Kleinstaatliche Industrie am Teutoburger Wald
Das Fürstenthum Lippe, zu dessen Hauptstadt, dem anmuthig gelegenen Detmold, im verflossenen Sommer so viele Tausende von nah und fern zogen, um das Fest der Vollendung des National-Denkmals auf dem Teutberge zu begehen, ist in mancher Beziehung in seiner wirthschaftlichen Entwickelung zurückgeblieben. Obwohl das Ländchen ringsum von Eisenbahnen umgeben ist, fehlt ihm doch bis zu diesem Augenblicke jeder Anschluß an das große vielmaschige eiserne Netz, welches sich heutzutage verkehrerschließend und belebend über Deutschland spannt, und die Lippeschen Landstraßen, mit ihren Postjournalièren und von keuchenden Pferden gezogenen Lastwagen, gewähren noch immer denselben Anblick, wie vor fünfzig Jahren die Chaussee zwischen Dresden und Leipzig, da die „gelbe Kutsche“ das Hauptverkehrsmittel bildete.
So schlummern hier noch manche Kräfte, die wie durch einen Zauberschlag erwachen werden, sobald die Locomotive ihren schrillen Pfiff in den anmuthigen Bergen und Thalweitungen des Teutoburger Waldes ertönen lassen wird.
Um so anziehender war es mir, der Einladung folgen zu können, welche unser lieber Gastfreund in Detmold an den trefflichen Zeichner der Gartenlaube, Herrn Knut Ekwall, und mich ergehen ließ: mit ihm die einzige große Fabrik des Fürstenthums zu besichtigen, welche, unweit Detmold an der Straße nach Herford gelegen, sich die Herstellung eines Artikels zur Aufgabe gemacht hat, der, auf den ersten Blick unscheinbar und für den Laien unbedeutend, zunächst durch seine Verwendung in der Hauswirthschaft, sodann in mannigfacher Weise zu industriellen Zwecken, wohl auch einmal Beachtung und Betrachtung seitens des großen Publicums verdient. –
Obgleich Rohstoff und Fabrikat der Stärkefabrik von E. Hoffmann u. Comp. bei Salzuflen mittelst eines von der Fabrik unterhaltenen umfassenden Fuhrwerkparks von und nach der Bahn transportirt werden muß, obgleich gerade im Lipper Lande, der Heimath des wanderlustigen Zieglers und Hollandsgängers, die Beschaffung und Erhaltung eines tüchtigen Arbeiterstammes eine besondere Schwierigkeit bildet – trotz alledem und mancher anderer Ungunst der Verhältnisse besteht und blüht die Fabrik. Sie verdankt diese Blüthe der Ausnutzung kleiner und großer technischer und ökonomischer Vortheile, wesentlich aber auch dem glücklichen Umstande, daß sich auf ihrem Grundstück dicht neben einander salziges, hartes und ganz weiches krystallklares, nahezu chemisch reines Wasser vorfindet. Ersteres wirkt in überraschender
[120][122] Weise auf die Trennung des Klebers von der Stärke, und es wird so eine unübertreffliche Weiße der Stärke erzielt, während durch das weiche Wasser die letztere absolut geschmackfrei wird.
Wenn wir die Bestrebungen, welche darauf ausgehen, die deutsche Industrie wie eine Treibhauspflanze durch künstliche Mittel, namentlich Schutzzölle, welche die fremdländische Concurrenz fernhalten, zu heben, von dem allein richtigen Standpunkte der großen Mehrheit, nämlich der Consumenten, verurtheilen, so dürfen wir andererseits nur um so unbefangener die Leistungen der deutschen Industrie anerkennen, wenn sie nicht blos auf dem heimischen Markte das auswärtige Fabrikat schlägt, sondern ihre Erzeugnisse auch die Schutzzolllinien anderer Länder durchdringen und auf den dortigen Märkten zahlreiche Kunden gewinnen und sich erhalten.
Die unserer Schilderung beigegebene Abbildung führt uns in dem Mittelbilde den ganzen Complex der Fabrikgebäude mit dem vierundzwanzig und einen halben Meter hohen Schornsteine und den zahlreichen Nebenbauten vor. Die umgebenden kleineren Bilder zeigen uns einzelne Stadien der Fabrikation der Stärke von dem Schälen des Reises bis zur Verpackung des fertigen Fabrikates. Diesem Bilde wird sich unsere Schilderung anschließen und nach einigen allgemeinen Bemerkungen die dargestellten Fabrikationsstadien erläutern.
Die Fabrik entstand vor nunmehr fünfundzwanzig Jahren aus kleinen Anfängen. Das zum Theil sehr fruchtbare lippesche Land producirt ziemlich bedeutende Mengen von Weizen, und dieser bildete in der ersten Zeit ausschließlich den Rohstoff der Fabrik, welche damals wöchentlich achtzig Centner dieses Getreides zu Stärke verarbeitete. Der Betrieb nahm stetig seinen Fortgang und ist nach und nach auf einen wöchentlichen Verbrauch von zweitausendvierhundert Centnern Weizen und Roggen gestiegen.
Inzwischen brachte die Ausdehnung des Seehandels Englands mit Indien, insbesondere die Eröffnung einer Reihe von Häfen Hinterindiens, das Brod Asiens, den Reis, in bis dahin nicht gekannten Mengen und zu so niedrigen Preisen auf den englischen Markt, daß er nicht blos auch bei uns ein Nahrungsstoff für die Massen, sondern in fabrikmäßigem Betriebe zur Gewinnung von Stärke und zwar in solchem Maßstabe verwendet werden konnte, daß erhebliche Quantitäten Reisstärke aus England und Belgien nach Deutschland eingeführt wurden. Dem Bestreben, die deutsche Industrie auf diesem Felde an der auf solche Weise sich vollziehenden Umgestaltung Theil nehmen zu lassen, kam der Aufschwung der Rhedereien der deutschen Seestädte entgegen.
Schon längere Zeit hatte die deutsche Handelsmarine mit einer größeren Zahl von Schiffen an den Fahrten nach Hinterindien Theil genommen. Die Bremer und die Hamburger Flagge – eine deutsche hatten wir damals ja nicht – waren in Akyab, Rangoon, Bassein und Moulmein wohl bekannt. Deutsche Kaufmannshäuser etablirten sich in jenen an den Mündungen der hinterindischen Ströme gelegenen Handelsniederlassungen. Wie bedeutend die Reiseinfuhr aus ostindischen Häfen nach Europa sich gehoben hat, geht aus der Thatsache hervor, daß die Einfuhr im Jahre 1859 143,000 Tons, im Jahre 1874 558,000 Tons betrug.
Unter den nöthigen Controlmaßregeln gestatteten die Behörden des deutschen Zollvereins die zollfreie Einfuhr von Reis zum Zweck der Stärkefabrikation. Letztere begann in Salzuflen im Jahre 1869 mit einem Verbrauch von 200 Centner, der allmählich bis auf 4000 Centner die Woche stieg, und sich noch weiter heben wird, sobald die erschwerten Verkehrsverhältnisse durch Anschluß an eine Eisenbahn beseitigt sein werden. Das Mittelbild zeigt uns die Hauptgebäude der Fabrik: drei fünf bis sechs Stockwerk hohe, vierundsiebenzig Meter lange Bauten. Kessel- und Maschinenhaus enthalten vier Carlist-Dampfmaschinen von zusammen zweihundertachtzig Pferdekraft und die sechs Dampfkessel, welche, nach verschiedenen Systemen angelegt, vierhundertdreißig Pferdekraft repräsentiren. (Im Jahre 1850 genügte eine Maschine von acht Pferdekraft.) Die Gebäude vor dem Maschinenhause und rechts von der Fabrik enthalten den Lagerraum, sowie Localitäten für das Trocknen und Verpacken. Der Complex von Gebäuden zur Linken umfaßt die Comptoire, das Laboratorium, die Maschinenreparatur-Werkstätten, sowie die Holzschneiderei, Böttcherei und Kistenfabrikation. Weiter links erblicken wir Arbeiterwohnungen und im Vorgrunde rechts die Wohnung des Fabrikanten.
Wir gedenken nun in Kürze der Fabrikationsmethode.
Unser Bild führt uns acht verschiedene Stadien derselben vor:
1) | Das Mahlen des Reises. |
2), | 3) und 4) Mehrmaliges Waschen und Ausscheiden der Stärkesorten. |
5) | und 6) Die verschiedenen Trocknungsvorrichtungen. |
7) | Die Knetmaschine und Stengelstärkemaschinen. |
8) | Das Verpacken der Stärke. |
Weizen und Roggen werden einige Tage eingeweicht, dann gequetscht und einer sechs- bis achttägigen Gährung unterworfen, welche die Lösung des Klebers von der Stärke bezweckt. Die letztere wird dann auf passenden Waschmaschinen unter Zulauf von Wasser von den Hülsen getrennt, durch wiederholtes langsames Laufen über zwanzig Meter lange und sechszig Centimeter breite Rinnen, ferner durch Centrifugiren und Passiren ganz feiner seidener Siebe von allen Klebertheilen und Unreinigkeiten befreit, darauf mittelst Trockencentrifugen und Luftpumpen in eine feste Form gebracht und endlich auf dem Boden an freier Luft oder in den zweiundvierzig durch Dampf erwärmten gewölbten Kammern fertig gestellt, um danach als Stücken- oder Strahlenstärke, in gemahlenem Zustande als Kraftmehl, oder nach dem Brennen in Oelbädern als Dextrin Verwendung zu finden.
Der Abfall, welcher aus Hülsen und stark kleberhaltiger Stärke besteht, liefert ein vorzügliches Viehfutter und das bei der Fabrikation ablaufende Wasser ein ausgezeichnetes Düngemittel.
Die Reisstärkefabrikation ist anderer Art. Nachdem der Reis geschält und von Hülsen befreit ist, wird er etwa zwölf Stunden in Sodalauge eingeweicht, um den Kleber zu lösen. Der so geweichte Reis wird unter Zulauf von Sodalauge, deren richtiges Mischungsverhältniß für die Güte des Fabrikats entscheidend ist, ganz weich gemahlen. Die weiße Stärke wird unter mehrfachem Aufrühren und Absetzen von der ordinären kleberhaltigen geschieden und in große Bassins gepumpt. Das Wasser kann nach dreitägiger Ruhe abgezogen werden, und die dickflüssige Stärke wird alsdann nach wiederholtem Waschen und einer eigenthümlichen Siebung, welche Geheimniß der Fabrik ist, in mit Leinen ausgelegte Kasten gebracht, um danach in verschiedener Weise, ganz ähnlich wie die Weizenstärke, getrocknet zu werden.
Zur Ausführung der an sich einfachen Arbeiten, die aber die allergrößte Accuratesse erfordern, bedarf es der verschiedenartigsten maschinellen Einrichtungen, deren Beschreibung hier zu weit führen würde.
Die Art der industriellen Verwendung der Stärke ist eine sehr mannigfache. Sie dient den verschiedenartigen Gewerben, Appretur, Kattundruck, Färberei und Bleicherei, Papierfabrikation, Hefebereitung etc. Die Reisstärke wurde bis dahin nur für den Hausbedarf angewandt, doch findet sie auch als Ersatz der Weizenstärke immer ausgedehntere Beachtung für die obenerwähnten technischen Zwecke.
Gleichzeitig mit der Einrichtung für Production der Reisstärke, nämlich im Jahre 1869, wurde eine Holzschneiderei erbaut, welche aus dem Teutoburger Walde gelieferte Buchenblöcke zu Brettern und Stäben verarbeitet und das Material für die Kistenfabrik und Böttcherei liefert. Eine größere Reparaturwerkstätte mit Drehbänken und verschiedenen Hülfsmaschinen, eine Kupferschmiede und eine ziemlich umfangreiche Tischlerei besorgen die bei dem großen Betriebe vorkommenden Reparaturen und stellen auch nicht unbedeutende neue Sachen her, während eine eigene Gasanstalt den Beleuchtungsstoff für circa siebenhundertvierzig Flammen der Fabrik liefert. Die Natur des Betriebes der Fabrik erlaubt nicht ein Stillstehen während der Nacht, und so ist denn ein Tages- und Nachtdienst eingerichtet.
Beschäftigt werden einschließlich der Werkstätten im Ganzen dreihundertachtzig Männer und Mädchen, letztere vorzugsweise beim Verpacken und Trocknen der Stärke; die Zahl der Angestellten ist vierunddreißig.
Wie bereits im Eingange erwähnt, bietet neben der Sorge für die Beschaffung geeigneter Arbeitskräfte der Mangel einer [123] Eisenbahn eine wesentliche Erschwerung des Betriebes. Diese Lücke im mitteldeutschen Verkehrssystem wurde noch kürzlich beim Hermannsfeste in den weitesten Kreisen fühlbar.
Schon aus dem Anfange der fünfziger Jahre datiren die Bestrebungen für eine Eisenbahn durch das Lippesche. Erst jetzt, nach zahllosen Enttäuschungen und Beseitigung kaum glaublicher Schwierigkeiten, läßt eine mit der mächtigen Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft getroffene Vereinbarung hoffen, daß zunächst wenigstens eine Bahn von Herford bis Detmold geführt wird.
Da die Fabrik innerhalb der Zollgrenzen Deutschlands die erste und meines Wissens bis jetzt auch die einzige combinirte Weizen- und Reisstärkefabrik ist, so hat sie ihr Absatzfeld naturgemäß hauptsächlich in Deutschland, aber auch in’s Ausland sendet sie ihre Erzeugnisse; so findet in den Niederlanden, Oesterreich, Italien und neuerdings sogar auch in Rußland die Hoffmann’sche Stärke immer mehr Beachtung und vermag dort den besten englischen Fabrikaten die Spitze zu bieten.
Es mag hierbei noch des Vorurtheils erwähnt werden, daß das deutsche Publicum vielfach auch bei diesem Artikel von seiner Vorliebe für ausländisches Fabrikat noch immer nicht ablassen will und auch die Salzufler Fabrik, nachdem sie sich lange trotz materieller Einbuße gesträubt hat, doch genöthigt wurde, einen Theil ihres Fabrikats mit ihren Etiquetten in englischer Sprache zu versehen. Wir wollen hoffen, daß das mit der Zeit gründlich anders wird.
Wenn die vorstehende Skizze zu den häufigen Darstellungen der „Gartenlaube“ aus dem Bereiche der deutschen Industrie einen Beitrag liefert, der sowohl in Rücksicht auf den wenig bekannten Gegenstand, wie auch wegen der noch weniger bekannten Oertlichkeit hoffentlich einiges Interesse gewährt, so darf ich mit dem Wunsche schließen, daß wenigstens die Verkehrsmisère des kleinen politisch zerfahrenen Fürstenthums bald ein Ende nehmen und ein Schienenweg das Ländchen seiner Isolirung entreißen werde. Sicher werden dann die schlummernden Kräfte, von denen ich im Eingange sprach, erwachen, und die Salzufler Fabrik würde dann der Pionier für manche Nachfolger, die dereinst für den deutschen Gewerbefleiß ein gleich rühmliches Zeugniß ablegen werden.