Alterthümer, Geschichten und Sagen der Herzogthümer Bremen und Verden/Gemälde aus dem Schulleben

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Vorrede zu der Wurster Kirchen-Ordnung von 1534 Alterthümer, Geschichten und Sagen der Herzogthümer Bremen und Verden (1856)
von Friedrich Köster
Abendgebet der Kinder
[123]
19.
Gemälde aus dem Schulleben.
1550.
(Nach historischen Forschungen. Von Herrn Pastor Wiedemann. Aus den Blättern für die Volksschule der Herzogthümer Bremen und Verden. Jahrgang 2. 1850. S. 223.)

Im Jahr der Gnade eintausend fünfhundert und funfzig, am Tage Petri ad cathedram, war freundliches Wetter und lieblicher Sonnenschein über die Ufer der Weser ausgegossen. Es war ein Tag, wie man ihn gern hat, wenn es einmal Winter ist, kalt, aber still und ohne Wind. Am Deiche eines Dorfes in dem Osterstader Gebiete lag ein kleines altes Haus, aus dessen Schornstein eine Rauchsäule sich langsam und gerade in die Höhe hob, von keinem Lufthauche bewegt. Alles weit umher war mit leichtem Schnee bedeckt. Es war des Morgens um 8 Uhr, als ein alter Mann aus dem Hause trat und mit langsamen Schritten auf den Deich stieg. Die Stufen waren glatt, und er mußte vorsichtig gehen. Als er oben war, hauchte er in die Hände, schlug dieselben dann zur Erwärmung einige Mal kräftig unter die Achseln und schaute umher. Das Oldenburger Land jenseit der Weser war noch in einen leichten Nebel gehüllt, aus dem nur mit Mühe erkennbar der schlanke Kirchthurm von Blexum hervortrat. Der Fluß war mit Eisschollen festgefroren, nur in der Ferne sah man einen dunklen Streifen, wo der Strom sich einen engen Weg offen hielt. Kein Schiff war auf demselben zu erblicken; ein paar eingefrorene kleine Fahrzeuge lagen halb [124] auf die Seite gelehnt am diesseitigen Ufer und sahen traurig und müde aus. Der Mann wandte sich dann um und schaute in’s Dorf, wo über die Strohdächer der hohe Kirchthurm hervorragte, dessen Spitze mit goldenem Hahne geziert weithin leuchtete. Der von der Sonne bestrahlte Schnee blendete den Mann, er hielt die Hand vor die Augen. Es war noch Alles still, wenige Leute ließen sich blicken. Der Alte – es war der Küster des Dorfs – benetzte seinen Zeigefinger und hielt ihn einen Augenblick in die Höhe, um den leichten Lufthauch zu empfinden, der auf diese Weise bemerkbar wird, um dadurch die wahrscheinliche Richtung des kommenden Windes zu bestimmen. Alle Uferbewohner haben das Bedürfniß, über den Wind Gewißheit zu erlangen. Als er sich diese verschafft hatte, ging er langsam in’s Haus zurück; der Schnee knisterte unter seinen Füßen, es war, was man einen klingenden Frost nennt.

Durch die Flur des Hauses, auf welcher eine stattliche Kuh und zwei Schafe einträchtig neben einander lagen, ging er in den Raum, der zugleich Wohnzimmer, Küche und Schulstube war. Ein sehr einfaches schmuckloses Gemach. Weiße Wände ohne Verzierung, mit Ausnahme eines kleinen hölzernen Kruzifixes. Früher hatten ein paar Heiligenbilder daneben gehangen mit einem Strahlenschein von blitzendem Messingblech um das Haupt; seitdem aber das Dorf sammt Pfarrer und Küster lutherisch geworden war, waren sie von der Wand verschwunden. Das Christusbild war jedoch ein theures Andenken aus des Mannes trüber Jugend, und er hatte es nicht entfernen mögen. Ein Ofen war nicht im Zimmer, denn das war damals ein Luxusgegenstand, den nur vornehme Leute sich erlaubten; ein Kamin vertrat seine Stelle und diente zugleich als Küchenheerd. Eine alte Magd saß an demselben und hatte eben das Milchmuß fertig, das mit Schwarzbrod und Salz als Morgenimbiß von beiden schweigend am Feuer verzehrt wurde. Auf dem Fensterbrette war mit roher Kunst eine Art Sonnenuhr angefertigt, ein wichtiger Gegenstand für den alten Küster, um die Betglocke zu rechter Zeit ziehen zu können. Leider hatte er den Kummer, daß sein hölzerner [125] Sonnenzeiger gar nicht gut mit dem an der Kirche befindlichen sich in Ubereinstimmung bringen lassen wollte. Der Zeitmesser an der Kirche war von Stein, mit einer eisernen Nase, und hielt Frost und Hitze tapfer aus, aber das Fensterbrett zog sich bald von der Nässe, bald von der Wärme und war ein stetes kleine Herzeleid für den Küster. Die in Blei eingefaßten Fensterscheiben waren auch von mangelhafter Durchsichtigkeit, so daß bisweilen Ungewißheit über die Tageszeit nicht zu vermeiden war, die Fensterflügel waren, wie damals in allen Häusern, nicht zu öffnen; zur Einlassung frischer Luft diente ein hölzener Laden an der Seite des Fensters. Das Glas hatte einen viel zu hohen Werth, um es der Gefahr auszusetzen, in welche ein beweglicher Fensterrahmen es gebracht haben würde.

Nachdem der Küster noch eine Zeitlang mit seiner Magd darüber geplaudert hatte, daß der Frost nicht nachlassen und die Eisblumen an den Fenstern schwerlich bald verschwinden würden, ließen sich leichte und schnelle Tritte vor dem Hause hören. Mehrere Knaben von etwa 12 Jahren traten in’s Zimmer, die Wangen von Kälte geröthet, mit den Füßen vor Frost trippelnd, aber heiter und fröhlich. Sie grüßten den Küster und gaben ihm die Hand; er rückte seinen Lehnstuhl ein wenig vom Feuer hinweg und ließ sie sich wärmen. Sie waren gut gekleidet, wenn auch in groben Stoffen und hatten dicke lederne Schuhe an den Füßen, von denen das Paar zehn Grote kostete. Nach und nach versammelten sich immer mehr Kinder, bis ihrer vielleicht sechszehn waren und damit die Schule vollzählig.

Der Küster erhob sich von seinem Stuhle, die unruhig im Zimmer umherstehenden Kinder wurden still; es ward verkündet, die Schule solle ihren Anfang nehmen. Zwei Bänke, welche bis dahin über einander an der Wand gestanden hatten, wurden von den Knaben mit vielem Geräusch herbeigeschoben und in die Mitte des Zimmers gebracht, die Kinder setzten sich ihrem Alter nach darauf. Es war eine sonderbare Schule, wenn man sie mit den Augen unserer Zeit betrachtet hätte. Kein Mädchen war unter den Kindern, denn Niemand dachte daran, daß das weibliche Geschlecht irgend einer Schulunterweisung bedürfe, [126] welche über ein paar von den Müttern erlernte Gebete hinausgehe. Ein Mädchen in eine Schule zu senden, wäre eine unbegreifliche Forderung gewesen in den Ansichten des XVI. Jahrhunderts. Es waren daher nur Knaben, welche auf den niedrigen Bänken saßen, aber keiner derselben hatte irgend einen der Gegenstände, welche uns jetzt für den Unterricht unentbehrlich scheinen. Kein Buch war zu sehen, geschweige denn Schreib- oder Rechnenmaterial, die Schule begann. Der Küster befahl dem ältesten Knaben zu beten, derselbe stand auf, die anderen Kinder falteten die Hände und schauten zur Erde; ein plattdeutsches Morgengebet wurde hergesagt. Während desselben faltete die Magd, welche am Kamin saß und sich mit Nähen beschäftigte, die Hände; ihre Lippen bewegten sich, sie sprach im Stillen das Gebet nach, welches sie durch tägliches Anhören gelernt hatte.

Nach dem Gebete begann der Gesang. Weiter wurde dazumal in den Dorfschulen nichts gelehrt, als Singen und Beten. Der Küster konnte freilich fertig lesen und mit einiger Geläufigkeit schreiben, aber es wäre ihm sonderbar erschienen, wenn Jemand von ihm verlangt hätte, er solle diese hohen Künste seinen Knaben mittheilen, und verwundert würde er gefragt haben, was die Kinder mit diesen Fertigkeiten beginnen sollten. – Es war ein wunderschöner Gesang, welcher den Kindern gelehrt wurde, ein geistliches Lied, das der Küster vor noch nicht langer Zeit von einem befreundeten Amtsbruder empfangen hatte. Elf Lieder waren bis dahin nur in der Schule gelehrt; sie hatten viel Arbeit gekostet; durch mühsames Vorsagen wurden sie erst auswendig gelernt und so lange wiederholt, bis sie im Gedächtniß der Knaben hafteten; dann sang der Lehrer die Melodie vor und suchte sie den Kindern fest einzuprägen. Von den Kindern lernten sie wiederum die Eltern und so wurde der protestantische Kirchengesang, wenn auch mit vieler Mühe, ermöglicht. Den Gemeinden, welche sich dem gereinigten Evangelio zugewandt hatten, war dieser öffentliche Kirchengesang eine theure Errungenschaft, welche sie mit ganzer Liebe sich aneigneten. Aber derselbe hatte auch einen Klang! Ein Mann aus unserer Zeit hätte nimmer gedacht, daß solch’ ein Gesang ein kirchliches Lied wäre, so [127] schnell und feurig wurde er ausgeführt. In den Melodien war man nicht wählerisch, man sah auf ihre Volksmäßigkeit und Singbarkeit, aber durchaus nicht auf ihren Ursprung; die noch jetzt gebräuchliche Melodie von „O Welt, ich muß dich lassen,“ war ihrem Ursprunge nach ein Handwerksburschenlied, welches lautete „Inspruck, ich muß dich lassen etc.“ Wir wollen die Kirchenlieder absichtlich nicht nennen, deren Melodie „in Herzog Ernsten Ton“ oder „im schwarzbraun Mägdelein Ton“ gesungen wird; manchen könnten die Gesänge dadurch verleidet werden. Man legte den Melodien kirchliche Worte unter und sang sie mit einer Andacht, deren Ernst und Innigkeit uns wunderbar erscheinen würde. Aber man muß bedenken, die protestantische Kirche war damals eine streitende, auf Tod und Leben ringende Kirche, jedes ihrer Lieder war gleichsam ein Schlachtgesang, der rasch und mit Feuer aus dem Herzen kam. Der langsame Gang des jetzigen Chorals wäre einer Zeit wenig angemessen gewesen, welche das Psalmbuch in der Tasche und das Schwert an der Seite hatte, welche eben so bereit war, den Glaubensfeind leiblich niederzuschlagen, als ihn geistig zu besiegen. Es war ein unglaublicher Trotz in den Menschen jener Zeit; sie suchten keine Größe im Dulden und würden die moderne Theorie des passiven Widerstandes verlacht haben. Sie übten Gewalt oder litten Gewalt, sie waren Sieger oder Besiegte, Herrscher oder Verbannte – ein Drittes gab es für sie nicht. Solch’ eine Zeit kann in ihren kirchlichen Gesängen kein langsames, sanftes, hinschmelzendes Wesen ertragen. Mit Recht klagte der Bischof von Köln, daß Ein lutherischer Psalm der katholischen Kirche mehr Schaden thäte, als hundert lutherische Prediger. Man kann sich die Wirkung eines Gesanges durch ein Beispiel neuerer Zeit versinnlichen, wenn man an die Marseiller Hymne in dem Anfange der französischen Revolution denkt, von der auch staunenswerthe Erfolge erzählt werden. In neueren Zeiten hat man es versucht, den alten Kirchenton des streitenden Lutherthums in seinem raschen Gange durch den sogenannten rhythmischen Gesang wieder aufzunehmen; es klingt ja auch recht schön, aber unwillkührlich wird man dabei an das Wort des alten [128] derben Voß erinnert, „zum Teufel ist der Spiritus, das Phlegma ist geblieben.“

Der Küster hatte eine schöne Stimme. Schon als Jüngling hatte er sich durch dieses Talent ausgezeichnet und dadurch den Grund zu seinem jetzigen Lebensberufe gelegt. Der Pfarrer seines Orts hatte die Begabung an ihm bemerkt und ihn sowohl zur Ausbildung derselben angeregt, als auch mit nothdürftiger wissenschaftlicher Belehrung unterstützt, damit er in den Dienst der Kirche übergehen könne. Er war zu seiner Vervollkommnung, wie gebräuchlich, eine kurze Zeit auf dem erzbischöflichen Seminar in Bremen gewesen, wo der Singmeister in ihm einen talentvollen Schüler gefunden und nach besten Kräften ausgebildet hatte. Bald darauf war er als Küster im Osterstadischen angestellt. Die Stürme der Revolution[1] hatten ihn geistig ergriffen, und dieser große Kampf war auch ihm ein schwerer geworden. Er dachte daran, wie der alte Erzbischof, nachdem er Bremen verlassen, in Verden grollend und murrend saß, seine Freunde zusammenrief, dem eindringenden Unheil zu wehren und ihrer nicht viel finden konnte. Immer in Geldnoth, ohne kriegerische Mittel, mit der Bürgerschaft zu Bremen im gespannten Verhältniß, mit seinem neuerungssüchtigen Domkapitel, wie mit der lauen Ritterschaft in Unfrieden, weilte er ohnmächtig in seinem Palast und mußte eine Lehre sich verbreiten sehen, welche ihm zugleich gehässig und gefährlich war. Anfangs hatte er versucht, das Uebel im Keime zu ersticken und einen Prediger zu St. Remberti in Bremen, der eine Nonne heirathete und Luthers Schriften verbreitete, auf dem Borgfelde lebendig verbrennen lassen, auch einige Bürger in Verden, welche die Fasten gebrochen, auf das Härteste gestraft, aber die rollenden Räder der Reformation zermalmten die ohnmächtigen Hemmungen, welche er dazwischen warf. Die Stände der Provinz waren zu mächtig geworden, verweigerten ihm zu Basdahl die nöthigen Geldmittel, warfen ihm öffentlich in einem Schreiben – ob mit Recht, ist unsicher – einen im Geheimen unsittlichen Lebenswandel vor und verweigerten ihm den Gehorsam, welchen er zu erzwingen nicht im Stande war. Es kam zuletzt dahin, daß sein [129] eigener Bruder dem Domkapitel rieth, ihn abzusetzen und in’s Kloster zu stecken, aber es wurde nichts daraus. So mußte er geschehen lassen, was er nicht hindern konnte; es ist schwer, wider den Geist zu kämpfen. Neben dem Kummer, der ihn als katholischen Kirchenfürsten traf, mußte er auch manches andere Herzeleid erleben, welches ihn vielleicht noch bitterer verwundete. Berend von Wersabe zur Meienburg, der so oft an seinem Tische gesessen und fröhliche Stunden bei’m Becher mit ihm durchlebt hatte, sagte sich zuerst offen von ihm los und hielt sich zum Panier der neuen Lehre; es war ein Mann, der eine wilde Jugend am erzbischöftichen Hofe verlebt hatte, ein liebenswürdiger Gesellschafter von unzerstörbar fröhlicher Laune, voll Witz und Scherz, unbesiegbar im Trinken, dem kein Becher zu tief war „und wär’s bis zum Grund eine Meile“, wie er sagte. Der Erzbischof hatte ihn lieb, und doch war er der erste, welcher ihn verließ und aus einem lockern Gesellen ein ernster fester Mann wurde, schweigsam und in sich gekehrt, seines Willens sich bewußt, und als er einmal mit seiner Vergangenheit gebrochen hatte, weder mit Güte noch Gewalt zu beugen. Seinem Beispiel waren Andere gefolgt und wurden deshalb von denen, die sich unpartheiisch nennen, der Undankbarkeit beschuldigt, – ein Vorwurf, leicht auszusprechen und dann schwer zu tragen, wenn er ungerecht sein sollte: das war die Saite im Herzen des alten Küsters, welche so grell ertönte, als er von dem katholischen Wesen sich lossagte. Was hatte der Erzbischof, diese verkörperte Darstellung der Kirchenherrschaft, ihm zu Leide gethan, daß er ihn verließ? Er hatte ihm sein jetziges gutes Brod gegeben und früher so manches freundliche Wort; und das lastete auf seinem Herzen am Schwersten. Es war ihm eine Erleichterung und Freude, die Kirchenlehre verlassen zu können, deren Verderbtheit er eingesehen, aber es ward ihm schwer, zugleich einem Manne den Gehorsam aufzukündigen, welcher, wenn auch gegen Andere bisweilen hart und ungerecht, von ihm sich Dank verdient hatte.

Aeußerlich hatte die Einführung des gereinigten Evangeliums in dem Wohnorte unsers Küsters gar keine Schwierigkeit, [130] sie brachte nicht einmal viel Unruhe hervor in der Gemeinde. Man denkt sich bisweilen, die Reformation sei mit der Schnelligkeit und zerstörenden Wirkung des Blitzes in’s Land gefahren, und in manchen Gegenden war dies auch der Fall, aber in unser Herzogthum kam sie allmählich und ohne äußern Sturm. Das katholische Wesen glitt in das protestantische Leben hinein und die meisten Landgemeinden sahen nur geringe und ihr Gewissen anfangs wenig berührende Merkzeichen der Veränderung. Aeußerlich blieb das Meiste, wie es gewesen war; der Pastor verrichtete nach wie vor den Altardienst im seidengestickten, golddurchwirkten Meßgewande und bestieg die Kanzel im weißen Chorhemde. In vielen Kirchen wurde allsonntäglich gekniet. Der Küster sang mit seinen Knaben die Responsorien eben so wie früher. Gern aber wurde von den Gemeinden der Kirchengesang, in welchem sie mit thätig waren, aufgenommen, und das schien Vielen der bedeutendste Gewinn zu sein. Der Pabst wohnte zu fern, als daß die Abwerfung seiner Herrschaft sie besonders hätte berühren können, und die Gewalt des Erzbischofs blieb scheinbar noch lange, wie sie gewesen war, wenn ihr auch nicht mehr Gehorsam geleistet ward, als man eben für gut fand. Daß die Prediger heiratheten, schien den Gemeinden nicht nur etwas Natürliches – in dem benachbarten Ostfriesland hatte der Cölibat nie durchgeführt werden können – sondern es war ihnen aus manchen Gründen sehr lieb. In das Innere des Lutherthums waren die Gemeinden anfänglich gar nicht fähig einzudringen, nur die Belehrung langer Jahre konnte es ihnen zugänglich machen. – Als der Küster noch auf dem Seminar war, hatte er die tiefe Krankheit des Katholicismus äußerlich gesehen und später, durch die neuen Lehren angeregt, auch in ihrem Wesen erkannt. Mit Eifer gab er sich dem Lutherthum hin, aber diese Bestrebungen hatten ihm viel Herzeleid bereitet.

Der katholische Gottesdienst kann des Gesanges nicht entbehren, daher waren alle Küster zugleich Singlehrer, welche einen kleinen Knabenchor auf die kirchliche Feier einübten. Der Protestantismus mit seinem sichern Tacte und dem klaren Bewußtsein dessen, was er ausstoßen oder in sich [131] aufnehmen mußte, erkannte alsbald, wie wichtig ihm diese Knabenchöre werden konnten, welche er vorfand. Der Jugend gehört die Zukunft. Er machte wirkliche Schüler aus ihnen. Unterricktsanstalten solcher Art hatten nur in den Städten existirt, der Protestantismus versetzte sie auch auf die Dörfer. Das ist der Ursprung unserer Landschulen.

Nachdem die Kinder mehrere Male das zu singende Lied hergesagt hatten, begann die wirkliche Ausführung desselben. Es war der schöne ergreifende Gesang, welcher sich leider in unserm Liederbuche nicht findet „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“. Die Knaben hatten ihn schon geübt, und er wurde mit vieler Sicherheit gesungen. Der alte Küster dachte wohl nicht daran, welch’ trübe Erinnerungen für seine Heimath sich gerade mit diesem Gesange verbanden. Als einst Ketzerei entstanden war an beiden Ufern der Weser unter der Regierung des Erzbischofs Gerhard II., hielt derselbe es für das kürzeste Mittel, sie durch Krieg auszurotten – einem thörichten Arzte gleich, der das Uebel dadurch am Leichtesten hinwegzuschaffen sucht, daß er den Kranken tödtet. Er ließ einen Kreuzzug gegen die Ketzer predigen, und die landgierige Ritterschaft strömte auf seinen Ruf zusammen, um zur Ehre Gottes und zum Vortheil ihres leeren Beutels die Feinde zu vernichten. Das Heer wandte sich zunächst gegen die Osterstader, und am Tage vor Johannis und Pauli fielen über vierhundert der vermeintlichen Ketzer in heißer Schlacht. Die Gefangenen wurden verbrannt, viele Weiber und Kinder getödtet. Darauf setzte der Erzbischof mit seinem Heere nach dem entgegengesetzten Ufer der Weser über, wo die andere Hälfte des ketzerischen Stammes wohnte, die Westerstader, oder, wie sie gewöhnlich genannt werden, die Stedinger. An einem schwülen Sommertage kam es bei Altenesch zum Kampfe, der lange währte, aber zuletzt mit dem Siege des Erzbischofs endete. Sechstausend Stedinger waren gefallen, aber mit unerwarteter Milde wurden die Gefangenen behandelt, Land und Freiheit ihnen wiedergegeben und nur eine geringe Meierpflicht auferlegt. Während der Schlacht, als der Kampf am heißesten war, standen dreißig Mönche auf einem Hügel in der Nähe des Streits, erhoben die Hände [132] zum Himmel und sangen in lateinischer Sprache das Lied: Mitten wir im Leben sind – ein Lied, gesungen in Herzensangst, in unmittelbarer Nähe des Todes, unter dem Gefühl eigener äußerster Gefahr – das mag geklungen haben! Dies alte lateinische Kirchenlied (Media in vita etc.) hatte Luther übersetzt, und nun sangen die Kinder des ketzerischen Stammes den Siegesgesang ihrer Feinde in der Dorfschule – wunderbare Vergeltung!

Als der Küster glaubte, daß die Kinder genug gesungen hätten, ließ er aufhören. Er wandte sich um, nahm langsam einen Schlüssel aus der Tasche, öffnete einen Wandschrank, in welchem das, was er an werthvoller Habe besaß, verwahrt wurde, und zog ein Buch daraus hervor. Es war Luthers kleiner Katechismus, den der Küster von Johannes Hoddersen empfangen hatte, dem Pastoren zu Büttel, der ein persönlicher Freund Luthers und Bugenhagens und der eifrigste Verbreiter der evangelischen Lehre war. Weil die Knaben nicht lesen konnten, so mußte der Lehrer jeden einzelnen Satz vorsagen, welchen die Schule dann im Chore so lange nachsprach, bis er im Gedächtniß haftete. Auf diese Weise wurde das ganze Buch durchgelernt und immer wieder von vorn angefangen. Das war eine mühselige, aber nothwendige Arbeit, und der Segen derselben blieb nicht aus. Die Knaben nahmen diese Belehrung in ihre Seele auf, als einen Schatz für ihr ganzes Leben, und ein so mühsam erworbener Gewinn war ihnen theuer und werth. Nachdem ungefähr eine Stunde mit dem Hersagen des Katechismus hingebracht war, sah der Küster nach seinem Sonnenweiser am Fenster. Derselbe zeigte auf elf Uhr, und es wurde Zeit, für den Tag die Schule zu schließen. Nachmittags war kein Unterricht, und länger als etwa zwei Stunden durfte die Schule Morgens nicht dauern. Wiederum wurde der älteste Knabe aufgefordert zu beten. Er stand auf, die anderen Kinder falteten die Hände; ein Gebet wurde mit großer Schnelligkeit gesprochen, darauf die Bänke an die Wand gestellt und hinaus stürmte die Jugend, um im elterlichen Hause zu rechter Zeit beim Mittagsbrote anzukommen. Die Magd am Kamine hatte das ihrige auch fertig gemacht und deckte den Tisch für den Küster.


  1. [273] Z. 15 v. o. statt Revolution lies Reformation.
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