Nürnbergs Volksbelustigungen im 16. und 17. Jahrhundert
In unserem vorigen Artikel („Gartenlaube“ 1876, Nr. 35) versuchten wir bei Beschreibung der Nürnberger Fechterspiele dem Leser ein Bild wilder Kraft und Kampfeslust vorzuführen. Heute mag sich den Erinnerungen an die eben in den deutschen Städten verrauschten Carnevalswochen die Schilderung eines jener fröhlichen Tage anschließen, an denen sich die Nürnberger Bürgerschaft in lustiger Fastnachtseligkeit auszutoben pflegte. Das Schembartlaufen versetzt uns sowohl durch die fast überschäumende Fröhlichkeit des Volkes wie durch den farbigen Wechsel der Trachten und Aufzüge ganz besonders lebhaft in das derbe fröhliche Mittelalter und gewährt uns speciell einen erschöpfenden Einblick in das damalige Volksleben Nürnbergs.
Nach dem großen Aufruhr der Nürnberger Zünfte im Jahre 1349 erhielten die Metzger und Messerer für ihre dem alten Regiment bewiesene Treue von Karl dem Vierten die Erlaubniß, „für ewige Zeiten um Fastnacht einen Tanz halten und im Schembart (Schönbart = Maske) laufen zu dürfen“. Die ersten Verkleidungen mögen höchst primitiv gewesen sein, und so sehen wir denn auch auf den ältesten Abbildungen außer Reitern, welche
sich auf von Holz oder Papier nachgebildeten Pferden, Ochsen, Einhörnern etc. wacker herumtummeln, nur die Messerer und Metzger ihre Tänze halten. Die Messerer tanzten mit verschlungenen Schwertern, der Tanz der Metzger aber, Zämertanz genannt, bestand in allerhand künstlichen Verschlingungen, wobei sich die Tänzer gegenseitig an ledernen, wurstförmig gebildeten Ringen hielten.
Nach und nach wurden die Masken, Tänze und Aufzüge [149] mannigfaltiger, und auch der glänzendste Carneval der Jetztzeit mag, wie wir aus der folgenden getreuen Schilderung entnehmen
können, den Nürnberger Schembart des sechszehnten Jahrhunderts nicht übertreffen. Mit dem allgemeineren Gebrauch des Schießpulvers entstand eine Specialität des Nürnberger Schembarts: der Feuerkolben. Derselbe bestand aus einem hölzernen Kolben in der vergrößerten Form eines Tannenzapfens, mit Wintergrün umwunden; in seinem Innern barg er eine kleine Rakete, welche der Schembartläufer unter lustigen Sprüngen abbrannte.
Da das Schembartlaufen nur oben genannten Zünften zustand, so kauften ihnen die nicht minder lebenslustigen Söhne der „Geschlechter“ später fast alljährlich die Erlaubniß zu freier Ausnutzung ab, und erst jetzt, da sich die Reichen und Wohlhabenden an dem Feste betheiligten, entfaltet sich das Schembartlaufen zu einem jener Volksfeste, welche durch ihren bunten, mittelalterlichen Farbenglanz und ihren fast unbändigen Volkshumor unserer nüchternen Zeit beinahe wie ein seltsames, fremdartiges Räthsel erscheinen.
Zu nachstehender Schilderung benutzen wir, wenn auch in anderer Form, das Manuscript des Ulrich Wirschung, eines Handlungsdieners jenes Viatis, dessen Nachkomme das prachtvolle, später Peller’sche Haus auf dem Egidienberge baute.
Es ist um die Fastnachtszeit des Jahres 1523. Eine vorzeitige Frühlingssonne hat Straßen und Plätze des weiten, damals schon längst gepflasterten Nürnbergs getrocknet – lustig drehen sich im warmen Thauwinde die vergoldeten Fähnlein auf den Firsten und Thürmchen der hochgiebeligen Häuser; aus den zierlichen, in reicher Steinmetzarbeit ausgeführten Erkern hängen bunte, weit hinausstrahlende Teppiche; den größten Schmuck dieser mit buntfarbigen Fenstern versehenen Vorsprünge und Nischen aber bilden die frischen, von blonder Flechtenfülle umrahmten Mädchenköpfe, welche lachend auf das fröhliche Treiben in den Straßen hinabschauen, denn ein Schembartlaufen findet heute statt, und Patricier sowie Zünfte wollen dabei ihr Bestes thun. In dem mit bunten Fresken bemalten Hause des reichen Viatis an der Barfüßerbrücke
[150] geht es emsig, wenn auch heimlich zu, denn Ulrich Wirschung, der lustige Handlungsdiener, hat mit seinem nicht minder lustigen „Nebengesellen“ Bastel Nibelunger im geräumigen Hofe unter Fässern und Waarenballen eine Narrenfuhre in Gestalt eines großen Drachen vorbereitet, auf welcher Aerzte und Apotheker, mit großen Spritzen bewaffnet, des Augenblickes harren, wo das Glöcklein von St. Sebald zum Beginn des Schembarts erklingen soll. Die schönen Töchter des Kaufherrn sind aus den oberen Gemächern im Treppenhause erschienen und schauen neugierig durch das zierlich durchbrochene Steingeländer der breiten Wendelstiege dem Treiben der fröhlichen Gesellen drunten zu, wobei sie den in seinem rothen Doctorkleide gravitätisch einhersteigenden Ulrich nicht wenig hänseln.
Draußen auf den Straßen ist es immer lebendiger geworden. Ein glücklicher Zufall will es, daß die Stadt zur Zeit in Frieden mit den meisten ihrer Placker lebt. Die gewaltigen Thore sind deshalb schon um Sonnenaufgang sammt den Fallgattern, Sperrketten und Schlagbäumen geöffnet worden, und aus ihren dunkeln Wölbungen tritt manche Gestalt in die sonnigen Straßen, die zu anderer Zeit den Stadtbann mit ihrem unnachsichtigen Blutrichter wohlweislich gemieden. Der wetterharte, sonnenverbrannte Gesell aber, der an der Seite seiner abenteuerlich aufgeputzten Burgfrau jetzt auf magerem Gaul hereinkleppert, hat zur Zeit Frieden mit den Krämern. Der Rottmeister der städtischen Söldner, welch letztere auf besondern Rathsbefehl heute statt der Partisane die Hakenbüchse mit dem noch nicht allzulange von dem Nürnberger Schlosser Hans Ehemann erfundenen Radschloß führen, läßt denn auch den ihm aus manchem Strauß wohl bekannten Landstörzer ungehindert seines Weges ziehen. Einem Raubvogel gleich, lugt der hungerige Edelmann unter der verrosteten Stahlhaube hervor nach den Schätzen, welche sich seinem gierigen Blicke in den Gewölben der Gold- und Silberschmiede, den gleißenden Auslagen der Harnischschmiede zeigen. Nicht minder begehrsam blickt seine Ehehälfte nach den Wundersachen, mit welchen die reichen Bürgerweiber sich schmücken und die einer rechtschaffenen Frau von Adel so selten zu statten kommen. In dem niedern Thorwege einer kleinen Herberge am Weinmarkt verschwindet das Paar, der behäbige Wirth aber mag sich nur wenig von solch verdächtiger Einkehr versprechen, denn stumm deutet er mit dem Daumen über die Schulter nach den Ställen, wo der Ritter mit einer derben Verwünschung über das hochmüthige Bürgerpack die Gäule eigenhändig unterbringt, um sich dann in das Innere der Herberge zu begeben.
Mit der fortschreitenden Stunde wird auch das Leben an den Thoren immer bewegter, und nicht blos armes Volk ist es, welches heute die Gastfreundschaft der Stadt in Anspruch nimmt. Lustiger Trompetenschall schmettert durch die Thorwölbung, und vieles Volk sammelt sich dort, denn der Culmbacher Markgraf ist es, der sammt dem feisten Bischof von Bamberg mit schimmerndem Gefolge einreitet. An den Trompeten flattert das Fähnlein mit dem rothen brandenburgischen Aar – auch in der Ecke der ritterlichen Pelzschaube sehen wir das alte Wappenthier des Nürnberg sonst so feindlich gesinnten Hauses eingestickt – heute aber will der Fürst allen Streit vergessen, und lachend die erröthenden Mädchen droben in den Erkern begrüßend, trabt er mit dem schwerfälligen, aber nicht minder vergnügungslustigen Kirchenfürsten dem Gasthause „Zum Bitterholz“, der damaligen Fürstenherberge, zu.
Weniger glänzend erscheinen uns die müden Knaben, welche soeben das Thor passiren. Es sind fahrende Schüler in zerrissenem, schwarzem Röcklein, zum Theil barfuß, zum Theil in groben bestaubten Bundschuhen. Die so treuherzig dreinschauenden verhungerten jungen Burschen erwecken das Mitleid eines alten Mütterchens – es weist sie zu dem stolz in die Straße springenden Eckhause einer reichen Bürgersfrau. Hier intonirt ihr Meister mit kräftiger Stimme eines der neuen Kirchenlieder, und mit heller Knabenstimme, die gleich Silberklang über den weiten Platz dringt, fallen die kleinen „Schützen“ sicher und kunstgerecht ein. Nicht allzu lange sollen sie auf den Lohn zu warten haben, denn hochgeschürzte Dienstmägde, die Galanterien des Meisters mit Lachen erwidernd, bringen für die hungernden Knaben nicht nur warme Suppe, Schwemmklöße und Peterlefleisch die Menge – auch ein Lebkuchen wird Jedem zu Theil, und in die Ledertasche, welche neben dem Schreibzeuge am Gürtel des Meisters hängt, gleitet ein blanker Gulden Nürnberger Gepräges.
Da ertönt das Glöcklein zu St. Sebald, Stadtdiener in roth und weiß getheilter Tracht rufen den Beginn des Schembarts aus, und fröhlich stürzen sich die erquickten jungen Gesellen in das vor ihnen immer lustiger aufsteigende Fastnachtsgetümmel. Aus allen Häusern springen sie hervor, die Mummen: Mohrenweiber und Heidenmänner, lustfeine schöne Frauen und fahrende Weiber, einige als Vögel, Meerweiber, heidnische Prinzessinnen, andere als Schäferinnen, Zauberinnen, Nonnen, Klausnerinnen, Besenmädchen etc. vermummt. Zwischen Sängern, welche sofort das alte: „Jungfer Bäschen, wo gehst Du hin?“ anstimmen, Pfeifern, Leiermännern, Bauern und Mönchen sehen wir Pickelhäringe und Markolfe mit Feuerkolben umherspringen. Lustig sprühen die kleinen Raketen ihren unschädlichen Feuerregen über die zuschauende Menge – Geschrei, Gelächter ob des allzu Furchtsamen, fröhliches Jauchzen, lustige Weisen schallen wieder auf allen Plätzen und Gassen, und als nun gar Ulrich Wirschung mit seiner Narrenfuhre zum Thorweg hinaus in das Gedränge schießt, scheint die Lust ihren höchsten Gipfel zu erreichen.
Doch siehe da, sind jene Knaben, welche hinter den Sackpfeifern auf der Narrenfuhre hocken, nicht unsere fahrenden Schüler von vorhin? Zur guten Stunde sind sie unserm Ulrich in die Hände gelaufen, denn ihr heller Gesang wird den Effect seiner Narrenfuhre erhöhen. Nach einem kurzen Vorspiel der Sackpfeifer tönt denn auch bald aus den geübten Kehlen der Vaganten das alte Schelmenlied: „Die Filia zur Mater sprach“ etc. über den Platz – Jedermann kennt die Volksweise, und lustig singend, ausgelassen tanzend bewegt sich der Zug vorwärts.
Bastel Nibelunger, auf einem grauen Esel sitzend, reitet vorauf. Er führt das Narrenpanier, welches die Viatis’schen Töchter gestickt und mit Spitzen und Bändern geschmückt haben. Dabei wirft er mit dem Rufe: „Herbei, Ihr Schlecker!“ Hornaffen (ein beliebtes Gebäck) aus. Hinter ihm gehen zwei grotesk gekleidete Schreiber mit riesengroßen Tintenfässern und Schreibfedern, sodann zwei lustige Dirnen, welche allerhand Brezelwerk auswerfen. Zwölf Männer aus der noch nicht allzu lange entdeckten neuen Welt machen einem Reiter Platz, welcher auf einem mit buntem Lappenwerke gezierten Zelter sitzt. Es ist der junge Hieronymus Viatis, welcher als Thorheit einhergeritten kommt und von den Jungfrauen aus den Fenstern mit dem Gesange begrüßt wird:
„O liebe Thorheit schön und fein,
Zur Fastnacht komm’ zu uns herein!“
Ein Luchsauge auf der Stirn, mit Schellen, Pfauenfedern, Spiegeln und allerlei Tand geziert, trägt die Thorheit einen mit Narrenköpfen eingefaßten großen Spiegel in der Hand und blendet die lachenden Jungfrauen. Jetzt kommt Ulrich’s Narrenfuhre, auf deren Drachenschwanze ein Kranker zwischen zwei Meßpfaffen liegt, welche plärren: „St. Urbane, da nobis vinum et recipe aegrotum – Heiliger Urban, gieb uns Wein und nimm Dich des Kranken an!“ Auf der Fuhre selbst aber steht Ulrich, von allerlei vermummtem Volke umgeben, und schreit mit Stentorstimme sein Doctorsprüchlein hinaus:
„Willkommen, werthe Schlemmerzunft
Voll Aberwitz und Unvernunft.
Wer krank ist, den curir’ ich gleich
Allhier in meinem Narrenreich.
Ich häng’ ihm seine Schelle an,
Sei ’s Bauer, sei es Edelmann!”
Hinter dem Drachenschwanze aber sprengt auf schwarzem, wildem Rosse Frau Holda, die wilde Jägerin, daher, stößt in’s Horn und schwingt, ihre schwarzen Haare wild umher schüttelnd, die knallende Peitsche. Ihr nach aber tobt das wilde Heer, gehörnt, geschnäbelt, geschwänzt, bekrallt, bebuckelt, sausend und brausend, schnalzend, pfeifend, zischend, schnarrend, blökend und brummend. Es sind lauter fröhliche Zechgesellen, welche das Gefolge der Frau Holda bilden. Besonderes Aufsehen erregt eine vollendet nachgebildete Maske Freund Klapperbeins, welche mit einem meckernd einherspringenden Ziegenbocke den zierlichsten Reigen tanzt. Die beiden lustigen Gesellen sind jedem guten Nürnberger als Schüler Albrecht Dürer’s wohl bekannt, denn unter der grinsenden Todtenmaske lachen die klugen Augen Hans Schäuffelein’s, des Verfertigers der prächtigen Holzschnitte in Pfinzing’s „Teuerdank“, hervor, während aus dem gehörnten Ziegenhaupte das glatte bartlose Gesicht Glockenton’s, des Illuministen obiger Goldschnitte, hervorschaut. Beide Schelme singen [151] alsbald in der süßesten Vogelweise, vom Meistersinger Niklas Vogel aufgebracht, zu den Fenstern des „Bitterholz“ hinauf, wo der Brandenburger Markgraf mit dem Bischofe dem fröhlichen Getümmel zuschaut:
„Trara! trara! trara!
Der wilde Schatz ist da.
Kommt ihr ein Freier nah,
Den sie sich gern ersah,
Führt sie ihn fort, trara!“
Der Bischof droben lacht. „Das ist Eure Jagdgöttin, Markgraf, hütet Euch vor ihren Netzen!“
„Bannt das Ungethüm!“ entgegnet der Fürst, „aber nur heute nicht, damit die Narren nicht irre werden! Bibamus!“ Dabei neigen Beide den vollen Pokal gegen Frau Holda und leeren ihn bis zum Grunde.
Da tönt es plötzlich von der Narrenfuhre: „Fastenfleisch! Fastenfleisch!“ Der Ausruf gilt mehreren als Beguinennonnen verpuppten Schembartläufern.
„Für Narren ist’s zu theuer,“ ist ihre schlagfertige Antwort.
„Das ist Bischofsfleisch,“ grinst Schäuffelein unter seinem Todtenschädel zum Prälaten hinauf.
„Wir lassen Dir’s, Klapperbein, wir lassen Dir’s,“ lacht der Bischof, „sind gar nicht neidisch darauf.“
Immer toller wird das Gejohle; da taucht mitten aus dem Gedränge plötzlich eine schwarze Gestalt auf. Es ist ein Prädicant der neuen evangelischen Lehre. Entbehrungen aller Art liegen auf dem fast asketischen Gesichte, seine Worte aber, so scheint es, werden von dem Volke, obgleich sie gegen das lustige Treiben als ein Ueberkommen aus dem Lande des päpstlichen Antichristes gerichtet sind, gierig aufgefangen. Mit der Ermahnung, allen weltlichen Firlefanz abzuthun und eingedenk zu sein der wahren Liebe des Evangeliums, schließt er eben seine weithinschallende Predigt, als sich zwei Bettelmönche mit weingerötheten Gesichtern durch die Menge drängen, um ihn von der improvisirten Kanzel herabzureißen. Zu tief aber schon ist die neue Lehre in’s Volk gedrungen, zu sehr verhaßt und verachtet sind die liederliche Mönche. Derbe Fäuste werfen sie in den Straßenstaub – der junge Prädicant aber verschwindet mit einem Bürger unter dem Thorbogen des nächsten Hauses.
Schmetternde Trompeten verkünden einen neuen Schembartzug. Diesmal sind es lediglich Patriciersöhne, welche durch das Spittlerthor in glänzendem Aufzuge nahen. Voran Vermummte, welche theils Nüsse unter das Volk werfen, theils mit ihren Pritschen und Feuerkolben dem Zuge Platz machen, hierauf Reiter in reiche orientalische Tracht gehüllt. Sie tragen vorn auf dem Pferde bunte Körbchen, welche Eier enthalten, die mit Rosenwasser angefüllt sind. Lustig fliegen die Eier hinauf in die von blühenden Dirnen besetzten Fenster; für die Zuckerkügelchen aber, welche diese, nach einer aus Italien heimgebrachten Sitte, auf die Köpfe der Reiter regnen lassen, ergießen die Eier ihren wohlriechenden Inhalt über die goldenen Riegelhäubchen und „es hat dieses gar schön geschmecket“, fügt der Chronist mit großem Behagen hinzu. Einer der nächstfolgenden Schembartläufer erregt durch seine zeitgemäße Maske donnernden Volksjubel. Das Kleid des Schalkes besteht aus lauter Ablaßbriefen mit daran hängenden Siegeln und geißelt so auf das Beißendste Tezel’s berüchtigten Ablaßhandel. Ein Teufel, der die bösen Weiber frißt, ein Backofen, in welchem allerhand Narren gebacken werden, eine Karthaune, die böse Weiber schießt, erregen nicht mindere Heiterkeit, als die volksthümliche Alte-Weiber-Mühle.
Sechs Syringen mit Panflöten, darauf zwölf Hirten mit Schalmeien und vierundzwanzig Hirtenmädchen, welche das Lied singen: „O daß mein Liebchen ein Nelkenstock wär’“, dann vier als Hirtenmädchen gekleidete Lorenz-Schüler, welche mit heller Stimme das alte: „Hoc in monte vivo fonte potantur oviculae etc.“ intoniren, verkünden den als Kern eines in Gold und Seide strahlenden Zuges erscheinenden Venusberg sammt dem ganzen Venushofe. Auf einem mit Tauben bespannten, vergoldeten Muschelwagen, umgeben von schönen Jungfrauen, sitzt in silberschimmernder Tracht, das in langen Wellen herabfallende goldblonde Haar mit einer diamantenen Agraffe zusammengehalten, Frau Venus und zu ihren Füßen der edle Ritter Tannhäuser. Vielerlei lustige Zeisige aber umlagern den Venushof und Herrn Tannhäuser, indem sie singen:
„Bibant, bibant,
Vivant, vivant,
Omnes aeternaliter!“
(„Trinken mögen,
Leben mögen
Sie in alle Ewigkeit!“)
Da erscheinen zwölf fastnachtselige Metzgergesellen, als Pfaffenköchinnen in gelbe Schleier verpuppt, eine Riesenwurst mit allerlei Grün artig verziert an langer Stange tragend. Ulrich, der mit seiner Fuhre bald hier, bald dort erscheint, kann die Störung des Zuges nicht dulden. Auf seinen Wink greifen die Apotheker und Bader auf der Fuhre zu ihren großen Spritzen und spritzen so kräftig in die Pfaffenköchinnen hinein, daß diese schnell das Weite suchen.
Neuer Jubel ertönt vom Kornmarkte her. „Der Zwergenkönig kommt!“ tönt es alsbald aus dem Munde von sechs heranspringenden Markolfen. Auf einem mit Goldstück und rother Seide geschmückten Wagen, inmitten schöner Rosenbüsche, welche den Rosengarten darstellen, sitzt Laurin, der Zwergenkönig. Mit der Linken auf das blanke Schwert gestützt, fächelt er sich mit der Rechten vermittelst eines prachtvollen Pfauenwedels Luft zu. Jetzt grüßt er mit anmuthiger Geberde Fürsten und Herren sowohl, wie die schönen prächtig gekleideten Geschlechtertöchter, und als nun Alles, was vornehmen Standes, sich an der Fürstenherberge versammelt, erscheint der als Bacchus vermummte Schenkwirth der Herrentrinkstube, einen goldenen Stern als Weinzeichen seinen Herren vorantragend. Alsbald zieht der Venushof sammt dem Rosengarten diesem Sterne nach, voran die Fürsten mit ihren Schenken, welche Becher und Kannen tragen, auch auf einem Wäglein zwei schwere Fässer nachführen, die, roth und mit grünen Reifen bemalt, in ihrem weiten Innern den edelsten Leistenwein bergen und von dem hochedlen Rathe heute den Fürsten als Gastgeschenk durch Lazarus Spengler, den weitberühmten Rathsschreiber, verehrt werden.
Neues Gelächter und donnernder Jubel aber künden, daß sich mit der sogenannten „Hölle“ das alljährlich wiederkehrende, den Schluß bildende Hauptstück des Schembarts naht. Von Sprühfeuern aller Art umgeben, steht ein dicker Pfaff inmitten der „Hölle“ und hält statt des Meßbuches ein Brettspiel in den Händen. Ein Doctor in rothem Talar, ein Narr in buntem Lappenkleide, sowie allerlei Teufelsmasken umlagern ihn, und unter den lustigen Klängen der Stadtpfeifer geht der Zug zum Rathhaus, wo nach alter Sitte die „Hölle“ vom Volke gestürmt und verbrannt wird.
Hiermit ist der Schembart zu Ende. Die Sonne nähert sich ihrem Untergange und wirft immer längere Schatten längs den Häusern. Das verdächtige Gesindel hat die Stadt verlassen müssen; die Thore sind geschlossen, und auf den Straßen wird es immer stiller, desto lauter aber geht es in den Herbergen und Trinkstuben zu. Aber auch des Trinkens scheint es allmählich genug zu werden. Der Patricier verläßt die wappengeschmückte Trinkstube und schreitet unter dem Vorleuchten bewaffneter Knechte seinem burgähnlichen Hause zu. In noch späterer Stunde wankt der Handwerker von seiner Zunftstube, durch die energische Hausfrau zur endlichen Heimkehr angetrieben. Ein reicher Metzger aber läßt sich von den Spielleuten zum Heimgange aufspielen, und mag die Sackpfeife auch noch so verstimmt durch die nächtigen Gassen klingen, es ist ihm doch ein würdiger Schluß des heutigen Tages.
Immer seltener wird das Licht hinter Erkern und Fenstern, dafür aber steigt zwischen den schlanken Münsterthürmen von St. Lorenz der Mond in voller Pracht auf. Auch sein Gesicht – so will es dem zuletzt Heimwankenden dünken – lacht fastnachtselig auf die allmählich entschlummernde Stadt herab, deren Straßen jetzt nur noch vom Tritt der Nachtrunde und ihrer auf dem Pflaster nachschleifenden Partisanen wiederhallen. Dann verklingt auch dieses Geräusch. Aus ferner Gasse aber rollt das Wägelein herbei, welches ein hochweiser Rath aus väterlicher Fürsorge bestellt, um seine vom Bacchus allzusehr bewältigten Bürger aufzulesen und unter die schirmende Obhut der heimischen Penaten zu bringen.
Das letzte Schembartlaufen, von welchem uns Hans Sachs im ersten Theil seiner Werke eine poetische Beschreibung hinterlassen, fand um 1539 statt. Der Schalk, welcher den Pfaffen in der „Hölle“ darzustellen hatte, erschien in seinem Aeußern dem durch Intoleranz sowohl, wie auch durch seinen Eifer für die Einführung des Luthertums zu damaliger Zeit vielgenannten Prediger Dr. Osiander so ähnlich, daß dieser eine geharnischte Beschwerde beim Rathe erhob, dabei auf ein immerwährendes Verbot des Schembartlaufens drang und dasselbe auch durchsetzte.
Vor dem dreißigjährigen Kriege war das Stahl- und Armbrustschießen bekanntlich eine der Hauptbelustigungen des deutschen Volkes. Das wehrhafte Nürnberg aber fügte denselben in seinem „Stückschießen“ eine kriegerische Uebung bei, welche um so volksthümlicher werden mußte, als sie mit einem Theil seiner Industrie eng zusammenhing und zugleich dem selbstbewußten Bürger die Sicherheit seiner Stadt verbürgte. Wenn Nürnberg, welches mit Magdeburg von allen deutschen Städten am meisten während des Krieges zu leiden gehabt, dem Schicksale der protestantischen Schwesterstadt damals entgangen ist, so verdankt es dies lediglich nur der weisen Vorsorge seiner Bürger, welche so kriegsbereit und wehrhaft dastanden, daß der kluge Schwedenkönig ein enges Bündniß mit dem umsichtigen und starken Gemeinwesen als Grundbedingung für seine ferneren Operationen in Süddeutschland ansah.
Neben vielen anderen Erfindungen ist es hauptsächlich die Geschützkunst gewesen, welche in Nürnberg mit Vorliebe ausgebildet wurde. Augsburg und Nürnberg waren es, die fast ganz Deutschland mit Geschütz und Schießpulver versorgten, und die verschiedenen kleinen Modelle alter Geschützformen, welche als Reste des alten von Franzosen und Oesterreichern ausgeraubten Zeughauses im Germanischen Museum aufbewahrt werden, beweisen zur Genüge die vielfachen und kostspieligen Versuche zur Verbesserung des Geschützwesens.
Durch die nothwendig werdende Prüfung derartiger Verbesserungen nun, durch Erprobung neu gegossener Kaliber entstanden die ersten Stückschießen. Später mögen die Väter der Stadt dieselben um so lieber zu einem Volksfeste umgewandelt haben, als nicht nur der Ruf der Nürnberger Stückgießerei dadurch erhöht und das alte Ansehen der Wehrhaftigkeit erhalten wurde, sondern auch das bunte Gepränge der Aufzüge unzähliges Volk herbeilockte, wodurch der Stadt nicht geringerer Nutzen erwachsen mochte, als ein Jahrhundert früher bei der feierlichen Vorweisung der Reichskleinodien und Heiligthümer geschehen.
Zwei dieser Stückschießen nun zeichneten sich durch ihre besondere Pracht aus. Das erste derselben ward am 30. Juli 1592 abgehalten, und außer den zahlreiche Soldtruppen Nürnbergs zogen dabei allein 5000 Bürger in Wehr und Waffen auf. Aus den Bruchstücken eines sehr selten gewordenen, wenn auch groben Holzschnittes, welcher den umstehenden Illustrationen zu Grunde gelegt ist, ersehen wir, daß es dabei mehr oder minder noch nach altem Landsknechtsbrauch zugegangen. Die wuchtige Hellebarde schulternd, schreitet der Hauptmann voran. Ihm folgen die Spielleute mit Trommel und der alten Landsknechtspfeife, sowie der Fähnrich, welcher nach alter Sitte das Fähnlein fliegen läßt. Zum Schutz des letzteren schreitet ein ebenfalls mit der Hellebarde Bewaffneter hinter dem Fähnrich her. Der hier zur Verfügung stehende Raum verbietet leider die Wiedergabe des ganzen Bildes. Der Zug setzt sich weiter zusammen aus einem Kriegsherrn mit dem Commandostab nebst einem Gefolge von jungen Patriciern, welche, die Radschloßbüchse auf der Schulter, in der linken Hand die zum Auflegen des Gewehrs gebräuchliche Gabel führen, ferner aus Pritschenmeistern, Narren etc.. Die Hauptgruppe bildet eine von vier Pferden gezogene Karthaune. Umgeben von Schanzgräbern, welche Schaufeln und Spitzhacken führen, sehen wir den obersten Büchsenmeister, die brennende Lunte in der Hand, auf seinem Geschütze thronen. Mit sieben solcher Stücke ist an diesem Tage geschossen worden, und Hans Löhner finden wir als den Glücklichen verzeichnet, der das „Beste“, einen ungarischen Ochsen mit seidener Decke behangen, davongetragen.
Aber auch noch achtzig Jahre später, zu einer Zeit also, wo das übrige Deutschland bereits dem inneren Marasmus zu erliegen beginnt, wo jede Volkslust durch die Nachwehen des entsetzlichen Krieges erstickt und begraben, lebt in Nürnberg das Bewußtsein fort, daß nur durch die Wehrfähigkeit des Bürgers auch seine Selbstständigkeit erhalten werden kann. Obschon zu dieser Zeit auch hier das Schweifwedeln des Patriciats am kaiserliche Hofe um Adelsbriefe, Titel und Würden längst begonnen und eine strenge Scheidung des Geschlechter- und Bürgerstandes herbeigeführt hat, in der Sinn für Unabhängigkeit, der Stolz auf den alten Ruhm der Vaterstadt bei den regierenden Herren doch immer nach so vorherrschend, daß auch bei diesem Stückschießen sich noch einmal alle Kraft und Wehrhaftigkeit des alten Bürgerthums in seinem vollsten Glanze zeigen und dasselbe zu einem für diese Zeit höchst seltenen Volksfeste gestalten soll. [304] Die Kupferstecher Jacob Sandrart (nicht zu verwechseln mit dem gleichzeitigen Maler Joach. Sandrart) und G. Chr. Eimmart haben uns in vier schönen Bildern eine getreue Abbildung dieses letzten Stückschießens hinterlassen. Eine der Tafeln bringen wir dem Leser zur Ansicht und verbinden damit eine kurze Schilderung des ganzen Festes.
Diesmal ist es an einem sonnigen Augusttage des Jahres 1671, wo das Stückschießen „den Konstablern zur Uebung, der lieben Bürgerschaft aber zur besonderen Ergötzlichkeit“ auf dem Schießplatze beim St. Johannis-Kirchhof abgehalten werden soll.
Alle Herbergen der Stadt sind von Fremden überfüllt, denn auf des Rathes Ausschreiben ist man von nah und fern herbeigeeilt, um solch absonderlichem, seit lange nicht erlebtem Vergnügen beizuwohnen. Was Wunder, wenn alle Straßen und Plätze, welche
[305][306] das mächtige Zeughaus umgeben, schon früh mit Schaulustigen aller Art bedeckt sind! Endlich öffnen sich die Thore des Portals. Zwei berittene „Aufbieter“, denen drei in die Stadtfarben gekleidete Trompeter folgen, eröffnen den langen Zug. Die drei vom Rath verordneten Kriegsherren, auf mit prächtigen Decken verhängten Pferden reitend und von acht Partisanenträgern umgeben, bilden gewissermaßen die Anführer der mit prächtigen Pferden und Waffen ausstaffirten Reiterschaar, welche, den Carabiner kriegsmäßig auf den Schenkel gestützt, jetzt fünf Mann hoch aus der Seitenstraße in den Zug einlenkt. Es sind Patricier, ansehnliche Kaufherren mit ihren Söhnen, welche dieses auserlesene Geschwader bilden. Demselben schließt sich unmittelbar eine Schwadron städtischer Soldreiter an, denen dann in unabsehbarer Reihe die Bürgercompagnien, theils mit Gewehren, theils mit langen Spießen bewaffnet, folgen. Jeder Compagnie spielen Trommler und Pfeifer, unter welch letzteren wir auch schon den Fagottisten erblicken, tapfer auf. Zimmerleute, Schanzgräber etc. mit ihren Werkzeugen und einer Fahne, welche in der Inschrift: „Es zielet zum Nutzen und Beschutzen“ zugleich die Jahreszahl enthält, Corporale, Rottmeister , Feldwebel, Büchsenmeister mit der eisernen Luntengabel auf der Schulter verkünden uns das Herannahen der vier Falkonette, mit denen heute das Schießen abgehalten werden soll. Jedes der Geschütze wird von vier Pferden gezogen und von zweiunddreißig Constablern begleitet. Auf demselben aber sitzt je ein Knabe; Blumen und Weintrauben für Frühling, Sommer und Herbst, für den Winter aber ein derber Schafpelz bilden die Attribute der die Jahreszeiten auf diese Art allegorisch darstellenden kleinen Künstler. Auf einer der Fahnen, welche sie führen, sehen wir das jedenfalls von einem mit Wien liebäugelnden Patricier ersonnene Triumphet Leopoldus – auf einer andern das fromme Deo duce, auf der dritten endlich bezeichnend genug: Floreat pax.
Zeugmeister, Stückgießer, Zeugdiener, „Arteglersschmiede“ und Schanzmeister folgen den Geschützen. Besonderes Gelächter erregt die Ankunft eines Pulverwagens, von dessen Verdeck ein lustiger Geselle in der schwarze Maske des Vulcan den aufkreischenden Dirnen aus seiner diabolischen Fratze allerhand Gesichter zuschneidet. Eine Compagnie geworbener Fußknechte endlich beschließt den langen Zug, welcher, nachdem er den im Rathhause versammelten Rath durch eine Art Parademarsch beehrt, zum Schießplatze marschirt.
Derselbe ist auf zwei Seiten hin von einem Walle umzogen. Während unter einem hohen Zelte die verordneten Kriegsherren Platz genommen, in dem daranstoßenden der Zeugschreiber aber unter Pfeifen- und Schalmeienklang die Treffer notirt, drängt sich das zuschauende Volk längs den Stricken hin, welche den eigentlichen Schießplatz von den Vergnügungszelten im Hintergrunde abschließen. Noch immer erscheint die „Arkelei“ dem gemeinen Manne als etwas Absonderliches, wenn nicht Unheimliches; noch immer gilt der abgeschlossene Geschützplatz dem Volke für ein Asyl. Nicht allein in damaliger Sitte, auch in der seinem Amte zustehenden Würde liegt es daher, wenn der oberste Büchsenmeister nur mit Gravität und wenigen Worten dem mit Ladeschaufel dastehenden Constabler Kraut und Loth überweist. Die Batterie selbst ist auf das Sorgfältigste und nach den neuesten Erfindungen damaliger Kriegskunst erbaut. Das Zielobject besteht in einer Scheibe, welche von der Batterie 600 Schritt entfernt und 10 Fuß breit ist. Hoch auf der Schanze stehend, beobachtet der Zeugmeister mit einem Glase die Wirkung der Schüsse, und seine feste, durch den aufgestemmten Stock noch ruhiger erscheinende Haltung verbürgt uns volle Zufriedenheit mit den im Pulverrauch so emsig hantirenden Constablern.
Drüben, jenseits der Seile, zeigt sich dem Beschauer ein minder ernstes Bild. Fröhliche Zecher sitzen in dem großen Zelte bei mächtigen Humpen Frankenweins; ebenso lustig aber geht es auch in den kleineren Buden zu, denn hier trinkt man das vortreffliche Weizenbier, welches in dem Brauhause des Heiligen-Geistspitals in so vorzüglicher Güte hergestellt wird. Auf dem grünen Wiesenplane tummelt sich ein fröhliches Volk – Glückstopf, Zinnbuden, wo man um Hausrath würfelt, und Anderes bieten für Groß und Klein die angenehmste Unterhaltung; manch Strolchengesicht taucht auch wohl im Volksgedränge auf, den noch immer gilt Nürnberg für eine reiche Stadt, und wenn die Stadtdiener auch ein scharfes Auge auf derlei Diebsgesindel haben – letzteres tröstet sich doch immer noch mit dem alte Sprüchlein. „Die Nürnberger hänge keinen, sie hätten ihn denn vor.“
Wacker wird während der vier Tage geschossen, und bevor die greisen Losunger (ältesten Bürgermeister) in ihrer Staatscarosse heimfahren, lassen sie durch den Mund des Zeugschreibers zur großen Genugthuung sämmtlicher Bürgerschaft männiglich künden, daß sie vom diesjährigen Stückschießen „absonderlich contentiret, sintemal von denen Constablern die Scheibe über zweihundertmal getroffen worden.“ – Der hochedle Rath aber läßt zum ewigen Andenken dieser Tage goldene und silberne Medaillen prägen.
[368]Viele unserer Volksfeste sind bekanntlich religiöse Ueberlieferungen aus der vorchristlichen Zeit. Der Glaube an die alten Götter, an ihren Einfluß auf Alles, was dem Volke von Bedeutung, war so unzerstörbar, daß die ersten Lehrer des Christentums gezwungen wurden, die heidnischen Schutzgötter und Gebräuche, wenn auch unter anderen Namen und Formen, in den neuen Gottesdienst nach und nach mit hinüber zu nehmen. An die Stelle der heidnischen Talismane, der Penaten und Laren, wurden Heiligenbilder und Reliquien gesetzt. Schon im fünften und sechsten Jahrhundert der christlichen Kirche führte dieser neue Götzendienst die schmählichste Gewinnsucht im Gefolge, denn die nimmersatte Geistlichkeit begann, wie in späterer Zeit den Ablaß (die einzige Stadt Nürnberg lieferte 1453 an Ablaßgeldern 30,000 Goldgulden, welche man den Deutschen zum Spott in Rom peccata Germanorum, deutsche Sünden, nannte), so jetzt die Heiligenbilder und Reliquien einfach den gläubigen Seelen für schweres Geld zu verkaufen.
Daß unter den Händen des Clerus Alles geheiligt und wunderthätig werden kann, bewiesen sogar die Producte der Pfefferküchler und Bäcker, und selbst die alten ehrlichen Brezeln sollten ein Ziel der kirchlichen Ausbeutung werden, denn das heidnische Sonnenrad auf denselben, „das Julagalt“, mußte dem mit einem Ringe umgebenen Kreuze weichen. Mit diesem neuen Talismane versehen, bildete das uralte Gebäck ein besonders geweihtes und deshalb auch besonders zu bezahlendes Genußmittel.
Daß bei der deutschen Zechlust auch für den Wein ein Schutzpatron aufgestellt werden mußte, ist daher selbstverständlich. Für den alten Bacchus, der zweifelsohne durch die Römer den Deutschen zur Genüge bekannt geworden, wählte man den heiligen Urban (Bischof von Langres), und der St. Urbanstag (Urbani dies) wurde besonders in dem weinreichen Franken durch ein hochgehaltenes Volksfest ausgezeichnet.
Wenn nun um Nürnberg selbst auch niemals Wein gewachsen, so ist doch desto mehr in seinen Mauern getrunken worden, und diesem Umstande mag es zuzuschreiben sein, daß der Urbanstag von frühester Zeit her in der lebenslustigen und wohlhabenden Reichsstadt gefeiert worden ist. Wenn aber bei sonstigen Volksfesten, bei dem Armbrust- und Stückschießen, sowie beim Schembart, sich alle Stände betheiligten, so scheint der Urbanstag mehr ein Fest der niederen Volksclassen gewesen zu sein, und toll genug ist es, nach den Ueberlieferungen zu schließen, dabei hergegangen.
Der Urbanritt gehörte zu den Rechten der sogenannten „Weinschreier“ (Ausrufer des verkäuflichen Weins). Nachdem die Erlaubniß des Rathes eingeholt worden, begann der Umzug aus irgend einer Weinschenke der Stadt. Es sind uns von demselben mehrfache Abbildungen überkommen, welche bis auf einige Abweichungen in der Tracht, eine Folge der wechselnden Jahrhunderte, ziemlich übereinstimmen. Eine höchst seltene colorirte Handzeichnung aus der Nürnberger Stadtbibliothek, welche uns vorliegt, mag den Zug am besten schildern: Voran schreiten zwei Spielleute, der eine die Schalmei, der andere die Sackpfeife blasend. Diesen folgt ein Stadtknecht in roth und weiß getheiltem Ueberwurf, den Farben Nürnbergs. Er führt eine Peitsche, um im Gedränge Raum zu schaffen. Ein Mann in schwarzem Unterkleide, rothem Ueberwurfe und rother Mütze, welcher einen mit Spiegeln und kleinen Weinflaschen behangenen Tannenbaum trägt, schreitet dem eigentlichen Helden des Aufzuges, dem heiligen Urban, voran. Dieser reitet auf einem kräftigen Gaul (auf einigen Bildern erscheint derselbe dürr und mager), trägt eine päpstliche Krone auf seinem Haupte, welche mit Weinlaub verziert ist, und einen weißen Ueberwurf, welcher ebenfalls Weinblätter und Trauben zeigt, und hält einen mit rothem Wein gefüllten Becher (Kuttroffglas) hoch empor. Hinter ihm her schreitet ein genau wie der Träger des Baumes gekleideter Mann, der an einem Stocke einen großen Weinkrug auf dem Rücken trägt. Die beiden Gebäude zur Seite [369] sind Weinschenken; den Mittelpunkt des Hintergrundes aber bildet einer der großen, runden Thorthürme Nürnbergs, woraus mit Sicherheit zu schließen, daß die Zeichnung gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts entworfen ist. Ein anderes Bild zeigt, bei größeren Volksmassen, neben dem Urbanreiter noch ein Weib mit einem Tragkorb, in welchem ebenfalls Spiegel und Gläser zum Auswerfen unter die Straßenjugend sich befinden. Der Tracht nach zu schließen, stammt die ursprüngliche Zeichnung aus dem Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts.
Zur besseren Verständigung nun lassen wir einen Chronisten eben dieses Jahrhunderts den Urbanritt beschreiben:
„Anno 1614 am Tage Urbani aus Zulassung eines ehrbaren Rathes allhie ist nach altem Brauch und Gewohnheit Niklas Gulda, ein Weinschreier, auf einem Rößlein in der stadt allhie um und vor die wirthshäuser geritten, dem ein jeder Wirth, so da Wein schenket, ein maß Wein, einen Trunk und Geld darzu giebt. Er, der Urban, hat in der rechten Hand ein kuttroffglas und darinnen ein Schmecken (Nürnbergisch für Blumenstrauß), sitzt und stellt sich seltzam, knappet und wanket bald hinter, bald für sich, eine weil uf diese, eine weil uf jene seiten, wie ein voller Bauer, juchzet auch bisweilen. Hinter dem Urban tragen ihrer zween in rothen Schenkröcken und Hüten ein jeder eine große Flaschen an einem stecken über der Achsel, in welche sie den Wein gossen, den ihnen die Wirthe gegeben. Die Pfeifer haben ufmachen (aufspielen) müssen, so lang er in der Stadt umgeritten, ein großer Haufen Buben und Kinder sind mitgelaufen, welche immer ihm zugeschrieen: ,Urba, Du mußt in Trog! Urba, Du mußt in Trog!’ Denn wenn es am selben Tage des Umzugs regnet, so wird der Reiter uf denselben Abend in den Brunnentrog bei St. Lorenzen geworfen, denn man meinet, der Wein werde denselben Herbst nit wohl gerathen. Regnet es aber am Tage Urbani nicht, und ist schön Wetter, so ist gute Hoffnung, es werde ein gut Weinjahr und ein reicher Herbst werden. Der Urban aber wird dennoch von oben aus den Häusern mit wasser begossen, daß er und sein pferdlein triefnaß werden.“
Ob nun an diesem Urbanstage des Jahres 1614 der Urban auch in den Brunnentrog gemußt, verschweigt der Chronist, erwähnt aber dafür am Schlusse mit großer Genugthuung, daß die Theilnehmer des Zuges bei dem ersammelten Geld und Wein auf den Abend lustig geworden und die vom Jauchzen trocken gewordenen Kehlen „gar arg begossen haben“.
Die Erinnerung an den Weinheiligen lebt noch heutigen Tages im fränkischen Volksstamme fort, und die alte Wetterregel: „Hat Urbani (25. Mai) Sonnenschein, hofft man viel und guten Wein“ wird vom Weinbauer hoch gehalten. Aus dem alten Sprüchwort: „Behüt mich Gott vor St. Urbansplag!“ aber mögen alle Podagristen die – wenn auch wenig tröstliche – Genugthuung schöpfen, daß das schmerzhafte Uebel schon seit vielen Jahrhunderten den fröhlichen Zecher heimgesucht hat.