Eine Nacht auf der Ortler-Spitze

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Titel: Eine Nacht auf der Ortler-Spitze
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aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 677–678
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Bergnot am Ortler
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Eine Nacht auf der Ortler-Spitze.


In der Nähe der Grenze von drei Gebieten, der Schweiz, der Lombardei und Tirols, erhebt sich eine dreizackige Schneepyramide. Mächtige Gletscher, die nicht viel niedriger liegen, umgeben sie von allen Seiten und machen ihre Ersteigung zu einer besonders schwierigen. Der Botaniker Gebhard hat diese Bergkrone im Jahre 1805 zum ersten Male bestiegen, doch gilt es noch immer für eine ruhmreiche That, zu der Ortler-Spitze empor zu klimmen, und die Mitglieder der heutigen Alpenclubs versuchen deshalb gern ihre Kräfte an ihr. Der gewöhnlichste Ausgangspunkt ist das Dorf Travoi, wo man Führer, Seile und die sonstigen Requisiten einer Bergbesteigung findet.

Von Travoi – erzählt ein Tourist, der mit einem Gefährten im verflossenen Sommer das Wagstück unternahm – führt der Weg zuerst durch Wiesen und tritt dann in einen düstern Fichtenwald ein, der im Winter von Bären besucht wird. Wir waren um ein Uhr Nachts aufgebrochen und erreichten kurz nach drei Uhr eine kleine Capelle, in der drei Strahlen eisig-kalten Wassers aus der Brust von steinernen Heiligenbildern hervorsprudeln. Bei dem Licht unserer Laterne sah der kleine Raum, in dem wir unsern Durst löschten, wahrhaft gespenstisch aus. Bald darauf wurde es Tag und um fünf Uhr verließen wir die Wälder und stiegen eine lange, mit losen Steinen bedeckte Höhe hinan, welche uns an den Fuß der ersten Schneefelder brachte. Hier legten wir unsere Eissporen an, die uns auf den Felsen lästig genug wurden, aber auf Eis und hart gewordenem Schnee die besten Dienste leisteten.

Drei Stunden später erreichten wir eine Felsenhöhe, die uns eine großartige Aussicht auf die umliegenden Schneefelder, Gletscher und Höhen gewährte, und machten einen halbstündigen Halt, während unsere Führer vorausgingen und in eine Gletscherwand, die wir zu ersteigen hatten, Stufen hieben. Zum Unglück für uns war sie von frischem oder weichem Schnee ganz entblößt, so daß wir uns so nahe als möglich an den Felsen hielten, die zu unserer Rechten lagen. Hier war die größte Vorsicht nöthig, denn wir durften die ungeheuren Massen von Steingeröll, die hier lagen, kaum berühren, so donnerten sie mit furchtbarer Geschwindigkeit die fast senkrechte Wand hinab. Zweimal hatten wir uns um vortretende Klippen zu schwingen und es darauf ankommen zu lassen, ob der Kalkstein, an den wir uns anklammerten, fest oder eben so verwittert sei, wie die heruntergefallenen Stücke. Natürlich waren wir Alle mit Seilen an einander befestigt und thaten jeden Schritt mit der größten Vorsicht, da ein einziger Fehltritt für uns sammt und sonders verhängnißvoll werden konnte. Die allerschlimmste Stelle war die, wo zwischen dem Felsen und einem schrecklichen Abgrund blos eine Leiste von zwei Fuß Breite blieb, die mit losen Steinen bedeckt war.

Nach zwei Stunden des schwierigsten Steigens erreichten wir eine kleine Ebene, und nachdem wir über eine Klippe weggeklettert waren, lagen mehrere mächtige Dome von gefrorenem Schnee und Eis vor uns, die eine endlose Ausdehnung und Höhe zu haben schienen und von mehreren Spalten durchzogen wurden. Der Tag war außerordentlich heiß und wir hatten uns so angestrengt, daß wir wenig zu essen und zu trinken vermochten. Die Führer hatten uns versprochen, uns bis Mittag auf den Gipfel zu bringen, aber es war fast drei Uhr geworden, ehe wir den ersehnten Punkt erreichten. Endlich standen wir auf dem Riesen Tirols, dreizehntausend Fuß über dem Meere, und vor uns entfaltete sich ein Panorama der Schweizer und Tiroler Gebirge in ihrer ganzen Glorie, welches Alles übertraf, was ich zuvor gesehen hatte. Der Tag war prachtvoll und die Gletscher und Eisfelder ringsum blitzten wie Edelsteine im hellen Sonnenschein.

So schwer es uns wurde, uns von der prachtvollen Aussicht zu trennen, mußten wir doch bald an den Rückweg denken. Wir hatten die unter der höchsten Spitze liegenden Dome von gefrorenem Schnee und Eis und ihre Spalten fast überwunden, als mein Freund Robert ausglitt und mich mit sich fortriß. Die starken Arme unserer Führer hielten uns sofort auf, aber im ersten Moment war das Gefühl des Ausgleitens an einer solchen Stelle ein wahrhaft fürchterliches. Das Wetter begann sich zu ändern; im Norden stieg eine schwarze Wolke auf und die Schweizer Gebirge zeigten sich in der wunderbaren Klarheit, die einen Sturm ankündigt. Wir kamen nun zu der Gletscherwand, die uns so viel zu schaffen gemacht hatte und die abwärts zu steigen noch schwieriger war. Ich ging voran, vom Führer Schäff am Seile gehalten, Robert folgte, mit dem Führer Oertel auf dieselbe Art verbunden.

Es ging gegen Sonnenuntergang und die Berge boten einen wunderbaren Anblick dar. Ueber den obern Theil des Himmels zog sich ein mächtiger, schwarzer Wolkenvorhang, unter dem Myriaden von Gipfeln buchstäblich gleich düstern Feuerflammen leuchteten, die aus einem Meere von Gold aufstiegen. Das Schauspiel war im höchsten Grade ehrfurchtgebietend, es glich mehr einer Vision aus einer andern Welt, als irgend einer Erscheinung, die man auf unserer Erde zu sehen erwartet. Fast wurde es sieben Uhr, ehe wir die erste Hälfte der Gletscherwand hinabgestiegen waren, und wir athmeten freier, als wir die Felsen erreichten, die uns beim Steigen einen Ruhepunkt gewährt hatten. Das Gewitter kam langsam, aber sicher näher, und wir beeilten uns, die untere Hälfte der Gletscherwand zurückzulegen. Unsere Führer wählten hier einen andern Weg, und das sollte uns in unvorhergesehene Schwierigkeiten verwickeln.

Die Schrecken der oberen Gletscherwand erneuerten sich, und da das heranziehende Gewitter die Luft immer mehr verdunkelte, so wurde es äußerst schwierig, die Füße sicher zu setzen. Bald traten wir vom Felsen auf das Eis herunter, bald kletterten wir vom Eise auf den Felsen hinauf, bis wir dachten, daß der Weg nicht schlechter werden könne. Noch immer sahen wir kein Ende und es wurde bald gewiß, daß wir die Nacht auf der Ortler-Spitze zubringen mußten. Das war eine schreckliche Aussicht, da [678] wir auf solch’ einen Fall nicht vorbereitet waren, und das kühnste Herz konnte bei dem Gedanken an die Schrecken einer Nacht, wie sie uns bevorstand, erbeben.

Wir waren zu der schlimmsten Stelle gekommen, wo wir uns über eine Fläche, glatt wie Glas und ohne Halt für die Hände, hinunterlassen mußten, um dann zu einer kleinen Vertiefung an der Seite des Berges emporzuklettern. Nur einen Blick warf ich in den Abgrund zu unsern Füßen und begann darauf das Hinuntersteigen, alle meine geistige Kraft zusammennehmend. Damit war es indessen bald vorüber und ich kroch zu einer Felsenleiste, über die ein Fels hinwegragte. Kaum befanden wir uns dort, als der Donner ringsum krachte und ein schwerer Regen niederrauschte. Schäff wies auf einen zweiten schwarzen Schlund, in den wir uns hinablassen müßten, und erklärte, Travoi in dieser Nacht zu erreichen, sei keine Möglichkeit. Obgleich wir ihm Recht geben mußten, daß unser Untergang sicher sei, wenn wir weitergehen wollten, wurden wir doch von der schrecklichen Aussicht, die Nacht an einer solchen Stelle zubringen zu müssen, fast überwältigt. Der Felsenrand, oder vielmehr die schräge Leiste loser Steine, auf der wir uns befanden, war in zwei kleine Vertiefungen getheilt und über ihm erhob sich ein überhängender Fels, von dem unglücklicherweise beständig Wasser heruntertropfte, so daß es kein trockenes Plätzchen gab. Wir konnten nicht vortreten, weil wir sonst in den Abgrund stürzten; wir konnten nicht schlafen, denn zum Niederlegen war kein Raum; wir durften uns nicht gegen den Felsen lehnen, da ein Einnicken die Gefahr des Hinuntertaumelns in sich schloß; wir konnten auch nicht hin und her gehen, um uns warm zu halten, da die Leiste sehr abschüssig war und die losen Steine unter unsern Füßen bei jedem Schritt in die Tiefe hinunter rollten. Wir hatten keine Nahrung, kein Getränk, kein Licht und unsere Kleider wurden durch das Wasser, das von den Felsen abtropfte, mit Nässe durch und durch gesättigt.

Jetzt kam das Gewitter zum vollständigen Ausbruch. Der Donner krachte gleich zehntausend Geschützen und die Echos der Gebirge warfen den Schall so oft zurück, daß er gar kein Ende nehmen wollte. Die blendenden Blitze stammten aus dunkeln Wolken hervor, einmal in weißen Zickzacks und dann in rothen Flammenströmen, welche die Schneefelder und Klippen erleuchteten, als ob sie im Feuer ständen, während der große Gletscher in unserer Nähe so glühte, daß er in eine einzige Lavamasse verwandelt zu sein schien. Der Anblick war zu schrecklich, als daß ich ihn zu ertragen vermochte, und ich versuchte meine Augen zu schließen. Es gelang mir jedoch nicht, denn jeder Blitz zwang mich, sie wieder zu öffnen und auf das glänzende Schauspiel ringsum zu blicken. Nach zwei Stunden hörte das Gewitter auf und friedlicher Mondschein legte sieh auf die Gebirge, den schlagendsten Gegensatz zu der frühern Scene bildend. Jetzt schauderte uns in unsern nassen Kleidern vor Kälte, aber zum Glück war kein Wind, denn sonst weiß ich nicht, was aus uns geworden wäre. Es wurde elf Uhr, es wurde zwölf Uhr. Wie langsam verging diese schreckliche Nacht! Viele Stunden schienen mir vorübergegangen zu sein, und wenn ich dann bei Mondschein nach meiner Uhr sah, so war der Zeiger häufig noch keine halbe Stunde weiter gerückt.

Ein Uhr, zwei Uhr ging vorüber und unsere Lage wurde wahrhaft qualvoll. Ich konnte meine Augen nicht offen erhalten und wurde doch in jedem Augenblick durch das schreckliche Gefühl aufgeweckt, daß ich vorn überstürzte. Es fror jetzt, unsere Zähne klapperten vor Kälte und wir zitterten vom Kopf bis zu den Füßen. Nicht ein Ton ließ sich hören, ausgenommen das Springen von Steinen und Blöcken über die Felswände und gelegentlich der Donner einer Lawine. Zuweilen hörten wir die Steine über unseren Köpfen, aber die überhängende Klippe beschützte uns. Um drei Uhr begann der Mondschein schwächer zu werden und Alles wurde grau. Schäff war zu dem an einer Felsenecke lehnenden andern Führer gegangen und Robert und ich standen nebeneinander und warteten sehnsüchtig darauf, daß der erste Schimmer des Tages die fernen Bergspitzen erhelle. Fortwährend hafteten meine Augen auf den Höhen, von denen ich wußte, daß sie uns die Dämmerung anzeigen mußten. Um vier Uhr zeigte sich das willkommene Licht und um fünf Uhr weckte ich die Führer. Wie groß aber war meine Bestürzung, als Schäff die Befürchtung aussprach, daß wir auch an diesem Tage Travoi nicht erreichen würden! Er sei krank, sagte er, und sein Aussehen bewies wirklich, daß die Nacht ihn mehr geschwächt hatte, als Einen von uns. Der am vorigen Abend gefallene Regen war auf der Gletscherwand zu Schnee gefroren und hatte sie in eine einzige Glasfläche verwandelt, so daß Schritt für Schritt Stufen gehauen werden mußten. Als der Tag vorrückte, erholte sich Schäff, während Oertel die Stufen aushieb, und um halb acht Uhr hörten wir die willkommenen Worte: „jetzt kann es vorwärts gehen.“ Wohl stand uns noch eine schwere Arbeit bevor, aber wir freuten uns doch, die Felsenleiste nach zwölf so schrecklichen Stunden verlassen zu können.

Glücklich kamen wir die Stufen hinunter und rasteten, während die Führer neue in das Eis hieben. Natürlich kamen wir nur langsam vorwärts und Schäff und Oertel mußten sich furchtbar anstrengen. Während dieser ganzen Zeit sprangen Steine und Felsstücke an uns vorbei, die großen mit lautem Krachen, die kleinen mit einem Ton gleich dem Pfeifen einer Flintenkugel. Unsere Führer fürchteten sich vor ihnen und beeilten sich, so viel sie konnten, aber uns versetzten die vorbeiwirbelnden Steine in eine Aufregung, wie sie der Soldat in der Schlacht empfindet, wenn er die Kugeln um sich herumfliegen hört. Schäff bekam von einem Steine einen schweren Schlag an’s Bein und mich traf ein kleinerer in den Rücken. Da Oertel von der Arbeit erschöpft wurde, so beschlossen wir den letzten Theil der Gletscherwand ohne Stufen hinunter zu gehen, kaum hatten wir indeß den Versuch gemacht, als Robert, der einen seiner Eissporen verloren hatte, ausglitt und abwärts schoß. Ich ging unmittelbar hinter ihm und konnte ihn mit meinem Alpenstocke aufhalten. Nach dreistündigen schweren Anstrengungen erreichten wir einige Felsen, wo wir ausruhten. Die unterste Strecke des Gletschers war mit weichem Schnee bedeckt, auf dem wir schneller gehen konnten. Am Fuße dieser Höhe sagten wir der Region des Eises und Schnees Lebewohl. Unser Weg führte jetzt über einen steilen steinigen Gang, wo wir einem Manne begegneten, den uns unsere freundliche Wirthin mit Erfrischungen entgegengeschickt hatte. Die Hitze war jetzt sehr groß geworden und ich konnte weder Fleisch noch Wein zu mir nehmen. In Folge der langen Enthaltsamkeit und wohl auch der Anstrengungen waren mein Mund und meine Kehle buchstäblich so trocken geworden, als ob sie aus Pergament beständen.

Gegen Mittag erreichten wir die Wälder, wo es leider kein Wasser gab, und die Qualen, die mir der Durst verursachte, wurden so groß, daß ich mich kaum noch fortzuschleppen vermochte. Um zwei Uhr endlich kamen wir zu der kleinen Capelle, wo die drei Quellen aus Heiligen hervorsprudeln. Ich stürzte hinein und trank begierig von dem köstlichen Wasser. Es war das Erste, was ich seit sechsunddreißig Stunden mit Genuß zu mir nahm. Mit Einem Schlage war ich wieder hergestellt, das Gefühl der Ermüdung verschwand und rasch gingen wir nach Travoi, wo wir nach einer Abwesenheit von anderthalb Tagen wieder eintrafen. Zwölf Stunden hatten wir zum Steigen gebraucht, fünf vom Gipfel bis zu unserm nächtlichen Ruheplatze, zwölf waren auf der schrecklichen Felsenleiste vergangen und sieben beim weitern Hinuntersteigen. Die Einwohner des Dorfes hatten uns fast alle für verloren gegeben und einige abgereiste Fremde bereits weiter verbreitet, daß zwei Touristen auf dem Ortler verunglückt seien. Blos ein Bekannter, ein Mitglied des Alpenclubs, hatte zuversichtlich behauptet, daß wir wohl und munter zurückkehren würden. Er und seine Frau hatten uns beobachtet, als wir die Gletscherwand niederstiegen, wie Fliegen an einer Mauer herunter kriechen, und bei unserer Ankunft begrüßte er uns mit der größten Herzlichkeit.

Die Stelle, wo wir übernachteten, liegt nach einer ungefähren Berechnung elftausend Fuß über dem Meere. Wenn etwas Wind gewesen wäre, so würden wir die Nacht kaum überlebt haben, da wir mit gar keinen Schutzmitteln gegen die Kälte versehen waren. In einem Entschlusse aber stimmten wir Beide überein, nämlich nie wieder bei einem ähnlichen Unternehmen unser Leben auf’s Spiel zu setzen. Am nächsten Morgen sagten wir dem ruhigen kleinen Travoi Lebewohl und gingen das Thal des Prad hinunter. Die Nachricht unseres Abenteuers hatte sich in der Nachbarschaft rasch verbreitet und überall erregten die „Ortler-Herren“ die Neugier der Einwohner. Bei unserer Ankunft in Prad wünschte uns der Pfarrer und mehrere Honoratioren zu unserer Rettung Glück und katechisirten uns freundschaftlich über alle unsere Erlebnisse. Sie erzählten uns, daß man uns, während wir auf dem Berge gewesen seien, von verschiedenen Punkten, und zwar bis Heiden im obern Etschthal, mit Fernröhren beobachtet habe.