ADB:Dittes, Friedrich
Diesterweg, ist am 23. September 1829 zu Irfersgrün bei Auerbach im sächsischen Voigtlande als Sohn eines unbemittelten, reich mit Kindern gesegneten Landmanns geboren. Er besuchte die Dorfschule und wurde nebenbei vom Pfarrer des Ortes in einigen Mittelschulfächern unterrichtet. Nach seiner Confirmation faßte er den Entschluß, sich dem Lehrerberufe zu widmen. Er trat deshalb 1844 in das Seminar zu Plauen im Voigtlande ein, das er vier Jahre lang besuchte. Nachdem er die Abgangsprüfung mit günstigem Erfolge bestanden hatte, wurde er zunächst 1848 Schulvicar in Thalheim bei Chemnitz, dann 1849 Lehrer an der Bürgerschule der voigtländischen Industriestadt Reichenbach. Die freie Zeit, die ihm diese Stellung ließ, verwendete er als Autodidact zu sprachlichen und philosophischen Studien. Nachdem er die zweite vorgeschriebene Lehrerprüfung bestanden hatte, nahm er, um seinen Wissensdrang an der Quelle zu befriedigen, Urlaub, ließ sich an der Universität Leipzig als Hörer einschreiben und belegte hauptsächlich philosophische, psychologische und naturwissenschaftliche Vorlesungen. Als nach 1½ Jahr seine beschränkten Mittel zu Ende gegangen waren, sah er sich genöthigt, nach Reichenbach in sein früheres Amt zurückzukehren. 1853 vertauschte er diese Stellung mit einer besseren an der Bürgerschule zu Plauen, wo er vier Jahre lang mit großer Treue wirkte. In seinen Mußestunden beschäftigte er sich nach wie vor mit philosophischen Studien, insbesondere mit den psychologischen und pädagogischen Werken Eduard Beneke’s . Als deren Frucht veröffentlichte er vier Schriften, von denen drei zu seiner Freude mit Preisen gekrönt wurden. 1853 erschien zunächst eine umfangreiche Abhandlung über „Das menschliche Bewußtsein“, in welcher er dasselbe psychologisch zu erklären versuchte und den Eltern und Erziehern Anweisung gab, es nach den Regeln der Pädagogik auszubilden. Im folgenden Jahre gab er eine Untersuchung über „Das Aesthetische“ heraus, das er nach seinem eigenthümlichen Grundwesen und seiner pädagogischen Bedeutung darstellte. 1855 folgte eine Arbeit „Ueber Religion und religiöse Menschenbildung“, in der sich schon deutliche Spuren jenes religiösen Freisinns zeigten, der ihm später die schwersten Kämpfe verursachte. 1856 endlich veröffentlichte er in Anlehnung an Beneke’s Ethik eine „Naturlehre des Moralischen [730] und Kunstlehre der moralischen Erziehung“. Bei diesen Arbeiten waren ihm aber die Lücken seiner bisherigen Bildung immer deutlicher zum Bewußtsein gekommen, und um sie an der Quelle ausfüllen zu können, verließ er 1857 Plauen und begab sich wiederum nach Leipzig, wo er an der von Karl Vogel geleiteten, damals in ganz Deutschland berühmten 1. Bürgerschule eine Anstellung fand. Neben seinem Amte bereitete er sich für die Maturitätsprüfung vor, bestand dieselbe im folgenden Jahre und bezog nun zum zweiten Male die Universität. Er hörte vier Semester lang hauptsächlich philosophische und psychologische Vorlesungen und schloß sich besonders an die Professoren Drobisch und Fechner an. Trotz angestrengter Studien fand er noch Zeit zu schriftstellerischen Leistungen. 1859 verfaßte er eine Untersuchung „Ueber die sittliche Freiheit mit besonderer Berücksichtigung der Systeme von Spinoza, Leibniz und Kant“, die von der Universität mit einem Preise gekrönt wurde und die er im folgenden Jahre gemeinsam mit einer Abhandlung „Ueber den Eudämonismus“ drucken ließ. Um dieselbe Zeit bestand er auch die Prüfung für das höhere Lehramt und erwarb die Würde eines Dr. phil. Da aber seine finanziellen Verhältnisse wenig günstige waren, sah er sich genöthigt, die geplante akademische Laufbahn aufzugeben, von Leipzig zu scheiden und eine Stelle als Subrector an der mit einem Progymnasium verbundenen Realschule in Chemnitz anzunehmen. Hier wirkte er, unterstützt von einer ungewöhnlichen Beredsamkeit, durch zahlreiche Vorträge sehr anregend auf seine Amtsgenossen ein, weshalb ihn der Pädagogische Verein zu Chemnitz zu seinem Vorsitzenden erwählte. Als im October 1864 eine allgemeine sächsische Lehrerversammlung in Chemnitz stattfand, hielt er eine bedeutsame Rede über „Die deutsche Sprache und Litteratur auf den sächsischen Lehrerseminaren“, die eine äußerst scharfe, aber wohlberechtigte Kritik des Lehrerbildungswesens enthielt und nicht nur bei den Hörern, sondern auch weit hinaus über Sachsens Grenzen großes Aufsehen erregte, so daß sich die Regierung zu verschiedenen reformatorischen Maßregeln veranlaßt sah. Unter denen, welche durch diese Rede die hervorragende Begabung und den Freimuth Dittes’ kennen und schätzen gelernt hatten, befand sich auch der Altmeister der deutschen Pädagogik, Adolf Diesterweg. Als dieser daher im folgenden Jahre von der Herzoglich Sächsischen Schulbehörde in Gotha aufgefordert wurde, einen Nachfolger für den eben Verstorbenen Seminardirector Karl Schmidt, den bekannten Geschichtschreiber der Pädagogik, vorzuschlagen, wußte er keine geeignetere Persönlichkeit als D. zu nennen. Dieser wurde denn auch berufen, erhielt den Titel eines Schulraths und trat Ostern 1865 sein Amt als Seminardirector und Landesschulinspector in Gotha an. Als solcher hat er mit großem Erfolge gewirkt und sich durch Bearbeitung eine neuen Lehrplans für das Seminar verdient gemacht, den er 1868 auch im Druck herausgab.
Dittes: Friedrich D., der bedeutendste und einflußreichste liberale Pädagog seitIn diesem Jahre wurde ihm aber in Wien ein neuer, größerer Wirkungskreis eröffnet. In Oesterreich war damals seit 1855 ein Concordat in Geltung, das die Schule und das Lehrerbildungswesen in weitgehende Abhängigkeit vom Clerus gebracht hatte. Im liberalen Wiener Gemeinderath tauchte nun seit 1864 der Wunsch auf, das öffentliche Schulwesen durch gründlichere und vielseitigere Ausbildung der Lehrkräfte zu verbessern und zu diesem Zwecke eine den Bestimmungen des Concordats nicht unterworfene Fortbildungsanstalt für Lehrer zu gründen. Die Niederlage des Jahres 1866, die zu der bekannten Meinung führte, daß der preußische Schulmeister bei Königgrätz gesiegt habe, brachte den Plan vollends zur Reife. Nach langwierigen Verhandlungen mit der reactionären, von der Geistlichkeit beeinflußten Schulbehörde wurde endlich 1867 die Erlaubniß zur Errichtung einer derartigen Anstalt [731] ertheilt, die auch im folgenden Jahre unter dem Namen Pädagogium ins Leben trat. Für die Directorstelle hatten sich nicht weniger als 59 Bewerber gemeldet. D. war nicht unter ihnen, wurde aber doch, obwol er Protestant und Ausländer war, nahezu einstimmig gewählt. Trotzdem er wußte, daß er schweren Kämpfen entgegenging, nahm er das verantwortungsreiche Amt an. Seine Thätigkeit in Wien war eine sehr vielseitige. Zunächst hatte er für die freiwillig in großer Zahl sich einstellenden Lehrer regelmäßig Vorträge aus dem Gebiete der Pädagogik und der verwandten Wissenschaften zu halten, die großen Beifall fanden. 1870 wurde er überdies vom Gemeinderath in den niederösterreichischen Landesschulrath entsendet, wo er mannhaft für die Freiheit der Schule gegenüber den Herrschaftsgelüsten der Clericalen eintrat. 1873 wählte ihn der Wiener Bezirk Landstraße in den Reichsrath. Hier trat er der demokratischen Partei bei und erregte wiederholt die Aufmerksamkeit des Hauses durch packende und lichtvolle Reden, in denen er sich gegen die Feinde des liberalen Schulgesetzes von 1869 wendete. Neben dieser amtlichen und parlamentarischen Thätigkeit entfaltete er mit staunenswerther Arbeitskraft eine reiche litterarische Production. Von vielen Seiten aufgefordert, die Ergebnisse seiner Vorträge im Pädagogium auch denen mitzutheilen, die ihn nicht hören konnten, verfaßte er fünf Lehrbücher über die wichtigsten pädagogischen Disciplinen, die in zahlreichen Auflagen Verbreitung fanden und nach der übereinstimmenden Meinung aller urtheilsfähigen Fachleute zu dem Besten gehören, was auf diesem Gebiete hervorgebracht worden ist. 1868 erschien sein „Grundriß der Erziehungs- und Unterrichtslehre“, 1871 die „Geschichte der Erziehung und des Unterrichts“, 1872 das „Lehrbuch der praktischen Logik“, 1873 das „Lehrbuch der Psychologie“ (diese beiden wurden 1874 als „Lehrbuch der Psychologie und Logik“ zusammengefaßt) und 1874 die „Methodik der Volksschule auf geschichtlicher Grundlage“. Eine Gesammtausgabe dieser fünf Werke kam zuerst 1876 und seitdem öfters unter dem Titel „Schule der Pädagogik“ heraus. Von seinen sonstigen pädagogischen Schriften aus dieser Zeit möge noch „Das Lehrerpädagogium der Stadt Wien“ 1873, ein Ueberblick über die Einrichtung dieser Anstalt und über seine Wirksamkeit an derselben erwähnt werden. Seit 1878 widmete er seine Arbeitskraft hauptsächlich der pädagogischen Presse. Schon 1873 hatte er die Redaction des bis dahin von August Lüben herausgegebenen „Pädagogischen Jahresberichts übernommen, für den er eine Menge gehaltvoller Referate über neu erschienene Werke pädagogischen und philosophischen Inhalts lieferte. 1878 gründete er, da ihm die zahlreichen Schul- und Lehrerzeitungen vielfach an Seichtigkeit und Geschwätzigkeit zu leiden schienen, ein neues, in Monatsheften erscheinendes Blatt, „Das Pädagogium“, das sich durch Gediegenheit und Vornehmheit des Inhalts bald eine führende Stellung errang. Er hat in demselben zahlreiche Abhandlungen über die verschiedensten Fragen der Pädagogik niedergelegt, mußte es aber wenige Wochen vor seinem Tode wieder eingehen lassen.
Da er sich in seinen Reden und Schriften stets als ein freisinniger und freimüthiger Mann zeigte, gewann er neben vielen Freunden auch zahlreiche Gegner. Diesen war seine einflußreiche Stellung am Pädagogium ein Dorn im Auge, und unter Anwendung aller, auch der verwerflichsten Mittel bestrebten sie sich, ihn zu stürzen. 1881 wurden ihre langjährigen Bemühungen von Erfolg gekrönt. D. mußte sein Amt aufgeben und wurde in den Ruhestand versetzt. Doch durfte er in der Abschiedsrede seinen clericalen Gegnern mit Recht zurufen: „Ihr könnt nicht mehr vernichten, was ich geschaffen habe. Die Zukunft wird entscheiden, welche Aussaat kräftigere Halme treiben wird, [732] die eurige oder die meinige“. Seine Arbeitskraft und seine Kampfeslust waren ungebrochen, und er zeigte sich auch in den folgenden Jahren unermüdlich darauf bedacht, die Lehrerschaft aufzuklären und ihren Bildungsstandpunkt zu heben. 1884 erhielt er einen ehrenvollen Antrag, unter ganz besonders günstigen Bedingungen nach Chile zu gehen und dort als Universitätsprofessor zu wirken, doch lehnte er ab, da er nicht den Zusammenhang mit der deutschen Lehrerwelt verlieren wollte, der zu nützen und auf die im freiheitlichen Sinne einzuwirken sein Lebensziel war. Bedeutende Wirkungen erzielte er namentlich durch seine Reden, so 1888 auf einer österreichischen Lehrerversammlung in Wien durch seine Gedächtnißrede auf Amos Comenius, den Reformator der Pädagogik, und 1890 auf dem deutschen Lehrertag in Berlin durch seine Ansprache zur Feier des 100jährigen Geburtstages von Adolf Diesterweg. In seinen letzten Lebensjahren war er infolge allzu großer Ueberarbeitung und mannichfacher Aufregungen in den Kämpfen gegen seine Feinde fast immer kränklich. Am 15. Mai 1896 starb er auf seiner Besitzung in Preßbaum bei Wien. In Matzleinsdorf liegt er begraben. Die sächsische Lehrerschaft hat ihm 1898 in seinem Geburtsorte ein Denkmal errichtet.
D. war von mittelgroßer, hagerer Gestalt, etwas gebückt und bartlos. Er hatte eine stark gebräunte Gesichtsfarbe, früh ergrautes Haar und einen scharfen durchdringenden Blick. Er besaß eine ungewöhnliche Begabung, die ihn befähigte, fast alle germanischen und romanischen Sprachen zu verstehen, ein umfassendes Wissen, eine unermüdliche Arbeitskraft und eine hinreißende, gedankenreiche, allezeit schlagfertige, für tiefen Ernst wie für bittern Hohn gleich geeignete Beredsamkeit. Freimuth, Wahrheitsliebe und Ueberzeugungstreue bildeten die Grundzüge seines Charakters. „Nicht abwärts noch rückwärts, sondern aufwärts und vorwärts“ war sein Wahlspruch. Eine grundsätzliche Hochachtung hegte er vor dem Rechte des Individuums, vor jeder freien, auf Ueberzeugung beruhenden Meinungsäußerung. Autoritätsglaube und Sectengeist, „jeder –ismus und alle –ianer“, wie er sich auszudrücken pflegte, vor allem Absolutismus, Feudalismus, Clericalismus und Bureaukratismus, galten ihm als Unterdrücker des Individuums und deshalb als verwerflich. In philosophischer Hinsicht schloß er sich an Beneke an, mit dem er während seiner Studienzeit persönliche Beziehungen unterhalten hatte. Dagegen sagten ihm die Lehren Herbart’s und seines Nachfolgers Ziller, die in pädagogischen Kreisen viel Anklang fanden, nicht zu. In politischer Beziehung war er überzeugter Demokrat. „Die Demokratie, wie ich sie auffasse“, sagte er, „ist die Herrschaft des Rechtes, der Sittlichkeit, der Ordnung, der Freiheit. Sie hat nichts gemein mit Pöbelherrschaft, steht aber in entschiedenem Gegensatze zum Absolutismus und zu den Ausartungen der Bureaukratie“. In religiöser Hinsicht stand er auf dem Boden einer vernunftgemäßen Auffassung des Christenthums. Er hielt zwar am Gottesbegriff und am Unsterblichkeitsglauben fest, doch wollte er die Religion von allem dogmatischen Beiwerk befreien und lediglich auf die Ethik begründen. Die Macht des Clerus wünschte er eingeschränkt zu sehen, insbesondere sprach er demselben das Recht ab, sich in die Angelegenheiten der Schule zu mischen. „Die Schule“, behauptete er im Anschluß an ein Wort der Kaiserin Maria Theresia, „ist ein Politicum, ist Staatsanstalt, kein Ecclesiasticum, darf also nicht dienende Magd der Kirche sein“. Sein Ideal war die confessionslose, von Theologen und Juristen unabhängige, lediglich von pädagogisch gebildeten Fachleuten verwaltete und beaufsichtigte Schule, mit einem Worte „die freie Schule im freien Staat“. Daß ein Mann von so ausgesprochener Eigenart des Charakters viele Feinde fand, ist nicht zu verwundern. Die Bureaukraten warfen ihm [733] Untergrabung der staatlichen Autorität vor und wendeten das erprobte Mittel an, ihn als nicht recht zurechnungsfähig zu erklären. Noch 1890, als er bereits auf der Höhe seines Ruhmes angelangt war, nannte ihn die amtliche Leipziger Zeitung einen spaßhaften Schwätzer. Die Clericalen brandmarkten ihn als Atheisten und Antichristen. Auch in Lehrerkreisen, namentlich soweit sie durch Herbart und Ziller beeinflußt waren, erhob sich mannichfacher Widerspruch gegen ihn. Allen diesen Anfeindungen setzte er das Bewußtsein entgegen, stets nach bestem Wissen und besten Kräften für das Wohl der Schule, des Lehrerstandes und der Volksbildung gewirkt zu haben.
- Zens, Fr. Dittes (Jahrbuch d. Wiener Pädagogischen Gesellsch. 1882). – Nachrufe in d. Allgemeinen deutschen Lehrerzeitung, Preußischen Lehrerzeitung und Sächsischen Schulzeitung 1896. – Köhler, Zur Erinnerung an Fr. Dittes (Rheinische Blätter f. Erziehung u. Unterricht 1896. LXX, 289–308). – Brümmer, Fr. D. (Biogr. Jahrbuch 1897. I, 243). – Drewke, Fr. D., eine Gedächtnißrede. Bielefeld 1897. – Frisch, Fr. D. (Biographieen österreich. Schulmänner 1897, S. 204–225). – Wittrisch, Fr. D. und seine Verdienste um die deutsche Volksschule (Sächs. Schulztg. 1897, S. 642). – Zens, Gedächtnißrede auf Fr. D. (Jahrbuch d. Wiener Päd. Gesellsch. 1897). – Görth, Fr. D. in seiner Bedeutung f. die Mit- u. Nachwelt. Leipzig 1899. – Zur Kenntniß seines Charakters und seiner Leistungen tragen auch folgende gegen ihn gerichtete Schriften bei: Foltz, Die metaphysischen Grundlagen der Herbartschen Psychologie und ihre Beurtheilung durch Dr. D. Gütersloh 1886. – Kurth, Herr Dr. D. als philosophischer Kritiker beurtheilt. Dresden 1886. – Thilo und Flügel, D. über die praktische und theoretische Philosophie Herbarts. Langensalza 1886. – Stauracz, Der Schlachtengewinner D. und sein Generalstab, oder ein Jammerbild österreichischer Schulzustände. Unglaubliche Leistungen importirter und einheimischer Schulkünstler, aus den Schriften und Reden derselben zu Nutz und Frommen der „Vereinigten Christen“ festgenagelt. Wien 1889. – Witte, Dr. D. und sein Ideal, die confessionslose Volksschule. Ruhrort 1890.