, so viel ich auch von Ihnen hoffe, niemals eine bestimmte Garantie für eine Neigung geben läßt, und Margaret soll ebenfalls erst noch die Welt sehen und sich prüfen; ich will jetzt nicht störend in ein Verhältniß greifen, das sich einmal entsponnen hat, indessen lassen Sie vorläufig einmal ein Jahr oder länger verstreichen, ehe Sie mir wieder einen Brief, ähnlich dem heutigen, schreiben.“

Mit jedem Worte des Sprechenden war die Farbe mehr in Reichardt’s Gesicht zurückgekehrt, seine Augen glänzten auf und wurden größer, zwischen ihnen indessen stand eine sichtlich peinliche Spannung auf das „aber“ des Schlußsatzes, das nicht ausbleiben konnte. Es kam, und kaum hatte er den Sinn desselben ergründet, als er auch aufsprang und mit beiden Händen die Rechte des alten Herrn faßte. „Mr. Frost – !“ mehr ließ ihn seine innere Bewegung nicht sprechen.

All right, Sir! ich weiß, wie Sie’s meinen!“ rief Jener sich erhebend und kräftig des jungen Mannes Hand schüttelnd, „bleiben Sie, wie Sie sind, und Sie sorgen für unser beiderseitiges Interesse. –“

Reichardt war nach seinem Arbeitsplatze zurückgekehrt, aber es litt ihn hier nicht länger; er mußte hinaus und sich Luft machen. Laufende Geschäfte gab es um diese Tageszeit für ihn fast nie, und so griff er nach seinem Hute, raschen Schrittes die Office verlassend. An dem Ausgange zur Straße lief er fast einen ihm begegnenden Menschen über den Haufen, fühlte sich aber auch zugleich fest am Arme gefaßt. „Was ist’s denn, brennt’s oben’?“ Der Kupferschmied war es, der ihm lustig die Worte entgegenwarf und das Gesicht des Eilenden nach dem seinigen kehrte.

„Meißner!“ rief der Letztere angenehm überrascht, „wo stecken Sie denn, daß ich Sie niemals mehr sehe?“

„Arbeit, fürchterliche Arbeit, aber auch Bezahlung danach!“ war die Erwiderung, „er hat seinen Mann gekannt, der Mr. Frost, als er mich unterbrachte, und gewußt, was ich brauche. Noch zwei Jahre so, Reichardt, und ich habe mit meinem Bischen zusammen eine Farm, wie sie mir schon lange in der Nase steckt. Aber noch einmal, was rebellirt denn in Ihrem Kopfe?“

Reichardt blickte ihn mit leuchtenden Augen an. „Sie wissen noch immer nicht, warum ich hier fort wollte, und nicht, warum ich wieder blieb,“ sagte er mit gedämpfter Stimme; „haben Sie wohl, als Sie in Frost’s Hause waren, eine junge Dame dort gesehen ?“

Gespannt nickte der Andere.

„Meißner, das wird meine Frau!“ rief ihm Reichardt im ausbrechenden Glücke in’s Ohr, faßte dann dessen Kopf mit einem derben Schütteln zwischen seine Hände und eilte davon. Der Kupferschmied aber sah ihm einige Secunden wie verblüfft nach, ließ dann einen halblauten Pfiff hören und brummte, mit der Faust in die flache Hand schlagend: „Wahr, und wieder wahr: Nur immer laufen lassen, was sich nicht halten läßt!“


  1. Einzig rechtmäßige, für Deutschland von dem Verfasser autorisirte Ausgabe. Jeden etwaigen Nachdruck werden wir auf das Strengste verfolgen.
         D. Red
  2. Postkutsche.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: erkennnen
  2. Vorlage: leses