ADB:Ranke, Ernst

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Artikel „Ranke, Ernst“ von Theodor Werner. in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 199–205, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ranke,_Ernst&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 10:08 Uhr UTC)
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Ranke: Ernst Constantin R., D. und Professor der Theologie und Consistorialrath in Marburg, geboren am 10. September 1814 in Wiehe in Thüringen, † am 30. Juli 1888 in Marburg. „Das Geschlecht der Ranke, das auf eine ununterbrochene Reihe von Pfarrern in den Thüringer Landen bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zurückblickt, trieb im vorigen Jahrhundert fünf männliche Sprossen. Der älteste von ihnen war der Historiker Leopold von Ranke [s. A. D. B. XXVII, 242 ff.], der zweite Bruder, Heinrich [ebd. XXVII, 233 ff.], wirkte zuletzt als Oberconsistorialrath in München; Ferdinand, der dritte [ebd. XXVII, 240], ist noch vielen Mitlebenden als Director der vereinigten Anstalten Friedrich Wilhelm-Gymnasium, der Königl. Real- und der Elisabethschule in Berlin bekannt; der vierte Bruder, Wilhelm, ein Kunstkenner und -Sammler, verbrachte die letzten Jahre seines Lebens als Regierungsrath a. D. in Berlin; der jüngste Bruder endlich, durch einen Unterschied von 20 Jahren von dem ältesten, Leopold, getrennt, war mein Vater, D. E. C. R.“ So beginnt ein bei der Verlagshandlung der Allgem. Deutschen Biographie 1906 erschienenes herzerfrischendes, köstliches Buch, das die ebenso geistvolle wie schriftstellerisch hochbegabte Tochter Ranke’s, Frau [200] Geheimrath Hitzig geb. Ranke in Halle a. S., in kindlicher Pietät dem Andenken ihres verklärten Vaters geweiht hat, der als ein heller, aber zugleich freundlich milder und segensvoll strahlender Stern, zwar nicht der ganzen gelehrten und gebildeten Welt aller fünf Erdtheile, wie sein großer Bruder Leopold – aber doch seiner heimischen heißgeliebten Landeskirche geleuchtet hat und dessen Strahlen auch in das weitere deutsche Vaterland hinaus erglänzt sind. Zum Zeugniß für das Letztere sei nur beiläufig hervorgehoben, daß es wesentlich der Befürwortung E. Ranke’s zuzuschreiben ist, daß die Bedenken behoben wurden, die Kaiser Wilhelm und sein Cultusminister in ihrem schlichten, frommen Sinne gegen die Berufung des jungen Marburger Professors Adolf Harnack hatten, so daß diesem unstreitig hochbedeutenden Manne eine Laufbahn erschlossen wurde, die ihm selbst hohe Ehren gebracht hat und weitgehenden Einfluß auf die christliche und theologische Entwicklung und Fortbildung unserer Zeit ausgeübt hat.

Ernst R. hat in demselben großen steinernen Hause wie Leopold als Sohn des Gerichtsdirectors Gottlob Israel R. und seiner Ehefrau Friederike geb. Lehmicke daß Licht der Welt erblickt, auf das zärtlichste umsorgt von seinen schon nicht mehr jungen Eltern, die ihn bis tief in das zweite Jahr in der Wiege liegen ließen, was freilich nicht hinderte, daß ihn der Vater gleich nach der Geburt tüchtig mit Salz einrieb, „damit er zeitlebens eine reine Haut behielte“. Wie wohl fast überall zur damaligen Zeit – es war die Zeit, in welcher die von den Befreiungskriegen her mit ihren starken religiösen Anstößen hochgehenden Wogen zum Leidwesen aller edlen Geister, die sie mit durchlebt, durchkämpft, durchlitten, rasch wieder abflauten –, war auch des jungen R. erster Unterricht in der Schule, namentlich auch in der christlichen Religion ein recht dürftiger, so daß es wesentlich dem Einflusse des elterlichen Hauses zu danken war, daß die edelsten Güter des Herzens, kindlich frommer Glaube, innige Ergebung in Gottes Führungen, rührende Dankbarkeit für alle Wohlthaten, die ihm von Oben und durch edle Menschen zukamen, in R. zu schönster Blüthe und segensreicher Frucht sich auswachsen konnten. R. hat solcher Helfer viele gehabt, wie er mit unendlicher Erkenntlichkeit zu rühmen wußte in Wort und Schrift, in ungebundener und gebundener Rede, wie aus seinen ebenfalls im Druck erschienenen Briefen hervorgeht. Nächst seinen Eltern hat er in diesen Briefen seinem Bruder Leopold ein unvergängliches Denkmal gesetzt, der ihm nicht bloß in brüderlicher, sondern fast väterlicher Liebe zugethan gewesen ist, auch als schon das Haar Ranke’s die ersten Spuren nahenden Alters zeigte. Nicht minder zart war das Band, das ihn mit seinem Bruder Heinrich, dem leider zu früh von hinnen gegangenen lauteren frommen Gottesmann, verband, von dessen Heimgang der große Meister der Geschichte schreibt: „Wenn für irgend Jemand der Tod nur ein leichter Uebergang war, so ist das bei Heinrich der Fall gewesen. Er hörte auf zu athmen: das war sein Tod; kaum konnte man ihn bemerken“. Diesem ihm durch des gleichen Berufs Interessen wohl am innigsten verbundenen Bruder hat E. R. das zarteste Gedächtniß bewahrt.

Nicht minder unvergessen sind dem Herzen Ranke’s seine Lehrer auf der Fürstenschule Schulpforta eingeprägt geblieben, durch deren klösterliche Mauern alle fünf Ranke’s hindurchgegangen sind. Die mit solchen Internaten verbundenen segensreichen Einwirkungen, sittlicher Ernst, Gewissenhaftigkeit und Fleiß in der Verwendung der Zeit, Gewöhnung an größte Regelmäßigkeit in der äußeren Lebensführung, strenge Zucht bis in das Kleinste, alles Vorzüge, denen gegenüber die landläufigen Einwendungen nur wenig ins Gewicht fallen, haben sich auch an E. R. segensreich bewährt, wie denn auch umgekehrt die [201] Alma Mater Portensis in ihrem jährlichen „Ecce“ (Nachrufe und Lebensbeschreibungen der im verflossenen Jahre abgerufenen Fürstenschüler – ebenso in Grimma und Meißen) den Ranke’schen Brüdern je ein ehrenvolles Andenken gewidmet hat.

Das unmittelbare Beieinanderwohnen in einer solchen geschlossenen Anstalt führt auch am ehesten gleichgestimmte Geister zu oft lebenslänglicher Freundschaft zusammen; so sollte denn auch unserm R. beschieden sein, solch köstlichen Fund eines wahrhaften Herzensfreundes zu thun, der bei aller Verschiedenheit der Lebensverhältnisse, der späteren Lebensführung, der Wirksamkeit im öffentlichen Leben doch mit unentwegter Treue an ihm festgehalten hat, in sich ihm aufdrängenden religiösen und kirchenpolitschen Fragen bei ihm Rath gesucht und gefunden hat und hinwiederum ihm gleichen freundschaftlichen Gegendienst hat leisten dürfen, der bekannte, als conservativer Vorkämpfer und Rufer im Streit in der vordersten Schlachtreihe stehende unerschrockene „pommersche Landjunker“ Hans v. Kleist-Retzow (s. A. D. B. LI, 191 ff.), lange Jahre ein begeisterter Verehrer und Mitstreiter des „eisernen Kanzlers“ Fürsten von Bismarck, ebenso klar, ebenso knorrig, ebenso kernig und ungestüm wie dieser, bis die Wege Beider in der inneren, namentlich kirchlichen Politik scharf sich schieden, so daß sie dann, wenn auch ritterlich fechtend, im Parlamente oft schneidig gegen einander „auf der Mensur“ standen. Es ist wundersam und doch zugleich lieblich zu sehen, wie zwei bedeutende Männer wie R. und Kleist-Retzow mit so verschiedenen Gaben des Temperaments und Charakters ausgestattet, doch in herzlicher Einigkeit des Geistes sich in den Tagen vereinsamten Alters noch umfassen, wie ein halbes Jahrhundert vorher in der sonnigen Jugendzeit; ein schönes Zeugniß dafür, wie der Geist Gottes die Unterschiede der menschlichen Geistesgaben nicht aufhebt, sondern sie heiligt und verklärt, so daß sie einer himmlischen Sache dienstbar werden.

Die liebe Studentenzeit, die da fröhlich ist, auch wenn kein Groschen Geld in der Tasche ist, führte den neugebackenen Studenten nach vorzüglichem Examen nach Leipzig, wo er, seinem Wunsche gemäß, Philologie und Theologie studiren sollte. Schmalhans mag manchmal der Küchenmeister gewesen sein, und es muthet ergreifend an, wenn wir hören, wie er merkt, daß es dem Vater sehr schwer wird, nach dem Aufbringen der Kosten für vier Söhne und zwei Töchter auch noch für den Jüngsten zu sorgen und dieser beschließt, nur ein Mal um das andere zu Mittag zu essen und an dem dazwischen liegenden Tage für sechs Pfennige Semmel zu verzehren und es gehört wohl der ganze ungebrochene Lebensmuth der Jugend dazu, in solcher Lage noch zu singen:

Ich habe nichts! welch hohes Wort,
Es glüht mir durch die Wangen.
Jetzt ging der letzte Sechser fort,
Auf, seist du wohl gegangen, u. s. w.

Von Leipzig weiß der junge Student nicht allzuviel Erfreuliches fürs Studium zu berichten. Anders ward dies durch seine Uebersiedlung nach Berlin; schon die Nähe seines ältesten Bruders, der dort auf dem Lehrstuhle für die Geschichte sich zur Zierde der Universität herauswuchs, gab seinem Schicksale eine freundliche Wendung, und daß ihm am Eingange der Universität, bei dem ersten Wege dorthin, sein Jugendfreund v. Kleist-Retzow begegnete, mit dem er dann 11/2 Jahre lang, sammt einem beiderseitigen Jugendfreunde v. Rechenberg, die gleiche Wohnung theilte, hat R. zeitlebens als eine besonders gütige Fügung seines himmlischen Vaters angesehen.

In Ranke’s Berliner Studienzeit fällt der Heimgang seiner bejahrten [202] Eltern; beide verstarben in Erfurt im J. 1836; mitten in die Trauer des Sohnes auch sein Abgang von Berlin, da für das letzte Studienjahr die rheinische Universität Bonn namentlich wegen des dort docirenden Theologen Nitzsch gewählt worden war. Wiederum eine Gnadenführung Gottes! Sollte er doch dort in dem Hause des Geheimrath Professor Nasse, und zwar in dessen ebenso lieblicher wie herzgewinnender Tochter Theoda, die Lebensgefährtin finden, die ihm in unaussprechlicher Liebe als Weib und Mutter, Pfarrfrau und Professorsgattin treu bis in den Tod gedient hat, der seine zartesten Gedichte gewidmet waren, deren seliges Ende er ergreifend beschrieben und um die seine Poesie in den rührendsten Tönen geklagt hat. Dieser trefflichen Frauengestalt hat in ihrem glücklichen Brautstande kein Geringerer ein köstliches Brautlied „zur künftigen Erinnerung“ gesungen als der herrliche Ernst Moritz Arndt: „Es stand ein Blümlein hold und fein, Gar freundlich und bescheiden“ etc. (zu lesen in dem in der Litteratur angeführten Werke S. 42 f.). Es war dem Herzen des 1860 zum Wittwer Gewordenen nicht möglich, einen zweiten Ehebund zu schließen; wurde ihm doch auch durch die aufopfernde Fürsorge seiner drei Töchter der herbe Verlust, soweit es der Kindesliebe möglich ist, liebevoll ersetzt.

Von treuen Segenswünschen Aller begleitet, durch der fürsorglichen Schwiegereltern Liebe reichlich ausgestattet, zog der nach „sehr wohl“ bestandenen Examinas zum Pfarrer berufene glückliche, junge Ehemann in das im Fichtelgebirge still und friedlich gelegene kleine Dörflein Buchau ein, um dort seiner „ersten Liebe“ im Amt, seiner ersten Liebe im Hause zu leben, die bald von drei blühenden Töchtern umspielt wurde; dieser Waldesfrieden wurde nur einmal gestört und umtobt von den wilden Horden des Revolutionsjahres 1848, in dem nicht bloß Hab und Gut, auch Leib und Leben des Pfarrers der durch jene finsteren Geister aufgewiegelten Gemeinde ernstlich bedroht war. Der Gefahr, auf einsamer kleiner, wenig Arbeit, noch weniger Verkehr und geistige Anregung bietender Pfarrstelle zu verkümmern oder auf das Niveau der Gewöhnlichkeit herabzusinken, wußte der junge Prediger tapfer zu begegnen, indem er gegen jene Gefahr sich wappnete mit gründlichen wissenschaftlichen Studien in der Theologie und verwandten Wissensgebieten; gegen diese schützte ihn der Umgang mit seiner feingebildeten Gattin, die Freude an geliebten Kindern. Freilich regte sich in dem reichbegabten, für alles Hohe erglühenden, besonders auch mit feinsinnigem Verständniß für die edle Tonkunst ausgestatteten Gottesgelehrten nach und nach die Sehnsucht, die ihm von Gott verliehenen Gaben in einem größeren Wirkungskreise Vielen, Gebildeteren nutzbar werden zu lassen, ein Wunsch, den sein Bruder Leopold lebhaft theilte, ohne ihm doch zu dessen Erfüllung helfen zu können. Zwar hatte es den Anschein, als sollte sein Lebensweg ihn in nächste Nähe seines Freundes v. Kleist-Retzow führen, als dieser als Mitpatron der städtischen Pfarrstelle in Polzin in Pommern ihn zur Gastpredigt aufforderte. Allein unglaubliche Hetzereien der noch von 1848 her in Gärung befindlichen Bevölkerung, bei der er durch die Partei der sogen. „Lichtfreunde“ als „Pietist“, „Frömmler“ und wie diese Schlagworte lauten, verschrien worden war, ließen die Sache sich zerschlagen, ehe sie noch recht in Fluß gekommen war. Sicherlich nur zu seinem und der Seinigen Heil! Ebenso scheiterte eine von Zürich aus an ihn ergehende Berufung als außerordentlicher Professor der Theologie an der männlichen Festigkeit, mit der er es ablehnte, in der reformirten Kirche lehren zu müssen. Wer da weiß, was es für einen gelehrten, einsamen Gebirgsdorfpfarrer sagen will, die Gelegenheit auszuschlagen, in eine so ersehnte ferne, mit vielen besonderen Vorzügen ausgestattete Stellung eines Universitätsprofessors [203] übergehen zu können, wird den Muth der Entsagung und die feste Glaubensentschlossenheit des lutherischen Mannes bewundern müssen, der dann Jahre hernach mit derselben Freimüthigkeit im Gegenspiel in den Wirren der hessischen Landeskirche entschieden Stellung genommen hat gegen eine auf die Spitze getriebene Orthodoxie in der sogenannten „Vilmar’schen Bewegung“.

Doch die Zeit sollte nicht mehr fern sein, in der die in der Stille ländlicher Abgeschiedenheit auf dem Gefilde der Wissenschaft ausgestreute Saat zur goldenen Frucht heranreifte. Sein bedeutendes, von den Gelehrten mit einhelligem Beifall aufgenommenes Werk „Das kirchliche Pericopensystem“ (Berlin 1847), hatte die Aufmerksamkeit der Universitäten auf den jungen hochstrebenden Theologen gelenkt und die theologische Facultät zu Marburg war es, welche R. als ordentlichen Professor in ihre Mitte berief.

Hoher Freude voll über diesen Ruf – seine Briefe aus jener Zeit klingen wie „Psalmenlieder in höherem Chor“ – steuert R. mit von frohester Hoffnung geschwellten Segeln sein Lebensschifflein in diese Strömung, die ihn in glücklichster Fahrt zuletzt auch in den Hafen des Friedens bringen sollte und ihn in jahrzehntelanger fleißiger Docentenarbeit an dem heranwachsenden Theologengeschlechte und in Mitwirkung an den Maßnahmen und Beratungen des hessischen Kirchenregiments diejenigen Fähigkeiten sich entfalten, die ihn vor vielen Anderen würdig erscheinen ließen, daß sein Name in der Allgem. Deutschen Biographie neben denen seiner Brüder Leopold, Heinrich und Ferdinand mit hohen Ehren genannt werde.

In Marburg las R. vor allem über Einleitung in das Neue Testament und Exegese über die Evangelien und Episteln, doch entfaltete sein vielseitiger Geist seine Schwingen auch nach anderen Richtungen; so hielt er öffentliche Vorlesungen über das Leben der hl. Elisabeth, über die Geschichte des christlichen Kirchengesangs und über die Geschichte der deutschen christlichen Poesie, wobei er die Freude hatte, auch Männer in Amt und Würden, u. A. den ehemaligen kurhessischen Minister v. Hassenpflug, zu seinen Hörern zählen zu dürfen. Bei letzterem Colleg nahm die Besprechung Klopstock’s mehr als den dritten Theil der Zeit in Anspruch; Bruder Leopold schreibt unterm 19. Oct. 1864 an Heinrich R. darüber: „Unter den Lebenden wird Ernst wohl der beste Kenner dieses Dichters sein, der mit seiner Idealisirung des protestantischen Glaubens, seinen von dem Gefühl der Unsterblichkeit durchdrungenen Mahnungen einst auch meine sowie Deine Jugend beherrschte“. Namentlich der kirchliche Chorgesang, mit Ausführung von Oratorien und anderen Meisterwerken, dankt ihm, der einen eigenen Concertverein dazu ins Leben rief (heute unter der Leitung eines besonderen Directors stehend), die fruchtbarste Anregung und uneigennützigste Förderung. Seine rastlosen Bemühungen auf diesem Gebiete erwarben ihm auch das uneingeschränkte Lob des größten damals lebenden Meisters der kirchlichen Musik, Franz Liszt, der bei einem vorübergehenden Aufenthalte bei seinem Vetter Professor Dr. jur. v. Liszt daselbst in anerkennendster Weise von seinen Bestrebungen Kenntniß nahm. Nur ein so fleißiger, mit seiner Zeit haushälterischer Gelehrter wie R. konnte derartige Studien treiben, ohne die Hauptfächer zu vernachlässigen. R. schreibt einmal: „Wenn ich um 2 Uhr aufstehe, muß ich mich sehr ermannen, um arbeiten zu können. Besser ist regelmäßig um 5 Uhr. Das schafft gute Morgenstärke“. Es lag wohl in dem Charakter der Rankes überhaupt, als Erbtheil von den Vätern überkommen, daß der Mann, der so rüstig noch im hohen Alter meilenweit seine schöne und geliebte Heimath durchstreifte, der so gern mit seinen Kindern singend durch den Wald zog und, an einen Baum [204] gelehnt, vom Golde der Abendsonne überstrahlt den Stimmen seiner Töchter lauschte, um dann in stillem Gottesfrieden dem trauten Heim zuzuwandern, nicht ohne jedem begegnenden armen Handwerksburschen mit klingender Gabe zugleich ein freundliches Grußwort zu spenden – daß dieser Mann kaum etwas herrlicheres kannte, als hinter den dicken Mauern alter Bibliotheken zu sitzen und auf Schätze zu schürfen und Schätze zu heben, die in uralten Handschriften von gelehrten Männern niedergelegt, einen vielhundertjährigen todähnlichen Schlaf zu schlummern schienen. Mit seinem theuern Bruder hat er oft einen großen Theil seiner ihm so lieben „Professorenferien“, täglich stundenlang lesend, sichtend, excerpirend hinter verstaubten Folianten zugebracht. Es berichtet hierüber seine Tochter:

»Vornehmlich galten seine Arbeiten der kritischen Textforschung ältester Bibelhandschriften, die er mit unermüdlichem Spürsinn in alten Codices, ja sogar im Innern von deren Einbänden, zu welchen in früheren Zeiten derartige alte Handschriften verständnißlos verwendet worden waren, aufgefunden hatte. Die Entzifferung dieser uralten, vom Zahn der Zeit zerstörten, von Mäusen angefressenen Pergamentblätter war äußerst mühevoll. Es kam darauf an, mittelst Lupe und Chemikalien die ursprünglichen, später aus Sparsamkeitsrücksichten von den Mönchen mit Bimsstein wieder weggeriebenen Schriftzeichen unterhalb der darüber befindlichen zweiten Schrift (oft weltlichen Inhalts) wieder ans Tageslicht zu fördern. Dank meines Vaters großer Geduld und seiner genauen Kenntniß der alten Sprachen, sind ihm wiederholt derartige werthvolle Textherstellungen auf eine ihn beglückende Weise gelungen, und die Herausgabe u. a. der Itala-Fragmente und hauptsächlich des Codex Fuldensis gehören zu den Früchten dieser Bemühungen. Vom Codex Fuldensis schreibt er in seiner Festschrift zum 50jährigen Jubiläum der Universität Berlin: „Ein Codex von hohem Glanz, der, wie glaubwürdig berichtet wird, von Bonifacius über die Alpen herübergebracht worden ist und das Alter des Bonifacius noch um zwei Jahrhunderte überragt“.«

Schon frühe hatte ihm die theologische Facultät zu Marburg das Ehrendoctorat verliehen. Unterm brennenden Weihnachtslichterbaum überreichte ihm am heiligen Abend 1850 der Decan Consistorialrath Scheffer das theologische Doctordiplom. Es müßte nicht R. gewesen sein, wenn er nicht dieses freundliche Zusammentreffen als eine besonders himmlische Fügung mit doppelter Dankbarkeit empfunden hätte.

Freilich, ganz ungetrübt sollten auch Ranke’s Tage in dem friedlichen Universitätsstädtchen nicht dahinfließen: schon oben wurden die sog. Vilmarschen Streitigkeiten erwähnt. Ein Professor der Theologie mußte nothwendig dazu Stellung nehmen; daß er sie gegen Vilmar nehmen mußte, einem Gelehrten von unbeugsamer Zähigkeit, reichem Wissen und Können, dem R. selbst bei seinem Begräbnisse das Zeugniß gibt, daß er ein „ganzer Mann“ gewesen sei, hat Niemand schmerzlicher beklagt als R. Viel bitterer aber hat er das Weh empfunden, das durch persönliche, verletzende Verlästerungen durch seinen Gegner ihm der Landesgeistlichkeit gegenüber in Wort und Schrift zugefügt ward, und es ist ein mächtiges Zeugnis für sein Christenthum, daß er, nach solchen Schädigungen seiner Ehre, die ihn eine ihm zugedachte Landes-Superintendentur mit den Worten ablehnen ließ: „Im Frieden kann ich Gutes wirken, im Unfrieden nichts“, noch schreiben konnte: „Das Schicksal, beleidigt zu werden, kann nur durch Gebet für den Beleidiger ertragen und überwunden werden. Aber ehe es dazu kommt, ist viel Unruhe im Herzen. Man fragt sich: wie stehst du in der Welt da? wie arbeitest, wie erfüllst du deinen Beruf? Was ist da zu bessern?“

[205] Die Hand Gottes, in die er seine Sache, auch seinen Gegner fürbittend gelegt hatte, hat R. auch wieder erhöht; seine Ernennung zum Consistorialrath, und damit zum Mitgliede der obersten Kirchenbehörde im Hessenlande, stand mit diesen Vorkommnissen in engem Zusammenhang; mit der Würde große Bürde! Und der Lohn? – man muß geradezu diesen Ausdruck gebrauchen, scheute sich doch R. einstmals einer nach seinem Consistorialgehalte fragenden vornehmen Dame Antwort zu geben, weil die Summe den Lohn eines Großknechts nicht überstieg –, sage und schreibe: Hundert Thaler! Dafür eine Menge neuer Arbeit, namentlich bei der infolge der Annexion Kurhessens durch Preußen nothwendig gewordenen Neuordnung der kirchlichen Angelegenheiten und der Einführung einer neuen Synodal- und Presbyterialverfassung. Wahrlich, es bedurfte der ganzen, der Ranke’schen Familie eigenen Spannkraft, da durchzukommen. Charakteristisch für diese Lebens- und Arbeitsenergie ist das Wort des damaligen Cultusministers v. Goßler bei seinem Besuche der Universität, als ihm R. vorgestellt ward: „Das ist das Geschlecht, das vom siebzigsten Jahre anfängt, erst recht lebendig und jugendlich zu werden“. Diese Jugend im Alter hat ihm Gott bewahrt, verschönt durch der Seinen Liebe und Treue, bis dann auch sein Stündlein gekommen ist und zwei Jahre nach dem Hingange des ältesten auch der jüngste der fünf Brüder sanft im stillen Abendfrieden zu seiner Ruhe eingegangen ist. Von seinem charitativen Wirken reden die Mauern der Herberge zur Heimath in Marburg, die er in unendlicher Mühe und Sorge ins Leben gerufen, und des Namens Ranke wird seine erste Gemeinde nicht vergessen können, so lange das Orgelwerk in ihrem Gottesshaus ertönt, das seine Freundlichkeit ihr verehrt hat.

Ausführlicheres und überaus Interessantes und Lesenswerthes über E. Ranke in dem Buche: D. Ernst Constantin Ranke, Professor der Theologie zu Marburg. Ein Lebensbild gezeichnet von seiner Tochter Etta Hitzig. Mit einem Bildnis vom Jahre 1886. Leipzig, Duncker & Humblot 1906.
Theodor Werner.