Alterthümer, Geschichten und Sagen der Herzogthümer Bremen und Verden/Die Marschen

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Das Bremische Moor Alterthümer, Geschichten und Sagen der Herzogthümer Bremen und Verden (1856)
von Friedrich Köster
Die in den Herzogthümern Bremen und Verden noch vorhandenen alten Grabhügel und Steindenkmäler
[31]
2.
Die Marschen.
(Aus dem Bremer Sonntagsblatt von 1853 № 36.)

Die reichen Borten eines unscheinbaren Gewandes, so lagern sich rings um Geest und Moor die Marschen, die Kornkammern des Landes, die Heimath alten Sinnes für Unabhängigkeit. Im Innern Deutschlands, weiter entfernt von den Küsten, macht man von der Natur dieser üppig fruchtbaren Gefilde sich eben so wenig einen Begriff, wie der Bewohner des Flachlandes vom Gebirge. Schmaler Breite, oft kaum von einer Stunde, aber unabsehbar in der Länge, zieht sich die Ebene dahin, vollständig wagerecht für das Auge, welches über die nächsten bogig gewölbten Felder mit den Gräben dazwischen in die Weite hinausschaut. Wie Inseln, fast wie Hügel, ragen die einzelnen Gehöfte hervor, in den Elbmarschen von Eichen, Eschen und Baumgärten umgeben; der Deich erscheint hier als eine Höhe; wie eine sanft wogende Wasserfläche wiegt sich das Korn, besonders wenn weithin Breiten mit demselben Getreide bestellt sind, Weizen, Bohnen in riesiger Höhe, Wintergerste, Hafer, besonders auf frisch umgebrochenem Grasland. – Alles neigt die schweren Häupter; vor Allem besprochen ist aber der Rapps. Es prangt die Marsch in ihrer höchsten Schönheit, wenn seine Felder in [32] goldener Blüthe leuchten, die Lüfte auf weite Fernen duftgeschwängert sind, wie später wieder in der Bohnenblüthe; aber golden fällt auch der Ertrag in den Säckel, wenn der Rapps geräth. Schlägt er fehl, „kommt der Wurm hinein“, so hat mancher Hausmann wohl eine bange Berechnung zu machen, denn Hunderte von Thalern hat der größere als Ausfall zu decken. Desto lauter der Jubel bei guter Ernte; fast sprüchwörtlich sagt man, einige Wochen sei dann mit dem Marschbauer nicht auszukommen; die Wirthe aber haben gute Zeiten.

Massen von Vieh, Kühe und Pferde, weiden schon binnen Deichs; keines Hirten bedürfen sie; die Gräben sind hinlänglicher Schirm; den Einen Zugang verschließt das „Heck“, die roheste Form eines Thores. Aber im Außendeich ist fast Alles Weide, und ganze Schaaren der Thiere kann man bei nahender Fluth vom Bord des Dampfers hart am Wasser sehen; zuweilen ist ihnen ein Schirmdach gegen die drückende Sonne errichtet, stets aber steht in ihrer Nähe, gewöhnlich auf einer Worth, der Scheuerpfahl. Nach der künstlichen Höhe rettet sich das Vieh bei plötzlich eintretenden Hochfluthen. In den Rindern und Pferden steckt ein großer Theil des Reichthums der Marschen. Viele der ersteren gehen „weidefett“ nach England; die Pferde, jetzt meistens veredelt, viel Halbblut und schon Vollblut, sind ein Hauptausfuhrartikel, um dessen Vertrieb der Bauer sich keine Sorge zu machen hat; auf den Höfen schon werden die jungen Thiere aufgekauft; den Rest räumen die Märkte; 30 bis 40 Louisd’or erhält schon nicht selten der Züchter; die guten Stuten sind ihm für keinen Preis feil. – Ein Thier hätte ich fast vergessen: den „Äbär“, den Schlangenträger (adebaro), wie unsere Altvordern den Storch nannten, der fast zum Hofe gehört, der nirgend fehlt auf den Weiden, noch jetzt ein Gegenstand gläubiger Scheu und Achtung. Auf den „Sänden“ (den Inseln) mit dem zuletzt angeschwemmten, noch niedrigen Außendeich, den die Fluthen noch öfter, als das übrige Land überströmen, concentrirt sich die Fruchtbarkeit der Marsch; die üppigen wilden Gewächse sind dafür der beste Beweis; nur die tropische Gluth fehlt den übrigen [33] schon vorhandenen Bedingungen, um Sunderbunds und Dschungeln uns in nächster Nähe zu zeigen. Wer hier nicht aufgewachsen, sieht mit Staunen diese üppige Kraut-Vegetation, auch wenn er die Schönheit der Waldeswiesen kennt, die man hier freilich vergeblich sucht. „Reeth“felder aber wogen im Winde, ein Reiter hoch zu Rosse wäre wohl darin verborgen; sie liefern das schwerbezahlte beste Dachstroh; Weiden-„Kneien“, Anpflanzungen zur Erzeugung des diesen Landen so wichtigen „Busches“ zur Uferbefestigung schießen mit staunenerregender Kraft in die Höhe, dazwischen die Riesendolde unserer Flußmündungen, die Archangelica littoralis, mit ihrem braunen, oft armdicken Stengel, ihren leicht 2 Quadratfuß deckenden gefiederten Blättern. Selbst das „Watt“, welches täglich bei Fluth der Fluß überströmt, um es mit der Ebbe zu verlassen, selbst dieses ist oft hoch mit Binsengräsern, dem „Kaddich“, bewachsen. Eine andere Pflanzenwelt bieten die zahllosen Gräben; ihre Königin, „die weiße Teichrose“, erscheint aber etwas landeinwärts, in den tiefen Gewässern mit moorigem Grunde.

Der Boden, welcher alles dieses erzeugt, ist ein Product des Flusses, alles ist angeschwemmt in einer senkrechten Höhe von 1½ bis 7 Fuß. Von oben her trägt das Wasser die „Klei-“Erde diesen Fluren zu, so fett und fruchtbar, daß wohin die überschwemmenden Fluthen noch steigen, der Boden keines Düngers bedarf; Schiffe holen diesen als Handelsartikel für die Geest von den Sänden und dem Außendeich. Bindend ist diese Erde, kalkhaltiger Thon, aus dem ohne Weiteres Ziegel gebrannt werden können. Ueberall, wenigstens an der Elbe, sieht man im Sommer die rauchenden Oefen, und die flachen Felder beweisen jedesmal, daß hier das Land „abgeziegelt“ sei; ganze Schaaren wandern im Frühlinge zur Brennarbeit ein, alle aus Lippe, und „Lipper“ und Ziegelbrenner ist in diesen Gegenden gleichbedeutend. Sobald es regnet, macht eine solche Erde aber alle Wege grundlos, bei dem Mangel der Chausseen kommt der leichteste Korbwagen dann nur mit 4 Pferden fort; oft ist Reiten, bei Schneefall nach leichtem Frost nur Fußgehn, das einzige Verbindungs-Mittel. [34] Kein Steinchen findet sich im Kleiboden, doch ist er verschieden in der Elb- und Weser-Marsch. Dort ist er thoniger, weniger Sand haltend, daher bindender und schwerer, für den schwersten gilt der des nördlichen Kehdingens; Weide, welche nicht vom Wasser überfluthet wird, trägt nach einigen Jahren Moos und fordert das Umbrechen; der „Duwok“, equisetum palustre, ist der Fluch dieser so gesegneten Fluren. Die Wesermarsch ist sandiger, oft nur 1½ Fuß tief, die Arbeit weniger abhängig vom Wetter, Moos und Duwok plagen nicht so allgemein und der lockere Boden trägt reich die Krone der Futtergräser, den Wiesenfuchsschwanz.

Da der Fluß die Marsch bildet, so ist sie am höchsten hart am Strome, aber doch nur wenige Fuß über den Sommerfluthen und bei jedem höhern Wasser überströmt, wenn die Deiche nicht schirmen. So ist der Außendeich oft merklich höher, als der Binnendeich, den kein „Schlick“ mehr wachsen läßt; dieser nimmt an Höhe ab gegen die Geest; das Moor bildet, wenn der Torf es nicht schon beträchtlich aufgetrieben hat, eine muldenförmige Senke zwischen Geest und Marsch. Kleierde liegt oft noch unter ihm, oft diese auf Moor, zwischen beiden zuweilen eine unfruchtbare, kalklose Schicht: „Darg“, in einigen Gegenden „Maibult“ genannt. Sie verdürbe jeden Boden, auf den sie geworfen; die Arbeiter untersuchen daher mit Scheidewasser die aufgeschlagene Erde; wenn sie darunter brauset, ist sie gut. Die Geest zeigt in ihrem steil abfallenden Rande mit den ausgewaschenen Busen noch deutlich das Flußufer, und die Anwohner erzählen, wie das Wasser vor 100 oder einigen hundert Jahren dort geströmt; aber der Anschein täuscht sie: lange ehe die Deiche waren, während das Moor sich bildete, konnte kein Schlickwasser hier strömen: die Zeiten waren einmal, aber sie liegen weiter zurück; von ihrem Dasein zeugen die im Moor gefundenen Reste von Schiffen. Und bis heute hat der Fluß sein Anrecht auf die von ihm erzeugten Gebilde nicht aufgegeben; nur das Wasser selbst ist wechselnder, als dieses feste Land der Marschen. Nach den Launen des Stromes setzt sich der Schlick an und bildet neuen „Anwuchs“ oder [35] hebt die Köpfe von Sänden aus den Fluchen, läßt sie wachsen und sie erhöhen; zunächst weidet Vieh auf diesen neu entstandenen Domänen, der Pächter führt sich zuletzt eine Worth auf und siedelt sich an. Aber rasch ändert sich die Strömung, Sände „brechen ab“, ganze Morgen versinken im Wasser, oft so regelmäßig, daß man den Bestand auf Jahre voraus berechnen kann, wenn dieselben Bedingungen bleiben. Der wachsende Außendeich fällt dem Besitzer der anliegenden Länderei zu, kleine Höfe sind dadurch mächtige Besitzungen geworden, große schrumpften zusammen. Seit Menschengedenken sind nicht nur „Priele“, (d. h. kleinere), nein „Reeden“ (d. h. größere Kanäle), und ganze Flußarme zur Weide geworden, auf denen das jetzige Geschlecht noch große Ever fahren sah: Seeschiffe gehen unbehindert, wo vielleicht der Vater des nächsten Anwohners der Rappsblüthe sich freute oder die Schaaren seines Viehes zählte. Mit Mühe wehrt man durch Uferbauten solchem Abbruch, selbst die Deiche werden gefährdet, wenn das Vorland fehlt, und mehr und mehr deckt man sie jetzt gegen den täglichen Andrang durch Steinkajungen, deren Material, die gewaltigen Granitblöcke unserer Ebenen, einst große Fluthen und schwimmende Eisberge von Norwegens felsiger Küste zu uns brachten. Aber auch die Deiche brechen zuweilen bei gefährlichen Sturmfluthen, wie zuletzt namentlich 1825; am drohendsten kommen diese im Herbste bei schwerem Nordwest. Wer heute die Schirme des Landes sieht, wie dahinter die Häuser die Worthen verschmähen, wer bei gewöhnlicher Fluth beobachtet, wie manches Binnenland, z. B. das „Alte Land“, unter dem Niveau des Wassers liegt, der glaubt, seit Menschen hier wohnen, habe auch das Deichwesen von vorn herein bestehen müssen. Allerdings ist das alt; die erste Anlage ruht im Dunkel der Zeiten; ehe sie gemacht würde, war ein Wohnen nur auf Worthen möglich, wie jetzt im Außendeich; um so mehr als die alten eingedeichten Flächen noch niedriger liegen, vielleicht zu frühe eingedeicht sind, ehe sie hinreichend wachsen konnten. Aber die ersten Versuche führten gewiß nur zu „Sommerdeichen“, gegen Sommerfluthen die Felder zu schützen; Genossenschaften thaten sich [36] zusammen zu gemeinsamer Wehr, alles beruhte auf der Freiheit des Wollens, geregelt durch das zwingende Band des gemeinsamen Nutzens. Allmählig erst hat sich der Deichbau vervollkommnet, haben sich diese zusammenhängenden Wasserbollwerke erhoben, in denen riesengroße Kapitale stecken, alle aber durch gemeinsame Arbeit ohne Wirken des Staats entstanden. Erst die schwedische Regierung am Ende des 17. Jahrhunderts hat durch die bremische Deichordnung Einheit in die Sache gebracht; „Kein Deich ohne Land, kein Land ohne Deich“ ist der Grundsatz, auf dem das ganze Deichrecht beruht; daher auch „wer nich kann diken, de mot wiken“. Die Deichlast trug der Marschbauer allein, daher aber stammt auch seine Selbstverwaltung in dieser Angelegenheit. Man darf vielleicht sagen, daß auf dem Deich- und Sielwesen größtentheils die lange Erhaltung der Freiheit in der Marsch beruht; so gut wie ihre ganze Existenz dadurch bedingt ist. Ohne genaue Ordnung der Entwässerung würde ein großer Theil des Landes, besonders nach dem Moore zu (in Hadeln das „Sietland“ oder Niederland im Gegensatz zum „Hochlande“, der hohen Marsch am Flusse) bald versumpfen; wie viele Strecken erst durch sie zur Fruchtbarkeit gebracht sind. Viele Namen beweisen schon diese niedrige Lage („Sietland, Vieland, Balje“), welche eine dem Oberländer unerklärliche Anzahl von Gräben nothwendig gemacht hat. Ein Marschmorgen (um kurz diesen Namen für die verschiedenen Maaße zu gebrauchen), an Größe zuweilen an 4 Calenberger Morgen reichend, oder auch mehr zusammen, bilden schmale, lang hingestreckte Vierecke, rings von Gräben, oft beträchtlicher Breite und Tiefe besonders nach dem „Auskleien“, umgeben. Diese führen die Wasser zur Wetter und diese, einem kleinen Bergflusse gleich an Größe, leitet sie durch die Siele zum Strome; im hohen Sommer, wenn die faulenden Wasser für Menschen und Vieh ungenießbar (denn Fluß-, Graben- und Regenwasser ist hier das einzige), wenn der trocknende Schlamm am Boden böse Dünste erzeugt und die gefürchteten Marschfieber ankündet, dann führt das Siel auch rückwärts frisches Flußwasser in Wetter und Gräben. So ist das Land [37] beherrscht durch den Strom; einen bedeutenden Bruchtheil der Bodenfläche, gewiß zuweilen an 7/10 reichend, nimmt seine Seitenverzweigung, jenes Entwässerungsnetz, ein.

Aus der Erhaltung dieser Anstalten, aus der Natur des schweren, wassergetränkten Bodens folgt die schwere Arbeit des Marschbewohners. Wer den Arbeiter zum ersten Male „kleien“, „kuhlen“ oder „pütten“ sieht, dieses Aufschlagen des düngenden Schlicks aus Gräben oder größeren Gruben und seine Vertheilung über den Acker, wer den Mann dabei beobachtet, wie er fast den ganzen Tag quälend im Wasser steht, der wird der Kraft und guten Natur seine Bewunderung nicht versagen. So erfordert die Ernte, die Saat, ein Drängen und Treiben, wie nirgend sonst, weil nirgend auf solche Weise alles vom Wetter bedingt ist. Und des Mannes Mühe theilt sein Thier, 4–6 Pferde sieht man den Pflug schwer arbeitend durch den zähen Boden ziehen; dafür ist aber auch der Menschenschlag derb und kräftig (das Alte Land nehmen wir hier vollständig aus), stämmige, massenhafte Gestalten bei beiden Geschlechtern. Auch bei den reichen Besitzern ist dabei in der Regel die Bewegung schwerfällig; die Gesichtszüge haben wenig Individuelles, es ist ziemlich derselbe ovale Schnitt, das blühende Aussehen, aber wenig markirte, auf geistiges reges[1] Leben deutende Züge. Die sinnliche Welt waltet vor in jeder Beziehung. Der Arbeit und dem Körper entspricht die Kost, nahrhaft wie eine, die „Klütchen“ aus Weizenmehl und das Fleisch; selbst der Tagelöhner lebt, wie mancher Bauer des Oberlandes für sich vergeblich es wünschen würde; und er muß es bei der schweren Arbeit. Der hohe Tagelohn, an 12 ggl.[2] den Tag in hiller Zeit, setzt ihn dazu in den Stand.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: geistige sreges
  2. Gutegroschen
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