Eine lachende Großmacht
Ebenso zudringlich wie unbeachtet brummte der Mont Valérien den Grundbaß zu dem ausgelassenen Treiben des Vorpostenlagers, das in allen deutschen Mundarten den großmäuligen Franzosen niederzutoben bemüht war. Abseits von dem Getümmel stand ich vor einem blutjungen Bürschchen. In kleidsamer, fast koketter, aber nicht ganz dienstmäßiger Uniform lehnte der Kleine nachlässig an einem Baume und begleitete seine Flüsterworte bald mit einem schelmischen Augenaufschlagen, bald mit einem leisen Wirbel auf der zierlichen Trommel. Plötzlich schlägt eine Bombe zwischen uns nieder; ich trete einen Schritt zurück – der jugendliche Held aber, in der Behandlung dieser Geschosse geübter, schiebt sie nachlässig mit der Stiefelspitze bei Seite. Im Lager furchtbarer Tumult: „ein Ausfall!“ Alles stürzt an die Gewehre und stiebt aus einander. Eiligst nähert sich uns ein etwas aufgeregter Civilist und mahnt in verbindlichster Weise: „Fräulein Wegner, Ihr Stichwort!“ Augenblicklich ist auch der kleine Tambour verschwunden, und noch ehe ich ihm nachblicken kann, tönt eine neue Salve an mein Ohr, ohne jeden Pulverdampf, dagegen von herzlichstem, vielhundertstimmigem Lachen abgelöst.
Es war dies der letzte glorreiche Winterfeldzug des Woltersdorff-Theaters, die neuentdeckte jüngste Soubrette Berlins an der Spitze. Weit über hundert Schlachten haben „Wir Barbaren“ in ununterbrochener Reihenfolge allen Sorgen und Bekümmernissen der Daheimgebliebenen mit glücklichstem Erfolge geliefert und die Waffen erst vor den heimkehrenden Siegern gestreckt. Frankreich hat sich längst von seinen Niederlagen erholt, jenes Kunstinstitut von seinen Erfolgen niemals wieder; die so reichlich erhobene Kriegssteuer ist, gleich den Milliarden, ohne Spur und Segen, den Weg alles Geldes gegangen, sein glänzender Generalstab in fremden Diensten zerstreut, und der weibliche Schlachtenlenker hat soeben mit seinem jetzigen Kriegsherrn auf’s Neue capitulirt, unter Bedingungen, die einer Dotation nicht ganz unähnlich sehen.
So bleibt sie den Berlinern erhalten, und in einer Zeit, die an allen Autoritäten rüttelt, wenigstens ein Gebiet von dem Kampfe um die Erbfolge verschont. Unbestreitbar aber gehört sie zu den regierenden Häuptern, die erste Soubrette des Wallner-Theaters, und wenn sie auch allabendlich dem allgemeinen Stimmrechte sich unterwirft, so ist dies doch nur ein Scheinconstitutionalismus, wie mancher andere auch, und ihre Herrschaft, wenn einmal anerkannt, eine der absolutesten. Und gerade jetzt ist dieser Posten ein ungemein wichtiger und schwieriger. Denn auch dieses Reiches sonst so fest und sicher abgesteckte Grenzen sind flüssig geworden, und Werdendes drängt mit allen Unbequemlichkeit des Gährungsprocesses nach neuen Formen.
Die Posse, das Kind des unvergeßlichen Kalisch, ist ein abgelebter Greis geworden, den das neue Geschlecht nicht mehr versteht, und der gerade da, wo er zu jugendlichen Sprüngen sich aufraffen will, seine Altersschwäche auch dem blödesten Blicke bloßstellt. Es hängt dies ganz untrennbar mit unserer politischen Entwicklung zusammen. Der Alte schlug einst mit dem erwachenden Volksgeiste die Augen auf und erreichte seine volle Manneskraft in der Conflictszeit, als er am Abend, zwischen
[163]Staatsanwalt und Polizisten, mit schlauem Lächeln im Couplet diejenigen Spitzen unterbrachte, denen der vorsichtige Leitartikel des Morgens kein Obdach gewähren durfte. Wer denkt noch an den Conflict? Die ernsthaften Kampfgenossen, soweit sie noch im Felde geblieben, haben compromittirt; der Posse, weniger gewandt, den veränderten Verhältnissen und Stimmungen Rechnung zu tragen, blieb nur übrig, sich zu compromittiren, und das hat sie ehrlich gethan.
Komische Politik und politische Komik werden jetzt in anderen, meist auch öffentlichen, Localen zur Schau gestellt. Wir sind endlich ein Volk geworden und suchen als solches nicht blos politisch, nein, mit viel größerer Hast und Gewaltsamkeit auch social, neu uns zu gestalten, und diese Bestrebungen beanspruchen mit Recht und Nothwendigkeit die Mitwirkung und Mitleidenschaft auch der Bühne. Das „Volksstück“, das „Lebensbild“ auf vertieftem Untergrunde und in erweitertem Rahmen suchen die Posse von ihrem Platze zu verdrängen, ohne ihn bis jetzt behaupten zu können. Und so gähnt zwischen Ueberreifem und Unreifem eine tiefe Kluft, welche nur die volle Persönlichkeit des Darstellers auszufüllen vermag. Altes zu stützen und Neues zu heben, das Unfertige zu ergänzen, das Gegensätzliche zu versöhnen ist aber Niemand berufener, als Ernestine Wegner, deren Herrschaft als Soubrette in wahrer und echter Künstlerschaft begründet ist.
In der Komödienstraße zu Köln am Rhein ist sie geboren am 7. März 1854 – nicht bei allen Soubretten darf man das Jahr sagen – und ihre Wiege stand dicht am Theater. Die Eltern waren Schauspieler, führten in bescheidenen Verhältnissen ein stilles bürgerliches Leben und wußten die übersprudelnde Natur des kleinen Wildfangs auf jenes richtige Maß einzuschränken, das noch heute die ausgelassensten Schöpfungen der jungen Künstlerin so wohlthuend beherrscht. Der freie deutsche Rhein trug sie sehr bald zu den noch freieren Bergen der Schweiz, in Bern seufzte die jugendliche Republikanerin unter dem Despotismus der Schule, und in Zürich confirmirte sie ein Nachkomme Pestalozzi’s. Die Kleine war zu allerliebst, um nicht in weißgewaschenem Kleidchen mit goldenen Flügeln ein engelhafter Genius zu sein, und so hatte sie schon sehr frühe in der Schwebe zwischen Himmel und Erde ihre theatralische Flugbahn begonnen, auch zuweilen als simpler Menschensprößling auf der Bühne gesprochen und gesungen; das Lampenfieber hat nicht einmal zu ihren Kinderkrankheiten gehört. Der speculative Herr „College“ hatte sich nicht verrechnet, als er in seinem Benefiz zu Baden bei Zürich den vierzehnjährigen Backfisch, hinter welchem soeben die Pforten der Schule sich geschlossen, als Therese Krones den ersten ernsthaften theatralischen Versuch wagen ließ. Es war ein Wagniß, und es glückte über alles Erwarten. Gewiß hat die kühne Anfängerin nur sich selbst, vielleicht hat sie auch gar nicht gespielt, aber sie stammte in so directer Linie aus dem Geschlechte jener lachenden Muse Raimund’s, daß die Familienähnlichkeit hinreißend war.
Mit gleicher jugendlicher Unbefangenheit setzte sie sich sofort im „ersten Fache“ fest und bemächtigte sich aller dazu gehörender Rollen, bis ihr richtiger Instinct sie nach Berlin führte. [164] Hier hatte nun vorläufig die Herrlichkeit ein Ende; das schüchterne Mädchen mit dem einfachen Kattunkleidchen und ohne jedes Verständniß für die außerberuflichen Hülfsmittel einer Künstlerin ward kaum beachtet. Der Scharfblick Emil Pohl’s entdeckte sie. In seinem Lebensbilde: „Auf eigenen Füßen“, einem der gelungensten Versuche dieser Art, betraute er sie mit dem „Lieschen Spröde“. Und so stand sie denn auch auf dem neuen schlüpfrigen Boden endlich auf ihren eigenen Füßen und überwand die Sprödigkeit des Publicums schon am ersten Abende; über ein Jahr währte ununterbrochen die Wallfahrt zu dem neuen Stern. Noch war es keine Sonne, denn nicht das Woltersdorff-, das Wallner-Theater ist Berlin und der ehrgeizige Wandelstern fühlte das Bedürfniß, dort sich zu fixiren. Aber die Wege auch des Kunstgottes sind wunderbar - die Uebersiedelung von der Chaussee- in die Blumenstraße, eine einfache Droschkentour, war nur über Hamburg auszuführen. Wer Meister werden will, muß in die Fremde gehen; es steckt eben noch mehr Zunftzwang im Volke, als die Gewerbefreiheitler sich vorstellen. Am Thalia-Theater, der unvergleichlichen Bühnen-Erziehungsanstalt des Franzosen Maurice, dem die deutsche Kunst so viele ihrer Besten verdankt, erhielt auch „die kleine Wegner“ den letzten Schliff, und schon nach anderthalb Jahren, als die Begeisterung der Hamburger und die Sehnsucht der Berliner sich eben zu überbieten begannen, hielt sie ihren Einzug in der Hauptstadt des neugeeinigten deutschen Reiches und bestieg ihren Thron, gegen den niemals ein particularistisches Gelüste sich zu erheben wagt. Sie beherrscht Berlin; sie ist ein Dogma der Berliner.
Und dabei ist sie nicht einmal eine specifisch Berliner Soubrette, sondern ebenso gut ein „lieber Fratz“ wie eine „nette Jöhre“; das hat ihr glänzendes Gastspiel in Wien erwiesen. Bisher galt es für eine unbestreitbare, weil hüben und drüben so häufig bestätigte Thatsache, daß zwischen der Komik des Nordens und Südens die Mainlinie unüberwindlich. Der Wegner gelang es, sie zu überbrücken. Nicht allein das Publicum, nein auch die in diesem Punkte starr-, fast abergläubige Wiener Kritik haben sich widerstandslos ihr gefangen gegeben, und nicht nur mit den spitzen Tönen des preußischen Militärjargons, nein auch mit den weichen Lauten heimischer Gemächlichkeit sich fesseln lassen. Sie hatte die Wahl zwischen zwei Kaiserstädten, und sie ist ihr nicht leicht geworden, vielleicht ebenso schwer wie uns Allen die Trennung von Oesterreich, dem deutscher Geist und deutsche Kunst uns ewig verbinden werden.
Und daß Ernestine Wegner eine wirkliche Künstlerin, hat auch das feinfühlige, warmblütige Wien sofort erkannt und gewürdigt. Ihr sprudelnder Humor, ihre liebenswürdige, kecke Unbefangenheit, ihre übermütige Laune machen sie zu einer der vorzüglichsten, unwiderstehlichsten Soubretten, aber sie ist unendlich mehr, als ein weiblicher Clown oder ein Hanswurst im Unterrocke. Sie hat Natur und Herz und jenes seine Gefühl, das man den künstlerischen Verstand nennen möchte; ihre jedes Hindernisses spottende Gestaltungsfähigkeit bleibt immer auf jenem Gebiete, das von den Linien der Wahrheit und der Schönheit begrenzt wird. Und zu dem allem jenes geheimnißvolle Etwas, jener bestrickende Zauber, all die unsichtbaren Fäden der Leitung zwischen Darsteller und Zuschauer, die allein die zündende Wirkung vermittelt. Ihre reizende Stimme, ihre vorzügliche musikalische Anlage haben Herrn von Hülsen zu dem ganz ernsthaften Versuche veranlaßt, sie für die Oper zu gewinnen; von den verschiedensten Seiten ward sie bestürmt, sich dem Lustspiele zu widmen.
Als ob man nicht überall eine ganze Künstlerin, und als ob man überhaupt mehr sein könnte! Auch auf dem Theater vollzieht sich die allgemeine Umwälzung. Die so lange aufrecht erhaltenen Zwangsgrenzen der Gattung und des Faches werden erweitert und beseitigt; die daran geknüpften Rangunterschiede im Freistaat der Kunst verschwinden; in jeder Form sollen nur die Kunst und der Künstler zu Geltung und Ansehen kommen. Und unter den Vorkämpfern der neuen Richtung nimmt Ernestine Wegner einen hervorragenden und berufenen Platz ein, die Jedem, der sie blos als Soubrette anerkennen möchte, stolz entgegenrufen darf: „auch ich bin eine Künstlerin.“