Die Bevölkerungsverhältnisse

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Karl Biedermann
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Bevölkerungsverhältnisse
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 633–635
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[633]

Kulturgeschichtliche Bilder.

5. Die Bevölkerungsverhältnisse.

Es giebt eine Wissenschaft, die auf den ersten Blick von ermüdender Trockenheit – denn sie hat es zum größern Theile mit Nichts als Zahlen zu thun – bei näherer Bekanntschaft dennoch nicht nur höchst wichtig in ihren Ergebnissen, sondern auch höchst interessant in ihren Forschungen und Aufstellungen ist. Diese Wissenschaft ist die Statistik, d. h. die in bestimmten Zahlengrößen ausgedrückte Kenntniß und Abschätzung der Resultate und der Fortschritte menschlicher Kultur – der geistigen sowohl als der materiellen. Die Statistik ist für die Kulturgeschichte, für die Staatswissenschaft, für die Regierungspolitik eben Das, was für die Naturforschung die Mathematik. Wie die Naturwissenschaften erst seit der Zeit einen allgemeinen Aufschwung und eine festere Grundlage gewannen, als man anfing die Ergebnisse ihrer Beobachtungen und ihrer Experimente mit Hülfe der mathematischen Analysis auf bestimmte Formeln und genau zu berechnende Größenverhältnisse zurückzuführen, ganz ebenso datirt der Aufschwung und die größere Sicherheit unserer Staatswissenschaften, ganz besonders unserer Staats- und Völkerwirthschaftslehre, von der richtigeren Erkenntniß und der sorgsamern Pflege der Statistik. „Zahlen beweisen“ – das ist eine unleugbare Wahrheit, wenn man sie nur recht versteht. Die Zahlen allein freilich, als todte Ziffern, haben weder eine beweisende, noch eine überzeugende Kraft; allein die Thatsachen, die geschichtlichen Wahrheiten sind es, die durch Zahlen zu uns sprechen, eine Gewalt auf uns ausüben, größer als die des glänzendsten Räsonnements. Wenn der Communist sich in philantropischen Klagen ergeht über das in furchtbarer Progression zunehmende Menschenelend und die immer verzweifelter werdenden Zustände der arbeitenden Klassen, wenn er wegen dieser angeblichen Verschlimmerung der socialen Verhältnisse den Kulturfortschritt, die gesteigerte Erwerbsthätigkeit anklagt und von einer noch weitern Entwickelung der letzten, den völligen Ruin der Gesellschaft prophezeiht, so wird Mancher, trotz allen Zweifeln, die er im Stillen gegen die Richtigkeit dieser Behauptungen hegt, dennoch in Verlegenheit sein, wie er dieselben siegreich widerlegen könne, bis die Statistik ihm zu Hülfe kommt – wodurch? Durch ein kleines Häuflein Zahlen, welche die Thatsache feststellen, daß die Massenarmuth in der Gegenwart geringer ist, als sie früher war, daß der Arbeiter von heut sich durchschnittlich besser befindet, als sein Schicksalsgenosse von ehemals, u. s. w.

Wenn die „Hasser“ der Gegenwart, und die Lobredner der „guten alten Zeit“ behaupten, der Bauer habe sich bei dem ehemaligen „patriarchalischen“ Verhältniß zu seiner Grundherrschaft besser gestanden, als jetzt in seinem freien Zustande, so ist die Statistik da, um das Gegentheil zu beweisen, indem sie uns ganz einfach mit Zahlen vorrechnet, in welchem Maße der Werth der Bauergüter, die Beschaffenheit der Wohnungen, der Lebensweise, der geistigen Bildung, der ökonomischen Tüchtigkeit des Bauernstandes sich gehoben habe, seitdem der Bauer sein eigener Herr ist, über sein Besitzthum und seine Person frei verfügen kann und die Früchte seines Fleißes nicht mehr mit einem Andern zu theilen hat. Wenn der einseitige Autoritätsanbeter uns von den Vorzügen solcher Bevölkerungen schwatzt, welche sich durch unbedingte [634] Hingebung an jede politische und kirchliche Autorität und durch blinden Fanatismus gegen jedes selbstständigeres Denken oder Wollen auf weltlichem wie auf kirchlichem Gebiete auszeichnen, so brauchen wir ihm nur die amtlichen Tabellen der Criminalstatistik vor die Augen zu halten, welche darthun, daß nirgends mehr gemeine Verbrechen der gröbsten Art vorkommen, als eben unter diesen „naturwüchsigen“ und „unverbildeten“ Bevölkerungen, um ihn mit seiner ungewaschenen Lobrede zum Schweigen zu bringen.

Man hat diese wichtigen Vortheile der Statistik in der neuern Zeit fast überall anerkannt und gewürdigt. Die Länder, welche die entwickeltste Industrie und Volkswirthschaft besitzen, (wie England, Belgien, unter den deutschen Staaten besonders Preußen und Sachsen) haben sich der Statistik mit dem größten Eifer angenommen und es ist wohl keine unbegründete Annahme, wenn man diesen letztern Fortschritt für eine wesentliche mitwirkende Ursache jenes ersten ansieht. Es wird kaum eine größere politische Rede im englischen Parlamente gehalten, die nicht gespickt wäre mit zahlreichen statistischen Angaben, und es kommt kaum ein Gesetzentwurf von nur einiger Wichtigkeit bei den belgischen Kammern zur Vorlage, der nicht zu seiner Begründung ein Heer von Zahlen aufmarschiren ließe.

Wenn wir daher im Nachstehenden den Versuch machen, unsern Lesern gewisse kulturgeschichtliche Verhältnisse vorzuführen, bei deren Darstellung die statistischen Daten und Zahlen eine überwiegende Rolle spielen, so halten wir uns durch die eben vorausgeschickten Betrachtungen über den Werth solcher statistischer Angaben für gerechtfertigt und geben uns der Hoffnung hin: die Aufmerksamkeit und das Interesse der Leser werde uns auch dabei nicht im Stiche lassen. Wir beginnen mit den Bevölkerungsverhältnissen.

Daß die Bevölkerung aller civilisirten Länder in einem fortwährenden Wachsthume begriffen sei, dürfen wir als eine allgemein bekannte Thatsache voraussetzen. Das Maß dieses Wachsthums ist ein verschiedenartiges: es richtet sich theils nach dem Kulturgrade der Länder, theils nach den für Aufnahme und Ernährung einer größern Bevölkerungszahl vorhandenen natürlichen Bedingungen. In Gegenden mit noch dünner Bevölkerung wird natürlich diese, bei übrigens gleichen Verhältnissen, sich schneller vermehren, als in solchen, die bereits stark bevölkert sind. Die Leichtigkeit des Fortkommens, das Erwerben von Grundeigenthum oder der Betreibung irgend eines, noch nicht durch massenhafte Concurrenz übersetzten Nahrungszweiges zieht von auswärts Ansiedler herbei und veranlaßt unter der eingebornen Bevölkerung häufigere, frühere und fruchtbarere Ehen, als in der Regel dort stattfinden, wo jeder nicht absonderlich vom Glück Begünstigte nur unter den größten Mühen und Sorgen für sich und eine zu gründende Familie ein Auskommen zu finden hoffen darf. So erklärt sich leicht die wahrhaft colossale Vermehrung der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, abgesehen von den politischen Zuständen dieses Landes, die für Viele ebenfalls ein Anreiz zum Uebersiedeln dorthin sind. Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten hat sich von 1799 bis 1850, also in ohngefähr 50 Jahren beinahe versechsfacht; 1799 betrug sie noch nicht 4, 1850 nahezu 24 Millionen. Noch staunenswerther ist diese Zunahme bei einzelnen Orten; so zählte New-York vor 50 Jahren erst 60,000 Einwohner, jetzt hat es deren (ohne die gewöhnlich mit hinzu gerechneten Nachbarorte) über 600,000, also zehnmal so viel. In Europa stellt sich das Durchschnittsverhältniß der Bevölkerungsvermehrung nach den bisherigen Erfahrungen etwa wie 1 zu 80–100, d. h. auf je 80 oder 100 Köpfe der Bevölkerung kommt jährlich ein Kopf mehr, also auf die 42 Millionen Menschen, die man für Deutschland berechnet, jährlich 420,000 bis 520,000. Beiläufig gesagt erhellt hieraus, wie unbegründet die Besorgnisse wegen einer Entvölkerung Deutschlands durch die Auswanderung sind. Denn, wenn auch jährlich 100,000 und noch mehr Menschen auswandern, so beträgt dies immer erst etwa 1/4 des jährlichen Bevölkerungszuwachses.

Bemerkenswerth ist, wie sich das angegebene Durchschnittsverhältniß verschiedenartig modificirt in Bezug auf die bedeutendsten Staaten Europa’s. Nach den Beobachtungen der letzten zwanzig Jahre glauben Manche, daß die Bevölkerung sich verdoppeln werde: in Preußen und Deutschland binnen 30 Jahren, in England binnen 42, in Rußland binnen 66, in Oesterreich binnen 70, in Frankreich erst binnen 130. Andere setzen die Zahl der Jahre, binnen denen eine Verdoppelung der Bevölkerung zu erwarten wäre, folgendermaßen fest: für Rußland 48, Oesterreich 511/2, England 52, Frankreich 125. Nach den bewährtesten statistischen Angaben dagegen scheint die Bevölkerungsvermehrung in den vier Hauptkulturstaaten: England, Preußen, Oesterreich, Frankreich nach der Reihenfolge, in der wir sie hier anführen, vor sich zu gehen. Diese Verschiedenheit rührt theils von den verschiedenen Graden der Dichtigkeit der schon vorhandenen Bevölkerungen, theils von andern Ursachen her. Wäre das erste Moment allein ausschlaggebend, so müßte Rußland die stärkste Bevölkerungsvermehrung haben, denn es beherbergt auf 530 Millionen Hektaren Land nur erst 66 Millionen Menschen; England dagegen die schwächste, denn dort leben auf 31 Millionen Hektaren bereits 29 Mill. Menschen, beinahe auf jeder Hektare einer. In der Mitte liegen Oesterreich, wo auf 68 Mill. Hektaren 39 Mill. Einwohner, Frankreich, wo auf 53 Mill. Hektaren 36 Mill. Einwohner, Preußen, wo auf 28 Mill. Hektaren 17 Mill. Einwohner und das übrige Deutschland, wo auf 24 Mill. Hektaren 18 Mill. Einwohner kommen. Wenn statt dessen die oben angegebene Reihenfolge stattfindet, so ist dies ein Beweis, daß die größere geistige und industrielle Kultur, die größere politische Freiheit und Selbstthätigkeit des Volkes, und das durch alles Dies erzeugte größere Wohlbehagen wesentlich zur Steigerung des Bevölkerungszuwachses mitwirken. Das auffallende Mißverhältniß, worin Frankreich (und zwar übereinstimmend nach allen Annahmen) gegen England, Preußen und selbst Oesterreich steht, läßt sich nur aus dem Mangel eines entwickelten Familienlebens und den in diesem Punkte herrschenden leichtfertigeren Sitten der Mehrzahl des französischen Volkes erklären. Bekannt ist, daß in Frankreich sowohl die Ehelosigkeit verbreiteter als auch die Fruchtbarkeit der Ehen durchschnittlich geringer ist, als irgend wo anders, indem man daselbst nur zwei, höchstens drei Kinder auf eine Ehe rechnet, während in England und Deutschland die Durchschnittszahl zwischen vier und fünf beträgt.

Natürlich hat auch in den einzelnen Ländern die gesteigerte Kultur ein gesteigertes Wachsthum der Bevölkerung zur Folge gehabt. Weniger durch die vermehrte Zahl der Geburten, als durch die verminderte Sterblichkeit. Denn, wenn auch die Steigerung der Gewerbsthätigkeit, und die Verbesserung der technischen Hülfsmittel für dieselbe, die vervollkommnete Gesetzgebung und die erhöhte gewerbliche und überhaupt geistige Bildung der Völker den Einzelnen viele neue Wege des Fortkommens aufschließen und es dadurch möglich machen, daß auf dem gleichen Raume eine viel größere Bevölkerung als ehedem, sich ernähren und wohlbefinden kann, so ist es doch natürlich, daß, je mehr die Bevölkerung anwächst, desto schwerer für den Einzelnen die Begründung eines Hausstandes, die Ernährung einer Familie werden muß. Zeiten langen friedlichen Behagens und eines gleichmäßigen allgemeinen Wohlstandes sind daher der Vermehrung der Ehen und der Geburten bisweilen weniger günstig, als solche Zeiten, welche auf verwüstende Kriege oder große Handelscalamitäten folgen, während deren die Bevölkerungsbewegung still stand oder zurückging. So ist die Zahl der geschlossenen Ehen im Verhältniß zur Bevölkerungszahl in Deutschland kaum wieder so groß gewesen, als unmittelbar nach dem Ende des 30jährigen Kriegs. Indeß finden wir doch im Allgemeinen eine, wenn auch nur geringe Zunahme der Geburten im Verhältniß zu ehemals. Die Klage, daß das Eingehen eines Ehebündnisses und die Gründung eines eigenen Haushaltes heutzutage viel schwerer und in der Regel erst in weit späterem Alter möglich sei, als zu den Zeiten unserer Groß- und Urgroßväter, erweist sich, im allgemeinen Durchschnitt, als unbegründet, denn schon damals konnte ein großer Theil der männlichen Jugend selten vor dem 30. Jahre an’s Heirathen denken, und namentlich in den größern Städten fanden Ehebündnisse wohl kaum häufiger und kaum in früherem Alter statt, als gegenwärtig. Man schob dies damals (wie auch wohl noch heute öfters) auf den eingerissenen Luxus, besonders aber auf den Mangel an Wirthschaftlichkeit und die verschwenderischen Sitten des weiblichen Geschlechts. Auffallend ist in der damaligen Zeit die geringe Fruchtbarkeit der Ehen gerade in den reichsten und blühendsten Städten. In Berlin rechnet man durchschnittlich 3,8 Kinder auf eine Ehe, in Augsburg 3,3, in Leipzig 2,9 und eine Zeit lang gar nur 2,6. Der allgemeine Durchschnitt (3,13 für die sämmtlichen preußischen Lande) war 4,2 Zwischen 1815–30 dagegen betrug derselbe in Preußen 4,22, in Sachsen 4,58, in Württemberg 4,76, – überall also mehr, als früher.

[635] Wir müssen hierbei noch ein merkwürdiges Mißverhältniß berühren, welches sich in der Bevölkerungsbewegung vieler größern Städte Deutschlands im vorigen Jahrhundert zeigt. Dasselbe bestand darin, daß die Zahl der Sterbefälle regelmäßig die Zahl der Geburten überstieg, sodaß der einheimische Bevölkerungsstamm eigentlich in fortwährendem Abnehmen begriffen war und nur durch Einwanderungen von außen wieder ergänzt oder vermehrt werden konnte. Am Auffallendsten zeigt sich dieses Mißverhältniß in Leipzig, denn hier verhielt sich die Zahl der jährlichen Geburten zu der Zahl der jährlichen Todesfälle wie 3 zu 4, d. h.: von den etwa 30,000 Einwohnern, welche Leipzig damals hatte, starben jährlich im Durchschnitt 1100, während nur 860 durch Geburten hinzukamen, sodaß der eigentliche Bevölkerungsstamm jedes Jahr um dritthalbhundert Menschen verringert wurde, die durch Zugänge von auswärts ersetzt werden mußten. Mehr oder minder ähnlich war das Verhältniß in Berlin, Wien, Dresden, Frankfurt a. M., Augsburg. Nürnberg, München, u. s. w.; heutzutage findet bekanntlich, mit seltenen Ausnahmen, überall das Gegentheil statt, ein regelmäßiger Ueberschuß der Gebornen über die Gestorbenen. Jenes frühere Mißverhältniß rührte wohl größtentheils daher, daß in den genannten Orten und den ihnen gleichartigen durch glänzende Hofhaltungen, künstliche gewerbspolitische Maßregeln oder auf sonst welche Weise die Erwerbszustände eine derartige Gestalt angenommen hatten, daß sie zwar viele Menschen durch die Aussicht auf große Gewinnste und leichtes Fortkommen anlockten, daß aber ein großer Theil dieser Einwanderer und selbst der Einheimischen zu einer eigentlichen Selbstständigkeit des Erwerbes, einer festen Niederlassung und der Gründung einer Familie es nicht brachte. In Berlin z. B. lebten unter ohngefähr 110,000 Einwohnern vom Civil 21,000 unverheirathete und keiner verheirateten Familie angehörige Personen.

Die gegentheilige Erscheinung zeigt sich schon damals bei den Orten, welche durch eine zwar weniger glänzende und in’s Große getriebene, aber mehr auf eignen Füßen stehende und innerlich gesunde Industrie emporstrebten, insbesondere den gewerbfleißigen Mittelstädten Sachsens und Thüringens, Chemnitz, Bautzen, Zittau, Görlitz, Altenburg, Erfurt u. s. w. Hier wuchs die Bevölkerung, nicht hastig aber stetig, von innen heraus, durch regelmäßige Überschüsse der Geburten über die Sterbefälle.

Im Allgemeinen hat – und darin zeigt sich eine unzweifelhafte erfreuliche Folge des geschehenen Kulturfortschritts – die Sterblichkeit in der neuern Zeit gegen früher ganz entschieden und theilweise sehr bedeutend abgenommen. In England starb zu Ende des 17. Jahrhunderts, so viel sich aus damaligen Angaben schließen läßt, durchschnittlich im Jahr ein Mensch von 25, höchstens 30, zu Anfange des 18. Jahrh, einer von 32, zwischen 1730 und 1740 einer von 34,5, 1841 aber einer von 43. In Frankreich war dieses Verhältniß vor 50 Jahren 1 zu 35, vor 10 Jahren zu 42,25. In Preußen starb zwischen 1748–93 durchschnittlich im Jahr der 33., zwischen 1816/49 der 35. Mensch; in Hannover früher der 35., neuerdings nur der 44.–45., in Böhmen 1784–1814 der 30., 1815–28 der 34. Kurz, überall verminderte Sterblichkeit. Das Verhältniß der Geburten und der Todesfälle zur Kopfzahl der vorhandenen Bevölkerung (welche beide Verhältnisse mit einander verglichen, den Maßstab für das Wachsthum oder die Verringerung ergeben) wird für einige Hauptländer Europa’s heutzutage folgendermaßen angegeben:

für England das erste wie 1 zu 31, das zweite wie 1 zu 46,2 [1]
Preußen 1 23,6 1 34,58
Oesterreich 1 25,3 1 33,1
Baiern 1 28 1 33,4
Frankreich 1 35 1 42,6

Die Ursachen der vermehrten Lebensdauer der Menschen sind theils in der im Allgemeinen bessern und reichlichern Nahrung (wir kommen auf diesen Punkt in einem folgenden Artikel zurück), theils und wohl hauptsächlich in der verbesserten Gesundheitspflege und Heilkunde, so wie in der Ueberwindung oder doch Milderung gewisser das menschliche Leben bedrohender Naturwirkungen, durch die Fortschritte menschlicher Kultur zu suchen. Um in diesen Beziehungen nur Einiges anzuführen, so hat die Erfindung und allgemeine Einführung jenes wirksamen Gegengiftes gegen die natürlichen Blattern, der Kuhpockenimpfung, Tausenden von Kindern und Erwachsenen das Leben gerettet, welche in früheren Zeiten regelmäßig durch jenes Uebel hinweggerafft wurden. In Württemberg z. B. starb noch im letzten Dritttheil des vorigen Jahrhunderts 1/13 aller Kinder an den Pocken, dagegen zwischen 1822 und 1833 nur noch 1/1600. Ansteckende Krankheiten, zu denen meist die damals so häufigen Kriege, bisweilen auch Hungersnoth und schlechte Nahrungsmittel den Grund legten, oder die, bei dem Mangel zweckmäßiger Quarantaineanstalten, vom Auslande eingeschleppt wurden, verwüsteten, in frühern Jahrhunderten, wiederholt die europäischen Länder und auch unser Vaterland. Die furchtbarste Seuche dieser Art war der um die Mitte des 14. Jahrh. von Asien aus über Europa sich ausbreitende „schwarze Tod,“ dessen Verheerungen so ungeheuer waren, daß, wie Geschichtsschreiber berichten, man die Todten unbegraben ließ, die Ernte nicht mehr besorgt wurde, die Hausthiere verwildert auf den Feldern umherliefen und selbst Gatten, Aeltern und Kinder einander flohen, da Jedermann nur auf seine eigne Rettung bedacht und jedes Band menschlicher Gesellschaft gelöst war. Volle 50 Jahre lang zog dieser Würgengel über Europa, Asien, Afrika hin. In London sollen 80,000, in Paris 100,000, in Wien eine Zeit lang täglich 7–800 Menschen an dieser Seuche gestorben sein. In den gesammten Franziskanerklöstern Europa’s kamen, nach dem Berichte ihres Generals zu Rom, 124,400 Menschen daran um. Zwei berühmte Zeitgenossen dieser furchtbaren Verheerungen, die Dichter Petrarca und Boccacio[WS 1], haben uns Schilderungen derselben hinterlassen, welche die unermeßliche Größe des Uebels vollkommen bestätigen. Wenn auch nicht ganz so heftig, kehrte doch die Seuche (oder „Pest,“ wie man sie nannte) in den folgenden Jahrhunderten mehrmals wieder, in Zwischenräumen von 20, 50 bis 60 Jahren. Ihr letzter großer Ausbruch fällt in das Jahr 1713. Aber auch solche Krankheiten, welche jetzt die menschliche Kunst, bei rechtzeitiger Fürsorge, gewöhnlich sicher zu heilen versteht, welche wenigstens in der Regel nur vereinzelte Todesfälle herbeiführen, traten damals fast immer epidemieartig auf und forderten ihre Opfer gleich zu Hunderten. So raffte noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts ein sogenannter „böser Hals“ (wahrscheinlich die Bräune) in manchen Gegenden Deutschlands eine furchtbare Menge Kinder auf einmal hin. So starben in Berlin 1751 (bei einer Bevölkerung nicht viel größer als die des heutigen Leipzigs) binnen 18 Wochen 500 Kinder nur allein an den Masern.

In einem Bezirke, wo die gewöhnliche Zahl der jährlichen Todesfälle 400 betrug, erlagen den Masern, Pocken und hitzigen Brustfiebern in einem Jahre über 500 Menschen, sodaß die Sterblichkeit auf mehr als das Doppelte stieg. Der Hungertyphus brachte nicht minder bedeutende Verheerungen hervor. In Sachsen, welches damals 11/2 Mill. Einwohner zählte, sollen in den Nothjahren 1771–72 150,000 Menschen daran gestorben sein, also 1/10 der Bevölkerung. Und dergleichen Nothstände (wenn auch nicht so arg, wie in den erwähnten Jahren) pflegten damals durchschnittlich fast in jedem Jahrzehnt sich einzustellen, denn das Land war noch zu wenig und zu unvollkommen angebaut, und für rechtzeitige Versorgung der Mangel leidenden Gegenden mit auswärtiger Zufuhr fehlte es theils an der nöthigen volkswirthschaftlichen Fürsorge, theils an hinreichenden Verkehrs- und Transportmitteln.

Aber, könnte man hier fragen, ist denn das immer raschere Anwachsen der Bevölkerung eines Landes auch wirklich ein Glück für dasselbe? Oder ist nicht vielmehr die Gefahr der Uebervölkerung eine der furchtbarsten, die ein Land treffen kann? Auf diese Frage können wir nur Antwort geben, indem wir eine andere Gruppe von Verhältnissen, die Nahrungs- oder Erwerbsverhältnisse der vorhandenen Bevölkerung, ebenfalls geschichtlich und statistisch beleuchten. Damit wollen wir uns in einem besondern Artikel beschäftigen.


  1. d. h. auf je 1000 Einwohner kommen jährlich 21,6 Todesfälle und 32,3 Geburten, so daß ungefähr 11 mehr geboren werden, als sterben, und folglich auf je 1000 ein jährlicher Zuwachs von 11 stattfindet.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Boccolino