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Kaukasische Civilisation

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Textdaten
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Autor: A. M.
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Titel: Kaukasische Civilisation
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 459–461
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Blutrache im Kaukasus
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Kaukasische Civilisation.


Die große Slavenwallfahrt nach Moskau, von welcher erst vor wenigen Wochen die politischen und unpolitischen Pilgrime in ihre weitvertheilten Heimathen zurückkehrten, hat im germanischen Europa noch mehr als im romanischen (Italien, Frankreich, Pyrenäische Halbinsel) mancherlei Bedenken über die drohende Zukunftstellung des „Panslavistischen Weltreichs“ wach gerufen, welche durch unsere Tagespresse noch nicht völlig beseitigt worden sind. Oft trägt aber der Einblick in ein einzelnes Haus mehr zur genauen Kenntniß über Charakter und Bedeutung einer Stadt bei, als der schönste Ueberblick über dieselbe vom höchsten Kirchthurm. Das lassen wir uns auch für diese panslavistische Bewegung zur Lehre gereichen, indem wir einen dieser Stämme des großen Russenstaates genauer betrachten. Erwägen wir, daß Rußland unzählige solcher Stämme zu beherrschen und zu civilisiren hat, wie das folgende Lebensbild aus dem Kaukasus uns einen vorstellt, so wird der einfachste politische Hausverstand uns sagen, daß noch Jahrhunderte vergehen müssen, ehe aus solchem Brockenwerk das feste Conglomerat einer bewußten Nationaleinheit entsteht, wie trefflich auch die Natur aller einzelnen Bruchtheile desselben sei.

Bei dem bewegten und regen politischen Leben in ganz Europa während der letzten zehn Jahre sind die kaukasischen Völker und namentlich die ernsten und einst mit so großer Begeisterung geführten Freiheitskämpfe der Bergvölker des östlichen Kaukasus heute fast vergessen, und nur zuweilen, wenn der Name des alten Imam Schamyl, des berühmten Lesghierhäuptlings, hie und da noch erwähnt wird, tauchen uns alte Erinnerungen daran wieder auf. Derselbe lebt jetzt in der russischen Provincialstadt Kaluga, erhält vom Kaiser Alexander eine jährliche Pension von zehntausend Rubel Silber und wird fürstlich behandelt.

Ob sich dieser kühne Krieger, dieser Stifter einer neuen Religion, der es verstanden hatte, sich aus dem Volke heraus, von einem gewöhnlichen Muriden bis zum Häuptling, zum Propheten seines Volkes zu erheben, der die Kraft besaß, eine ganze Unzahl verschiedener Stämme des kaukasischen Volkes nicht nur zu vereinigen, sondern auch zusammen zu halten und sie die lange Reihe von fast dreißig Jahren zum Kampfe gegen die ungeheure Uebermacht der Russen zu führen – ob sich dieser gewaltige Mann, trotz aller durchaus edlen Behandlung, die ihm widerfährt, und trotz seiner häufigen Loyalitätserklärungen in Kaluga wohl fühlen mag, ist eine andere Frage.

Wenn man die Sache im Großen und Ganzen vom Standpunkt der Civilisation aus betrachtet, so lag es nach einmal angefangenem Kampfe und dem Recht der Eroberung zufolge in Rußlands Beruf, die wilden und halbwilden Bergvölker des Kaukasus der europäischen Cultur zugänglich zu machen, und wenn auch ein großer Theil dieser Stämme heute die Wohlthaten dieser Cultur noch nicht einzusehen vermag, so ist dies in der Natur der Sache begründet und kann erst die Zeit etwas hierin ändern.

Betrachtet man die große Menge der einzelnen Volksstämme im Kaukasus, so findet man sie in Sprache, Sitten, Religion, Tracht und Gebräuchen von einander verschieden, und nur eine Sitte besitzen sie alle, die Adighés (die eigentlichen Tscherkessen) wie die Kabardiner, die Lesghier wie die Tschetschenzen, die Mingrelier wie die Abchasen, Osseten, Georgier, Grusiner und wie sie alle heißen, – Eins haben sie Alle miteinander gemein: die Blutrache. Die Ursachen zu dieser viele hundert Jahre bestehenden Sitte geben die fortwährenden Streitigkeiten über Grund und Boden, die oft zu völligen Fehden eines Stammes gegen den andern ausarten, – oder auch der Raub von Weibern und Sclaven, das Stehlen von Vieh etc. etc. Gerade diese Fehden von Stamm gegen Stamm aber waren es, die es der russischen Regierung leicht machten, im Kaukasus festen Fuß zu fassen, denn unter dem Vorwande, dem schwächern Stamme beizustehen, der auch diese Hülfe stets gern benutzte, drangen die Russen immer weiter in’s Land, errichteten überall Festungen und waren dann stets Herren des einmal beschützten Gebiets.

Auf diese Weise wurden die Russen schon im vorigen Jahrhundert Herren der Kabarda, die, von einem der begabtesten Stämme des Kaukasus bewohnt, ganz im Norden des letztern, östlich vom Beschtau-Gebirge und südlich unter den russischen Bezirken von Pjätigorsk und Mozdok gelegen, viel flaches Land bietet, welches den Russen das Eindringen um so mehr erleichterte, als dies kleine Heldenvolk auf solchem Terrain dem Andrang regulärer Armeen auf die Dauer nicht widerstehen konnte. Die Kabardiner, deren Land vom Terek durchströmt und durch denselben in die kleine und große Kabarda getheilt wird, zeichnen sich durch schönen Körperbau und ritterliche Sitten ebenso wie die Tscherkessen vortheilhaft vor den andern kaukasischen Stämmen aus. Nächst der Blutrache ist ihnen vor Allem die Gastfreundschaft heilig. Den Armen wie den Reichen nehmen sie mit stets gleicher Freundlichkeit in ihrem Hause auf; der Hausherr weist dem Gaste den besten Platz an, setzt ihm die besten Speisen vor und nimmt selbst nicht eher wieder Platz, als bis Jener sich gesetzt hat, – ja sogar ihr Feind genießt dieselben Rechte, sobald er die Schwelle des Hauses einmal überschritten hat. So lange er im Hause weilt, hört die alte Feindschaft auf; der Wirth schützt seinen Gast gegen jede Unbill, und mag derselbe seinen eigenen Sohn getödtet haben – so lange er sein Gast, ist er auch unter seinem Schutz. Sobald er jedoch den ihm feindlichen Aoul (Dorf) verlassen hat, treten auch die alten Rechte der Feindschaft wieder in Kraft. Draußen vor dem Aoul erwartet der kühne Eindringling seinen Wirth zum ritterlichen Zweikampf, und da derselbe, schon durch den Besucher herausgefordert, sich selten zweimal bitten läßt, so entspinnt sich bald außerhalb des Aouls ein Kampf auf Tod und Leben, der an Wildheit, Ausdauer und Gewandtheit, mit der beide Gegner aufeinander eindringen, nicht seines Gleichen hat. Die [460] oft wunderbar dressirten Pferde unterstützen die Kämpfenden auf jegliche Weise, indem sie der kleinsten Bewegung ihrer Herren folgen, und so endet so ein Zweikampf nicht früher, als bis Einer unterliegt.

Erfüllte „Pflicht“ im Kaukasus.

So sehen wir auf unserm von einem russischen Maler nach eigener Anschauung gezeichneten Bilde einen Kabardiner, der eben von solchem Zweikampf, die Blutrache ausübend, in seinen Aoul zurückkehrt. Seine ganze Gestalt hebt sich stolz im Sattel, er hat eine ihm heilige Pflicht erfüllt und sein Gesicht glänzt vor wilder Freude, indem er auf den Schauplatz des Kampfes zurückschaut. Er hat Eile, die Trophäe des Kampfes, den Kopf seines Feindes in den heimathlichen Aoul zurückzubringen, wo ihn das ganze Dorf mit Triumph empfangen wird.

Indeß stehen neben einer gewissen Ritterlichkeit der Kabardiner auch Eigenschaften, welche den sehr tiefen Standpunkt kennzeichnen, den dieser Stamm, wie alle Urbewohner des Kaukasus, noch einnimmt. So pflegt sich der Kabardiner eines gelungenen Raubes ebenso zu rühmen, wie seiner andern Großthaten, was fast der alten spartanischen Ansicht vom Diebstahl gleichkommt: „man darf [461] stehlen, aber sich nicht ertappen lassen“. Die ertappten Diebe werden denn auch auf die originellste Weise bestraft, indem sie das Geraubte am hellen Tage vor allem Volke seinem Herrn zurücktragen müssen – eine für sie fürchterliche Strafe, welche sie dann auch auf Lebenszeit dem Spott des ganzen Aouls aussetzt.

Was die Kabardiner neben den Tscherkessen noch auf’s Vortheilhafteste über die andern kaukasischen Stämme, namentlich die Georgier, erhebt, ist ihre fast an die alten Germanen erinnernde Keuschheit und die Achtung gebietende Stellung, welche sie den Frauen eingeräumt haben, deren sie stets auch nur eine haben, trotzdem ihnen der Koran die Polygamie gestattet. Die Achtung vor der Frau ist so groß, daß in ihrer Gegenwart die Blutrache nicht ausgeübt werden darf, ja daß sie sogar einen Verfolgten, dem es gelingt, in ihr Gemach zu dringen, vor seinen Feinden schützen kann und daß ein Kabardiner es nie wagen wird, in Gegenwart einer Frau auf seinen Feind einzudringen. Und doch ist das Loos dieser Frauen nicht zu beneiden, denn ihre kleinen Söhne werden ihnen, kaum ein Jahr alt, kaum der Mutterbrust entwöhnt, genommen und einem Fremden, einem Erzieher (Atalik genannt) übergeben, der den Knaben, meist in einem entfernten Aoul, pflegt und erzieht. Die Mutter sieht ihn nicht eher wieder, als bis er ein Mann geworden, und dann ist es natürlich, daß er seinen Erzieher mehr liebt als die Eltern.

Die Ehelosigkeit ist bei diesem Volke streng verpönt, weshalb es geschieht, daß die Kabardiner meist schon sehr früh heirathen. Wenn der Atalik die Erziehung des jungen Mannes beendigt hat, ist er auch noch behülflich, ihn zu verheirathen, und wenn sich sonst die jungen Leute gefallen und gleichen Standes sind, worauf sehr gesehen wird, so bestimmt der Vater der Braut, je nach den Vermögensumständen des Bewerbers, den Brautpreis, welcher in Geld, Pferden, Schafen oder dergleichen besteht. Erst nachdem dieser Preis entrichtet ist, darf sich der junge Mann seine Auserkorene aus dem Hause ihrer Eltern holen, wo ihn dieselbe in prächtigen Gewändern und umhüllt von der weißen Tschadra erwartet. Nach der Sitte des Landes darf sie dem Manne jedoch nicht willig folgen, sondern muß sich sträuben, mit ihm ringen, und je mehr sie sich wehrt und schreit, für desto sittiger wird sie gehalten. Auf ihren Hülferuf eilen die Bewohner des Hauses herbei, dem Bräutigam kommen seine Freunde ebenfalls zu Hülfe, ein kleiner Scheinkampf beginnt und im allgemeinen Wirrwar wird es dem Bewerber leicht mit der schönen Bürde sein schnelles Pferd zu erreichen und davon zu jagen.

Die Hochzeit wird namentlich durch Kampfspiele gefeiert, bei denen starke Verwundungen nicht selten sind. In Gegenwart Fremder gestatten sich die Eheleute nicht die geringsten Zärtlichkeiten, weder einen Kuß noch einen Händedruck. Auch würde es der Ehemann sogar übel nehmen, wenn sich Jemand erlaubte, ihn auf europäische Weise nach dem Befinden seiner Frau zu fragen. Die Frau lebt stets zurückgezogen in ihren Gemächern, und während sie dort ihre weiblichen Besuche empfängt, erhält der Mann den Besuch seiner Freunde in seinen Räumen. Eheliche Treulosigkeit kommt von beiden Seiten nie vor, und da der Mann unumschränkter Herr seiner Frau ist, so würde auch schon ein bloßer Verdacht das Todesurtheil der Frau sein. – Gewiß, es ist ein tüchtiger Kern in dem Volke, aber vor der Hand auch nur dieser und die Zeit noch fern, bis ein Staat, der noch viele solcher roher Elemente zu seinen Bestandtheilen hat, im Ernste den modernen Culturstaaten beigezählt, geschweige als Leiter und Stimmführer im Rathe derselben betrachtet werden kann, wie gern auch der ungemessene Nationaldünkel der Slaven diese Rolle zu spielen sich anmaßen möchte.
A. M.