„Suste weiter nischt ack heem“

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Autor: Wilhelm Anthony
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Titel: „Suste weiter nischt ack heem“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 116–120
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1878
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[116]
„Suste weiter nischt ack heem.“
Aus den alten Tagen des „Dichter-Vagabunden“.
Von Wilhelm Anthony.

Für die echte und wahre Popularität eines Mannes spricht nichts schöner und beweiskräftiger, als wenn man ihn zu einer Zeit, da diese Bezeichnung nach seinen Kalenderjahren eigentlich gar nicht zutreffend erscheint, allgemein den „Alten“ heißt – und darum so schön, weil’s eben beweist, daß der Alte längst vor Abschluß der Tagesrechnung eine gewaltige Summe von Thaten oder Erfolgen aufzuweisen gehabt, für welche die allgemeine Volksschätzung allbereits ein vollgewogenes Menschenleben voraussetzen zu können vermeinte. Wie solch ein Wort wird und wächst, das läßt sich im Einzelnen schwer nachweisen; es fliegt wie das Mariengarn über Wald und Feld und alle Schlagbäume. Jeder spricht’s nach, und Jedem ist’s recht. Jeder hat dasselbe Gefühl der Pietät, der Ehrfurcht und der – man möchte sagen – zu solch einem „Alten“ kindlich aufschauenden Dankbarkeit. Den „alten Holtei“ nannte man schon so, als er eben erst auf dem Zenith seines Lebensweges angelangt war und körperlich wie geistig frisch auf der Höhe stand. Die stürmische Odyssee seines ersten Lebenstheils lag bereits hinter ihm; der Vielgewanderte hatte sein Ithaka an dem traulichen Heerde seiner einzigen Tochter in Graz gefunden und spann sich dort wie ein fleißiger Seidenwurm still am Schreibtisch ein. Nach dem, was damals schon hinter ihm lag, konnte man ihn gleichwohl den Alten nennen, und wär’ es auch nur wegen der „Vierzig Jahre“ gewesen, die er ja nicht nur geschrieben, sondern auch erlebt hat. Und was hatte er daneben nicht Alles gedichtet und gesungen und im Dienste der Musen gewirkt an allen Enden! Und was hatte er daneben nicht Alles gelitten und verloren!

„Meine treuesten Freunde: Kummer und Schmerz!
Meine größten Feinde: ich und mein Herz!“

So konnte er schon damals ausrufen im schmerzerfüllten Rückblick auf den von Leichensteinen umfriedeten Lebensweg.

Vom „jungen Holtei“ weiß die Welt genug, sollte und könnte es wenigstens wissen; er selbst und viele Andere, die seines Werthes echten Goldgehalt erkannt, haben dafür nach Kräften gesorgt – vom „alten Holtei“ aber ist dann nicht viel mehr die Rede gewesen. Und darum soll’s hier geschehen; ein Epilog zu jener achtzigsten Geburtstagsfeier, welche der Nestor der schlesischen Dichter vor wenigen Wochen bekanntlich unter der herzlichsten Antheilnahme von Nah und Fern beging. Wohlverstanden, bezieht sich das eben Gesagte auf die Personalia des Dichters: daß sein poetisches Wirken nicht einschlummerte, bewies manches neue Buch, und kam in einem Jahr einmal keins, so durfte man nur Trewendt’s „Volkskalender“ aufschlagen, um zu erfahren, daß der „Alte“ doch niemals ganz feiern könne. Die Person aber trat allgemach zurück; der alte Herr zog selbst die Kreise um sich enger und enger. Sein stilles Heim im dritten Stock des in einer nicht allzu freundlichen Seitenstraße gelegenen und damals auch wenig bequem ausgestatteten „Hôtels zu den drei Bergen“ war keineswegs geeignet, dem betagten Wittwer den anmuthenden Zauber einer behaglichen Häuslichkeit zu bieten, wie ihn der moderne Comfort auch ohne großen Aufwand je nach Geschmack, Beruf oder Geistesrichtung eines älteren Pensionärs herzustellen vermag. Zur Wahl dieser Wohnung hatten alte Erinnerungen beigetragen und dann – der Umzug! So blieb’s denn schon von Jahr zu Jahr bei der alten Klause. „Die steilen Treppen halten die Wiederkehr manches überlästigen Besuches besser von mir ab, als zehn Cerberusse es vermöchten,“ sagte er einmal.

Freilich war’s mit diesen Besuchen oft ein wenig arg. Daß Jeder, der dem Reiche der Künste angehörte, dem alten Herrn seine Visite machte, verstand sich von selbst und diesen stand die Thür stets offen, aber müßige Neugier, stoffarme Feuilletonisten und dann die typischen Figuren, welche keinem Vorzimmer eines populären und berühmten Mannes fehlen, als da sind: der einen Album-Vers erbettelnde Gymnasiast, die stille Verehrerin, die um eine Haarlocke bittet, die hungernde Wittib eines „Collegen“ (?) – wie denen den Zutritt sperren? Holtei’s reiches Gemüth und seine große Gutmüthigkeit wurden dabei oft genug irregeführt. Er gab so gern, daß man ihm nur dankbare Schuldner hätte wünschen mögen. Und er sprach auch so gern, wenn eben ein Besuch kam, der ihn anregte. Die Lampenwelt stand dabei wohl immer noch ein wenig im Vordergrund. Fremde Gäste aus der Coulissenwelt brachten blos durch ihr Erscheinen und durch die Beziehungen, welche der Ort ihrer damaligen artistischen Wirksamkeit in den Erinnerungen des „Vielgewanderten“ anregte, eine solche Fülle von Anekdoten, Theatergeschichten und Reflexionen in seine Rede, daß der alte Herr stets die Kosten der Unterhaltung allein trug. Da wurden Namen aus dem goldenen Buch der Schauspielerwelt citirt, wie Anschütz, Marr, Löwe, Devrient – und mit vollem Feuer und Eifer bekannte sich der alte Herr zu der von jenen Großmeistern verfolgten idealen Richtung; mit heiligem Zorne wetterte er gegen den Götzendienst der falschen Kunst, die heut’ zu Tage in dem deutschen Musentempel sich eingenistet; mit edelstem und hinreißendem Enthusiasmus konnte er über die ethische und ästhetische Mission der Schaubühne reden, um dann zu einer persönlichen Anekdote, die hinter den Coulissen gespielt, überzuspringen und damit zu schließen. Freilich war der Humor solcher Schlußwendungen stets so überwältigend, daß auch der ärgste Hypochonder lachen mußte.

[117] Ein besonderes Lieblingsgespräch des alten Herrn war Schlesiens Antheil an der deutschen Poesie, über welche er bis in’s kleinste Detail unterrichtet war. Mit staunenswerthem Gedächtniß konnte er von Opitz und Gryphius an alle größeren Werke schlesischer Dichter zergliedern und recitiren. – Im „Shakespeare“, den er ja oft von der Tribüne interpretirt, so vielfach und so mustergültig für die Bühne inscenirt, war er ganz besonders heimisch und liebte es, größere Monologe seiner Unterhaltung einzufügen. Und wie schön der alte Herr noch sprechen konnte! Wer einmal solch einer Plauderstunde bei dem „Alten vom Berge“ beigewohnt, wird die Erinnerung daran nie verlieren können.

Mit dem Theater stand Holtei, seitdem er diese letzte Periode seines Lebens angetreten, in keinerlei directem Verkehr. Er besuchte es auch nur sehr selten, zuletzt 1869 – wenn ich nicht irre – bei einem Gastspiel der Viardot-Garcia. Aber er verfolgte mit lebhaftestem Interesse die Entwickelung des modernen Bühnenrepertoires und blieb gern im Verkehr mit jüngeren hoffnungsvollen Talenten. Als das Theater zum ersten Male abgebrannt und dann durch die Freigebigkeit der Stadt schöner und glänzender aus der Asche emporgestiegen war, setzte Holtei alle seine Bekanntschaften – und deren weittragende Kraft bis in die höchsten Gesellschaftskreise hinein war und ist eine gewaltige – in Bewegung, um einem Manne das Directionsscepter in die Hand zu legen, welcher dazumal sich den Breslauern nur durch jeweilige Gastspiele als ein ganz excellenter Komiker empfohlen hatte. Theodor Lobe, jetzt einer der gewaltigsten Tragöden der deutschen Bühne, war jener Schützling Holtei’s; sein gegenwärtiger Ruhm beweist, wie sehr er jener Fürsprache würdig war und wie richtig der „alte Herr“ über ihn an eben dieser Stelle vor Jahr und Tag geurtheilt. Im Erkennen junger Bühnentalente zeigte Holtei überhaupt stets einen ausnehmend scharfen Blick; bei Lobe war die Sache um so schwieriger, da dieser damals schon im Zenith seines Könnens und Leistens zu stehen schien.

Von Holtei’s geselligen Beziehungen, seitdem er in Breslau sein dauerndes Asyl genommen, dürften von allgemeinem Interesse wohl folgende sein. Zunächst und vor Allem seine intimen Beziehungen zu dem Breslauer Fürstbischof Dr. Heinrich Förster, der seit den Maigesetzen bekanntlich seinen Palast geräumt hat, um den österreichischen Theil seiner Diöcese von Johannisberg aus zu verwalten. Förster und Holtei mußten sich anziehen; die Seelen Beider hatten Magnete in sich, welche sich finden mußten. Förster galt als Schlesiens größter Kanzelredner, und es gab Zeiten, in welchen er hinsichtlich seiner Popularität in Breslau seinem Freunde, den der Lorbeer der Bühne und der Tribüne [118] schmückte, kaum nachstand. Als das Vaticanische Concil in Sicht kam, sah der alternde Prälat mit blutendem Herzen den schrecklichen Stürmen entgegen, welche die Römlinge im Vatican heraufbeschwören wollten. Man hat Grund zu glauben, daß in diesen Tagen der qualvollsten Aufregung der Einfluß des Dichters auf den fürstbischöflichen Freund tiefeingreifend war in alle seine Entschlüsse und daß Jener durch directen Rapport mit den allerhöchsten Personen in der Residenz Mittel und Wege fand, um den schwankenden Kirchenfürsten zu bewegen, wenigstens auf seinem Posten auszuharren. Welche weiteren Wünsche sich an diese erste Concession knüpfen mochten, darf aus naheliegender Rücksicht hier nicht weiter verfolgt werden. Rom war schließlich mächtiger als Berlin und – alte Freundschaft.

In noch engerer Verbindung lebte der „Alte vom Berge“ mit dem bekannten Verleger fast aller seiner Werke Eduard Trewendt. Dieser, wir möchten fast sagen brüderliche Liebesbund ward erst vor wenig Jahren durch den frühzeitigen Tod jenes edlen Mannes jäh und schmerzvoll für den Zurückbleibenden gelöst. Nicht ohne tiefste Wehmuth konnte man damals im nächsten Trewendt Kalender die im schlesischen Dialekte abgefaßte Todtenklage lesen, welche mit der Bitte an den Verblichenen abschloß: „nun auch ihm recht bald da droben bei’m himmlischen Vater im großen Büchersaal sein Plätzchen zu bestellen.“ Holtei’s Werke haben dem Trewendt’schen Verlag keinen Schaden bereitet; das beweist allein die Zahl ihrer einzelnen Auflagen; daß auch ihm, dem Dichter, sein gebührend Theil geworden, hat er selbst zu öfteren Malen gern bekannt, und bis in die letzten Jahre hinein war in seinem Einnahmen-Etat diese Firma vertreten.

Es sei bei der Gelegenheit auch ein für alle Mal die alte ungereimte Mär vom Hungerloos der deutschen Dichter, die eigentlich kein Anderer als Dawison an Holtei’s Rockschöße gehängt hat, abgethan. Aus Mißverständniß einer Annonce in Kölbel’s Theaterchronik (so motivirte mir selbst gegenüber Dawison seine gutgemeinte Tactlosigkeit) hatte der berühmte Schauspieler die Directoren der deutschen Bühne aufgefordert, dem „bedürftigen“ Dichter (der alte Herr hatte ja nur gebeten, ihn mit unfrankirten Petitionen zu verschonen, die er doch nicht erfüllen könne) Tantième-Benefize zu veranstalten, und machte selbst damit auf seinen Gastspielen den Anfang. Natürlich wirbelte die Sache viel Staub auf. Kurzum, es dauerte lange, bevor jene leidige Mär wieder zum Einschlafen kam, die bei Niemandem weniger angebracht war als eben bei Holtei. Obschon derselbe nicht der für alle dramatischen Autoren so glücklichen Zeitepoche der Tantièmen angehörte, so haben seine Honorare und Vorlesungen und späterhin die Subventionen der königlichen Hausschatulle und der Schillerstiftung den Dichter stets in die Lage gesetzt, bis zu dieser Stunde und weiter in höchst behaglicher Weise zu leben.

Die stramme preußische Haltung, die Holtei als Politiker stets vertreten und die ihm in früheren Zeiten in manchen Regionen sogar den Vorwurf eintrug: „er sei ein Reactionär“, mag viel dazu mitgewirkt haben, um den alten Fahnenflüchtling, der dem damals noch ziemlich niedrig gradirten Schauspielerstande so manches Jährlein angehört hatte, so volksbeliebt zu machen. Und dieser Vorzug, nicht nur in der kleinen Hütte des Holzschlägers vom Sudetenwald, sondern auch droben im herrlichen Grafenschloß des Kohlen-Eldorados gleiche Popularität zu genießen, darf in Wahrheit den alten Herrn erfreuen.

Nach seiner Uebersiedelung nach Breslau genoß er natürlich bald in allen höchsten Kreisen der Gesellschaft besondere Gunst und selbst die zartbesaitetsten Naturen nahmen vom alten Holtei wohl auch eine schärfere Witzpointe lächelnd auf, die jeden Anderen in ewige Ungnade gestürzt haben würde. In großer Gesellschaft fühlte er sich übrigens nie so ganz wohl. „Wenn ich schon den Frack anziehe,“ sagte er einmal zu mir, „so ist’s mir, als müßte ich zu einer Hinrichtung. Ja, wär’s noch eine auf meinem Schaffot, dann ging’s eher an!“ „Schaffot“ nannte Holtei nämlich das Vorlesepult seiner Recitationen.

Selbst die großen Feste im Palais des Oberpräsidenten (die Herren Schleinitz wie Graf Stolberg zählten zu Holtei’s wärmsten Verehrern) besuchte er in den letzten Jahren nicht mehr; zum kleinen Cirkel, wo man unter sich war, kam er ungleich lieber und dann hatte der „schlesische Boz“, der schon seit fünfundzwanzig Jahren täglich vom Sterben sprach, oft noch recht heitere von echtem Humor durchleuchtete Stunden. Daß das pessimistische Element in ihm immer mehr zunahm, war im Rückblick auf eine so vielfach bewegte Pilgrimfahrt wohl begreiflich, und am wenigsten durfte man’s dem Vielgewanderten verdenken, wenn er früher als mancher Andere mit Shakespeare’s Heinrich dem Sechsten ausrief: „Mein Alter lechzt nach Ruhe.“ Schließlich war ihm ja sein Schreibtisch immer der liebste Freund gewesen, und so lange es noch mit dem Lesen ging, boten Zeitungen und Bücher ihm vollauf Ersatz für die Conversation der Salons. Am großen Weltgetriebe nahm er, seitdem sein politisches und immer treu vertheidigtes Glaubensbekenntniß so glorreich gesiegt hatte, wieder den wärmsten Antheil, und manch herrliches Wort haben wir über die neu erstandene und erstehende Reichsherrlichkeit von dem alten Herrn gehört, das Kunde gab von der ewigen Jugend seines Herzens wie seines Geistes. Auch die fortschreitende Literatur-Entwickelung verfolgte er mit lebhaftestem Interesse; besonders übel kam in seiner drastischen Kritik, die oft in ihrem Cynismus recht weit ging, die neue französische Schule von Dumas fils weg.

Zum Ersatz für die Ausflüge in Rübezahl’s Berge, die nun allgemach unmöglich wurden, unternahm unser Holtei in den letzten Jahren täglich einen Mittagsspaziergang durch die herrlichen und weit über Schlesiens Grenze hinaus mit Recht berühmten Breslauer Promenadenanlagen. Den breiten Filzhut etwas hinterrücks, die linke Wange stets mit schwarzem Seidentuch verbunden, den Stock horizontal mit beiden Händen auf dem Rücken, so schlenderte der alte Herr, dessen lang herabwallendes Silberhaar dem ausdrucksvollen Kopf ein überaus ehrwürdiges Relief verlieh, gemächlich daher. Trotz der etwas vorgebeugten Haltung und des nicht allzu strammen Ganges machte die stattliche Erscheinung dazumal noch immer den Eindruck eines wohlerhaltenen Sechszigers. Wie oft hörte man vor und hinter ihm aus den Gruppen, die hier die schöne Fontainen, dort eine seltene Orientblume anstaunte – Provinzler natürlich oder Bergvölkler – den freudigen Ausruf: „ih, das ist ja der alte Holtei.“ Und dann ein Aufschauen, ein fröhliches Nicken und in allen Augen stolze Freude, daß es ihnen beim Ausflug nach „Gruße Brassel“ durch Zufall vergönnt gewesen „unseren Holtei“ zu sehen. Mit dem Anreden auf der Promenade war’s schon so ein gewagtes Ding; es gab Tage, an denen man damit auch übel ablaufen konnte. „Mir ist dann zu Muth,“ sagte er mir einmal, „wie dem Zecher, der sich ganz allein hinsetzt, um sich einen guten Schluck ganz ungestört anzuthun. Wie sagt die Maria Stuart?

‚Laß mich in vollen, in durstigen Zügen
Trinken die freie, die himmlische Luft.‘

So mein’ ich’s auf meinen Promenaden mit dem Lufttrunk auch. In die Stubengruft, mein Gott, kommt man ja noch immer früh genug zurück.“

Nur einmal habe ich ihn diese weise Lehre völlig außer Acht setzen gesehen. Es war die Nachricht gekommen, daß die große Legislative die Concessionsfreiheit der Theater proclamirt, freilich eine nothwendige Folge der Gewerbefreiheitsgesetze, allein für die betreffenden Kunstbezirke die Quelle des ganzen gegenwärtigen Theaterelendes. Das erkannte der alte Herr mit richtigem Scharfblicke an und mit der ganzen Entrüstung, deren er fähig, hielt er mir eine Strafrede, die mir unvergeßlich:

Finis Poloniae! Jetzt könnt Ihr Alle nach Amerika wandern und Kirschbäume pflanzen. Das Haus am Schweidnitzerstadtgraben[1] sperrt nur gleich zu! Wie soll das denn jetzt noch bestehen, wo jeder Schuster oder Bandeljüd’ sein Kasperletheater mit lebendigen Puppen anthun kann? Sittliche Mission der Kunst – ja wohl, die Concurrenz wird Euer Repertoire schon zurechtstutzen; gebt Acht, ob Offenbach den Herren Mozart und Beethoven noch erlaubt, das Wort zu nehmen! Consolidirung des Schauspielerstandes – ja wohl, das Proletariat wird all seine Blattern in Eure Genossenschaft werfen.“ So ging es weiter, bis eine jener drastischen Schlußperioden, die sich nicht wiedergeben lassen, die entrüstete Rede abschloß.

Fortan war ihm unser städtisches Kunstinstitut „eine verlorene Sache“. Mit ironischem Lächeln und einem „Hab’ ich’s nicht vorhergesagt?“ hörte er dann die einzelnen Schicksalsschläge, welche das hiesige Theater so hart betrafen. Ravené’s Schicksal – [119] der junge Enthusiast büßte bekanntlich die Lust, hier die goldpapierne Directionskrone tragen zu dürfen, mit dem Verlust eines Vermögens von mehr als hunderttausend Thalern – hörte der alte Herr doch nicht ohne Wehmuth. „Man hätt’s ihm ersparen sollen,“ meinte er. Bei dem jungen Heißsporn wäre das indeß wohl kaum möglich gewesen; er stürmte in sein Verderben wie Max Piccolomini in den Tod: „er wollte …“

Wie die „Charpie“ und das „Simmelsammelsurium“ genugsam beweisen, gab es im Schreibtische des alten Herrn auch in dieser Periode noch Mancherlei aufzuräumen, und wer weiß, was auch jetzt noch in der Zeiten Hintergrunde schlummert.

Wie man über den Werth der Holtei’schen Dichtungen auch immer urtheilen mag (in der Parteien Gunst schwebt ja das Bild der Lebendigen immer hin und her), eines steht fest: über sein treu preußisches Herz und sein echt schlesisches Gemüth kann wohl Niemand in Zweifel sein. Es war und ist ihm eigen, was den Mann zum Manne stempelt für alle Zeiten: Wissen und Würde und Tüchtigkeit.

Als nun die Tage kamen, von denen der Mensch mit Recht klagen darf: sie gefallen mir nicht – als Krankheit und Leiden ihn an Zimmer und Bett fesselten und seine Kräfte zusehends erschöpften, und alle seine Freunde allbereits das Schlimmste fürchteten, da zeigte sich Holtei wie sein „alter Feldherr“ würdiglich und gefaßt. Eine Anschwellung am Halse ging, nachdem sie lange schon den alten Herrn vielfach gequält, in offene Eiterung über. Die Aerzte selbst hatten wenig Hoffnung. Um für die nöthige Pflege zu sorgen, entschloß sich Holtei zu den „Barmherzigen Brüdern“ überzusiedeln. Der Entschluß war zu seinem Heil. Das berühmte Kloster that zu seinen vielen Wundern auf dem Gebiete der Krankenpflege ein neues, und der Dichter – ward gerettet. Mit frohem Jubel begrüßte die ganze Provinz diese Nachricht, die anfänglich Manchem wie eine ganz unglaubliche Mär erschien. Und nicht allein, daß der alte Herr außer Lebensgefahr war, nein, er erholte sich zusehends, bekam die Rede wieder und den frohen Ausblick auf eine ungestörte Feier seines achtzigsten Geburtstages und noch, so Gott will, mancher anderer. Die Tage des Festes sind nun schon vorüber; alle Welt weiß, wie allgemein die Theilnahme Schlesiens gewesen bei diesen ihrem Lieblingssohne bereiteten Ovationen. Das war ein Tag der Ernte! Das waren volle und schöne Garben! Das war der Segen eines reichen Tagewerkes! Daß die während eines so langen Lebens und Strebens treu bewährte patriotische und persönliche Anhänglichkeit an den Kaiser und sein Haus von Seiten Sr. Majestät durch Verleihung des Ritterkreuzes des königlichen Hausordens von Hohenzollern (der nur diesem Zwecke gestiftet ist) anerkannt wurde, dürfte sicherlich auch in den weitesten Kreisen mit lebhaftester Genugthuung aufgenommen werden.

Neben den unzähligen Gedichten, Kränzen, Widmungen und Adressen (die erste derselben natürlich vom Magistrate Breslaus), welche am Jubeltage einliefen, sei ein prächtiger Pokal erwähnt, vom Provinziallandtage gespendet. Er trägt die Inschrift, welche diesem Artikel als Ueberschrift vorgesetzt ist: „Suste nischt ack heem“ (weiter nichts als heim), und diese ist einem Gedichte Holtei’s entnommen, in dem sich so recht die innige unauslöschliche Heimathsliebe des Dichters mit all ihrer tiefen Gemüthsinnigkeit ausspricht. Ein armer Bauernbursch hat einem Prinzlein das Leben gerettet. In ihrem überströmenden Danke beschließt die Frau Fürstin, den Jungen fortan wie ihr eigenes Kind zu halten. Er wird auf’s Schloß geholt, prinzlich eingekleidet, und die gute Dame thut Alles, damit’s dem Friedel bei ihr recht wohl sein möge. Der aber steht gar trübselig da, nimmt zusehends ab von Tag zu Tage und will und kann da droben nicht froh werden. Endlich zieht ihn die Frau Fürstin bei Seite und bittet ihn herzinniglich, ihr doch zu sagen, was ihm fehle, oder was er wünsche. Da faßt sich Friedel Muth und meint:

„heem möcht’ isch; suste weiter nischt ack heem“ ...

Und so, meint der Dichter zum Schlusse, sei es auch ihm ergangen. Man habe ihm da draußen in der Welt auch viel Liebes und Gutes gethan, ihn hoch geehrt:

„in grußen Städten und uf hochen Schlössern,“

aber die Sehnsucht nach dem kleinen Häuschen in der „Schläsung“ habe, ihn dabei doch niemals verlassen. Derselbe Grundton durchklingt viele der schlesischen Lieder.

Von den Ovationen, die man dem achtzigjährigen Jubelgreise dargebracht, sei hier nur noch eine erwähnt, nach unserem Dafürhalten die sinnigste und schönste Festgabe, und wie wir annehmen zu können glauben, so recht nach dem Sinne des edlen Dichters. Wir meinen die Holtei-Stiftung, eine zu ewigem Gedächtnisse an jenen Tag (24. Januar 1878) in’s Leben gerufene Unterstützungscasse für alternde und bedürftige Schriftsteller, für die wir auch hier, vor dem weiten Leserauditorium dieses Weltblattes, noch einmal das Wort ergreifen möchten, um in Nord und Süd, in Ost und West alle Freunde und Verehrer des greisen Dichters zur Betheiligung aufzurufen. Bekanntlich hat sich die Kaiserin Augusta, seit Jahrzehnten schon Holtei’s huldvolle Beschützerin, mit einem Beitrage von tausend Mark an die Spitze dieses Unternehmens gestellt, allein um die Idee der Stiftung in segensreicher Weise zu verwirklichen, bedarf es trotz der zeither abgesammelten Summen noch weiterer Betheiligung der großen Masse des Volkes.[2] Auch die Theater, die Liedertafeln, die Clubs in fremdem Lande sollten ihre Mitwirkung kräftiger bethätigen, als dies bisher geschehen ist.

Ich kann diesen Artikel nicht schließen, ohne einige Worte über Holtei’s gegenwärtige Lage und seinen jetzigen Aufenthalt hinzuzufügen, weil ich glaube, ja weiß, daß damit mancher vielfach verbreitete Irrthum wird beseitigt werden können.

„Im Kloster!“ das will Manchem gar nicht in den Sinn. Wer tief im protestantischen Lande lebt und niemals den katholischen Süden mit eigenem Auge sah, hat von einem Kloster meisthin curiose Ansichten. Mir liegt von einem sonst vielseitig gebildeten Manne aus meiner Heimath – dem alten Sachsenlande zwischen Elbe und Trave – eine ernsthafte Anfrage vor: wie es denn möglich sei, daß der Dichter der „Lenore“ auf seine alten Tage die Mönchskutte angethan? Ein Anderer klagt: „und so weit mußte es mit dem Aermsten kommen, daß er bei den Barmherzigen Brüdern um Aufnahme bitten muß.“ Es dürfte nicht überflüssig sein, über diese vielleicht mehr, als man hierorts für möglich hält, verbreiteten Irrthümer einige berichtigende Aufklärung zu geben.

Das Kloster der „Barmherzigen Brüder“ in Breslau also ist (und war seit seiner Stiftung, die in das Jahr 1711 fällt,) absolut nichts anderes als ein Krankenhospital, welches die Armen (und zwar jeder Confession ohne Unterschied) ohne jede Entschädigung bis zu ihrer Heilung pflegt und beherbergt und welches den Bemittelten ein mit allem Comfort der Neuzeit ausgestattetes Pensionat darbietet, damit sie sich in demselben, sei es während einer vorübergehenden Krankheit, sei es auch für den ganzen Lebensabend, verpflegen lassen können. Die Kosten betragen, inclusive Kost, Wohnung, Heizung, Licht, Arzt, Medicin etc., in der ersten Classe etwa fünf Mark pro Tag. In dieser Pensionatsabtheilung, die in dem zweiten Stockwerke liegt, befindet sich Karl von Holtei. Sein Zimmer trägt die Nr. 21, liegt gen Südosten und gewährt einen schönen Ausblick auf Gärten und Fruchtfelder. Unweit des Fensters, auf einem bequemen Lehnstuhle, ist des Dichters Lieblingsplatz und von dort schweift das träumende Auge weit hinaus in sein geliebtes schlesisches Land. Trotz seines hohen Alters fühlt sich der alte Herr jetzt wieder wohl, läßt sich vorlesen, dictirt auch ein Brieflein. Das lange Sprechen wird ihm schwer. Daß er sich entschloß, zu den „Barmherzigen Brüdern“ zu gehen, segnet er jetzt jeden Tag. Der Pater Provinzial, den ich aufsuchte, meinte: „Der alte Herr macht uns täglich mehr Freude, denn er ist ein geduldiger Kranker gewesen und nun ein so lieber Genesender.“ Daß im Pensionat völlige Verkehrsfreiheit herrscht, so weit die Hausordnung dieselbe gestatten darf, versteht sich von selbst. Nur die Glasmalereien und die Heiligenbilder der hohen, luftigen Corridore, erinnern an ein Kloster.

Daß Holtei’s jetzige Einnahmen ihm sehr gut gestatten, sich in diesem trefflichen Pensionat (von Möncherei und Proselytenmacherei ist dieser echt humanitären Anstalt noch nie das Mindeste nachgesagt worden) ganz nach Wunsch zu pflegen, dürfte zur Beruhigung aller seiner Freunde aus dem oben Mitgetheilten genugsam hervorgehen. Also nichts mehr von „Mönchszellen“, „Mönchskutte“, „Hungerloos“ und derlei bösem [120] Gerede! Möge noch mancher freundliche Gruß des Lebens hinein tönen in Holtei’s traulich stilles Gemach! Möge die sanfte Abendröthe, die so friedlich seinem wildbewegten Tagewerk nachleuchtet, noch lange mit ihrem Schimmer sein geliebtes, ehrwürdiges Haupt umfließen, und wenn es einst Zeit ist, möge der Bruder des Schlafes leise eintreten, wie unser Dichter sich’s immer gewünscht: an einem lauen Sommerabend, wenn draußen die Finken schlagen!

  1. Das Breslauer Stadttheater; bekanntlich wurde jene Prophezeiung an diesem Institute in der That nur zu bald vollste Wahrheit.
  2. Der Schatzmeister der Stiftung, Herr Stadtrath Hühner in Breslau, nimmt die Beiträge entgegen.