Der angefütterte Blödsinn

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Autor: Bock
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Titel: Der angefütterte Blödsinn
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aus: Die Gartenlaube, Heft 32, S. 510–511
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Kleinkind-Ernährung
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Strafpredigt für Mütter und Erzieher.
Der angefütterte Blödsinn.

Es giebt ein Organ im menschlichen Körper, welches zum großen Nachtheile der ganzen Menschheit von den Erziehern viel zu wenig gekannt und beachtet wird. Daher kommt es denn aber auch, daß der Mensch der Jetztzeit nur das Product des Zufalls und nicht das einer naturgemäßen, vernünftigen Erziehung ist. Ob ein Mensch gut oder böse, klug oder dumm, herrschsüchtig oder sclavisch, abergläubisch oder aufgeklärt u. s. f. ist, das hat er in der Regel nur dem Zufalle, nicht selten in Gestalt einer alten Kindermuhme, zu verdanken. Das darf aber nicht so fortgehen; eine auf die im menschlichen Körper herrschenden göttlichen Naturgesetze gegründete richtige Erziehung muß andere, bessere, vollkommenere und gesündere Zukunfts-Menschen schaffen. Und das kann nur mit Hülfe jenes Organs erreicht werden, welches Gehirn heißt und in der Schädelhöhle des Kopfes, von einer festen knöchernen Wand rings umgeben, geschützt liegt.

Das Gehirn ist nämlich derjenige Apparat unseres Körpers, mit dem wir denken, fühlen, wollen und dem wir unser Selbstbewußtsein verdanken. Nur mit Hülfe dieses Apparates ist das Denken, Fühlen und Wollen möglich. Aber alle diese sogenannten geistigen Thätigkeiten ist das Gehirn nicht etwa schon von Geburt an auszuführen im Stande, sondern es müssen diese Thätigkeiten ganz allmählich im wachsenden Gehirne angeregt und in dasselbe hineingewöhnt, erzogen werden. Ebensowenig wie ein Mensch schon mit der Fähigkeit zu tanzen auf die Welt kommt, auch wenn er die schönsten Beine mitbringt, oder Clavier zu spielen, wenn auch seine Finger und Arme noch so wohlgebildet sind, ebensowenig kann der Neugeborne, wenn er auch im Besitze eines noch so guten Gehirns ist, damit geistig thätig sein, und er wird es auch niemals damit sein können, wenn das Gehirn nicht dazu angehalten, daran gewöhnt wird. Kurz, das muß erlernt werden und zwar, wenn es ein zeitgemäßes, in die Gegenwart passendes sein soll, durch Uebungen, welche von Erziehern geleitet werden, die das Gehirn richtig zu behandeln verstehen und mit den Fortschritten in der menschlichen Cultur, vorzugsweise aber in den Naturwissenschaften gehörig vertraut sind. Wollte man ein Kind, ehe es nach den richtigen Gesetzen der Menschlichkeit denken gelernt hat, einem Hexenverfolger zur Erziehung übergeben, so würde es gar nicht lange dauern, um in diesem jungen Menschen den festen Glauben erzeugt zu finden, daß es ein Gott wohlgefälliges Werk sei, Hexen so viele, als man ihrer nur habhaft werden kann, zu verbrennen.

Es steht unwiderruflich fest: nur wer ein Gehirn hat, kann denken, fühlen und wollen lernen; – und nur wer ein gut gebildetes Gehirn hat und nur der, dessen Gehirn richtig dazu erzogen wird, kann dies ordentlich lernen. Der Mensch hat zur Zeit von allen Geschöpfen das vollkommenste Gehirn und kann deshalb auch, sobald dasselbe nur durch richtige Erziehung zum richtigen Arbeiten gewöhnt wird, am vollkommensten denken, fühlen und wollen. Das Thier mit seinem kleinern, unvollkommnern Gehirn wird dies, auch bei der sorgfältigsten Erziehung, niemals in solcher Vollkommenheit thun können, wie der Mensch. Wohl aber kann ein Thier, zumal eins aus den höheren Thierclassen (Affe, Hund, Elephant etc.), weit verständiger sein und handeln als ein Mensch, dessen Gehirn unvollkommen entwickelt oder von aller Erziehung fern gehalten wurde, wie dies bei Blödsinnigen [511] der Fall ist. Was übrigens die Erziehung (Gewöhnung) des Gehirns zum immer bessern, vollkommnern Thätigsein betrifft, so läßt sich nicht blos bei den Menschen, wenn wir die jetzigen mit den früheren vergleichen, sondern auch bei den Thieren ein bedeutender Fortschritt wahrnehmen. Viele unserer jetztlebenden Thiere (wie Hunde, Pferde und andere Hausthiere) sind weit klüger und besser als ihre Vorfahren, und das macht blos ihre besser gewordene Erziehung nicht nur durch den Menschen, sondern auch durch die schon etwas gebildeteren Eltern dieser Thiere. – Ausführlicheres über das Gehirn und seine Thätigkeit findet sich in der Gartenlaube Jahrg. 1860, Nr. 51 und 1861, Nr. 47 und 52. – Wir wollen jetzt nachweisen, wie eine falsche Ernährung des Kindes im ersten Lebensalter dem Gehirne so schaden kann, daß es zum richtigen Erlernen seiner Thätigkeiten ganz unfähig wird und für’s ganze Leben blödsinnig bleibt.

Beim neugeborenen Menschen zeigt sich die ovale Kapsel, in welcher das Gehirn eingeschlossen liegt und die den obersten Theil des Kopfes, den sogen. Schädel, bildet, noch nicht überall knöchern hart, wie dies später der Fall ist, sondern stellenweise noch häutig-sehnig oder knorplig-weich und elastisch, so daß sie deshalb allmählich auch noch ausgedehnt (der Schädel größer) werden und einen immer größer werdenden Raum in ihrem Innern (eine sich erweiternde Schädelhöhle) enthalten kann. Die größten und auffälligsten weichen Stellen am Kindeskopfe heißen „Fontanelle“, und von diesen ist beim Neugebornen die über der Stirn befindliche große viereckige Fontanelle als „Plättchen“ bekannt. Sie wird erst im zweiten Lebensjahre hart und läßt bis dahin die Bewegungen des Gehirns fühlen und sehen. Außerdem befinden sich aber auch noch zwischen den einzelnen schon verknöcherten Partieen der Hirnkapsel (d. s. die sogen. Schädelknochen) ausdehnbare häutig-knorplige Säume oder Streifen (Nahtknorpel), welche eine Vergrößerung des Schädels gestatten.

Nur bei dieser Einrichtung, daß nämlich die Hirnkapsel auch nach der Geburt noch längere Zeit ausdehnbar ist, wird es dem Gehirne möglich bis zu der Größe zu wachsen und dabei den Schädel zu vergrößern, welche zu seinem ordentlichen geistigen Thätigsein nöthig ist. Bei dem Umfange, welchen das Gehirn zur Zeit der Geburt und in den ersten Lebensjahren hat, ist vom Verständig-Sein und Werden gar keine Rede, und es würde also das Gehirn, wenn es diesen Umfang zeitlebens behalten müßte, niemals zum ordentlichen Denken, Fühlen und Wollen befähigt werden können. Der Mensch mit einem solchen kleinen Gehirne muß für’s ganze Leben mehr oder weniger blödsinnig bleiben. Und das eben ist gar nicht selten der Fall, wenn die Hirnkapsel früher als es sein sollte, vielleicht sogar bald nach der Geburt vollständig hart wird und nun nicht mehr durch das Gehirn erweitert werden kann. Das Gehirn wird dadurch in seinem Wachsthume aufgehalten, bleibt widernatürlich klein und behält zeitlebens die Größe und Thätigkeit wie beim Kinde. Natürlich wird in solchen Fällen auch der Kopf in seinem obern oder Schädeltheile auffallend klein erscheinen. Man bezeichnet diesen durch vorzeitiges Hartwerden (Verknöchern) der Hirnkapsel bedingten und wegen der dadurch gehemmten Entwickelung des Gehirns von Blödsinn begleiteten Zustand als Kleinköpfigkeit, Mikrocephalie.

Wie kann nun ein solches vorzeitiges, Blödsinn mit sich führendes Hartwerden (oder Verknöchern) und Kleinbleiben der Hirnkapsel (des Schädels) zu Stande kommen? Die Wissenschaft ist zur Zeit noch nicht im Stande, mit Sicherheit darüber genaue Auskunft zu geben; auch sind die Ursachen ohne Zweifel verschiedenartige. Mit großer Wahrscheinlichkeit läßt sich aber annehmen, daß eine dieser Ursachen eine widernatürlich große Menge desjenigen Stoffes im Blute ist, welcher die Verknöcherung zu Stande bringt, den Knochen ihre Härte und Festigkeit verleiht und ohne welchen die Knochen weich, biegsam, knorplig-häutig bleiben. Dieser Stoff heißt „Knochenerde“ und besteht vorzugsweise aus phosphorsaurem Kalk, dem etwas kohlensaure Kalkerde und phosphorsaure Talkerde beigemischt ist. Die Knochen erhalten diese Erde aus dem Blutstrome; in’s Blut gelangt sie durch die genossenen und verdauten Nahrungsmittel, und diese nehmen sie aus der uns umgebenden anorganischen Natur, aus dem Erdboden und Mineralreiche auf. Der Zahn der Zeit zernagt den kalkhaltigen Fels zu Trümmern; diese werden Staub; Wind und Regen bringen den Staub in die Ebene, dort düngt er den Acker, die Wiese, und dient der Pflanze als Nahrung, welche, von Thieren und Menschen verzehrt, denselben die erdigen Stoffe zuführt, aus denen die Knochen sich aufbauen und erhalten. Auch das harte Trinkwasser, welches Kalksalze enthält, sorgt für den Bedarf unseres Leibes an Knochenerde. – Was der Mangel an Kalkerde in der Nahrung anrichten kann, läßt sich am besten bei den Hühnern wahrnehmen, die, wenn sie nicht Kalk genug zu sich nehmen, Eier nicht mit harter, sondern mit ganz weicher, hautartiger Schale legen.

Da wir nun wissen, daß die Knochenerde durch die Speisen und Getränke unserm Blute und durch dieses den Knochen zugeführt wird; da wir ferner mit ziemlicher Sicherheit vermuthen können, daß, wenn zu viel oder zu wenig von dieser Erde in das Blut geschafft wird, die Knochen, als hauptsächlichste Ablagerungsstelle für dieselbe, auch am meisten dadurch zu leiden haben: so ist es doch sicherlich erlaubt, zu fürchten, daß, wenn einem kleinen Kinde, zumal dem Säugling, dessen Knochen noch nicht vollständig gehärtet sind, eine kalkreichere Nahrung, als sich gehört, verabreicht wird, dadurch die noch weichen Knochen desselben widernatürlich schnell, nämlich vor der gehörigen Zeit, hart werden, die Hirnkapsel also viel zu zeitig unausdehnbar wird. Beim Erwachsenen mit vollständig ausgebildeten Knochen schafft der gesunde Körper den im Uebermaß genossenen Kalk durch den Urin wieder fort, ohne daß derselbe während seines Verweilens im Blute auffallende, der Wissenschaft bis jetzt bekannte Störungen veranlaßt hätte. Beim Kinde findet er dagegen in den noch nicht verknöcherten Partien eine bequeme Ablagerungsstätte.

In der Muttermilch befindet sich die Knochenerde in solcher zweckmäßiger Menge und Beschaffenheit, daß sie die Verknöcherung der noch weichen kindlichen Knochen weder widernatürlich beschleunigt, noch verlangsamt. Die Milch ist deshalb auch, abgesehen von ihren übrigen, dem kindlichen Körper ebenfalls angepaßten und unentbehrlichen Bestandtheilen (besonders Käse und Butter), das allein naturgemäße und zweckmäßige Nahrungsmittel für den Menschen in seinem ersten Lebensalter. Nur ganz dumme Mütter können sagen: „Mein Kind wird von der Milch nicht satt “ – Bei kranken Frauen will man die Milch reicher an Mineralbestandtheilen, zu denen ja die Salze der Knochenerde gehören, gefunden haben, und deswegen schon dürfen kränkliche Mütter und Ammen nicht stillen. – Die Kuhmilch enthält weit mehr Mineralbestandtheile, als die Mutter- und Ammenmilch, und es muß deshalb dieser Milch, beim Aufziehen des Kindes damit, etwas Wasser, sowie auch Milchzucker und Sahne zugesetzt werden. – Eine mehlige, breiige Nahrung ist für das Kind im ersten Lebensjahre die allergefährlichste, insofern sie viel zu reich an erdigen und unverdaulichen Stoffen und viel zu arm an nährenden Bestandtheilen ist. – Auch das Wasser, welches zur Verdünnung der Kuhmilch benutzt wird, ist nicht unberücksichtigt zu lassen, da ein mit großen Mengen Kalksalzen versetztes, sogen. hartes Wasser die kindlichen Knochen doch vielleicht auch vorzeitig hart machen könnte. Kalkreiches Quell- und Brunnenwasser läßt sich durch halb- bis einstündiges Kochen in einem offenen Gefäße weich und zum Gebrauche für Kinder tauglich machen. Die durch Kohlensäure aufgelösten Kalksalze werden nämlich durch das beim Sieden des Wassers stattfindende Entweichen der Kohlensäure in ihren festen Zustand zurückgeführt und scheiden sich dann in dem getrübten Wasser bei der Ruhe als ein weißlicher oder bräunlicher Bodensatz ab, von dem man das Wasser vorsichtig abgießt. In Gefäßen, welche zum andauernden Erhitzen größerer Quantitäten Wassers dienen, setzt sich der Kalk oft in harten steinartigen Krusten ab und wird Kesselstein (fälschlich Salpeter) genannt.

Angefüttert könnte also der Blödsinn dadurch werden, daß man einen jungen Weltbürger seine naturgemäße Nahrung, und das ist die Menschenmilch, nicht saugen läßt, sondern denselben durch künstlich zubereitete, wohl gar durch breiige Nahrung aufzieht und daß man dadurch zum vorzeitigen Hartwerden des Schädels, sowie zum Kleinbleiben des Gehirns Veranlassung giebt.
Bock.