Aus dem Privatleben eines ostindischen Königs

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Titel: Aus dem Privatleben eines ostindischen Königs
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aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 438–440
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Aus dem Privatleben eines ostindischen Königs.

Nussir, der König von Oude. – Sein englischer Lehrer, sein englischer Barbier und Premierminister. – Ein Diner bei Nussir. – Tafelfreuden. – Bajaderen. – Puppentheaterkünste des Königs. – Die barbierende Civilisation der Engländer. – Admiikanawallah, das Menschen fressende Pferd und dessen Zweikampf mit Burrhea, dem Lieblingstiger des Königs.

Außer den Schneidergesellen spielen die Barbiere besonders eine wichtige Rolle in der Weltgeschichte. Ohne Rasirmesser giebt’s bekanntlich gar keine Kultur mehr und ohne Kultur keine Geschichte. Und wer heut zu Tage Geschichte macht, geht nie unrasirt aus, weil er stets mit einem guten Beispiele vorangeht, damit Andere sich desto geduldiger von ihm barbieren lassen. Jeder große Mann auf den Höhen der Menschheit ist ein Barbier, der andern Leuten die Haare von den Backen oder wohl gar von den Zähnen schneidet; und dann nicht selten das Fell über die Ohren zieht. Die englischen Barbiere scheeren bekanntlich seit Jahrhunderten die ganze Welt und wurden neuerdings so verwegen, nicht nur den ehrwürdigen Nationalbart Rußlands, sondern auch Sebastopol und Kronstadt rasiren zu wollen. Es gehört nicht hierher, nachzuweisen, wie sich das Messer bei dieser Gelegenheit wendete, so daß sie von den Barbieren des Continents geschooren und über’s Ohr gehauen werden. Auch sprechen wir nicht von den Barbieren der Literatur und Kunst, dem „Dorfbarbier“, dem „Barbier von Sevilla“, sondern blos von einem neuentdeckten Haarkünstler, der Premierminister und Diktator eines Königs ward, und jetzt wieder als Omnibus-Condukteur Londons[1] hinten auf dem Brette steht, um seine Herrschergelüste, die er so lange mit Erfolg gegen einen Staatsmann ausübte, an den Passagieren seines Omnibus zu befriedigen.

Wir meinen den englischen Barbier, der in dem „Privatleben eines östlichen Königs“, über welchen jetzt in England das amüsanteste und interessanteste Buch („The Private Life on an Eastern King“) erschienen ist, die effektvollste, romantische Hauptrolle spielt. Der östliche König ist der neuerdings verstorbene Beherrscher von Oude, eines sich jetzt vollständiger englisirenden Theils von Ostindien an beiden Ufern des Ganges, südlich von dem gebirgigen, noch zwischen Thibet, dem Himalaya und dem englischen Ostindien sich unabhängig haltenden Nepaul. Das Buch macht in England ungemein viel Glück. Die Zeitungen und Journale haben es bereits doppelt und dreifach in Auszügen nachgedruckt, und Jeder liest es, Jeder freut sich darüber, weil die Engländer, denen vor Sebastopol und Kronstadt alle Rasirmesser stumpf geworden (weil die Aberdeen’s und Palmerston’s blos weiche, schlechte Messer führen und die Granitfelsen Rußlands gar hart sind), hier das heiterste Ideal, die komischste, glücklichste Personification ihres Weltbarbierungstalents anschauen. Lassen wir uns zunächst unbemerkt von einem Engländer mit zum Könige einführen.

Niemand darf einem östlichen Könige mit leeren Händen nahen. Ein „Nuzza“ oder Geschenk muß allemal geboten werden, so oft man sich ihm naht. Das ist durchaus Etikette, die übrigens nicht lästig ist, da der Monarch[WS 1] hinterher allemal ein werthvolleres Gegengeschenk macht. Ich stand vor seinem Palaste in der Hauptstadt Lucknow, fünf goldene Mohurs (ziemlich 60 Thaler) in der offenen Hand, und wartete unter einer Sonnenhitze, die stark genug schien, eine Hammelkeule an ihr zu braten. Endlich kam er, ganz wie ein englischer Gentleman gekleidet, schwarzer Leibrock, pariser Hut, Binde und Vatermörder. Er sah übrigens recht angenehm aus, und die indische Nationalhautfarbe war zu einer ganz leichten Sepia-Tinte zurecht und abgebleicht worden. Das schwarze Haar, Schnurr- und Backenbart contrastirten lebhaft zur Haut und zu den kleinen, scharfen, blitzenden, schwarzen Augen. Er war dünn und mittelgroß. Er sprach mit seiner Umgebung englisch, als er mir nahte, mich anlächelte und das Gold in meiner Hand berührte, ohne es zu nehmen.

„Also Sie haben sich entschlossen, in meine Dienste zu treten?“ fragte er mich.

„Ja, Majestät!“

„Wir werden gute Freunde sein. Ich liebe die Engländer.“ Er ging weiter und ich schloß mich seinem Gefolge an.

„Stecken Sie Ihre goldenen Mohurs geschwind ein,“ rief mir ein englischer Diener des Königs zu, „sonst nimmt sie Ihnen ein Eingeborner ab, da der König sie als Geschenk anerkannt hat, ohne sie zu nehmen, so daß sie nach der Logik der Leute hier Ihnen nicht mehr gehören.“

Dies that ich, denn das Gold war mir näher als andern Leuten. Meine erste Bekanntschaft im Dienste des Königs machte ich mit dessen englischem Lehrer. Der König wollte durchaus flüssig Englisch sprechen lernen, da er gar zu oft in Verlegenheit kam, in seiner englischen Unterhaltung zu dem ihm angebornen Indisch Zuflucht zu nehmen. Er hatte befohlen, daß ihm täglich eine Stunde gegeben werde, die aber selten länger dauerte als zehn Minute.

„Boppery bopp,“ rief er nach diesen zehn Minuten, „das ist zu trocken. Komm, Master, trinken wir ’n Glas Wein mit ’nauder!“ Und so wurden allemal mindestens vierzig von den sechzig Minuten der Stunde vertrunken. Der englische Lehrer bekam dafür 1500 Pfund Sterling oder 10,000 Thaler.

Später erhoben sich die Bekanntschaften des Verfassers bis zu dem obenerwähnten Barbier und Premierminister hinauf. Dieser war von England als Cajütenjunge nach Calcutta gekommen, nachdem er in London aus einem Barbier- und Haarschneide-Cabinet entlaufen war. In Calcutta fing er wieder an zu barbieren, zu schneiden und zu kräuseln. [439] Mit dem gewonnenen Gelde fing er einen Handel den Ganges hinauf an, und kam endlich auf diesem Wege bis Lucknow. Dort gab es einen General-Gouverneur, der durch seine schönen Haarlocken berühmt war. Der General-Gouverneur diente als Mode-Journal, als Tonangeber der Civilisation, die im Lande Oude grimmig umher leckte. Hier wurde der Ganges-Händler mit einem Hofbedienten bekannt, der von Sehnsucht nach gebrannten Locken, in der Form der general-gouverneur’schen brannte. „Da ist Geld zu verdienen,“ dachte der davongelaufene englische Barbierlehrjunge, und schuf Wunderwerke auf dem Haupte des Hofbedienten, Locken, die wie polirte Operngucker um das einst glatt gekämmte Haar hingen. Der Hofbediente, jetzt Parlamentsmitglied in London, erschien, durch diese Operngucker angesehen, wie ein neuer Adam, wie ein Wunder von Civilisation, besonders dem Könige, auf dessen Haupte sich nie die unschuldigste Andeutung zu einem gekrümmten Haare hatte zeigen wollen, wahrscheinlich zur Strafe für den dort landesüblichen Despotismus, der absolut Niemandem erlaubt, dem Monarchen nur ein Haar zu krümmen und sei es auf die constitutionellste Weise. Der König fragt und forscht, der Hofbediente führt den Zauberer beim Könige ein, und dieser drechselt aus dessen Haar ebenfalls eine dichte Sammlung glänzender lackirter Operngucker. Der König freut sich wie ein junges Mädchen über ihr Brautkleid. Seine Dankbarkeit kennt keine Grenzen. Gelder und Ehren regnen auf den glücklichen Coiffeur herab. Er wird geadelt und muß sich „Sofrus Khan“ (berühmter Heerführer) schreiben. Bald ist er der Erste unter den fünf Ministern des Königs, sein Factotum, sein Alles in Allem. Nussir (des Königs Name) macht ihn zum Oberminister und Oberkellner. Aller Wein, der an seiner Tafel getrunken wird, muß durch dessen Hände gehen, und von ihm zuerst gekostet werden (der König lebte in beständiger Furcht, daß ihn seine Verwandten vergiften würden). Er sitzt neben dem Könige bei Tische. Durch seine Hände gehen alle Lieferungen für den Hof, durch seine Hände das Geld dafür. Er reicht monatlich Rechnungen ein, die ein ganzes deutsches Jahres-Staatsbudget übertreffen. Man warnt den König, der Betrug sei zu arg, „schadet nichts,“ antwortete er, „ich will nun einmal den Sofrus Khan reich machen.“ Ostindische Zeitungen, besonders der „Agra uybar“, (aus welchem mehrere vortreffliche Satyren übersetzt sind) verfolgen den Haarkräusler und Premierstaatsbarbier mit Spott und Schande; er lacht darüber und denkt: hab’ ich doch das Geld und die Macht (aus ganz demselben Grunde bekümmern sich die englischen Minister auch durchaus nicht um die englische Preßfreiheit, und Palmerston blieb Premierminister, obgleich ihn eine Zeitung in aller Form und Klarheit zehnfachen Hochverrats anklagte). Und als es dem Premierbarbier doch zu arg ward, kaufte er sich einen Mann für 70 Thaler monatlich, der auf Verläumdungen und mißliebige Darstellungen in Calcutta-Zeitungen antworten mußte. Was er sich nicht selbst berechnete als Provision, strömte ihm als Bestechung und Geschenk von allen Seiten unter ihm stehender Beamten zu. Jeder suchte sich das Glück zu verschaffen, den Mann zu spicken und zu schmieren, den der König zu ehren geruhte. Das ist ja auch anderswo die Politik aller kriechenden Insekten in unfreien Staatsgesellschaften, daß sie Dem den Seifennapf halten und den Streichriemen, der am Mächtigsten und Einflußreichsten Könige zu barbieren und Haare und Menschen zu brennen und zu krümmen versteht.

Der Oude-Premierbarbier fuhr fort, bis zum Tode des Königs Locken und andere überflüssige Dinge zu liefern und mit künstlerisch geführtem, stets gut gestrichenem Barbiermesser der englischen Civilisation einen Weg durch das Land Oude zu bahnen. Nussir war verhaßt beim Volke, wie jeder Despot, aber die Engländer machten ihn jedenfalls noch verhaßter und sich beliebt, so daß ihnen am Ende auch hier, wie in allen andern Theilen Ostindiens nichts übrig blieb, als die Anarchie und Civilisation, die sie importirt, selbst weiter zu regieren, um so mehr, als die Leute in Lucknow und andern Orten Oude’s sich fast täglich schlugen und zwar nicht selten todt. So trugen denn die Engländer die Civilisation, die vor Jahrtausenden aus Ostindien nach dem Westen wanderte, in Westen- und andern Baumwollenzeug nach dem Osten zurück, wie Viscount Canning, der neue General-Gouverneur des englischen Ostindiens, bei seinem Abschiedsfestessen in London sagte.

Wie civilisirt der Hof Nussir’s schon war, sehen wir aus einem Diner, das so geschildert wird: der Wein, der mit den Siegeln des Barbiers versehen, bei Tische erschien, bestand aus den besten Sorten Madeira, Claret, Sherry und Champagner. Der König, obgleich Muselmann, beschränkte sich ebenso wenig im Genusse des Weins als der übrige Hof. Er versicherte wiederholt, daß der Koran den Genuß des Weins nicht verbiete. Als geeis’ter Champagner ihn redselig gemacht, lobte er alle Europäer und riß seine Unterthanen herunter, obgleich die weiblichen, die ihm stets mit großen Federfächern Luft zuwehten, uns sehr untadelhaft erschienen. So wie sich der König gesetzt hatte, schwebte ein halbes Dutzend wahrhafter Feen hinter einem Gaze-Vorhang hervor, wundervoll leicht und durchsichtig prächtig gekleidet, bräunlich-brünett, wie etwa eine schöne Andalusierin, nicht dunkler, mit reichem, tiefschwarzem Haar, das mit Perlen und Silbernadeln besternt, in langen Flechten vom Hinterkopfe herunterhing. Ihre zarten, herrlichen Formen schimmerten deutlich durch die reichbeperlte Gaze hindurch. Den unteren Theil des Körpers umwallten weite, rothseidene, goldbesetzte Pygamas (türkische Beinkleider). Alle waren von zartester Regelmäßigkeit in der Körperform. Arme, Hände und Füße findet man an keiner Venus-Statue delicater. Und dazu das graziöse Leben in ihnen, die leichte Röthe auf den Wangen, das Heben des zarten Busens, wie sie ihre Federfächer leise und regelmäßig hinter dem Könige schwangen! Da wurde denn die Etikette, welche gebot, daß man gar nicht thun solle, als wären weibliche Wesen zugegen, oft genug übertreten, noch mehr als nach Tische die „Nautch“-Mädchen, die tanzenden Bajaderen, ihre graziösen Künste entfalteten.

Nach Tische war’s überhaupt wie auf einem Jahrmarkte. Possenreißer aller Art, improvisirende Dichter[2], Jongleurs, Harlekins, Taschenspieler, Schlangenzauberer, Sänger, Spieler, Marionettentheater machten nach einander ihre Aufwartung. Die „Nautchs“ sind jedenfalls das Charakteristischeste und Schönste, was man in Indien Eigenes sehen kann. Die Gestalten, die bei Hofe erschienen, waren wieder so fein, so ätherisch und elastisch, ihre Attituden im wollüstigen Nahen und neckischen Entfernen mit dem graziösen Spiele ihrer Hände auf und ab, in rundlichen, reizenden Schwingungen über den Köpfen, die Wendungen und Beugungen ihrer Körper – Alles ist reiche Musik der weiblichen Schönheit, gehoben und getragen durch das Spiel einer Laute hinter ihnen. Mich und die andern Europäer zogen diese musikalischen Gliederreize ungemein an, aber der König war ganz Auge und Ohr für das Puppenspiel, dessen hölzerne, tragische Figuren desto mehr Gelächter erregten, je schmerzvoller und leidenschaftlicher sie sich an ihren Stricken geberdeten. Das Puppenspiel war ihm etwas Neues, und um zu zeigen, wie pfiffig er sei, gab er während eines solchen Puppenspiels dem neben ihm sitzenden Barbier plötzlich einen geheimnißvollen Wink, worauf Letzterer sofort geheimnißvoll verschwand, geheimnißvoll wiederkehrte und ihm, dem Könige, geheimnißvoll etwas in die Hand drückte. Jetzt erhoben sich Se. Majestät, näherten sich dem Theater, gingen pfiffig drum herum, blieben wieder davor stehen, fuhren rasch mit der Hand über einem spielenden Helden hin und zogen die Hand plötzlich zurück, während der unschuldige, hölzerne Mime leblos vom Theater herunterpurzelte und in der seltsamsten Verrenkung unten liegen blieb. Jetzt drehte sich der König zu uns herum, über und über triumphirendes Lächeln, und nickte uns weisheitsvoll zu, als wollte er sagen: „Hatt’ ich nicht Recht, wenn ich behauptete, diese Figuren würden an Fäden gezogen? Hab’ ich sie nicht geschickt durchgeschnitten? Bin ich nicht ein ganz verteufelt aufgeklärter und pfiffiger Kerl?“ Der Barbier brüllte Beifall und lachte am Unbändigsten. Dies gefiel dem Könige so, daß er seinen Witz so oft wiederholte, als Figuren auf dem Theater erschienen, da jeder neue gelungene Schnitt mit großem Gelächter und Beifall belohnt ward, selbst durch süßes, weibliches Kichern hinter einem Gaze-Vorhand hervor, hinter welchem die Schönheiten des Harems zusahen.

Der Puppenspieler ward für seine gemordete Maschinerie, wie immer, reichlich beschenkt, Wein und Gesang circulirten reichlicher und wilder. Alle plauderten und jubelten durch einander, der König [440] phantasirte und schwankte, wie ein gewöhnlicher Sterblicher, der zu viel gekümmelt hat, und fiel endlich ganz ab und zusammen. Es war erstaunlich, wie ähnlich die Majestät einem ganz gemeinen Betrunkenen aussah. Weibliche Dienerinnen und zwei starke Eunuchen kamen hinter Vorhängen hervor, als wären sie für solche „Fälle“ ein für allemal angestellt, und trugen die bewußtlose Majestät in den Harem.

Nach dieser Einsicht in das innere einer ostindischen, angestammten Regierungsweisheit können wir nicht mehr so sehr auf die Engländer zürnen, wenn sie einen Nabob Indiens nach dem andern mediatisiren und selbst regieren.

Unter den Lieblingsvergnügungen des Königs Nussir gehörten Hahnengefechte und Zweikämpfe zwischen wilden Thieren. Und hier finden wir eine der furchtbarsten Merkwürdigkeiten: „Admiikanawallah,“ d.h. das Menschen fressende Pferd, und dessen Kampf mit einem Tiger.

Ich fuhr eines Tages durch die Straßen von Lucknow (erzählt der Verfasser), die ich überall von einem Ende bis zum andern leer fand. Hier und da eilte Jemand im größten Schrecken davon. Ich wunderte mich aber durchaus nicht in dem Grade, als man vielleicht vermuthet. In einer den unbeschränktesten Launen eines Tyrannen ausgesetzten Stadt passiren gar manche Dinge, die uns seltsam erscheinen. Eine Execution, ein Beispiel der absoluten Macht Nussir’s, dachte ich, und nichts weiter. Endlich sah ich mitten in der Straße eine zerquetschte, umhergetretene blutige Masse, die sich bei näherer Untersuchung als der entstellte Leichnam eines Mädchens ergab, zerrissen, zerstampft und mit blutig klebenden Kleiderfetzen, mit noch einigen Spuren von Schönheit. Sie war natürlich ganz todt, doch ich gestehe, hätte ich auch noch Leben darin entdeckt, ich wäre nicht abgestiegen, da es sofort lebensgefährlich ist, sich in die Launen eines Herrschers, wie Nussir, zu mischen, denn daß das schreckliche Schauspiel ein ausgeführter Befehl von ihm war, hielt ich für eine ausgemachte Sache. Ich fuhr weiter durch leere Straßen zwischen verschlossenen Häusern. Nicht lange, und ich stieß uns einen ähnlich verstümmelten Leichnam. Unwillkürlich schauderte ich und sah mich um. Vom Dache eines Hauses rief mir endlich ein Soldat zu:

„Rette Dich, Saheb, Admiikanawallah ist wieder los und wüthender als je!“

Ich hatte öfter von dem Menschen fressenden Pferde gehört, das einem Soldaten gehörte und in der Regel ein gutes Militärpferd sein sollte, aber zuweilen Wuthanfälle bekäme, dann alle Banden zerreiße und alles Lebendige, dessen es habhaft werden könne, zerreiße und zerstampfe.

„Er kommt, er kommt, Saheb,“ schrie der Soldat vom Dache, „rette Dich!“

Ich sah mich um, und da kam es angedonnert mit seinen eisernen Hufen, ein blutiges Kind wüthend im Maule schüttelnd. Mein Pferd zitterte an allen Gliedern. Ich riß es herum und jagte mit aller Kraft davon nach einem offenen Thore, dessen ich mich erinnerte, immer näher verfolgt von dem furchtbaren Geknatter der Hufe unseres wüthenden Verfolgers. Ich hatte Geistesgegenwart und Geschick genug, mitten im wütendsten Fahren zum Thore hinein, herabspringen und das Thor mit einem Stoße zuzuschlagen. Das wüthende Thier prallte noch in derselben Secunde dagegen und glotzte mit furchtbar großen, ringsum weißen Augen durch das Gitter. Mähne und Maul trieften von Blut. Es war der entsetzlichste Anblick, den ich je gehabt mitten unter den wilden Bestien Indiens. Es glotzte, es schnaubte mit weiten offenen Nüstern, es schüttelte Blut um sich, es stampfte gegen die Eisenstäbe. Mein Pferd zitterte durch und durch, auch als die furchtbare Bestie mit knatternden Hufschlägen davon gelaufen. Soldaten fingen es nicht weit davon von einem Thorbogen herab mit einer Schlinge, in der es sich so lange bäumte und würgte, bis es, mit Schaum und Blut bedeckt, zusammensank. Ich erzählte mein Erlebniß dem Könige, der ganz entzückt war von den Schlächtereien, die das furchtbare Thier verrichtet.

„Wir wollen den Admiikanawallah noch wilder machen,“ sagte er, „er soll mit meinem besten und stärksten Tiger Burrhea kämpfen. Der wird’s ihm geben. Mein Liebling soll ihm eine Lection geben. Das wird ein Hauptspaß.“

Am folgenden Tage schon wurden Burrhea und Admiikanawallah in der königlichen Hetzbahn einander gegenüber gebracht. Burrhea hatte während der letzten vierundzwanzig Stunden keine Nahrung bekommen, um seine Blutgier aufzustacheln. Admiikanawallah ward mit einem andern Pferde hineingetrieben. Letzteres stand still und zitternd und erwartete ohne Gegenwehr den Sprung des leise und kriechend hereintretenden Tigers. Mit einem Sprunge desselben und einem Schlage lag das Pferd am Boden und zappelte, bis er es ausgesogen, der dabei den „Menschenfresser“ mit keinem Auge verließ, wie auch letzterer mit gesenktem Kopfe, starrenden Ohren und Mähnen, den einen Fuß etwas vorgestreckt, fortwährend fest auf den Tiger glotzte. Der König rieb sich vergnügt die Hände und sagte: „Diese Vorkost wird meinen Burrhea nur um so wüthender machen.“ Auch die Damen schienen ganz entzückt zu sein. Als der Tiger sich satt getrunken, verließ er das todte Pferd und kroch leise, einen Fuß verstohlen vor den andern setzend und den bluttriefenden Rachen leckend, am Rande der Hetzbahn, um den „Menschenfresser“ herum, der sich eben so regelmäßig und langsam drehte, ohne jemals seine Körperhaltung zu ändern oder den starren, festen Blick nur einen Augenblick von den glühenden Augen des Tigers zu lenken. Es war eine Scene, die nie vergessen werden kann. Alles still und athemlos. Als bildeten beide Feinde den Zeiger einer Uhr, drehten sie sich gleichmäßig im Kreise, der Tiger so leise, so kriechend, so sanft, daß keine seiner Bewegungen hörbar ward. Dabei spielte sein prächtiges gestreiftes Fell auf dem elastischen Körper, als gehöre es gar nicht dazu. Beide Feinde waren offenbar sehr kluge, berechnende Mächte. Burrhea’s Plan war es, den Menschenfresser an Kopf und Brust zu fassen, eine Absicht, die der Menschenfresser deutlich durchschaute und zu verhüten suchte. Endlich schoß der Tiger aus seiner katzenartigen Lage wie ein Blitz empor und in das Fleisch seines Feindes, aber auf dem Rücken hinten. Mit der schärfsten Berechnung und der studirtesten Kunst hatte sich das Pferd im Augenblicke des Sprunges gesenkt und vorgeschoben, so daß der Tiger von seinem Rücken aufgefangen ward, von welchem er mit einem furchtbaren Schusse mit den Hinterfüßen herabgeschleudert ward. Burrhea krachte gegen die Bambuswand und fiel auf den Rücken, so daß nichts fehlte, um in ihm den Besiegten zu erkennen, obgleich das Pferd aus breitgerissenen Wunden blutete und der Tiger unbeschädigt aufsprang.

Der furchthare, stille Kreislauf begann auf’s Neue unter athemloser Stille, die der König nur einmal unterbrach: „Burrhea wird ihn noch tödten.“ Sonst kein Ton, kein Laut. Nur zuweilen ein schnarchendes Schnauben aus den weit aufstarrenden Nüstern Admiikanawallahs, während er den unhörbar katzenleise kriechenden und kreisenden Tiger eben so mit fixem Starren, gesträubten Mähnen und Ohren, mit eben so nach unten vorgestrecktem Kopfe und dem eben so vorgestreckten Fuße in jedem Atome von Bewegung und Absicht unverwandt verfolgte. Dies dauerte volle zehn Minuten, d. h. in unserer Situation eine bis zur größten Pein der Spannung getriebene Ewigkeit. Nur einmal ward der Tiger unschlüssig und leckte das todte Pferd, aber auch nur einmal. Das leise Kriechen ward wieder fortgesetzt, bis er wie von einer unterirdischen Macht plötzlich gegen den Feind geschleudert ward; diesem war seine Finte jetzt noch besser gelungen. Der furchtbare, runde Kopf des Tigers ragte diesmal über den Rücken des Pferdes hinaus, während er sich mit den Hinterklauen und dem Bauche wie eine Schlange andrängte, um sich Haltung zu verschaffen. Der Menschenfresser peitschte mit seinen eisernen Hinterfüßen hoch in die Luft, als wollt’ er sich kopfüber stürzen, während der Kopf des Tigers nach hinten ausrutschte und von einem Hufe des Menschenfressers so getroffen ward, daß ihm, wie sich später ergab, eine Kinnlade zerbrach. Er wälzte sich furchtbar heulend und kroch, den Schwanz zwischen den Beinen, wie ein gepeitschter Hund davon und drückte sich, herausgelassen, in den äußersten Winkel zusammen.


  1. Er kam nach dem Tode des Königs nach England zurück, verspielte hier sein ungeheueres Vermögen durch Eisenbahn-Speculation und ist jetzt Omnibus-Conducteur.
  2. Unter ihnen spielte besonders Einer mit Namen Peerun eine fast eben so glänzende Rolle als der Barbier. Er war einmal schmutzig als Bettler und Waldmensch plötzlich vor den König getreten und hatte ihn angedichtet. Dies gefiel ihm so, daß er ihn sofort zu sich bestellte, ihn adelte und unter die höchsten Personen des Hofes aufnahm. Hier ward er, wie der Barbier, mit Ehren und Geschenken überhäuft, so daß der einst halbnackte, halbverhungerte Naturdichter wie ein Gott dastand. Bei uns findet die natürliche Poesie nicht so schnelle Anerkennung.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Manarch