Erinnerungen an Schliemann
Erinnerungen an Schliemann.
Die nachstehenden Erinnerungen an Schliemann waren schon geplant, als er noch am Leben war. Als ich ihm den Wunsch des Herausgebers dieser Blätter mittheilte, empfing ich umgehend die Aufforderung, den Plan zu verwirklichen. Jetzt, wo schon das Grab die entseelte Hülle birgt, wo noch alle meine Gedanken von dem schweren Verlust erfüllt sind, den wir erlitten haben, jetzt möge man mir verzeihen, wenn ich zunächst von den Vorgängen spreche, welche seinen Tod herbeigeführt haben.
Es war im letzten Frühjahr auf einer Reise durch den Ida, die wir zusammen während der griechischen Osterwoche unternahmen, daß eine Schwerhörigkeit, welche sich schon seit Jahren bemerkbar gemacht hatte, ziemlich schnell und fast zur Taubheit sich steigerte. Schliemann erzählte mir, daß er sich schon im Jahre 1864 während einer Reise um die Welt in Java einer schweren Operation auf dem einen Ohre unterzogen habe. Seit dieser Zeit war er niemals ganz frei von leichteren Störungen gewesen und auch schon vor unserem Aufbruche zum Ida war eine nicht unerhebliche Zunahme der Schwerhörigkeit eingetreten. Indeß machte er daraus keinen Gegenstand der Klage. Am 13. April erstiegen wir den einen Gipfel des Ida, den Sarikis (1800 m). Wir waren bei einer Lufttemperatur von 17,5° C. am Fuße des Berges angelangt, trafen aber oben einen gewaltigen Sturm aus Südwest, der eine Erniedrigung der Temperatur auf 5,5° C. und zuweilen etwas Regen mit sich brachte. Die Gewalt des Sturmes war so stark, daß wir nicht aufrecht stehen konnten und daß die Regentropfen, die uns in das Gesicht geschleudert wurden, wie kleine Steine wirkten. Halb erstarrt traten wir den Rückweg an. Spät abends langten wir wieder in unserem Nachtquartier, Evjiler, an. Am nächsten Tage ritten wir über den östlichen Paß, um die Südseite des Gebirges zu besuchen. Unser Führer brachte uns auf einen schmalen Saumpfad, der hoch über der Thalsohle längs eines schroff abfallenden Hanges hinführte. Unsere Karawane, die 6 Berittene und 2 Packpferde zählte, zog sich in einer langen Linie am Gebirge fort. Hier war es, wo die Schwerhörigkeit Schliemanns sich zum ersten Male zu einer solchen Höhe steigerte, daß es mir fast unmöglich wurde, mich ihm durch Zuruf verständlich zu machen. Er begann dann auch, über Schmerzen im Ohr zu klagen. Ziemlich spät abends kamen wir in Zeitünlü an. Am nächsten Morgen untersuchte ich sein Ohr und fand eine so starke Anschwellung, daß der Gehörgang vollkommen verschlossen erschien. Leider hatte ich mein chirurgisches Besteck nicht bei mir, so daß eine genauere Untersuchung nicht möglich war; wir begnügten uns daher mit einer Reinigung des Gehörganges und warmen Einspritzungen, die in der That Linderung brachten. Erst am 18. April trafen wir wieder in Hissarlik ein. Hier ergab sich, daß die Anschwellung ihrer Hauptsache nach aus einer knochenharten Auftreibung bestand, und daß auch in dem andern Ohr, wo noch eine Narbe von der früheren Operation erkennbar war, eine ähnliche Auftreibung saß.
Es konnte kein Zweifel darüber sein, daß es sich um wirkliche Knochenauftreibungen, sogenannte Exostosen, handelte. Zufälligerweise habe ich die Exostosen des äußeren Gehörganges früher einmal in einer besonderen Abhandlung, die in den Sitzungsberichten unserer Akademie der Wissenschaften erschienen ist, ausführlich behandelt, und zwar bei Gelegenheit einer Beobachtung über die Schädel der alten Peruaner. Während Exostosen dieser Art in Europa seltene Vorkommnisse sind, fanden sie sich bei der altperuanischen Bevölkerung in einer auffälligen Häufigkeit, so daß man sogar die Frage aufgeworfen hat, ob eine aristokratische Klasse, die von den Spanieut den Namen Orejones erhalten hat, nicht etwa die bevorzugten Träger dieser Anomalie geliefert habe. Ich habe damals nachzuweisen gesucht, daß diese Art der Exostosen eine besondere Entwickelungskrankheit darstelle, vergleichbar gewissen Exostosen der langen Knochen der Extremitäten, welche genauer bekannt sind, und daß sie in ihren Anfängen bis auf frühe Zeiten des Lebens zurückreichen. Der besondere Sitz der Exostosen im Ohr Schliemanns, ihr symmetrisches Vorkommen auf beiden Seiten, das nachgewiesene Vorhandensein wenigstens der einen im Jahre 1864 ließen nach meiner Meinung keinen Zweifel darüber, daß es sich auch bei ihm um einen alten Zustand handelte, der nur dadurch verschlimmert war, daß sich ein neuer Katarrh hinzugesellt hatte, dessen Absonderung den sonst noch wegsamen Theil des Kanals verlegt hatte. Ich konnte Schliemann nicht verhehlen, daß eine Beseitigung der Exostosen nur auf dem Wege einer schweren Operation möglich sei; ich rieth daher, unter Anwendung geeigneter Mittel das Zurückgehen des Katarrhs abzuwarten und sich der Operation nur im Nothfalle zu unterwerfen.
Nach meiner Abreise am 21. April trat die Ungeduld des damals ganz einsamen Forschers in ihr Recht. Er war gewohnt, sobald er die Umstände überlegt hatte, einen schnellen Entschluß zu fassen und ihn unweigerlich durchzuführen. Selbst in kleinen Dingen war er im höchsten Maße ungeduldig, was freilich nicht hinderte, daß er, wo es nöthig war, in großen Dingen die äußerste Geduld entwickelte. Die festgesetzte Zeit der Ruhepause, des Essens, der Arbeit mußte auf die Minute pünktlich eingehalten werden. Irgend eine Frage, die ihn beschäftigte, mußte so schnell als möglich zur Beantwortung gebracht werden; auf einen Brief erwartete er umgehend Antwort. So geschah es auch diesmal. Ich war kaum in Konstantinopel angekommen, so berichtete er auch schon wieder über die Fortdauer der Schwerhörigkeit und verlangte den Nachweis eines Ohrenarztes. Eben war ich in Berlin zurück, so kam auch schon die Meldung, daß er in Konstantinopel gewesen sei und daß der Ohrenarzt sich zur Vornahme der Operation bereit erklärt habe. Meine Warnung hatte aber doch die Wirkung gehabt, daß Schliemann vorläufig die Operation vertagte. Dafür verlangte er aber den Namen des besten Ohrenarztes in Deutschland.
Er hielt dann noch in der Troas aus bis zum Schlusse seiner Ausgrabungen im Anfange des August und weilte darauf in Athen bis zum November, wo er nach langer Trennung Frau und Kinder wiedersah. Dann aber hielt es ihn nicht länger. Schon unter dem 12. November schrieb er mir von Halle: „Hoch lebe Asklepios![1] Die Operation erklärt Professor Schwartze für ausführbar und will sie morgen früh gleichzeitig auf beiden Ohren vornehmen.“ So geschah es denn auch, und als er am 13. Dezember abends in Berlin eintraf, brachte er mir zwei Schachteln mit den bekannten elfenbeinartigen Knochenmassen mit, die aus seinen Gehörgängen ausgemeißelt waren.
Wie ein Held hatte er sich der schweren Operation, für welche es nothwendig geworden war, die eine Ohrmuschel ganz abzutrennen, unterworfen. Er litt danach an so heftigen Schmerzen im linken Ohr, daß er die Frage aufwarf: „Wie soll ich dabei Troja ausgraben?“ Auch das Sprechen erregte ihm große Schmerzen. Aber die Ohrmuschel wuchs schnell wieder an und am 6. Dezember berichtete er: „Zu meiner größten Freude geht’s seit gestern abend besser und habe ich zum ersten Male schlafen können. Heute keine Schmerzen und hoffe ich daher bald reisen zu können. Heute habe ich sogar einmal ausgehen können: es war mir eine große Wohlthat.“ In der That wurde ihm gestattet, am 12. Dezember abzureisen.
Er kam über Leipzig, wo er mit seinem Verleger, Herrn Brockhaus, sich berathen hatte, nach Berlin. Leider hatte seine Schwerhörigkeit wieder zugenommen. Er hatte Jodoformpulver in großer Menge in den Gehörgang eingeblasen und es zeigte sich, daß eine trockene Masse, von der nur ein kleiner Theil sich ohne Schwierigkeit entfernen ließ, den hinteren Theil des Gehörgangs verstopfte. Da er schon am Mittage des 14. Dezember nach Paris abreisen wollte, so rieth ich ihm, sich vorläufig mit milden, erweichenden Mitteln zu begnügen. Sein Zustand war im übrigen anscheinend ganz zufriedenstellend. Er hatte keine nennenswerthen Schmerzen, kein Fieber. Wir besuchten zusammen zu Fuß seine Sammlung im Museum für Völkerkunde, deren Neuaufstellung seinen höchsten Beifall fand. Dann aß er noch bei mir mit Appetit Frühstück, war heiter, theilnehmend und aufmerksam wie nur je in seinen besten Tagen, und als wir uns trennten, rief er mir noch zu: „Unsere nächste Reise geht nach den Canaren.“ Dieser Gedanke hatte ihn schon seit einigen Monaten beschäftigt.
Dann kam noch ein letzter Brief aus Paris. Er war im Grand Hôtel, in dem wir während der Ausstellung im Herbst [67] 1889 zusammen genußreiche Tage verlebt hatten, am 17. Dezember geschrieben. Schliemann berichtete, daß er einen Ohrenarzt aufgesucht und daß dieser ihm aus der Tiefe des Ohres außer Jodoform eine „Masse“ von Knochen herausgeholt habe. Aber er höre auf dem rechten Ohr und hoffe, das linke werde sich auch erholen. Am Abend desselben Tages gedachte er nach Neapel abzureisen, um dort, wie er mir schon in Berlin gesagt hatte, die neuen Erwerbungen der Museen, insbesondere die letzten Ausgrabungen von Pompeji, zu mustern.
Seitdem habe ich von ihm direkt nichts gehört. Die erste Nachricht kam am 27. Dezember früh durch eine telegraphische Depesche über London, sie meldete seinen am 26. erfolgten Tod. Nachher haben die Zeitungen und Privatbriefe Einzelheiten gebracht, welche den plötzlichen Verlust noch schmerzlicher machen. Nach diesen Nachrichten scheint kein Zweifel darüber zu bestehen, daß von dem kranken Ohr aus ein entzündlicher Prozeß nach innen auf das Gehirn, vielleicht auch auf einen der großen Blutleiter in der hintern Schädelgrube, sich ausgebreitet hat. Jedenfalls war der Knochen in weiterer Ausdehnung erkrankt, wie sich bei einer am 25. vorgenommenen Anbohrung des Warzenfortsatzes zeigte. Möglicherweise ist schon die Pariser Angabe so zu deuten, daß sich in dem Knochen ein cariöser Prozeß entwickelt hatte. Und so müssen wir uns in das Unvermeidliche mit, ach wie schmerzlicher, Ergebung fügen und es noch als einen Trost ansehen, daß ein schneller Tod den Mann vor dem schlimmeren Uebel einer langwierigen Umnachtung des Geistes bewahrt hat.
Die große Theilnahme, welche Schliemanns Hinscheiden im ganzen Vaterlande gefunden hat, mag es entschuldigen, wenn ich in solcher Ausführlichkeit den letzten Leidensgang des Freundes dargelegt habe. Er selbst hat in seinem „Ilios“ in eingehender Weise seine Entwickelungsgeschichte und seine Lebensschicksale geschildert; so soll auch der Schluß seines reichen Lebens der allgemeinen Kenntniß nicht entzogen sein. Mir persönlich lag es um so mehr nahe, den Beginn der Katastrophe mit unserer Ida-Besteigung zu besprechen, als diese Reise für mich die letzte Gelegenheit geboten hat, die ungewöhnliche Leistungsfähigkeit des seltenen Mannes zu sehen.
Schliemann war als junger Mensch von zarter Gesundheit. Er hat eine zeitlang Blut gehustet und war damals so von Kräften gekommen, daß wohlmeinende Gönner ihn bestimmten, auf ein Schiff zu gehen, um nach Venezuela zu fahren und dort in einem milderen Klima seine Gesundheit wiederzugewinnen. Bis in sein Alter liebte er die Wärme, und der Gedanke an die Tropen begeisterte ihn. Mit welchen Hoffnungen mochte er damals das Schiff betreten! Aber, wie er zu sagen pflegte, „die Götter“ wollten es anders. Das Schiff scheiterte beim Texel und er war einer der wenigen Schiffbrüchigen, welche gerettet wurden. Damit begann seine schwere Lehrzeit in Amsterdam, welche die Grundlage seiner glänzenden kaufmännischen Laufbahn geworden ist. Und trotz aller Entbehrung kräftigte sich dabei sein Körper; meines Wissens hat er später nie wieder an der Lunge gelitten.
Wohl hat er zu wiederholten Malen gefährliche Anfälle von kaltem Fieber gehabt, die ihn wiederholt an den Rand des Grabes brachten. Eine solche Erkrankung brach nach seiner Weltumsegelung in Amerika aus. Ein anderes Mal faßte ihn die Malaria in der Troas, als er seine Ausgrabungen bis tief in den Sommer hinein fortsetzte. In einem beklagenswerthen Zustande traf er damals zu einer Generalversammlung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft in Frankfurt a. M. ein. Eine Stunde, bevor er einen Vortrag halten sollte, war er noch im Schüttelfrost; dann aber verschwand er plötzlich und erschien nach einiger Zeit, scheinbar wohl, wieder. Er hatte in aller Eile ein kaltes Douchebad genommen! So gewaltsam pflegte er seine Behandlung selbst in Angriff zu nehmen.
In der That hatte er seinen Körper auf eine wunderbare Weise abgehärtet. In Athen war er gewohnt, jeden Morgen nach dem Piräus zu reiten und ein Seebad zu nehmen, Winter und Sommer. Aber auch anderswo zog ihn in erster Linie die See an. Er badete unter den ungünstigsten Verhältnissen. Eines Tages waren wir auf einer gemeinsamen Reise durch die Troas nach Assos gekommen. Der Berg, auf dem die berühmte Feste erbaut war, ist ein alter Vulkan, die Küste vor ihm weit und breit mit gewaltigen Steinblöcken durchsetzt. Trotzdem mußten wir baden. Aber es war ein gefährliches Unternehmen, wir konnten leicht die Beine brechen, und trotzdem war keine Aussicht, daß wir in freies Wasser gelangen würden. Da zeigte er mir, wie man es machen müsse; er legte sich mit der Brust voran auf die Steine und schob sich so allmählich vor, bis der Körper wenigstens von Wasser bedeckt war. Das geschah aber erst einige Hundert Schritte von der Küste. Mehrere Stunden später, gegen Mitternacht, bestiegen wir eine kleine Felucke, um zu Wasser längs der ganzen trojanischen Küste nach dem Hellespont zurückzufahren. Unsere Fahrt begann bei gänzlich conträrem Wind und der Kapitän (Reis) mußte zwischen der Insel Mytilene und dem Festlande hin und her kreuzen. Alles wurde seekrank, ich selbst befand mich recht unwohl, nur Schliemann lag ganz still neben mir im Kielraum. Als der Morgen aufging und wir mit einer günstigen Brise längs der Küste von Alexandria Troas hinsausten, erhob er sich endlich und zeigte, wie er auf der rechten Seite ganz durchnäßt war. Er hatte im Kielwasser gelegen, hatte mich aber nicht stören wollen! Schon am Vormittage ankerten wir am Karanli Limani, einer Bucht des Hellespont, und das erste Verlangen, das Schliemann stellte, war wieder ein Bad. Ich erfüllte seinen Wunsch, ihm Gesellschaft zu leisten, und ich muß gestehen, daß es ein Labsal war, in die krystallhelle Fluth des tiefen Beckens zu tauchen. Kaum waren wir aber wieder bekleidet, so erwachte auch die Unruhe. Waren wir doch fast 8 Tage von Hissarlik abwesend gewesen und die Ausgrabungen waren inzwischen fortgesetzt worden! Was konnte da alles geschehen sein! Schliemann setzte sich in eine so eilige Bewegung, daß ich anfangs nicht Schritt halten konnte. Dann aber nahm ich alle Kraft zusammen und überholte ihn. Es wurde fast ein Dauerlauf, in dem wir nicht eher aufhörten, als bis wir wieder auf dem Burgberge standen.
Von diesen Tagen an datirt eigentlich die persönliche, ich möchte fast sagen, die körperliche Werthschätzung, in der mich Schliemann hielt. Wir hatten in den Tagen vor Assos Ritte [68] gemacht, bei denen wir bis 14 Stunden lang im Sattel gewesen waren. Da sagte er mir eines Tages: „Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Sie sind der erste deutsche Professor, der so etwas hier geleistet hat.“ Und als ich in diesem Frühjahr wieder bei ihm in Hissarlik war, kam er auf unseren Dauerspaziergang von Karanli Limani zurück und gestand ein, daß es ihm sehr schwer geworden sei, mit mir Schritt zu halten. Ich weiß nicht, ob jemals ein so nahes Freundschaftsverhältniß zwischen ihm und mir entstanden wäre, wenn ich ihm nicht auch durch körperliche Leistung einigermaßen imponirt hätte. Er nahm seine Leistungsfähigkeit als Maßstab der Vergleichung für andere; wer ihm nicht gleichkommen konnte, der erschien ihm auch minderwerthig. Das war die Folge der selbstbewußten Kraft, welche er in unaufhörlicher Uebung erworben hatte. Die Uebung derselben war ihm so sehr Bedürfniß geworden, daß er nach starker geistiger Anstrengung jedesmal in einem forcierten Ritt oder in einem Schwimmbad Erholung suchte.
Die letzten Jahre brachten freilich sichtbare Zeichen der Abnahme seiner Körperkraft. Seine Hand zitterte leicht und seine Haltung wurde etwas mehr gebeugt. Aber er verlor nicht die Herrschaft über seine Muskeln; es ist ein Irrthum, wenn man erzählt hat, er sei schließlich ein schwacher Mann geworden. Als wir von der letzten Ida-Reise zurückgekehrt waren, sagte er mir: „Ich glaube nicht, daß ich noch einmal den Sarikis besteigen werde.“ Es war ihm sauer geworden, aber er hatte es doch geleistet, und was ich betonen möchte, seine Lunge und sein Herz hatten sich gut gehalten. An ihm konnte man erkennen, was der Mensch durch gute Gymnastik aus einem ursprünglich schwachen Körper machen kann. Hätte die tückische Krankheit, die ganz lokaler Natur war, ihn nicht dahingerafft, so würde er sicher noch manches Jahr in froher Arbeit die Welt mit neuen Entdeckungen überrascht haben.
All sein Streben war dahin gerichtet, mit dem März eine neue, wie er dachte, die letzte Campagne auf Hissarlik zu eröffnen. Seit Jahr und Tag war alles daraufhin geordnet. Jetzt ist der Ort, von wo er so ruhmvoll „die Wissenschaft des Spatens“ verbreitet hat, vereinsamt. Wird sich ein Nachfolger finden, der die unterbrochene Arbeit aufnimmt und zu Ende fuhrt? Wird dies geschehen in dem Geiste treuer, hingebender Forschung, die der Verstorbene in immer reinerer Form entwickelt hatte, in der Gesinnung einer treuen Nachfolge, in der Begeisterung eines klassisch geschulten Geistes? – –
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Eine der wunderbarsten Erscheinungen an dem reich beanlagten Manne war sicherlich die ausgedehnte Beherrschung, ich möchte fast sagen: zahlloser Sprachen. Es gab kaum eine europäische Sprache, die Schliemann nicht sprechen, lesen und schreiben konnte. Als ich ihn genauer kennenlernte – er war damals in einem Alter von etwa 56 Jahren – verstand er von den germanischen Sprachen außer Deutsch Holländisch, Englisch, Dänisch und Schwedisch, von den romanischen Lateinisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch, von den slawischen Russisch und Polnisch, von den hellenischen Alt- und Neugriechisch, von den orientalischen Arabisch, Türkisch und Hebräisch, letztere beide allerdings nur unvollkommen. Nichts war gewöhnlicher, als daß er unmittelbar hintereinander mit 5 oder 6 Personen, die verschiedenen Nationalitäten angehörten, sich in ihrer Muttersprache unterhielt. Ich war mit ihm in Paris und London, in Griechenland, Kleinasien und Aegypten: überall war er bereit, ausgedehntere Vorträge in der Landessprache zu halten. Die Nothwendigkeit eines Dolmetschers trat, soweit meine Erfahrung reicht, nur im Verkehr mit Türken und Kopten hervor; sonst genügte er nicht bloß unserem Bedürfniß nach Verständigung mit den Eingeborenen, sondern er war in der Lage, auch allen den Fremden zu antworten, welche sich in großer Zahl an ihn herandrängten, angezogen durch den [106] Ruhm seines Namens und gefesselt durch die Mannigfaltigkeit der Kenntnisse und Erfahrungen, die er in die Unterhaltung brachte.
Sicherlich besaß er ein Talent für Sprachen, aber er selbst wollte nicht viel davon wissen. Ihm lag mehr daran, zu zeigen, wie er die vielen Sprachen gelernt habe, um aus seinem Beispiele abzuleiten, wie man überhaupt Sprachen lernen müsse. In der Selbstbiographie, die er seinem Werke „Ilios“ vorgesetzt hat, spricht er sich darüber ausführlich aus, und es dürfte gerade jetzt, wo die Frage der Reform des höheren Schulunterrichts in den Vordergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit getreten ist, doppelt gerechtfertigt sein, auf seine Darstellung hinzuweisen. Ihm war es viel mehr darum zu thun, die Güte seiner Methode zu rühmen, als mit seinen Anlagen zu prunken. Es war dieselbe Stimmung, die ihn zu der These führte, daß sein Gedächtniß eigentlich schlecht gewesen sei, daß er es aber durch systematische Uebung zu der Sicherheit und dem Umfange entwickelt habe, wodurch er später alle Welt in Erstaunen setzte. Man darf wohl sagen, daß er seine Anlagen unterschätzte, aber man kann ihm zugestehen, daß er als Autodidakt durch Methode und eisernen Fleiß die verschiedensten Sprachen bemeisterte und sich einen Reichthum von stets bereiten Worten sammelte, der ihn befähigte, in allen Lagen des Lebens schnell und bequem sich zu verständigen.
Es ist bekannt, mit welcher Leichtigkeit Kinder schon in den ersten Jahren des Lebens zwei und mehrere Sprachen verstehen und gebrauchen lernen, ohne eigentliche Lehre, nur durch Uebung. Schliemann war als Kind nicht in der Lage, mehr zu lernen als ein wenig Lateinisch, und er behauptet, daß er dieses sehr bald vergessen habe, als die Entsetzung seines Vaters von dem Pastorat die Familie in große Noth gestürzt und ihn selbst gezwungen hatte, Kaufmannslehrling zu werden und auf jeden weiteren Fortschritt im Wissen zu verzichten. Darüber verging ein Jahr nach dem andern. Er war 19 Jahre alt, als er nach Holland kam und hier zuerst in den täglichen Gebrauch einer fremden Sprache eingeführt wurde. Das Holländische haftete darum so fest in seinem Gedächtniß, daß er noch bis in seine letzten Jahre immer nur in dieser Sprache zählte. Wenn auf Hissarlik die Stunde der Lohnzahlung kam und die griechischen und türkischen Arbeiter hereintraten, so zählte ihnen Schliemann auf Holländisch ihre Beträge vor.
Damals in Amsterdam begann Schliemann inmitten der niedersten Beschäftigungen, zuerst als Laufbursche, dann als Buchhalter, seine sprachenbemeisternde Laufbahn. Er lernte sehr bald Englisch, und dann in kaum 5 Jahren Französisch, Spanisch, Italienisch, Portugiesisch und Russisch Wie er es machte, ist in dem genannten Werke „Ilios“ zu interessant von ihm beschrieben, als daß ich es mir versagen könnte, hier ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen. Als besonders zeitgemäß will ich erwähnen, daß er stets damit begann, ein gutes Buch auswendig zu lernen, und daß er dann sofort versuchte, kleinere Aufsätze in der fremden Sprache zu schreiben und aufzusagen. Von Grammatik wollte er, abgesehen von der Deklination und Konjugation, nicht viel wissen; er zog die Praxis vor und machte es unbewußt ebenso wie die kleinen Kinder. Dabei ist es für das Verständniß seines Vorgehens nicht unwichtig, zu wissen, in wie praktischer Weise er sich über die Erlernung der Vokabeln hinweghalf. So benutzte er den „Telemach“ von Fénelon, der ihm als Lesebuch für das Erlernen des Französischen gedient hatte, in einer russischen Uebersetzung für das Selbsterlernen der russischen Sprache. Seiner Erzählung nach ist es ihm sogar gelungen, durch zweimaliges, genauestes Durchlesen der neugriechischen Uebersetzung von „Paul und Virginie“, dessen französischen Text er Wort für Wort wußte, ohne Lexikon den Sinn der griechischen Worte herauszubringen und dabei Neugriechisch zu lernen. Das brachte er als 34 jähriger Mann zuwege.
Der Eifer, den er bei diesen doch immer nur vorbereitenden Arbeiten entwickelte, würde unverständlich sein, wenn man nicht in Betracht zöge, daß er stets genau vorbedachte, zu welchem Zwecke er die neue Sprache erlernen wollte. In Amsterdam, inmitten des großen Weltverkehrs, dessen Fäden auch in seinem Handlungshause für jeden der Angestellten bemerkbar waren, wurde er sich bewußt, daß die Beherrschung einer fremden Sprache ein starkes Hilfsmittel in dem Kampfe ums Dasein ist. Nicht ohne geheime Freude nahm er, wie er mir öfters erzählt hat, wahr, daß das große Haus B. H. Schröder, in dem er eine untergeordnete Stellung einnahm, umfangreiche Geschäfte, namentlich in Indigo, nach Rußland machte, daß aber kein einziger der Leiter oder Angestellten in Holland auch nur einen russischen Brief lesen konnte. Er schloß daraus, daß sein Prinzipal einen Beamten, der Russisch verstehe, zur Kontrolle der Agenten in Rußland und zur Einleitung direkter Geschäfte mit großem Vortheil werde verwenden können, und sofort machte er sich aus Werk. Seine Spekulation bewährte sich vollständig: als er seine Kenntniß des Russischen nachwies, erhielt er sofort eine bessere Anstellung und sehr bald eine Agentur in St. Petersburg. Aus dieser wußte er dann allmählich ein selbständiges Geschäft zu machen, was ihm um so leichter wurde, als das Vertrauen des Amsterdamer Hauses in seine Redlichkeit und Geschicklichkeit ihm erhalten blieb. Enge persönliche Beziehungen zu dem neuen Chef des Hauses, Baron Henry Schröder in London, haben, wie ich von diesem selbst weiß, bis zu dem Tode Schliemanns fortbestanden. So wurde die sprachliche Schulung die eigentliche Grundlage für die ganze äußere Lebensstellung des Mannes: sie brachte ihm Millionen und damit die Mittel für seine späteren Arbeiten auf ganz neuen Gebieten, Arbeiten von einem Umfange, wie sie kein Privatmann in neuerer Zeit ausgeführt hat, und ohne daß er jemals die materielle Unterstützung einer Regierung gesucht oder erhalten hat.
Vieles voll seinen Erzählungen über das Erlernen der Sprachen klingt uns geschulten Leuten, die wir nach einem neunjährigen gelehrten Kursus auf einem Gymnasium keine einzige fremde Sprache wirklich beherrschen, unglaublich, und doch wüßte ich keinen Grund, an der Wahrheit seiner Angaben zu zweifeln. Möge es mir gestattet sein, eilt Beispiel dafür anzuführen.
Als wir im Frühjahr 1888 gemeinschaftlich eine Nilreise machten, setzte er nicht nur mich, sondern noch weit mehr die Eingeborenen in Erstaunen durch seine Kenntniß des Arabischen. Es wird eine der anziehendsten Erinnerungen für mich bleibend mir die Abende zurückzurufen, die wir damals in Nubien verbrachten. Wir waren am 3. März in einem nubischen Dorfe des linken Nilufers angelangt, um die in der Nähe befindlichen gigantischen Felsentempel des großen Ramses genauer zu studieren. Es war gerade damals der Aufstand der Derwische ausgebrochen, der das ganze rechte Ufer des oberen Nils unsicher machte; unser Schiff war zwei Tage vorher von den Aufständischen beschossen worden, und nur das Zusammentreffen mehrerer glücklicher Umstände hatte uns wohlbehalten aus dem Bereiche der Angreifer entschlüpfen lassen. Die Schiffahrt auf dem Flusse hatte fast ganz aufgehört und wir waren eine Woche lang völlig abgeschnitten, da es eigentliche Landwege in jener Gegend nicht giebt. Die muselmännischen Bewohner von Ballanye - so heißt das Dorf - hatten uns freundlich aufgenommen und jeder Tag brachte uns in engere Beziehungen zu ihnen. Es war bald bekannt, daß ich ein Arzt sei, und meine Praxis mehrte sich schnell. Von Schliemann aber erkannten sie sehr bald, daß er ein gelehrter Kenner des Arabischen sei. In ganz Ballanye gab es nur eine Person, die Arabisch lesen konnte, den Imam. Schliemann aber las nicht bloß, er schrieb auch. Ihm zuzusehen, wie die arabischen Schriftzüge aus seiner Hand entstanden, war ein Schauspiel von dem höchsten Interesse für die Leute, und als gegen Ende der Woche, die wir in Ballanye zubrachten, endlich eine Botschaft durch Bewaffnete von Wadi Halfa zu uns durchdrang und Schliemann einen arabischen Antwortbrief vor aller Augen verfaßte, da betrachteten sie ihn wie einen Wundermann. Seine höchsten Triumphe feierte er jedoch abends, wenn die Nacht plötzlich niedersank und die Sterne über uns zu glänzen begannen, fern über dem Horizont das Kreuz des Südens erschien und außer dem leisen Rauschen des gewaltigen Stromes kein Geräusch mehr hörbar blieb. Dann kamen die Nachbarn herbei und Schliemann recitirte ihnen Abschnitte des Koran.
Das Haus des alten Schechs, der uns gastlich aufgenommen hatte, lag hart um Rande der Wüste, die dort in schnellem Vorrücken begriffen ist. Der Sand drängt mit jedem Jahre weiter gegen den Nil vor. Noch zieht sich ein schmaler Streifen fruchtbaren Ackerlandes, damals gerade mit reifendem Weizen bestanden, längs des Ufers hin, nach dem Lande zu begrenzt van einer mehrfachen Reihe van Dattelpalmen, deren üppiger Aufschlag die Güte des unterliegenden Bodens erkennen läßt. Aber schon berührt der Wüstensand den Fuß dieser Palmen. Dann folgt ein freier Platz vor dem etwas zurückgelegenen, ziemlich weitläufigen Hause, dessen Vordertheil uns eingeräumt war. Dieser Platz ist eigentlich schon [107] Wüste, obwohl auf ihm zwei jener herrlichen Lebbachbäume[WS 1] stehen, deren prächtiger Wuchs in Cairo den ankommenden Fremden überrascht.
Unter dem gewaltigen Blätterdache eines dieser Bäume vollzogen sich alle feierlichen Handlungen. Hier waren wir bei unserer Ankunft von sämmtlichen männlichen Mitgliedern der Familie empfangen und bewirthet worden. Und hier hielt Schliemann jeden Abend nach unserem Nachtmahl eine Art von Gebetstunde ab.
Eine große Laterne, unsern Stalllaternen ähnlich, ein moderner Einfuhrartikel, wurde in den Sand gestellt, Schliemann setzte sich davor auf eine kleine Holzbank, die Nubier hockten auf der Erde und bildeten einen großen Kreis um die Laterne. Innen blieb ein freier Raum, um den sich bald die Käfer sammelten, die in geschäftiger Eile dem ungewohnten Licht zustrebten und mit ihren Hinterleibern sonderbare Zeichnungen in den Sand einschnitten. Alles lauschte in stiller Erwartung dem Beginne des Vortrags.
Dann begann Schliemann aus dem Gedächtniß eine Sure des Korans zu recitiren; seine anfangs dumpfe Stimme hob sich mehr und mehr, und wenn er dann in der ihm eigenen ekstatischen Weise die Schlußworte sprach, so neigten alle ihr Haupt und berührten mit der Stirn die Erde. Nach einiger Zeit pflegte Schliemann dann noch eine zweite Sure vorzutragen, und so reich war sein Gedächtniß, daß er fast jeden Abend neue Abschnitte zu geben imstande war. In feierlicher Stimmung schieden dann unsere braunen Freunde; niemals wurde der Ernst des Vorganges durch eilte unziemliche Bemerkung oder auch nur Miene unterbrochen.
Wie aber war Schliemann zu einer Kenntniß des Korans gekommen, die weit über das Maß des Wissens unseres Imam hinausginge Im Jahre 1858, als er 36 Jahre alt war, kam er zum ersten Male nach Aegypten und plante in Gemeinschaft mit Professor Wedl von Wien eine Nilreise. Damals verstand er kein Wort Arabisch Er übertrug daher die Zurüstung der Dahabieh, auf welcher die Reise gemacht werden sollte, einem deutschen Kaufmann in Cairo. Als derselbe aber seine Rechnung brachte, gewann Schliemann aus allerlei Anzeichen die Ueberzeugung, daß er schwer betrogen worden sei. Das veranlaßte ihn, Arabisch zu lernen. Mit gewohntem Eifer machte er sich an die Arbeit und schon während der Fahrt, die bis zu dem zweiten Katarakte ausgedehnt wurde, kam er soweit, daß er sich über die nötigen Bedürfnisse und die gewöhnlichen Verhältnisse ohne Dolmetscher verständigen konnte. Aber auch nach seiner Heimkehr setzte er diese Studien fort. Nach seiner Methode machte er sich daran, größere Abschnitte arabischer Schriften auswendig zu lernen. Dazu wählte er das heilige Buch der Mohammedaner. So begann seine genaue Bekanntschaft mit dem Koran, die uns von so großem Nutzen werden sollte. Es ist gewiß bezeichnend, daß noch die letzte Zerstreuung, die er sich auf seinem Krankenlager gönnte, in der Lektüre einer neuen Ausgabe des arabischen Textes von „Tausend und einer Nacht“ bestand, die ihm sein Verleger, Herr Brockhaus, besorgt hatte.
Wie er den Koran recitirte, so trug er den Homer vor. Auch die altgriechische Sprache, die von der neugriechischen so große Verschiedenheiten darbietet, hatte er erst in reifen Jahren, 1856, zu erlernen begonnen, aber sie hatte ihn sofort mit einem solchen Enthusiasmus erfüllt, daß er zwei Jahre lang fast ausschließlich Homer und die anderen klassischen Schriftsteller las. Die Ilias und die Odyssee wurden ihm so geläufig, daß jedesmal, wenn die Rede auf eine Begebenheit der homerischen Epen oder auch nur auf ein zweifelhaftes oder wichtiges Wort kam, er die betreffende Stelle sogleich oder nach kurzem Besinnen im Zusammenhange wiederzugeben vermochte. Und wie gern that er es! Wie hob sich seine Stimme, gleich der eines begeisterten Sängers, um dem Hörer in ausdrucksvoller Weise nicht nur die Bedeutung, sondern auch die Schönheit der Verse nahe zu bringen! Er hatte einen trefflichen Konkurrenten: das war seine Frau Sophia. Oft genug nahm sie den Faden der Dichtung da auf, wo er endete, und ihre Begeisterung klang nicht minder vernehmlich aus der Wärme ihres Vortrages hervor.
Sonderbarerweise gab es einen verborgenen Gelehrten in der Troas, der dieser Zuverlässigkeit der homerischen Erinnerung wenigstens nahe kam. Wir besuchten ihn noch im vergangenen Frühjahr in seinem ärmlichen Zimmer in Neochori (Yanikiö), einem kleinen griechischen Städtchen am Südende des Sigeion, wo er eine Art von Privatschule hält. Für Schliemann war derselbe eine solche Merkwürdigkeit, daß er den Kaiser von Brasilien, Dom Pedro, der die Troas aufgesucht hatte, zu ihm führte. Der Mann gehört zu jener Klasse von „Stillen im Lande“, die, ohne jeden näher liegenden politischen Zweck, die Tradition der Griechen in der Zerstreuung lebendig erhalten, ohne welche Tradition schwerlich ein so langer Widerstand gegen die herrschende Rasse möglich gewesen wäre. Aber freilich fehlt ihm auch jenes Feuer der Begeisterung für die alten Dichter, welches erst der deutsche Mann aus dem kalten Norden zu einer solchen Gluth neu zu entfachen vermochte.
Für manche, auch streng philologisch geschulte Männer ist diese Begeisterung unverständlich, ja anstößig geblieben. Man kann zugestehen, daß Schliemann im Verfolg derselben gelegentlich sonderbare Konsequenzen zog. Es war z. B. eine Art von Schrulle für ihn geworden, alle Personen seiner Umgebung mit homerischen Namen zu belegen. Die ganze Dienerschaft erhielt altertümliche Bezeichnungen und wurde so gerufen. Ich erinnere mich noch lebhaft der Schwierigkeiten, die es mir machte, einen seiner Aufträge auszuführen. Im Jahre 1879, als ich ihn nach meiner ersten trojanischen Reise verlassen hatte, wünschte er, daß ich ihm für seine Kinder eine deutsche Erzieherin besorgen solle. Ich fand endlich eine junge Dame, welche seinen Anforderungen zu entsprechen schien, und sie war auch sehr geneigt, nach Athen zu gehen. Aber sie sollte den Namen Jkawi (Hekabe, neugriechisch ausgesprochen, lateinisch Hecuba) erhalten. Die ganze Verhandlung drohte zu scheitern, bis endlich der Rufname Wrisiis (Briseis) vereinbart wurde.
Diese Neigung kann um so weniger verständlich erscheinen, als irgend eine nähere Beziehung der Eigenschaften zwischen den klassischen Persönlichkeiten und ihren umgetauften modernen Namensvettern gar nicht verlangt wurde. Unsere Köchin auf Hissarlik hieß Hippodamia, der Diener Pelops. Ihre Nachfolger im letzten Frühjahr wurden Kreusa und Telamon gerufen. Indeß, ich habe mich allmählich daran gewöhnt, weil ich sah, daß die Griechen überall gewohnt sind, den Ihrigen hochklingende alte Namen beizulegen. Der Mann aus Kalifatli, der mir 1879 gewöhnlich ein Reitpferd stellte, hieß Agamemnon und der Sohn unseres Faktotums, des nachher im Skamander ertrunkenen Nicola, führte den Namen Hektor. Es verhält sich mit diesen Namen nicht anders, als mit den bei uns gebräuchlichen Namen aus der heiligen Schrift, die ja auch nicht den Anspruch machen, eilte körperliche oder geistige Aehnlichkeit der Träger dieser Namen mit den Männern und Frauen des alten und neuen Testamentes auszudrücken. Sie besagen nichts weiter, als daß die Namen sich einer besonderen Werthschätzung erfreuen, gelegentlich auch noch mehr, daß sie als solche geheiligt sind.
Für Schliemann gab es Zeiten, wo er sich ganz van der Gegenwart abwandte und ausschließlich im Alterthum lebte. Da fand er nach den zerreibenden Arbeiten, nach den Aufregungen der Gegenwart Kraft und Gleichmut wieder. Darum liebte er die langen Seereisen, welche ihm stets Gelegenheit gaben, sich in das Studium alter Schriftsteller zu versenken. Den größten Genuß gewährte ihm seine zweite ägyptische Reise im Winter 1886-87. Erschöpft von größeren litterarischen Arbeiten, hatte er sich nach Cairo begeben. Hier mietete er für sich allein eine eigene Dahabieh , ein großes Segelschiff, das mit Küche und Proviant wohl versehen wurde. Er ging damit bis nach Assuan; dann nahm er jenseit des ersten Katarakts ein neues Schiff und fuhr bis Wadi Halfa. Eine solche Fahrt, wobei die Richtung und Stärke des Windes allein entscheidend sind für die Zeitdauer, da auch die Thalfahrt durch widrigen Wind oft Tage lang gehindert wird, dauert mehrere Monate. Schliemanns einzige Gesellschaft waren die mitgebrachten Bücher. Außer einigen früheren Reisebeschreibungen, unter denen er die von Prokesch besonders liebte, waren es vorzugsweise die alten atheniensischen Dramatiker, deren Herrlichkeit sich ihm bei der Vertiefung in das Einzelne mehr und mehr erschloß; sie ließen ihn jede Störung der Reise gleichmütig ertragen. Noch in den letzten stillen Tagen, die ich mit ihm im letzten Frühjahr in Hissarlik verlebte, tauchten die Erinnerungen an besonders eindrucksvolle Stellen dieser Dichtungen massenhaft hervor und er [108] wurde nicht müde, die Einzelheiten zu besprechen und den Sinn der Stellen zu erläutern. Jene Nilfahrt hatte ihn so erfrischt, daß er nicht eher nachließ, als bis ich ihm das Versprechen gab, mit ihm zusammen noch einmal den Vater der Ströme hinaufzufahren. Es geschah im Winter 1887-1888 und da erschien er jeden Morgen, den Herodot oder Strabon in der Hand, und wir musterten das Land und die alten Trümmerstätten, ob und in wie weit sie den Erzählungen des ersten Historikers und den Schilderungen des gelehrten Geographen entsprachen. Nachrichten aus Europa erreichten uns wochenlang nicht. Den Tod des Kaisers Wilhelm meldete uns erst der Gouverneur von Wadi Halfa, und die ergreifenden Nachrichten über die Vorgänge in Deutschland erfuhren wir erst bei unserer Rückkehr nach Cairo. In der Abgeschlossenheit unseres Lebens blieb uns nur die unvergleichliche Ruhe dieser fernen Gegenden, von denen die aufständische Bewegung in Nubien und die verhältnißmäßig späte Zeit des Jahres fast alle fremden Besucher zurückhielt.
Unter solchen Verhältnissen versenkt sich der Geist unwillkürlich in die volle Hingabe an das Vorliegende, und wenn dieses, wie in Aegypten, überall von den Resten ältester Vergangenheit durchsetzt ist, so gewöhnt man sich täglich mehr, von den Vorgängen der Welt draußen abzusehen und sich nur mit der Natur und der Geschichte des Landes zu beschäftigen.
Niemand wird die Eigentümlichkeiten Schliemanns begreifen, der sich nicht vorzustellen vermag, wie häufig bei ihm solche Perioden der Zurückgezogenheit und der Vertiefung in weit zurückgelegene Zeiten wiederkehrten und mit welcher Ausdauer und Sorgfalt er sie auszunutzen verstand. Auch die gewaltigen Ausgrabungen, die er mit den größten Opfern an Zeit, Mühe und Geld unternahm und die eine völlige Umgestaltung der Anschauungen von der Vorgeschichte Griechenlands herbeigeführt haben, werden nur verständlich, wenn man erkennt, daß alle seine Pläne auf anhaltender und höchst eingehender Durchforschung der alten Schriftsteller beruhten, und daß er Entschlossenheit und Wagemuth genug besaß, um aus den viel bezweifelten Angaben der uns erhaltenen Werke sich eine eigene, selbständige Ueberzeugung von den Verhältnissen längst vergangener Geschlechter zu bilden und danach zu handeln, unbekümmert darum, ob die Zeitgenossen seine Pläne für thöricht und phantastisch erklärten. Es war kein Zufall, daß er aus der großen Masse möglicher Probleme sich eine beschränkte Zahl heraussuchte und daß gerade diese die wunderbarsten Ergebnisse lieferten. Ilos, Mykenae, Tiryns, Orchomenos, - das waren die Goldplätze, welche schon in den homerischen Dichtungen in den Vordergrund der Betrachtung gestellt waren, wenngleich nicht alle in gleicher Helligkeit. Schliemann war im voraus überzeugt, daß nur der besondere Gang der Darstellung die anderen Plätze neben Ilios in den Schatten zurücktreten ließ. Für ihn waren sie genügend bezeichnet, um ihn zu bestimmen, seinen Spaten gerade da anzusetzen.
Welcher Triumph, als er zuerst in Mykenae in glänzendster Weise die Richtigkeit der alten Schilderungen darlegte, und welche nachhaltige Wirkung für die gesammte Entwicklungsgeschichte des künstlerischen und geschichtlichen Vorlebens der hellenischen Stämme! Nicht gleich schnell vollzog sich die Aufdeckung der verschütteten Ueberreste in Tiryns und Orchomenos. Wiederholt nahm er das Werk in Angriff; kein Mißerfolg erschütterte ihn in der Zähigkeit der felsenfesten Ueberzeugung, daß hier Großes zu finden sei. Und er fand es endlich, unterstützt von dem Scharfsinn und dem feinen Verständniß der alten Architektur, welche der Helfer in allen späteren Unternehmungen, Wilhelm Dörpfeld, in seinen Dienst stellte. Die Zeit wird kommen, wo diese Errungenschaften in die Gesammtanschauung aller Gebildeten übergehen werden, ja man darf sagen, Schliemann ist nicht gestorben ohne das tröstliche Gefühl, daß die Aufgabe seines Lebens in der Hauptsache gethan und anerkannt ist.
Für uns Zurückbleibende aber mag es eine Mahnung sein, das, was wir planen, so musterhaft vorzubereiten, wie er es stets gethan hat. Welche lange Zeit der mühseligsten Vorbereitung hat dieser Mann durchgemacht, um sich zunächst nur die Mittel und dann das geistige Handwerkszeug zu beschaffen, die dazu gehörten, so großen Zielen nachzustreben! Er hat manche Wege vergeblich durchmessen, manche Arbeit umsonst gethan, aber stets hat er den Hauptweg wiedergefunden, der seinem prophetischen Geiste vorgeschwebt hatte.
Und dann, welches Vorbild hat er uns gegeben in der sorgsamen Durcharbeitung des Gewonnenen! Wenn eine Campagne des Grabens und Suchens vorüber war, dann setzte er sich für lange Zeit nieder, um aus seinen Tagebüchern und aus der fast unübersehbaren Fülle seiner Funde ein zusammenfassendes Bild zu gestalten und der Welt Rechenschaft zu geben von seinem Thun und von den Schlußfolgerungen, die er aus seinen Entdeckungen ableitete. Monate und wieder Monate unermüdlicher und immer wieder an den Thatsachen und Gegenständen geprüfter Niederschreibung waren erforderlich, um jene umfangreichen Bände zusammenzustellen, welche jetzt die Bibliotheken füllen.[2] Und jeder neue Band erschien in verbesserter Gestalt, jede neue Ausgabe erhob sich freier über das anfängliche Gewirre der Meinungen. So wuchs auch die Anerkennung.
Selten hat es größere Schwierigkeiten gemacht, daß ein Autodidakt sich zu einer solchen Sicherheit im Urtheil entwickelt, daß er so sehr die Zustimmung der Fachgelehrten, man darf wohl sagen. sich erzwungen hat. Schliemann war ein vorsichtiger Forscher, aber auch ein entschlossener Kämpfer: er wußte es, daß in einer Periode, wo die Presse einen so großen Einfluß auf das allgemeine Urtheil ausübt, dicke Bücher allein das Publikum, das ihnen oft ganz fern bleibt, nicht überzeugen. Seine Sprachgewandtheit befähigte ihn, auch der periodischen Presse stets mundgerechte Berichte zu liefern. In erster Linie war es meist die englische, welche ihm von Anfang an hilfreich gewesen war und welcher er sich daher mit Vorliebe zuwendete. Gleicherweise waren auch seine ersten großen Bücher in englischer Sprache abgefaßt. Er schrieb diese Bücher größtenteils direkt in der fremden Sprache. Aber er unterwarf sie der Prüfung von Sachverständigen, ehe er sie herausgab.
Manches seiner Blätter ist auch durch meine Hand gegangen. Das große Buch „Ilios“ hat mir in allen seinen Teilen vorgelegen, ehe es das Licht der Welt erblickte. Einen ganzen Sommer hindurch erschien von London her ein Revisionsbogen nach dem andern, und ich bin immer noch von Dank erfüllt, wenn ich daran zurückdenke, wie ernsthaft Schliemann jede meiner Bemerkungen, auch die sprachlichen, aufnahm und wie ausführlich er mir in zweifelhaften Fällen seine Gegengründe entwickelte.
In Deutschland hat man es als einen Mangel empfunden, daß die deutschen Ausgaben theils erst nachträglich, theils in weniger glänzender Ausstattung erschienen. Für die letzte Zeit hat sich das Verhältniß thatsächlich geändert. Aber für die frühere Zeit sollte man nicht vergessen, daß das Band zwischen Schliemann und dem Vaterlande stark gelockert war, zunächst durch seine langjährige Abwesenheit und durch die ganze Gestaltung seines geschäftlichen Wirkens, für welches ihm Deutschland keinen Anhalt gewährte, dann aber auch durch die unwillkürliche Anpassung an das Fremde. Als ich ihn zum ersten Male in Hissarlik besuchte, war ihm das Verständniß zahlreicher deutscher Wörter, ja die Erinnerung an ihr Dasein ganz abhanden gekommen. Nicht selten sagte er mir überrascht: „Das Wort habe ich seit 30 Jahren nicht gehört.“ Vorzugsweise galt das von Provinzialismen, die in seiner Heimath so zahlreich sind. Als Pommer kannte ich nicht wenige dieser Worte: jedesmal, wenn ich, sei es absichtlich, sei es unabsichtliche ein solches aussprach, weckte es in ihm Gedanken seiner Jugend, und dann hoben sich aus der Dämmerung seines Gedächtnisses nach und nach lichte Gestalten der Heimath empor. Es waren das jene Tage, wo auch das Gefühl für das Vaterland wieder in fernem Herzen erstarkte. In dem Maße, als die Sprache seines Volkes ihm wieder näher trat, wuchs auch die Sehnsucht des Wiedersehens, und es dauerte nicht lange Zeit, da kam er mit Weib und Kind und setzte sich still in sein altes Ankershagen, um in dem vollen Gefühl der Heimath zu schwelgen und - daselbst ein neues Buch zu vollenden"
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Es war im Beginn des Jahres 1879, als ich mich entschloß, den dringenden Einladungen Schliemanns zu einem Besuche der Troas nachzugeben. Er lockte mich vorzugsweise mit der Aussicht auf eine umfassende Untersuchung der Heroengräber, die er auszuführen gedachte und zu der er meine Mitwirkung verlangte. Im Jahre 1877, als er seine denkwürdigen Ausgrabungen in Mykenä veranstaltete, hatte ich einer ähnlichen Einladung nicht nachkommen können, und er warf mir seitdem vor, daß nur meine Abwesenheit den beklagenswerthen Umstand verschuldet habe, daß auch nicht ein einziger der „Atriden“-Schädel unversehrt und in einer für wissenschaftliche Bestimmungen brauchbaren Gestalt erhalten worden war. Diese Anklage lastete in der That schwer auf mir. Wie hätte ich nun widerstehen können, wo die seit dem Alterthum berühmten Grabhügel des Achilleus und des Patroklos und so mancher anderen Helden geöffnet werden sollten!
Aber es war noch ein anderer sehr wichtiger Grund vorhanden. Gerade damals hatte sich die Opposition gegen Schliemann unter den älteren und fast noch mehr unter den jüngeren Fachgelehrten, namentlich unter den Archäologen und Philologen, zu einer Art von Hochfluth gesteigert. Man sprach in Deutschland mit einer wachsenden Geringschätzung von dem „Autodidakten“, der sich anmaßte, eine Frage entscheiden zu wollen, an welcher die Schulweisheit von Jahrtausenden sich ohne Erfolg abgemüht hatte. Die ganze Unternehmung erschien so hoffnungslos, daß bedeutende Philologen die Existenz sowohl Homers, als Trojas in Zweifel zogen und daß sie es für Aberwitz erklärten, nach Ueberresten von Troja zu suchen.
Nahezu von allen Seiten preisgegeben, appellirte Schliemann an meine Hilfe. „Ich habe nie daran gezweifelt,“ schrieb er, „daß Sie mich verstanden und würdigten; auch gab mir Ihr Diplom, wofür ich Ihnen ewig dankbar bin, einen eklatanten Beweis davon.“ Er meinte hier das Diplom als Ehrenmitglied, welches ihm die Deutsche anthropologische Gesellschaft 1877 ertheilt hatte. Aber dieses Diplom hatte auf die öffentliche Meinung in Deutschland keinen entscheidenden Einfluß ausgeübt. Sollte ich nicht den Versuch machen, durch genauere Kenntnißnahme an Ort und Stelle ein eigenes Urtheil zu gewinnen, um nachher in der Heimath ein unparteiisches Zeugniß abzulegen? Wenn ich auch mein Zeugniß nicht so hoch veranschlagen konnte, wie es Schliemann in seiner enthusiastischen Weise that, indem er schrieb: „Ihre Anwesenheit in Troja ist eine Nothwendigkeit für die Wissenschaft und für mich von allerhöchstem Interesse“, so durfte ich doch ermarten, daß meine Berichte eine gerechtere Beurtheilung des wackeren Mannes herbeiführen würden. Und vor allem durfte ich als sicher annehmen, daß meine persönliche Theilnahme an seinen Arbeiten seine Meinung von der parteiischen Stellungnahme der deutschen Gelehrten einigermaßen mildern werde.
Das war im Februar. Ich verweilte dann bei ihm in der Troas bis gegen Ende April. Im Herbst desselben Jahres sagte ich ihm zu, mit ihm in London zusammenzutreffen, wo er mir seine trojanische Sammlung, die im South Kensington Museum aufgestellt war, selbst zeigen und erläutern wollte. Ich kann es mir nicht versagen, aus einem seiner Briefe, den ich kurz vor dieser Reise erhielt, eine Stelle wiederzugeben. Es heißt darin (Boulogne sur Mer, 9. September 1879): „Sie haben mich wieder mit Deutschland ausgesöhnt, infolgedessen letzteres in meinem Testament, welches ich heute umschrieb, ansehnlich bedacht ist. Außer Virchow wäre niemand dazu imstande gewesen.“
Und doch hatte ich nichts gethan, als was jeder andere Kritiker auch hätte thun können und thun müssen. Niemals hatte ich ihm eine Rede gehalten über seine Pflicht, des Vaterlandes zu gedenken, und niemals hatte ich ihn aufgefordert, seine trojanische Sammlung aus England fortzunehmen und nach Deutschland zu bringen. Nur wenn ihm selber solche Gedanken kamen und er sie mir gegenüber, meist nur in der Form einer Ueberlegung, äußerte, fand er begreiflicherweise bei mir freudigen Widerhall. Und ich durfte dem um so offener Ausdruck geben, als es mir nicht unbekannt war, daß Frau Schliemann seit langer Zeit in diesem Sinne auf ihren Mann eingewirkt hatte.
Unser Aufenthalt in der Troas war von vornherein so eingerichtet, daß jedem Theilnehmer in der kleinen Gesellschaft die größte Freiheit für seine Studien gelassen war. Außer mir und dem türkischen Bevollmächtigten war nur noch Mr. E. Burnouf, der frühere Direktor der französischen archäologischen Schule in Athen, daselbst anwesend. Wir beide waren an demselben Tage, obwohl von ganz verschiedenen Seiten kommend, in den Dardanellen gelandet. Schliemann hatte uns mit den Worten empfangen: „Nun richten Sie sich ganz nach Belieben ein; bei mir ist Republik.“ Das war sein voller Ernst, und so konnte denn jeder seine besondere Aufgabe verfolgen. Mr. Burnouf trieb seine astronomischen und geodätischen Studien. zeichnete Situationspläne und ermittelte die Anordnung der alten Bauten. Ich machte meine naturwissenschaftlichen Untersuchungen über die Geologie der Troas und speciell über die Entstehung der „troischen Ebene“ über die Flußläufe und Quellen, über Menschen, Thiere und Pflanzen. Nur bei den Ausgrabungen und bei dem Nachtmahl trafen wir sämmtlich [300] zusammen. Aber Schliemann überholte uns bei weitem durch die Ausdauer seiner Leistungen. Wenn mir beide morgens um 7 Uhr aus unserer Holzkammer traten, hatte Schliemann schon ein gutes Stück seines Tagewerks hinter sich. Vor dem Aufgang der Sonne war er nach dem etwa 3/4 Stunden entfernten Hellespont geritten. um sein tägliches Seebad zu nehmen; nach der Rückkehr hatte er gefrühstückt, den Aufruf der Arbeiter überwacht, die Anordnungen für die Ausgrabungen des Tages getroffen, und wenn wir den Berg heranstiegen, fanden wir ihn auf einem der beherrschenden Punkte, wie er nach allen Seiten beobachtete und durch neue Befehle den Gang der Arbeiten bestimmte. Dann zerstreuten wir uns, wie es jedem paßte; jeder aß zu der ihm gefälligen Zeit, und nur an Tagen, wo, gewöhnlich nachmittags, irgend ein entfernterer Punkt in Untersuchung genommen werden sollte, vereinigten wir uns zu einem gemeinschaftlichen Ritt.
Nur ein Verhältniß gab es, wo Schliemann sich zeitweise von der Beaufsichtigung seiner Arbeiter loslöste, und gerade das ist für die Beurtheilung des Mannes von besonderer Bedeutung. Es dauerte nicht lange, da war es in der ganzen vorderen Troas bekannt, daß auf Hissarlik ein „großer Hakim“ (Arzt) weile. Schliemann selbst hatte nicht wenig dazu beigetragen, diese Kunde zu verbreiten. In der Sorge für Kranke war er unermüdlich. In gewöhnlichen Zeiten kurirte er selbst, soweit seine Mittel reichten und soweit seine Erfahrung ihm gewisse Anhaltspunkte bot, aber, da ich nun da war. führte er die Kranken zu mir und diente mir als Dolmetscher und als Heilgehilfe. Alle Tage wurden es der Kranken mehr. aber niemals versagte er seine Dienste. Selbst auf unseren kleinen Reisen legte er seiner sonst so schwer zu beruhigenden Ungeduld Zügel an, und es wird mir stets unvergeßlich bleiben, wie er selbst ganz spät, wenn wir von einem längeren Ritt heimkehrten, noch mit mir in die Hütten der benachbarten Dörfer eintrat und mir geduldig das Licht hielt, bis ich meine Untersuchung beendet und die nöthigsten Anordnungen getroffen hatte. Gab es doch fast auf 10 Stunden in die Runde keinen eigentlichen Arzt, an den wir die Armen hätten weisen können! Und auf die griechischen Priester, die sonst in Nothfällen angerufen wurden, hatte Schliemann einen großen und gerechten Zorn, denn sie hielten noch fest an der überkommenen Gewohnheit des steten Blutlassens, welches für Menschen, die durch die Einwirkung der Malaria und durch häufiges und strenges Fasten blutarm geworden waren, doppelt gefährlich ist.
Diesem tief menschlichen Mitgefühl stand bei Schliemann ein auffälliger Mangel in der Auffassung der Natur gegenüber. Niemals in seiner langen Lehrzeit war er mit einem der vielen Zweige der Naturwissenschaft in nähere Berührung getreten. Sein Auge war daher für die feinere Beobachtung der Naturprodukte nicht geschärft, und er war sehr geneigt, auf Grund oberflächlicher Merkmale Angaben zu machen. welche vor einer wissenschaftlichen Bestimmung nicht standhielten.
So hatte er die Bausteine in den Mauern der alten Ansiedelungen als „Muschelkalk“ bezeichnet, ganz unbekümmert darum, daß weit und breit in der Gegend jenes Gestein nicht ansteht, welches die Geologen so nennen. Allerdings sind diese Steine voll von Muscheln, aber sie gehören der Tertiärformation an, einer viel jüngeren Bildung, aus welcher die benachbarten Höhenzüge bestehen. Ganz besonders trat aber seine Gleichgültigkeit gegen die Natur in botanischen Dingen hervor. Beide Male, wo ich ihn in der Troas besuchte, traf ich die erste Frühjahrszeit. Ein Baum, ein Strauch nach dem andern entfaltete seinen Blätterschmuck; auf Bergen und in der Ebene, ja in den Wasserläufen und Sümpfen trieben Blüthen hervor; in entzückender Mannigfaltigkeit bedeckte sich die ganze Pflanzenwelt mit immer neuem, zum Theil in den schönsten Farben strahlendem Schmuck. Wenn unser Ritt uns in neue Gebiete führte, so stießen wir auch wieder auf neue Blumen, und da die Schnelligkeit unserer Bewegungen es mir unmöglich machte, jedesmal abzusteigen, so mußte den Fußgängern unserer Begleitung häufig Auftrag gegeben werden, bestimmte Blumen zu pflücken. Schliemann übermittelte willig meine Aufträge, aber so schwer wurde es mir, ihm selbst klar zu machen, welche Blumen ich haben wollte, daß ich häufig genug andere erhielt, als ich bezeichnet hatte. Schließlich wurden unsere Leute so sehr gewöhnt an diese Thätigkeit, daß sie freiwillig sammelten und mir ihre Erwerbungen überbrachten. Ich erinnere mich immer noch mit Rührung, wie im Anfange unserer Idareise eines Tages in den syenitischen Vorbergen unser Faktotum, der treffliche Nicola, mit seinem schwerbeladenen Klepper einen abschüssigen Fels hinaufsprengte und mir mit triumphirendem Blick eine große rothe Blume herabbrachte: es war freilich nur eine Distel, aber ich steckte sie doch mit freudigem Dank an meine Mütze.
Es machte nicht wenig Mühe, alle diese Pflanzen in erträglichem Erhaltungszustande nach Hause zu bringen, und noch mehr, sie in ordnungsmäßiger Weise einzulegen und zu trocknen. Ich verbrauchte nicht selten einen größeren Theil der Nacht zu dieser Arbeit, und die Wächter, die unsere Hütten umwandelten, waren sehr erstaunt, noch so spät Licht in meinem kleinen Fenster zu sehen. Durch sie erfuhr auch Schliemann davon, und so sehr er mir abrieth, die Nacht zur Hilfe zu nehmen, so begann er doch, mehr und mehr Werth zu legen auf die Erforschung der damals noch recht wenig bekannten Flora des Landes. Er wünschte eine Uebersicht derselben in die neue Ausgabe von „Ilios“ aufzunehmen, und als er später mit der Abfassung dieses Werkes beschäftigt war, drängte er unaufhörlich, die Liste zu erhalten. Ich theilte ihm mit, daß dies nicht so leicht sei und daß Professor Ascherson, dem ich nach meiner Rückkehr das gesammelte Herbarium übergeben hatte, Zeit brauche zu den Bestimmungen, zumal da sich schon ein paar neue Arten darin gefunden hätten. Aber selbst die Anzeige, daß eine dieser Arten seinen, eine andere meinen Namen tragen sollte, mäßigte seine Ungeduld nicht. Im Gegentheil, unter dem 29. Oktober 1879 schrieb er mir: „Die beiden unbekannten Pflanzen müssen natürlich nach Ihnen, dem gelehrten Forscher, benannt werden. Sie nach jemand zu benennen, der nichts damit zu tun hatte und nichts davon versteht, würde eine Parodie sein, deren Sie nicht fähig sind.“ Indeß hinderte diese Erwägung Herrn Ascherson nicht, eine Fritillaria Schliemanni aufzustellen und für mich den Astragalus Virchowii auszuwählen.
Die Fritillaria war gut zu bestimmen, denn ich traf sie in voller Blüthe. Dagegen sah es mit dem Astragalus schlimm genug aus. Es war ganz im Anfange meines ersten Besuches in der Troas. auf einem Ritt zum Grabe des Achilleus, als ich ein üppig treibendes Exemplar davon am Nordende des Vorgebirges Sigeion fand; aber noch war keine Blüthe getrieben. Vergeblich suchte ich nach einem zweiten Exemplar. Auch alle späteren Aufträge blieben erfolglos; selbst als geschulte Botaniker die Troas durchstreiften, die besonders darauf aufmerksam gemacht waren, gelang es ihnen nicht, die Lücke auszufüllen. Erst im vorigen Frühling, als wir eines Tages längs des Sigeion gegen Neochori ritten, stieß ich plötzlich unter dem Dimitri Tepe auf eine Anzahl blühender Exemplare dieser großen schönen Papilionacee. Aber so wenig erfaßte das Auge meines Freundes die Eigenthümlichkeiten der Pflanze, daß er später wiederholt bei ihr vorüberritt, ohne sie wiederzuerkennen.
Bei Pflanzen ließ ihn sogar seine sonst so lebendige Jugenderinnerung im Stich. Eines Tages kamen wir nach Ghiekli, einem Dorfe an der Küste des ägäischen Meeres, gegenüber von Tenedos. Ein Mann kam tief betrübt herbei und erbat Hilfe für seine schwer erkrankte Frau. Seine Sorge war so groß, daß er alle Bedenken des Orientalen überwand und uns an das Krankenbett der Frau führte. Aber wir waren fast ohne Arzneimittel, und als ich den Mann fragte, ob eine Apotheke erreichbar sei, erklärte er, dazu müsse er auf einem Boote nach Tenedos hinüberfahren oder nach den Dardanellen gehen. Wir entschieden nach einiger Ueberlegung für die Fahrt nach Tenedos, aber ich rieth, in der Zwischenzeit Umschläge mit Chamillenthee zu machen. Schliemann erinnerte sich, den Namen gehört zu haben. aber er war höchlich erstaunt, als ich ihm mittheilte, daß wir kurz vor dem Dorfe über ein Feld geritten seien, das ganz mit blühenden wilden Chamillen bestanden war. Auch der Eingeborene hatte keine Ahnung von dem Namen der Pflanze, die ich ihm zeigte, und noch weniger von ihrem Werte als Hausmittel.
Dieser Mangel an botanischem Verständniß ließ sich bei Schliemann natürlich in der Eile nicht beseitigen. Aber als er zwei Jahre später zum ersten Male den Gipfel des Ida erstieg, da brachte er von oben herab die köstlichen Blumen, die schon Homer im 14. Gesange der Ilias nennt:
„Lotos mit thauiger Blum’ und Krokos sammt Hyakinthos.“
Freilich that er es nicht der Blumen, sondern nur der homerischen Stelle wegen. Denn gerade unter dem Gipfel des Ida, tief [301] versteckt, liegt eine lauschige Thalmulde, ganz wie geschaffen für eine heimliche Brautnacht. Als wir im letzten Frühjahr dort waren, sah sie wie ein Blumengarten aus, so dicht standen Krokus und Corydalis und blaue Hyazinthen (Scillen).
Die Reise von 1881, wo er ganz allein war, zeigte überhaupt in überraschender Weise, mit welcher Schnelligkeit Schliemann auch naturwissenschaflliche Aufgaben erfaßte und sich die genaueren Methoden zu eigen zu machen wußte. Er bestimmte auf derselben mit größter Sorgfalt die Höhen der Berge, maß die Temperatur der Quellen und führte ein genaues meteorologisches Tagebuch. Jede Begegnung mit einem Naturforscher steigerte sein Verständniß, nicht in bloß mechanischer Weise, sondern in sachlicher Einsicht. Denn er wurde nicht müde, die Unterhaltung bis auf den Grund der Dinge fortzuführen. Seine lange Gewöhnung an Rechnen machte ihn besonders befähigt, alles das zu erfassen, was auf Zahlen zurückzuführen war. Daher imponirte ihm vor allem die Astronomie und er trug sich lange mit dem Gedanken, seinen Sohn Agamemnon, der damals noch ein zartes Kind war, zum Astronomen ausbilden zu lassen. In gleichem Sinne legte er auch das größte Gewicht auf genaueste Kenntniß der Geschichtszahlen, ohne welche ihm die Geschichte selbst gänzlich unverständlich erschien.
Es war ein sonderbares Geschick, daß es gerade ihm, dem Zahlenmann, beschieden war, alle seine großen Entdeckungen in so ferne Zeiten verfolgen zu müssen, wo die Geschichtszahlen aufhören. Schon sein erster Anfang auf Hissarlik führte ihn sehr schnell in eine Tiefe der Ausgrabungen, wo nur noch die Prähistorie zu sprechen hat. Da giebt es keine Münze mehr! Schliemann hat mit ebensoviel Geschick als Glück eine schöne seltene Sammlung von Münzen aus der klassischen Zeit zusammengebracht. Auch die oberflächlichen Schichten von Hifsarlik, mehr noch die benachbarten Felder und Hänge von Neu-Ilion sind voll von hellenischen, römischen und byzantinischen Münzen. Aber gegen die Tiefe hin hört das bald auf. In den oberen Schichten giebt es auch noch Inschriften, besonders griechische, zum Theil recht lange. In den prähistorischen Lagen trifft man nur noch auf Fundstücke aus Thon, besonders Wirtel in reichster Fülle, auf denen häufig sonderbare Einritzungen sind, die wie Schriftzüge aussehen, aber nur einzelne kühne Forscher glauben, darin lesbare Zeichen erkannt zu haben. selbst wenn man ihre Deutungen anerkennt, kommt man damit nicht weiter, als daß man diese Stücke mit anderen aus benachbarten Gegenden der Mittelmeerländer, z. B. solchen aus Cypern, zusammenstellen kann, aber Geschichtszahlen folgen daraus nicht. Wo in der Geschichte Jahre genannt werden, da ist man in der Prähistorie auf Jahrhunderte, zuweilen auf Jahrtausende angewiesen.
Schliemann hat sich nach und nach in diese Nothwendigkeit gefunden. Aber es war eine sehr harte Aufgabe für ihn, zu deren Ueberwindung er Jahre gebraucht hat. Galt es doch, auf den Gedanken zu verzichten, daß diese Ueberreste der homerischen Stadt dem Ilios von Priamos und Hektor angehört haben. Freilich nicht in dem Sinne, wie manche angenommen haben, daß nun erst recht die Ansicht bewiesen sei, auch die Grundlage der Dichtung beruhe auf freier Erfindung, und es sei niemals in diesem Lande ein Krieg abendländischer und morgenländischer Völker geführt worden, der mit der Zerstörung einer Königsburg und der Vernichtung des Herrschergeschlechts sein Ende gefunden. Im Gegentheil – und das ist das Bedeutende in den Entdeckungen Schliemanns – es wurden die Trümmer einer uralten Burg aufgedeckt, welche durch Brand zerstört sein muß und welche nach ihrer Anlage und der Bedeutung der darin gefundenen Gegenstände nur einem reichen und mächtigen Herrscher als Sitz gedient haben kann. Auf den Trümmern dieser Burg haben spätere, allem Anschein nach fremdartige Ansiedler Gebäude errichtet, und auch diese Gebäude sind wieder zerstört und zum Theil verbrannt, und auf und aus ihrem Schutt haben neue Bewohner ihre Wohnungen hergestellt. Das sind die über einander folgenden Schichten, welche Schliemann etwas zu volltönig „Städte“ genannt hat. Ungeheure Schutt- und Trümmerlagen bezeugen die Thatsache, daß gerade dieser Platz schon in vorgeschichtlicher Zeit als ein besonders fester und gewiß [302] auch berühmter gegolten hat, um welchen sich rin reicherer Schatz von Sagen sammelte, als um irgend einen anderen Platz der Troas. Gewiß ist es bedeutungsvoll, daß bis jetzt in der ganzen Troas auch nicht ein einziger anderer Platz entdeckt worden ist, der seiner ursprünglichen Anlage nach oder seiner immer erneuten Besiedelung wegen auch nur entfernt mit dem Trümmerhügel Hissarlik verglichen werden kann.
Hier ist nachher auch in historischer Zeit fortgebaut worden. Hier treffen wir die aus Quadern errichteten Mauern der makedonischen Zeit, hier sind in weiter Ausdehnung, selbst über den Burgberg hinaus, die Felder mit den Trümmern der römischen Kolonie Neu-Ilion bedeckt, hier wurden zweifellose Ueberreste der Byzantiner ausgegraben. Mit dem Zerfall der oströmischen Herrschaft hörte auch die Bebauung des Hügels auf. Nur noch nomadisierende Hirten weideten auf demselben ihre Heerden. Damit schwand die Kontinuität der Sage, aber glücklicherweise auch der Anreiz zur Nachgrabung und Zerstörung des noch Vorhandenen. Erst der „Traum“ eines mecklenburgischen Knaben, in früher Zeit angeregt durch die Erzählungen eines Vaters von gelehrter Bildung und durch ein an sich werthloses Bildwerk, sollte sich in einer tiefgehenden Untersuchung verwirklichen, welche der gereifte Mann nach einem langen und arbeitsvollen Leben mit den großen, darin erworbenen Mitteln unternommen und fast ganz zu Ende geführt hat.
Zu der Zeit, wo Homer lebte oder, falls er nicht gelebt haben sollte, wo die mit seinem Namen bezeichneten Dichtungen entstanden, konnte nach diesen thatsächlichen Feststellungen nichts mehr von der alten Burg sichtbar sein. Sie war schon damals nicht nur bis auf die Grundmauern zerstört, sondern auch von einer Reihe späterer Ansiedlungen überbaut, ungefähr so, wie die alten ägyptischen Tempel bis auf unser Jahrhundert großentheils mit den elenden Lehmdörfern koptischer Ansiedler bedeckt waren, deren Schutt nach und nach die Hallen und Kapellen gefüllt und jeden Tempel in einen großen Schuttberg, heutigen Tages „Kom“ genannt, verwandelt hatte. Es ist nur der große Unterschied, daß in Aegypten noch neue prächtige Tempel aufgeführt wurden, als an die Stelle der alten Pharaonen ein makedonisches Herrschergeschlecht und schließlich römische Kaiser getreten waren, also zu einer Zeit, als in der Troas nur noch ein unscheinbarer Hügel vorhanden war. Wer will es entscheiden, ob die verschüttete Burg im tiefsten Grund dieses Hügels den Namen Ilios getragen hat, und ob der Herrscher und seine Angehörigen von ihren Zeitgenossen so genannt wurden, wie die Dichtung sie nennt? Das sind an sich müßige Fragen, wenngleich sich auch über diese Namen manches sagen läßt.
Die homerische Dichtung beschäftigt sich aber nicht bloß mit Ilios und seinen Bewohnern. Sie schildert die ganze Umgebung, vorzugsweise die benachbarte Ebene mit ihren Flüssen und Dörfern, die Küste des Hellespont und die Umrahmung mit Bergzügen. Da ist zweifellos das Schlachtfeld, auf welchem Achäer und Troer in immer erneuten Kämpfen aufeinander stießen. Die „Ilias“ beschreibt aber auch in unerreichter Naturtreue das größere Bild, das man von der Höhe von Hissarlik überschaut: das weite Meer mit seinen Inseln Tenedos, Lemnos und vor allen die hochragende Felsmasse von Samothrake. und gegen Süden das bergige Mittelland der Troas, abgeschlossen durch die ferne Gebirgskette des Ida. Noch heute zeigt der Himmel über diesen Fernpunkten jene wechselnden Gestaltungen des Gewölkes, sein plötzliches Entstehen, sein Fortschreiten, die Gewitterbildung, – lauter Erscheinungen, in denen der Glaube des Volkes das Walten der Gottheit zu erkennen meint. Kaum dürfte ein zweiter Ort innerhalb des Bereiches altgriechischer Anschauung vorhanden sein, der mehr geeignet wäre, durch die Großartigkeit des Naturbildes als Unterlage für die Annahme einer persönlichen Anwesenheit und Mitwirkung der Götter zu dienen. Daraus begreift sich die künstlerisch vollendete Verbindung göttlicher und menschlicher Thaten, welche die „Ilias“ bietet, und welche während der ganzen klassischen Zeit in Griechenland und Rom den Inhalt der mythologischen Vorstellungen, der poetischen und künstlerischen Schöpfungen, der Götter, und Heroensagen bestimmt hat.
Dieses Gesammtbild der troischen Landschaft war es. welches durch die Jahrtausende hindurch, als jede Spur des alten Ilios verschwunden zu sein schien, den Glauben erhielt, daß die Burg in dieser Gegend oder gar an dieser Stelle gelegen haben müsse. Als der Glaube an Zeus und Poseidon. an Here und Athene verblaßte. erhielt sich doch in unveränderter Form die Gestalt der Berge und Hügel, welche einst als ihre Sitze oder wenigstens zeitweiligen Standplätze verzeichnet waren. Der Glaube an Ilios, an Priamos und sein Haus, an die Helden der Achäer überdauerte den Glauben an die Götter. Aber heute müssen wir den Kritikern zugestehen, daß dieselbe Dichtung, welche die Landschaft malt, wie sie noch heute ist, an die Stelle der wirklichen Burg und der vorgeschichtlichen Helden poetische Gestaltungen gesetzt hat, für welche die Ausgrabungen nur unvollständige Beweise, oft genug sogar Gegenbeweise geliefert haben.
Die Helden der Dichtung kämpfen vielfach zu Roß oder zu Wagen. Aber in den Trümmern der prähistorischen Stadt haben sich keine Wagenreste gefunden und unter der Unmasse von Thierknochen nur vereinzelte Gebeine von Pferden. Kein Schwert ist zu Tage gekommen, dagegen neben einzelnen Bronzen zahlreiche Waffen von Stein, deren in dem Gedichte mit keinem Worte gedacht wird. Unverkennbar schildert uns der Dichter Krieger seiner Zeit, wo das Eisen zu allgemeinem Gebrauche gekommen war; er hatte keine Ahnung davon, wie die Ausrüstung des Kriegers der Urzeit beschaffen war. Mit derselben Naivetät überträgt er die Sitten und Gewohnheiten seiner Zeitgenossen auf jene alten Geschlechter, welche seit vielen Jahrhunderten begraben waren. Mit dem gleichen Rechte könnte ein Dichter unserer Zeit die Krieger Karls des Großen mit Hinterladern bewaffnen und ihnen Kanonen zur Verfügung stellen. Homer beschreibt eben seine Zeitgenossen und nicht das troische Urvolk. Wo die Grenzen der Erfindung oder der Uebertragung liegen, das ist also selbst hier eher zu Ungunsten des Dichters zu entscheiden. Leider hat auch die Untersuchung der Heroengräber in der Troas, auf welche Schliemann so große Hoffnungen gesetzt hatte, fast nur negative Ergebnisse geliefert. Nur im Hanai Tepe wurden zahlreiche Skelette zu Tage gefördert, aber auch da nichts von solchen Waffen und Geräthen, wie sie die „Ilias“ voraussetzt.
Im Hausbau sind die Menschen verhältnißmäßig konservativ, und daher ließe sich eher annehmen, daß die Schilderung der Häuser auch noch zugetroffen haben könnte, als sie selbst nicht mehr vorhanden waren. In der That habe ich nachgewiesen, daß die architektonischen Gewohnheiten der vorgeschichtlichen Zeit sich noch heutigen Tages in allen Theilen der Troas nachweisen lassen: ein Unterbau aus Bruchsteinen, ein Oberbau aus Lehmziegeln, drüber Holzbauten. Diese Anordnung ist in den alten „Städten“ von Hissarlik, abgesehen von den Holzbauten, ganz deutlich. In der „Ilias“ finde ich keine Andeutung davon, aber auch keine bestimmte Angabe gegentheiliger Einrichtungen. Daher steht unmittelbar nichts entgegen, die Trümmer der „zweiten Stadt“ mit Schliemann auf die Burg der Sage zu beziehen.
Der Versuch, die untergegangenen Gebäude des alten Schutthügels aus der Reihe menschlicher Wohnungen zu streichen und den ganzen Hügel als eine gewaltige Anhäufung von Gräbern mit Leichenbrand, als eine „Feuernekropole“ zu erweisen, ist nach meiner Ueberzeugung nicht gelungen. Er beruhte ursprünglich auf mißverständlichen Bezeichnungen und Deutungen, welche Schliemann seinen Funden in der ersten Zeit seiner Ausgrabungen, als er noch wenig erfahren in archäologischen Untersuchungen war, gegeben hatte. Er selbst hat seine damaligen Auslassungen als irrthümliche zurückgenommen, und ich kann versichern, daß mir bei zweimaliger, wochenlanger Anwesenheit auf Hissarlik nichts vorgekommen ist, was darauf hingedeutet hätte, daß in den prähistorischen Zeiten auf dem Hügel Leichenverbrennungen stattgefunden hätten oder Gräber in auch nur mäßiger Zahl angelegt worden wären. Die prähistorischen Schichten stammen von menschlichen Wohnungen und sind endgültige Beweise dafür, daß hier Ansiedlungen vorhanden waren. Man mag über die Bedeutung einzelner Gebäude streiten, z. B. ob sie Paläste oder Tempel waren. aber das ändert nichts an dem Gesammtcharaker der Anlage.
Schliemann hat die trojanischen Ausgrabungen wiederholt unterbrochen, um an anderen Plätzen, welche die homerische Dichtung aus der Zahl der damals bewohnten Hauptorte hervorhebt, Untersuchungen zu veranstalten. Das waren vorzugsweise Mykenä, Tiryns und Orchomenos, jene beiden im Peloponnes, in der Nähe von Argos, dieses in Böotien. Er hat dieselben mit noch größerer Uneigennützigkeit ausgeführt, denn er hat seine dortigen Funde ohne Entschädigung der griechischen Regierung [303] überantwortet. Schon in Mykenä war ihm das Glück sehr hold: er fand die alten Königsgräber, die Pausanias beschrieben hat, deren Existenz aber von den späteren Gelehrten bis auf die neueste Zeit bestritten wurde. Ganz besonders lehrreich war die Ausgrabung von Tiryns. Nicht nur ist diese uralte Burg in ihrer ganzen Ausdehnung von ihm aufgedeckt worden, so daß über ihre Anlage kein Zweifel bestehen kann, sondern es ist auch durch die Betheiligung eines ausgezeichneten Architekten und Archäologen, des Herrn Dörpfeld, ermöglicht worden, jeden Schritt durch sichere Pläne und Grundrisse festzulegen. So sind an Stellen, an welche die ältesten Sagen des Peloponnes anknüpfen, wo Pelops, Herakles, die Atriden zu Hause waren, untrügliche Zeugnisse von der Anwesenheit solcher Geschlechter geliefert, welche in die früheste griechische Geschichte hineinragen, wenngleich ihnen noch ein gutes Stück prähistorischen, zum Theil sogar ausländischen Gepräges anhaftet.
Jedesmal aber ist Schliemann von diesen Untersuchungen wieder nach Hissarlik zurückgekehrt, nicht um Homers willen, dessen epigonischen Charakter er voll würdigen gelernt hatte, sondern um des Umstandes willen, daß die prähistorischen „Städte“ von Hissarlik nach ganz objektiven Merkmalen älter sein müssen als Tiryns und namentlich als Mykenä. Und darum zog es ihn auch jetzt wieder dahin. Alles war vorbereitet, um am 1. März dieses Jahres eine neue, wie er hoffte, die letzte Campagne der Ausgrabungen daselbst zu eröffnen. Der Tod hat ihn ereilt, ehe er auch nur sein schönes Haus in Athen, sein Weib und seine Kinder wieder erreichen konnte.
Vielleicht wird sein Gedanke wieder aufgenommen werden. Aber, wenn dies auch nicht geschehen sollte, so ist das Hauptwerk auch in Hissarllk gethan. Auf lange, vielleicht auf immer werden seine Funde die sichere Grundlage bilden für jede Erörterung über Zeiten der griechischen Entwicklung, welche bisher nur der sagenhaften Ueberlieferung angehört haben. Und darum wird der Name unsres Landsmannes nicht nur jedem Griechen heilig bleiben, sondern auch im Gedächtniß jedes Gebildeten unter den Förderern des Wissens über das Alterthum einen hervorragenden Platz einnehmen.
- ↑ Der griechische Name des Gottes der Heilkunde.
- ↑ Vor etwa Jahresfrist ist bei F. A. Brockhaus in Leipzig ein Buch erschienen, welches die Ergebnisse der Schliemannschen Forschungen zusammenfassend und in einer für weite Kreise verständlichen Form behandelt. Auch ein kurzer lebensgeschichtlicher Abriß findet sich daselbst, und ein reicher Schatz von Abbildungen, meist nach den Schliemannschen Originalwerken, ist ihm beigegeben. Das Buch führt den Titel: „Schliemanns Ausgrabungen in Troja, Tiryns, Mykenae, Orchomenos, Ithaka im Lichte der heutigen Wissenschaft. Dargestellt von Dr. Carl Schuchhardt, Direktor des Kestnermuseums in Hannover.“ Anmerk. der Redaktion.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Lebbekbaum (Albizia lebbeck (L.) Benth.)