Seite:Die Gartenlaube (1881) 646.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

des bleichen, wasserharten Sandgrundes nach dem andern bloßlegt. Da promenirt Männlein und Fräulein in bunter Mannigfaltigkeit der Toilette oder sitzt in den wunderlichen geflochtenen Strandkörben vor Wind und Sonne gedeckt; da tummelt sich fröhliches Kindervolk, zum Entsetzen der unglücklichen Seesterne, Krabben, Taschen- und anderer Krebse, welche leichtsinnig und unvorsichtig genug waren, nicht rechtzeitig ihr eigenes Ebben bewerkstelligt zu haben, und welche nun hülflos, ausgesetzte Kinder des Meeres, im Sande krabbeln.

Völlig verändert ist die Scenerie während der Badestunden. Dann stürzen die Fluthwellen weiter und weiter über die Sandfläche, immer mehr Terrain verschluckend. Auf der Promenade aber bewegen sich die vierräderigen Strandkarren, transportable Zellen, einst von kräftigen Fäusten geschoben und nun von einem Rößlein gezogen, und in diesen Zellen, welche zwei Schiebfenster zur Auswahl je nach der Windrichtung des Tages, wie die Eichhörnchennester, bieten, sitzt ein weibliches oder männliches Wesen und macht Badetoilette, wenn der Karren hält, und steigt dann hinaus, um an der schwieligen, nervigen Hand eines weiblichen oder männlichen Badewärters der nächsten sich überstürzenden Woge entgegenzugehen falls es nicht vorgezogen wird, auf diese Führung zu verzichten. Wehe dem, der das in schnödem Leichtsinn thut, ohne die nöthige Standhaftigkeit der unteren Extremitäten und ohne von dem großen Geheimniß etwas zu wissen, daß man dem überlegenen Element wohl den gekrümmten Rücken, nicht aber die Brust bieten darf! Dann, Unglücklicher, spielt es nicht mit dir, in kräftigem Schwunge dich vorwärts hebend und niedersetzend, dann trifft ein Stoß des Zornes deine Brust, dessen du dich nicht versehen hast; taumelnd suchst du vergeblich dich zu halten, eine grünliche, Schaum speiende Undurchdringlichkeit fällt über dich her und nimmt dir den Athem, und kaum hast du Zeit gefunden, dich aufzuhaspeln, um deiner Lunge das dringend nöthige Quantum Luft vermittelst des geöffneten Mundes zuzuführen, so stopft dir ein zweites Sturzbad den letzteren, und zappelnd liegst du wieder dort, von wannen du aufgestanden bist. Das ist nichts weniger als gemüthlich, ist ohne Bewachung sogar eine gefährliche Sache, wenn die See hoch geht, und um gar hier ungestraft zu schwimmen dazu gehört Ausdauer und eine zuverlässige Muskelkraft. Anders, wenn du geduldig dein Schicksal in jene Fäuste legst, welche dazu da sind, um es in richtigem Geleise zu lenken. Diese schweigsamen, schwerbeweglichen Männerkolosse, diese männerhaften, braunen, runzligen Jeskes, Nantjes, Jantjes, Jates, Tates oder wie sie sonst heißen, halten für dich unentwegt Stand, bis du den „zweiten Schauer“ in deinem inwendigen Menschen nahen spürst. Dann geht es wieder in das Gehäuse mit den vier Rädern; du klingelst; es wird eingespannt und mit den äußerlichen Erfordernissen des modernen Menschen versehen, entklimmst du drüben und suchst dich in sanfter Promenade zu beruhigen.

Vom Strande steigt die Dünenkette empor, hinter welcher der Ort so hart liegt, daß Jeden, der die Wirkung der Sturmfluthen kennt, von Rechtswegen ein Fürchten ankommen müßte, die Häuser möchten eines Tages mitsammt der Düne von der Fluth weggeleckt und verspeist werden.

Es gab eine Zeit, da die Gefahr nahe genug lag, und das war in den fünfziger Jahren. Ist es doch eine Thatsache, daß alle diese Inseln durch Fluth und Wind im Westen und Norden ab-, im Osten und Südosten zunehmen, sich sozusagen auf der Wanderschaft befinden. Eine Sturmfluth in der Sylvesternacht von 1854 aus 1855 riß die Dünen der West- und Nordwestseite der Insel bis zu achtzig, an einer Stelle sogar bis zu hundertsechszig Fuß Breite ab. Da war es klar: noch ein paar solche Elementarereignisse, und das Geschick des Ortes war besiegelt – wenn nicht gründlich für Schutz gesorgt wurde. Die hannöverische Regierung griff denn auch ein und half durch Küstenbefestigung ab. (Vergl. „Gartenlaube“, Jahrgang 1881, Nr. 21.)

Die schmale, langgestreckte Insel gleicht einem Kometen. Bad Norderney im Westen bildet den Kern, während der Schweif sich östlich nach der Nachbarinsel Baltrum zu in das Seegat Wichter Ee verliert. Die Küste im Westen und Norden ist wesentlich durch die Düne charakterisirt, deren Fuß sich als flacher, leichtgeneigter Strand in das Meer senkt. Ihr Grund ist Sand, der alte Urboden der Insel; dann kommt regelmäßig zwischen Sand gelagert eine dünne Schicht von Darg, einer torfartigen Masse, welche aus Blättern Halmen und Wurzeln des gemeinen Rohrs, Resten einer uralten sumpfigen Schilf- und Binsenvegetation, verfilzt ist. Wehe dem Unseligen, welcher es versucht, diese Masse als Torf zu brennen! Er wird Düfte riechen, welche sonst nur die Hölle kennt. Als Perle unter den Inseldünen steht die weit östlich liegende „Weiße Düne“ (vergl. unsere Abbildung S. 645) da, eine kolossale, nahe an hundert Fuß hohe, in alpenartigen Contouren aufsteigende Pyramide feinkörnigen, fast weißen Sandes, von deren Spitze man einen weiten Rundblick hat: Sand, Luft, Wasser, eine Dreieinigkeit, welche hier in der unzerstückelten Massenhaftigkeit der einzelnen Factoren von gewaltiger Wirkung ist.

Düne ist im Grunde auch das Innere der Insel, Sand, Sand und wieder Sand, unregelmäßig an der Oberfläche sich hebend und senkend, mit dürftiger, kränklicher Vegetation: der Zwergweide, Halmgewächsen, Pimpinellröschen, Erika und sonstigen unscheinbaren Pflänzchen verschiedener Art. Einen eigenthümlichen Charakter trägt nur der Südstrand und der äußerste Osten.

Der Wattstrand im Süden ist nicht mehr reiner Sand. Die Binnenwässer, welche sich in das Wattenmeer ergießen, führen Kalk, Thon, animalische und vegetabilische Reste mit sich, welche sich, sobald salzige und süße Fluth zusammentreten, als feiner grauer Schlamm, „Schlick“ genannt, zu Boden schlagen, besonders in dem ruhigen Uferwasser. Die Zugabe dieses Schlicks ermöglicht das Auftreten einer eigenthümlichen und üppigen Vegetation, aber im Wirkungsbereiche der Fluth zieht der Mensch keinen Vortheil aus diesen günstigen Bodenverhältnissen. Durch Eindeichung ist indessen im Südwesten ein schöner Wiesenwuchs gewonnen, auf welchem viele ostfriesische Kühe sich wohl nähren. Auf dieser Seite der Insel befindet sich übrigens auch die Rhede für die Fischerboote.

Wo im Osten das Dünenland aufhört, bietet sich ein verwandtes Bild. Dort senkt sich das Sandterrain flach und flacher, anfangs von kleinen, mit Strandhafer bewachsenen Erhöhungen durchsetzt; dann kommt eine Strecke, wo das Wasser und der sandige Boden heimliche, gefährlich trügerische Verbindungen eingehen, „ein unheimlicher Bereich von superfeinem Sand, welcher dem Wanderer unter dem einen Fu0e weggleitet, während der andere bereits in einem grünen Sumpfe versinkt, den man für ein Stück Wiesenland gehalten,“ wie Spielhagen diesen Theil der Insel schildert. „Und dann zischelt es in den Binsen, in die man plötzlich, man weiß nicht wie, gerathen ist, und die Binsen haben ein schmutziges, klebriges Aussehen, als ob sie alle schon einmal im Leben ertrunken gewesen wären, und das sind sie auch, und öfter als einmal: denn das Meer ergießt sich bei Springfluthen über das ganze Gebiet, wie eine Boa constrictor sich erst ihr Opfer zurechtleckt, bevor sie es verschlingt“

Hier im Osten entfaltet sich auch das reichste Thierleben. Im Sande gräbt das wilde Kaninchen seinen Bau, vor Allem aber wimmelt es in und über dem seichten Wasser von Seegevögel aller Art, und die Nimrode unter den Inselbesuchern können es sich nicht leicht versagen, mit der gemietheten Schießwaffe im Arme einen Streifzug in dieses Gebiet zu unternehmen. Da schweben mit ihrem breiten Flügelschlage die Mantelmöven und Lachmöven, die Raubmöven und andere Genossen der Sippe, besonders häufig die graziösen Seeschwalben; da laufen und stelzen die Regenpfeifer, Säbelschnäbler, Austernfischer, Strandläufer; hoch in der Luft schwebt wohl ein See Adler oder Wanderfalke. Es ist freilich leichter, diese Geschöpfe zu treffen als der Beute beizukommen, es sei denn, daß man zu Kahn jagt, wobei etwa auch ein Seehund, ein Tümmler zum Schusse kommt. An Vögeln findet man übrigens auf dem festen Boden auch den und jenen bekannten aus der Sängerwelt, welche unsere heimischen Gebüsche belebt.

Ungleich ergiebiger und mannigfaltiger an Beute ist die Jagd der Fischer in der Fluth, welche mit Netzen, vorzugsweise aber mit Grundangeln betrieben wird; aus dem Sande gegrabene Tobiasfische, Quappen oder Pierer bilden dabei die Köder. Der Schellfisch- und Kabeljaufang liegt freilich außerhalb der Saison. Allein die Schollenarten und mancher andere seltsam gestaltete Meeresbewohner bieten sich dem Netze, selten nur der in den Ostseebädern ständige Häring.

Ein hohes Interesse nehmen die krebsartigen Geschöpfe in Anspruch, die Krabben, Taschenkrebse, Einsiedlerkrebse, Garneelen, letztere im Juni in ungezählten Mengen vorhanden. Da sind Gliederwürmer,

Schnecken und Muscheln, Seesterne und Seescheiden, Seegurken,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_646.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)