Bilder von der deutschen Landstraße/3. Kleine Leute

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Autor: August Tropf
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Titel: Bilder von der deutschen Landstraße/3. Kleine Leute
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aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 688–690
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[688]
Bilder von der deutschen Landstraße.[1]
3. Kleine Leute.
I.
Der Aristokrat auf der Landstraße und der Handwerksbursch. – Der commis voyageur einst und jetzt. – Ein Leipziger Banquier und ein Meßfremder im Rosenthale. – Das ehemalige Reisen zur Handelsmesse und die Meßgeschenke. – Die Botenfrau und Thurn und Taxis. – Die prosaischen Briefträger der Neuzeit und der Dichter Chamisso. – Rheinische Erfrischungsgefäße und Leute von der Rhön. – Die bairischen „Ganzen“ und „Halben“. – Annexionssüchtige Tischler in Baiern. – Die deutsche Marseillaise. – Feuerleute aus Neustadt am Rennstiege. – Der Schwammklopfer und der Herzog von Hildburghausen.


Nur der große, sofort in die Augen fallende Verkehr ist den Eisenbahnen geworden; ein Theil des kleineren und stilleren Verkehrslebens, das Anhaltepunkte von Ort zu Ort sucht und findet, zieht auch jetzt noch auf der alten Landstraße weiter, zum Theil selbst parallel mit dem Schienenwege.

„Aristokratie muß sein!“ Folglich auch auf der Landstraße unter der Menge von sogenannten kleinen Leuten, die hier an unserem Blicke vorüberziehen. Auf der Landstraße wird die Aristokratie repräsentirt durch eine gewisse Kategorie der Species des modernen Commis voyageur, wobei wir uns also ausdrücklich dagegen verwahren, als ob wir diese Herren zu den „kleinen Leuten“ zählten oder sämmtliche in eine einzige Classe zusammenzuwerfen gesonnen wären. Man hört zwar an manchen Orten und selbst aus dem geschäftlichen Stile der Herren Principale heraus immer noch den mehr als anstößigen Ausdruck „Reisender“. Es wird aber hohe Zeit, diese durchaus unpassende Bezeichnung endlich fallen zu lassen, weil außerdem der Handwerksbursch, der heutzutage meist auch in nicht viel mehr Häusern zuspricht, als mancher Commis voyageur, genöthigt wird, sein „Entschuldigen Sie, ein Reisender!“ mit einer anderen Wendung zu vertauschen. Eingewickelt in den obligaten, oft nur auf einige Wochen erborgten Pelz, den Schnarr- und Knebelbart zwar mit Aufopferung von Zeit und „Mitteln“, doch zur eigenen hohen Befriedigung in die vollendetsten martialischen Wölbungen und Linien gezogen, sitzt er, unser Reisender, unnahbar und selbstgenugsam in die Wolken einer echten Havanna gehüllt, – denn nur eine solche raucht er, – in dem neuaufgeputzten Reisewagen seines „Hauses“ oder auch in dem gemietheten Gefährte eines Hauderers, der gegen ein nicht zu hohes Trinkgeld gern seinen eigenen Rock auf einige Wochen in den Kleiderschrank hängt, um den wohlbetreßten, mit Aufwand von Putzpulver in seinen Knöpfen funkelnden und außerdem mit einigen Quadratfuß rothen Tuches eingefaßten Rock des „Burschen“ anzuziehen. Mit welchem Avec der Reisende in dem kleinen Landstädtchen aussteigt, wenn der Kellner in Gestalt eines Hausknechts den Chaisenschlag öffnet! So etwas will gründlich erlernt sein. „Jott bewahre! Des is man Routine, weiter nischt!“

Das ihm angeborene aristokratische Naturell documentirt unser Herr Reisender ferner durch die Art, mit welcher er auch dem kleinsten Krämer in dem unbedeutendsten Orte heutzutage die Artikel, in denen er „macht“, zu offeriren und auch ohne [689] Bestellung, ja oft trotz der ausdrücklichen Erklärung, daß man seine Waaren unter allen Umständen nicht brauchen könne, an den Hals zu werfen pflegt. An manchen Tagen findet eine förmliche Hetze unter den Herren Reisenden statt, so daß der Kaufmann, der von ihnen heimgesucht wird, froh ist, wenn die Sonne hinter die Berge steigt, um des überaus lästigen und zudringlichen Volkes endlich los zu werden. Aber siehe! Der gute Mann hat sich getäuscht: der geschäftliche Anstand ist bereits so weit abhanden gekommen, daß der am Tage bereits genug Geplagte auch noch „bei Licht“ heimgesucht wird. Das einzige, immerhin noch sehr zweifelhafte Auskunftsmittel besteht alsdann in dem freundlichen Bedauern der Frau Principalin: „Mein Mann ist verreist!“ wobei sie sich mit dem Rücken gegen die Glasthür stellt, die vom Laden in das Wohnzimmer oder das kleine Schreibstübchen führt, um die Ehehälfte gehörig zu decken. „Verfluchter Keeerl! schon wieder nich zu Hause! Na, den kriege ich schon noch!“ Und wie im Sturm, den todtmüden, mit Musterballen und Koffern schwerbeladenen Lohnbedienten oder „Burschen“ zur Seite, geht’s auf ein neues Opfer los.

Man hört nicht selten behaupten, es habe sich mit der Zeit viel Krankheitsstoff in dem Institute der Herren Reisenden – – doch wo gerathe ich hin! Wenn man weder Doctor der Philosophie, noch Doctor der Medicin ist, soll man von solchen Sachen nicht reden. Dabei fällt mir aber eine Geschichte ein, die, wenn sie auch wohl manchem unserer Leser schon bekannt, doch um so mehr werth, weil sie wahr ist.

Es war zur Zeit der Leipziger Michaelismesse, als der Chef eines reichen Leipziger Bankgeschäfts am späten Nachmittage einen Gang durch das Rosenthal machte. Bei der Umbiegung einer Ecke vernimmt er plötzlich eine menschliche Stimme, die in kurzen abgerissenen Sätzen und in wehmuthsvollem, fast schmerzlichem Tone ein Selbstgespräch hält. „Wie viel ließe sich verdienen! – Hätte ich meiner Frau gefolgt! – Die besten Werdauer (Tuche) um fünfundzwanzig Groschen, und der Jahrmarkt vor der Thür!“ – Als sich der Bankier näherte, gewahrte er einen schlichten, noch ziemlich jungen Mann am Wege sitzen, den er auf den ersten Blick für einen Meßfremden halten mußte, und welcher eben im Begriff war, seine aus Brod und Wurst bestehende Mahlzeit in ihren Ueberresten in Papier einzuwickeln und in die Rocktasche zu bergen. „Nur nicht gleich verzagen!“ rief der Bankier, der sich mit dem unterdessen aufgestandenen Fremden in ein Gespräch einließ, „vielleicht läßt sich Hülfe schaffen!“ – „Ach, da ist gar nicht d’ran zu denken!“ fiel ihm der Fremde in das Wort, „ich kenne hier Niemanden; ich hätte aber noch hundertfünfzig Thaler zusammenmachen können; meine Frau wollte es auch; aber wer konnte voraussehen, daß die Messe bei den jetzigen hohen Wollpreisen so günstig ausfallen würde! Und ganz bloß mag man sich auch nicht geben. Ich bin ein junger Anfänger und lasse auf drei Stühlen arbeiten und habe auch einen kleinen Laden. Aber in acht Tagen haben wir Jahrmarkt, wo ich achtzig bis neunzig Thaler lösen kann; ich hätte mir wieder helfen können! Nun ist’s zu spät.“ – „Vielleicht nicht,“ nahm der Bankier den Fremden bei der Hand, „kommen Sie morgen früh acht Uhr in die K.-Straße, Nr. …, da wird sich, denke ich, die Sache schon machen lassen.“

Am andern Morgen trat der Fremde wirklich in das Comptoir des ihm bezeichneten Hauses ein. Man richtete nur die Frage an ihn, woher er sei, wie er heiße und wo er logire, und bat ihn, ein wenig zu warten, bis Herr *** käme. Nach Verlauf von zehn Minuten erschien in der Thür des Nebenzimmers der Herr von gestern; er winkte dem Fremden, näher zu kommen, und richtete die Frage an ihn, wie viel er zu seinen weiteren Einkäufen noch nöthig habe.

„Hundert Thaler wären ausreichend!“ entgegnete der Gefragte.

„Hier, ich gebe Ihnen bis zur nächsten Messe ohne Zinsvergütung dreihundert Thaler. Machen Sie gute Geschäfte! Guten Morgen!“

Der Fremde, ein Herr F. aus G., jetzt Besitzer eines großen Geschäfts, kam noch oft zur Leipziger Messe und blieb ein schlichter einfacher Mann auch dann noch, als sich, seine Einkäufe nicht mehr nach Hunderten, sondern längst nach Tausenden von Thalern berechneten.

Das geschah zu jener Zeit, als die Krämer- und Handelsleute ihre Geschäftsreisen noch zu Fuße oder höchstens zu Pferde zurücklegten. Vor dem „Musterreiter“ lag der schwere Mantelsack auf dem kräftigen Gaule. Zu beiden Seiten des Sattels erblickte man geladene Pistolen zum Schutze des Reisenden und seines Geldes, das – in groben Münzsorten bestehend – in der lose um den Leib geschnallten oder auch in den Mantelsack eingewickelten Geldkatze geborgen war.

Auch die Handelsmessen wurden in früherer Zeit von den Geschäftsleuten meist zu Fuße besucht; denn die Postkutsche kam zu theuer, und die Omnibusse gehören erst der späteren Zeit an, in welcher Chausseen entstanden waren. Da sah man ganze Karawanen in angestrengten Märschen den Meßstädten zupilgern. Häufig mußte Nachts mit einer Streu vorlieb genommen werden, denn die Wirthshausbetten konnten die Menge der Meßreisenden nicht fassen. Zu dem an sich schon schweren Gepäck nahm man wohl auch noch so viel Proviant von zu Hause mit, als man bis zur Zurückkunft nöthig zu haben glaubte, weil man bestrebt war, die Reisekosten auf das geringste Maß zurückzuführen. Von jenen luxuriösen und theilweise theuren Meßgeschenken wie sie die Braut oder die Frau und selbst die Kinder des von der Messe heimkehrenden Kaufmanns in unseren Tagen erwarten, wußte man in früherer Zeit ebenfalls nichts. Da wurden oft nur drei oder vier Dreier aufgewandt, um vom Zuckerbäcker ein paar Schächtelchen zu kaufen. Und wie glücklich waren die Beschenkten, wenn sie sich im Besitze einiger Zuckerstückchen sahen, die in der oder jener Meßstadt – dem Wunderlande früherer Zeiten – eingekauft worden waren! –

Ein sehr altes und darum in gewisser Hinsicht fast ehrwürdiges Institut der alten deutschen Landstraße war jene ambulante Post, deren gesammtes Beamten- und Dienstpersonal mit Einschluß der Beförderungsmittel in einer „Botenfrau“ oder in einem „Botenmanne“ bestand. So viele Vorzüge unser heutiges Post- und Telegraphenwesen der früheren Zeit gegenüber auch haben mag, Eines hatte das Botenwesen – das übrigens hier und da von Magistratswegen geordnet war und noch ist – doch voraus: man konnte seine Nachrichten mündlich befördern, so daß man der Mühe des Schreibens überhoben war. Nur äußerst selten nahm eine solche Depesche im Gedächtniß der Botenfrau eine andere Gestalt an, geschweige denn daß eine mündlich mitgegebene Bestellung gänzlich verloren gegangen wäre, denn im äußersten Falle erschien sie dem Botenweibe gewiß wieder – im Traume. Dazu kam, daß die Botin wohl auch verstand, Miene und Ton Derjenigen nachzuahmen, welche ihr mündliche Nachrichten anvertraut hatten, und daß man noch tausend andere Fragen thun durfte, die von der Uebermittlerin einer Depesche gern und willig beantwortet wurden.

Kein Wunder, wenn sich zwischen den mit einander verkehrenden Familien und einzelnen Personen durch das Mittel der Botenfrau Vieles schneller und leichter in Ordnung bringen ließ, als heute durch kurze telegraphische Depeschen oder gar durch lange versiegelte Schreibebriefe, wie sie die Post verlangt. Selbstverständlich war die Botin ja auch eine Vertrauensperson der mit einander mündlich Correspondirenden, und noch heute muß ihr nachgerühmt werden, daß sie an Allem, was sie in den Familien ihrer Kundschaft vermittelte, und an diesen überhaupt den lebendigsten Antheil nahm. Da konnte man nöthigenfalls sein Herz ausschütten, wenn die Botenfrau endlich kam, und seine Neugierde stillen. Aber diese prosaischen Briefträger der Neuzeit, – die wissen nichts, und selbst wenn sie etwas wissen, wie benehmen sie sich! – „Lieber Briefträger! Wissen Sie nicht, wo – –“ „Nä, ich weeß gar nischt, ’n Morgen!“ Und im nächsten Augenblicke rennt er schon wieder unten auf der Straße weiter.

Es giebt deshalb auch jener Beschluß Mancherlei zu bedenken, wonach die Frauenzimmer von der Besorgung des Telegraphenwesens ausgeschlossen sein sollen. Als ob nicht Jahrhunderte lange Erfahrungen für die Verschwiegenheit, die Ehrlichkeit, die Pünktlichkeit, die Ordnung und geschäftliche Gewandtheit der Frauen in dem alten Institute der Botenweiber vor uns lägen! – Wenn Thurn und Taxissche Postgäule auch in Schnee- und Sturmwetter stecken blieben, das unverdrossene Botenweib – spät zwar kam sie, doch sie kam. Und was die Stärke des Gedächtnisses anlangte, so bin ich gewiß, daß heut zu Tage fünf Postbeamte alle fünf oder vielmehr sechs Sinne (den Postsinn eingeschlossen) zusammen nehmen müßten, um in dieser Hinsicht auch mit nur einem Botenweibe von ehemals einen Vergleich [690] auszuhalten. Man glaube es nur, sie hatte keine Zeit zu verschwatzen; denn unterwegs mußten die Bestellungen repetirt werden, um jegliche Unordnung zu vermeiden, und am Orte selbst angekommen, galt es die kürzesten Wege rasch zu finden und die Bestellungen schnell zu erledigen und für Alle – wie es das Geschäft erfordert – ein freundliches Wort übrig zu behalten. Es hat auch Niemand eine Botenfrau jemals gesehen, auf deren Stirne nicht vorwiegend der Ernst und die Besonnenheit sich gespiegelt hätten. Ich begreife darum unsern Chamisso auch heute noch nicht, warum er sein herrliches Gedicht dem Waschweibe und nicht vielmehr dem Botenweibe gesungen hat.

Doch auch von ihr, dem braven Botenweibe, müssen wir Abschied nehmen. „Denn hier,“ an der deutschen Landstraße – heißt es in Schiller’s Tell, „ist keine Heimath, – Jeder treibt sich an dem Andern rasch und fremd vorüber und fraget nicht nach seinem Schmerz.“

Da fährt ein kleiner Wagen vorüber. An der kleinen Deichsel zieht mit kräftigen Händen ein sonnengebräunter Mann in blasser Blouse, den an seiner Seite den schweren Wagen mitziehenden Hund von Zeit zu Zeit mit ermunterndem Blick und Wort anregend. Hinten am Wagen schiebt das Weib des Mannes, ein kleines Kind auf dem linken Arme tragend, während ein kaum fünfjähriges Mädchen, das sich am Kleide der Mutter festhält, nur mit Mühe nachkeucht. Die Tracht der Leute sagt uns, daß sie „auf der Rhön“ zu Hause sind, wo Jahr aus Jahr ein gar viele Familien sich aufmachen müssen, um ehrlicher Weise ein Stückchen Brod anderwärts zu verdienen; denn die Rhön birgt in ihren Bergen zum Theil die bitterste Armuth. Das über hohe Reife gespannte graue kleine Plantuch des Wägelchens ist vorn zurückgeschlagen und läßt uns den Inhalt desselben erkennen. Wer hätte sie nicht lieb gewonnen, jene rheinischen Erfrischungsgefäße, jene steinernen Flaschen, Krüge, Einmachgefäße, die wie auf dem Rheine so auch auf dem Maine weit verladen und dann auf Wägelchen – wie wir eben jetzt vor uns sehen – „in’s Land“ gebracht werden. Das sind jene bairischen „Halben“ und „Ganzen“, jene „Hafele“, die uns mit ihren Verzierungen, den Kreuzen, Sternen, Lilien etc. so seltsam anschauen, daß wir uns unwillkürlich ist das Mittelalter versetzt glauben, wenn wir, an die modernen prosaischen norddeutschen Seidel und Gläser gewöhnt, im „ Baierlande“ eine Bierhalle betreten. Noch Anderes hilft dazu, uns hier auf einige Augenblicke rücksichtlich der Zeit, ist der wir leben, zu täuschen. Die stramme Kellnerin, die zehn bis zwölf nicht leere, sondern gefüllte und noch dazu mit schweren zinnernen Deckeln beschlagene „Ganze“ mit einem Male herbeigetragen bringt, scheint uns eher in die Zeit der eisernen Arm- und Bein-, als in diejenige der Eisenbahn-Schienen zu gehören. Wie es in einem solchen bairischen Locale von allen Ständen hin und her wogt! Daran sind lediglich die bösen Tischler schuld; denn diese fertigen in Baiern für die Bierhallen lieber annexionssüchtige lange Tafeln als kleine viereckige Separattischchen – die Undankbaren, die doch ihren Namen dem Tische verdanken! Und wie voll klingt es dann im Chore, wenn nach Vertilgung der kunstgerecht zubereiteten Rettige und bei frischem „Anstiche“ die „Ganzen“ und „Halben“ mit kräftiger Hand erhoben werden, und aus tausend Kehlen der männliche Gesang der deutschen Marseillaise ertönt:

„Freund, ich bin zufrieden,
Geh’ es, wie es will!“ etc.

„Ich bin aus der Neustadt, kaufen Sie mir ab, lieber Herr! Bessern Schwamm haben Sie noch nicht gekauft!“ Und nun folgt eine ganze Reihe von stereotypen Redensarten zum Lobe des angebotenen Stückchen Feuerschwammes in jenem gedehnten, fast singenden Tone, wie er dem uns eben begegnenden Bewohner der Neustadt am Rennstiege auf dem Thüringerwalde eigen ist. Ehe wir’s uns versehen, wird uns auch wohl ein Stückchen brennender Schwamm unter die Nase gehalten. Es ist ein naives, gutmüthig keckes und doch zugleich unternehmendes Völkchen, das in dem genannten Orte seit wohl hundertundfünfzig Jahren seinen hauptsächlichen Unterhalt durch die Bereitung und den Vertrieb des Feuerschwamms suchte und bis ist die neuere Zeit auch fand. Der rothe Feuerschwamm wird von den Karpathen und aus Schweden bezogen, da derselbe in den Buchenwaldungen der Umgegend von „Schwamm-Neustadt“, namentlich in neuerer Zeit, nur spärlich gefunden wird. Nachdem man ihn mehrmals in Wasser eingeweicht und gehörig geklopft hat, wird er in einer Beize gekocht und hierauf durch Riffeln nochmals umgearbeitet und in den Handel gebracht. Es gab und giebt zum Theil noch Schwammhändler in Neustadt am Rennstiege, welche Niederlagen ihres Artikels in fast allen größeren Handelsplätzen Deutschlands und selbst der Nachbarländer unterhalten.

Die Erfindung der Schwefelhölzer aber versetzte dem alten blühenden Geschäfte plötzlich einen empfindlichen Schlag, und man berechnet, daß gegenwärtig von jenen bedeutenden Massen von Feuerschwamm, welche Neustadt am Rennstiege früher ausführte, kaum noch der fünfte Theil verfertigt wird. Die Neustädter aber ließen sich nicht aus der Fassung bringen. „Gut,“ sagten sie, „wenn Ihr unsern Schwamm nicht mehr haben wollt, so machen wir Euch Streichhölzer, wir bleiben gute Freunde!“ – Es sind nun einmal geschworene Feuerleute. Und so ziehen sie denn in allen Gegenden Deutschlands von Haus zu Haus und auf allen Jahrmärkten umher, um ihre Waaren an den Mann zu bringen, und kehren oft erst nach vielen Monaten „in die Neustadt“ zurück. Nur zur Kirchweihzeit finden sich so ziemlich Alle, wenn irgend möglich und nicht vielleicht ein böser Advocat einen dummen Wechselproceß eingeleitet hat, in der lieben Heimath wieder zusammen. Denn dem Neustädter passirt oft ohne seine geringste Schuld ein böser Streich, der ihn in Verlegenheit bringen kann. Das war auch schon früher der Fall. Zum Beweis hierfür diene folgende Mittheilung, die aus authentischen Quellen geschöpft ist.

Zu Anfang dieses Jahrhunderts hatte ein Jäger zur Anzeige gebracht, daß ein Neustädter Schwammklopfer als Wilddieb einen stattlichen Hirsch erlegt habe. Das Amt erkannte gegen den gerade auf Reisen abwesenden Schwammhändler auf acht Wochen Gefängniß. Wie aber stellte sich die Sache später heraus?

Der Neustädter ging getrost zu seinem Fürsten – denn mit einem guten Gewissen braucht man keine Furcht vor Menschen zu haben – und sagte: „Gnädigster Herr! Da hat der dumme Jager eine Anzeig’ gegen mich gemacht, daß ich soll acht Wochen sitz’. Ich hatt’ doch ein geladenes Gewehr im Haus’ und wollt’s draußen vor’m Dorf abschieß’. Und wie ich losdrücken wollt’, da kam mit einem Mal ein ganz gewaltiger Hirsch daher gefahren, daß ich nur so zuschießen mocht’. Ich dacht’ aber: Nee, der is zu gut für dich, der is für deinen gnädigsten Landesvater! Und hab’ nich geschossen. Und wie ich noch e Weil da gestanden hatt’ und wollt’ mei Gewehr nun ruhig abschieß’ und hat’s auch schon an den Backen gebracht, kam auf einmal wieder ein ganz großes Thier daher gerannt, daß ich fast erschrock und abgeschossen hätt’. Ich sagt’ aber zu mir: Nee, der is zwar nich so groß, wie der vorige Hirsch, aber für dich is er doch zu gut, der is für deine gnädigste Landesmutter! Und hab’ wieder nich geschossen. Und wie ich so noch e Weil dagestanden hatt’ und wollt’ mei Flinten nun endlich doch abschieß’, da kam mir von der Seite her nur so e ganz klein’s verkrüppeltes Ding von ein’m Hirsch gerade accurat vor’s Gewehr gelaufen, daß ich dacht: Nee, der is zu schlecht für deinen gnädigsten Landesvater und auch zu schlecht für deine gnädigste Landesmutter, den können’s nich gebrauchen! Und wie ich losdrück’, kommt der Jager accurat dazu. Und da soll ich acht Wochen sitz’! Is das Recht?“

In Folge der originellen Vertheidigung entließ der Fürst unsern Neustädter mit dem Bescheide, daß in Zukunft „die ganz kleinen und verkrüppelten Dinger von Hirschen“ – dem Erbprinzen gehören sollten, und der böse Jäger hatte das Nachsehen.

Auch der Schwammhändler „aus der Neustadt“ hat uns schon längst wieder verlassen und zieht fröhlich und getrost auf der Landstraße weiter, so daß wir nur noch seinen mittelst Armbändern auf dem Rücken befestigten gelben Ranzen von Weitem erkennen. Da – um die Ecke herum – bietet sich uns schon wieder ein anderes und nicht weniger interessantes Bild. Doch davon ein anderes Mal!
August Topf.
  1. S. Jahrg. 1864, Nr. 17, 44, 47 und 49.