Die Bremerhavener Katastrophe

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Bremerhavener Katastrophe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 2, S. 36–38
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1876
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[36]
Die Bremerhavener Katastrophe.


Von einem Augenzeugen.


Ein lebhafter Verkehr entwickelte sich in der Morgenfrühe des 11. Decembers in den beschränkten Räumen des Bahnhofs in Bremen: die Passagiere des Postdampfschiffes „Mosel“ warteten des Extrazuges, welcher sie nach Bremerhaven an Bord bringen sollte. Die Stimmung war sehr gedrückt. Erst Tags zuvor hatte man die ersten ausführlichen Nachrichten über die Strandung des „Deutschland“ an der englischen Küste erhalten und den Verlust von mehr als vierzig Menschenleben mit Entsetzen vernommen.

Das Signal zur Abfahrt nach Bremerhaven wurde gegeben, und bald sauste der Zug durch die öden Landschaften zwischen Bremen und seinem Vorhafen; das Bedürfniß nach Unterhaltung machte sich geltend; bange Ahnungen wurden ausgesprochen, getheilt und bekämpft. Da war es vorzüglich ein Passagier, dessen äußere Erscheinung durch außerordentliche Corpulenz bei mittlerer Statur auffiel, der sich lebhaft an dem Gespräch betheiligte. In gebrochenem Deutsch versuchte er die Befürchtungen der Mitreisenden zu beschwichtigen, indem er erzählte, er habe bereits dreißig Mal den Ocean durchkreuzt, ohne jemals einen ernstlichen Unfall erlebt zu haben. Das behäbige, gentile Aeußere des Mannes mit röthlich blondem Vollbart und goldener Brille, die angenehme Art seiner Unterhaltungsweise wirkten Vertrauen erweckend, und in beruhigter Stimmung war bald das nächste Ziel, Bremerhaven, erreicht. Vor der Wartehalle des Norddeutschen Lloyd hielt der Zug; die Passagiere begaben sich eiligst an Bord der „Mosel“, welche in geringer Entfernung im Vorhafen zur Abfahrt bereit lag. Ein freundlicher Empfang erleichterte die ersten Einrichtungen – die Effecten waren an Bord; jetzt noch ein Blick zurück in die Heimath und zum Abschiede vom Festlande. Die gewaltigen Dimensionen des prachtvollen Schiffes, die Ordnung und Pünktlichkeit, mit welcher die letzten Arbeiten vor der Abfahrt erledigt wurden, befestigten die Hoffnung auf „eine glückliche Reise“.

Ein prachtvoller Wintermorgen verklärte die Landschaft vor uns: nach Westen der breite Weserstrom, voll von Treibeis und dennoch durch Schiffe belebt, nach Osten ein dichter Mastenwald und dahinter im hellsten Sonnenschein die stattlichen Häuserreihen von Bremerhaven und Geestemünde. An der Nordseite des Vorhafens ragt der Leuchtthurm empor, und auf der Südseite der Kajenmauer war eine zahlreiche Menschenmenge versammelt. Noch war die Schiffstreppe herabgelassen. Die Schiffsmannschaft ging ab und zu; Arbeiter schafften die letzten Effecten und Colli an Bord; Kaufleute hatten noch Besorgungen zu machen, Passagiere Freunden und Verwandten den letzten Händedruck zum Abschiede zu geben. Auch an Bord ist der größte Theil der Passagiere in der Nähe der Schiffstreppe versammelt. Da kommen noch zwei Wagen mit den letzten Gütern für die „Mosel“, schwere Kisten und Fässer. Es ist halb elf Uhr; das Zeichen mit der Schiffsglocke wird gegeben; die noch am Lande befindlichen Passagiere eilen der Treppe zu; Nichtpassagiere verlassen das Schiff – in demselben Augenblick schießt aus dem dichten Menschenknäuel eine riesige Feuergarbe empor; eine furchtbare Detonation folgt – eine entsetzliche Katastrophe ist hereingebrochen.

Auf der „Mosel“ wurden wir sämmtlich zu Boden geschleudert, und es vergingen Minuten, bis die Unverletzten sich zu erheben vermochten. In der ersten Betäubung wußte Niemand, was geschehen sei. Ein angstvoller Blick über Bord zeigte an derselben Stätte, welche soeben noch das regste, geschäftigste Leben erfüllte, ein Bild, welches an Furchtbarkeit Alles überbietet, was die Phantasie sich erdenken kann, ein Bild des unaussprechlichsten Jammers, welches Menschenaugen je geschaut haben: Menschen, Pferde und Wagen sind verschwunden – ein entsetzliches Leichenfeld breitet sich vor uns aus. Der Jammer und die Wehklagen gräßlich Verstümmelter dringen an unser Ohr; brennende Kleidungsstücke bedecken die zerrissenen Leiber; thränenden Auges wenden wir uns ab – das Elend ist zu groß. Das Bewußtsein, selber dem grauenhaftesten Tode glücklich entkommen zu sein, steigert die fieberhafte Aufregung. Alles eilt der Schiffstreppe zu – sie ist verschwunden. Dem Capitain der „Mosel“ sind die Kleider auf dem Leibe zerrissen; durch den Sturz betäubt und schwerhörig, übergab er das Commando einem Freunde. Drei Schiffsofficiere zählten zu den Schwerverwundeten; zwei Beamte des Norddeutschen Lloyd wurden vermißt. Die „Mosel“ wurde sofort in den Hafen zurückgebracht. Die starken Eisenplanken am Vordertheile waren nach innen gebogen und durch einen Riß bis unter die Wasserlinie gesprengt.

Im ersten Augenblicke glaubte man allgemein an eine Kesselexplosion des naheliegenden Bugsirdampfers „Simson“, dessen Deck ebenfalls zertrümmert war, indeß sehr bald ergab sich, daß unter den zuletzt angekommenen Gütern eine Kiste oder ein Faß mit Sprengstoffen gewesen sein mußte, welche beim Verladen explodirt waren. Da, wo der Wagen gestanden, war ein Loch von drei Meter Durchmesser und zwei Meter Tiefe in die feste Pflasterung des Anlageplatzes gedrückt worden. Die furchtbare Gewalt der Explosion hatte den Wagen, die Kisten und die Schiffstreppe vollständig zertrümmert. Holz- und Eisensplitter brachten, rings umhergeschleudert, in weitem Umkreise Tod und Verderben.

Nicht lange hatte die so nöthige Hülfe auf sich warten lassen. Alles strömte der Unglücksstätte zu, und was thätige Nächstenliebe zu thun vermag, geschah in aufopferndster Weise. Die Leichtverwundeten wurden in die Stadt geführt, den Schwerverwundeten wurde in der nahen Wartehalle von Aerzten der erste Verband angelegt, während man die Leichen und versprengten Körpertheile sammelte und in Körben und Wagen noch dem Barackenlazareth brachte. Noch kannte Niemand den ganzen furchtbaren Umfang der Katastrophe, aber die erste Zählung ergab bereits siebenundfünfzig Leichen und dreißig Schwerverwundete, aber noch fortwährend wurden Leichen und Gliedmaßen aus dem Vorhafen aufgefischt und vermehrten die Zahl der Opfer. Es war ein trauriges, herzzerreißendes Geschäft, die meistens schrecklich entstellten und verstümmelten Leichen zu identificiren. Oft waren es nur zerrissene Ueberbleibsel der Kleidung, eine Brieftasche, ein Ring oder ein anderes zufälliges Kennzeichen, welches den Angehörigen die schmerzliche Gewißheit ihres Verlustes gab. Ergreifende Scenen namenlosen Schmerzes wiederholten sich auf der Unglücksstätte und im Lazareth. Eine Mutter fand statt des schmerzlich gesuchten Töchterchens nur deren Pelzmuff mit den abgerissenen Händchen. Einem Vater wurde der Kopf seines verunglückte Sohnes in’s Haus gebracht; ein Passagier aus Magdeburg suchte lange nach den Resten seines Vaters, der ihm das Geleit gegeben. Eine abgerissene Hand, durch den Ring gekennzeichnet, war Alles, was er der trauernden Familie heimbringen konnte.

Eine Familie aus Bremerhaven, welche einem abreisenden Sohne das Abschiedsgeleit gegeben hatte, wurde besonders hart betroffen: Vater, Mutter, zwei Söhne und zwei Schwiegersöhne waren todt, zwei Töchter schwer verwundet, zwei Verwandte vermißt. – Mehr als zweihundert Wittwen und Waisen trauern an den Särgen der Gemordeten.

Ein Gang durch die Straßen Bremerhavens zeigte auch hier überall Spuren der Verwüstung. In den zunächst gelegenen Gebäuden blieb kein Fenster unzerstört. Thüren wurden aus den Angeln gerissen oder zersplittert, und selbst in größerer Entfernung war kaum ein Haus unversehrt geblieben. Bruchstücke von Fenster- und Spiegelscheiben bedeckten die Straßen nach alle Richtungen hin. Die Bevölkerung war tief erschüttert, die Zahl der unglücklichen Opfer mehrte sich stündlich. Bestürzung und Trauer malte sich auf allen Gesichtern. – Ueber die Ursache der Katastrophe wurde fast allgemein die Ansicht geäußert, daß sträflicher Leichtsinn es versucht, eine Kiste mit Dynamit unter falscher Declaration an Bord zu schmuggeln, und dadurch die Explosion veranlaßt habe.

Gegen Abend eine neue Schreckenskunde von der „Mosel“. Ein Passagier der ersten Kajüte, als W. K. Thomas in die Liste aufgenommen, hatte einen Selbstmordversuch gemacht.

Unmittelbar nach der Katastrophe, während das Schiff in den Hafen zurückgebracht wurde, hatte sich Thomas durch auffälliges [37] Benehmen bemerklich gemacht; den Mantelsack in der Hand, verlangte er, unverzüglich an’s Land gesetzt zu werden, weil er nothwendig telegraphiren müsse. Als sein Begehren, weil unmöglich, abgewiesen, hatte man ihn öfter aus einer Flasche trinken sehen, dann war er verschwunden. Gegen fünf Uhr hört man Aechzen und Stöhnen aus einem der Staterooms. Die Thür ist von innen verschlossen, und nach gewaltsamer Oeffnung findet man Thomas mit geschwollenem blutigem Gesichte bewußtlos am Boden liegend. Der Transport des Verwundeten nach dem Lazareth wird sofort angeordnet; bald darauf findet man in seinem Zimmer einen Revolver – zwei Läufe waren entladen. Man brachte dieses Ereigniß sofort mit der Vermuthung in Verbindung, daß Thomas in irgend welcher Beziehung zu der Unglückskiste stehen müsse. Unter ärztlicher Behandlung kehrte sein Bewußtsein zurück, indeß auf alle an ihn gerichteten Fragen gab er nur die Versicherung seiner Unschuld und als Motiv des Selbstmordversuchs zerrüttete Vermögensverhältnisse an. Selbst die eindringlichsten Vorstellungen des Arztes, der Hinweis auf sein nahes Lebensende, das Seufzen und Jammern der Verwundeten, der Todeskampf der Sterbenden, welche mit ihm in demselben Raume lagen, eingesargt und hinausgetragen wurden, vermochten ihm ein anderes Geständniß nicht zu entreißen.

Da Thomas unter den übrigen Verwundeten des Lazareths lag, so war der Zutritt ohne Schwierigkeiten zu erlangen, aber schwer war es, in ihm den vielgereisten, eleganten Mitpassagier aus Bremen zu erkennen, welcher den Mitreisenden durch seine Unterhaltung die Eisenbahnfahrt so angenehm verkürzt hatte. Die Schußwunde vorn rechts am Scheitelbein war nur wenig sichtbar, das rechte Auge dagegen stark verschwollen. Die linke Hälfte des Gesichts sowie die ganze linke Körperhälfte waren gelähmt; der Blick des kleinen grauen Auges wurde nicht mehr durch die Brille verschleiert und hatte etwas Lauerndes, Stechendes. Der Gesichtsausdruck, noch gestern Energie und Intelligenz verrathend, war durch die Lähmung entstellt und verwischt.

Noch ist der Schleier nicht vollständig gelüftet, welcher auf dem Leben dieses Mannes ruht, der, zwei Tage lang schweigend mit der Todeswunde im Kopfe daliegend, nicht das Bedürfniß empfindet, sein schwer belastetes Gewissen durch ein offenes Bekenntniß zu erleichtern. Erst am dritten Tage gelingt es der imponirenden Ruhe, der humanen Behandlungsweise und dem psychologischen Scharfblicke des Polizeicommissärs S., den Mann an der Seele zu fassen, sein hartes verstocktes Gemüth dadurch zu rühren, daß er ihm das traurige Schicksal seiner unglücklichen Frau und seiner armen, unschuldigen Kinder eindringlich zu schildern weiß. Während der krampfhafte Griff der rechten Hand den furchtbaren Seelenkampf des Verbrechers verräth, erklärt er sich bereit, ein Geständniß ablegen zu wollen. Zögernd und stockend, aber mit vollem Bewußtsein und kalter Ueberlegung beantwortet er die an ihn gerichteten Fragen, nicht ohne mannigfache Widersprüche und Versuche, durch simulirte Bedürfnisse der verlangten Antwort auszuweichen. So gelingt es der geschickt geleiteten Untersuchung, den Plan einer Unthat zu entlarven, welche in ihrer grauenhaften Unmenschlichkeit kaum ein Seitenstück in der Verbrecherchronik findet.

Thomas giebt zu, Eigenthümer des explodirten Collo gewesen zu sein. Nach seiner Aussage war es ein schweres Faß, in Bremen angefertigt, dort von ihm selbst mit Sprengstoffen aus New-York gefüllt und für seinen verbrecherischen Zweck vorbereitet. Als Zünder enthielt dasselbe ein Uhrwerk, welches zehn Tage ging, geräuschlos arbeitete und nach Ablauf einen Hebel auslöste, wodurch ein Zündbolzen mit dem Drucke eines Hammers von dreißig Pfund vorgeschleudert wurde. Außer dem Fasse sollten in Southampton noch verschiedene sehr hoch versicherte Colli werthlosen Inhalts in der „Mosel“ verladen werden, um dem Verbrecher nach dem mit Sicherheit vorauszusehenden Untergange des Schiffes die bedeutende Versicherungssumme einzutragen. Zu diesem Zwecke wollte Thomas in England zurückbleiben, um dort den Verlauf seiner erbarmungslosen teuflischen Speculation abzuwarten. Sofort angestellte Nachforschungen bestätigen diese Aussagen vollständig. Ueber die Natur des Sprengstoffes hat Thomas jede Auskunft verweigert; das Schlagwerk wurde von einem geschickten Uhrmacher in Bernburg in seinem Auftrage, unter Angabe eines harmlosen Zweckes, angefertigt und bei der Abnahme eine weitere Bestellung von zwanzig anderen solcher Uhren in Aussicht gestellt. (Siehe das Feuilleton der vorigen Nummer dieses Blattes!) Durch einen Stoß beim Verladen des schweren Fasses wird die Auslösung erfolgt sein. Die Explosion wurde auf der Kaje von Bremerhaven, statt nach zehntägiger Reise an Bord der „Mosel“ herbeigeführt – der seit Jahren vorbereitete Plan war mißlungen; die Revolverkugel zog das Facit der falschen Rechnung des Verbrechers.

Ueber die Vergangenheit und die Lebensverhältnisse des Schuldigen ergab die Untersuchung nur unsichere Resultate, da viele seiner Aussagen später von ihm widerrufen wurden. Thomas ist etwa fünfundvierzig Jahre alt; er will in New-York geboren sein; seine Eltern sollen in den dreißiger Jahren von Deutschland dorthin ausgewandert sein und später in Virginien gelebt haben. Während des amerikanischen Krieges behauptet er Capitain des bekannten Blokadebrechers „Old Dominion“ gewesen zu sein; dann in die Gefangenschaft der Nordstaaten gerathen, ist er geflohen, hat seinen Namen gewechselt und sich bald darauf in St. Louis mit seiner jetzigen Frau verheirathet. Mehrere Indicien gaben Veranlassung zu der Annahme, daß sein wirklicher Name Alexander gewesen ist. Auch seiner Frau gegenüber hüllte er sein Thun und Treiben und seine ganze Vergangenheit in das tiefste Geheimniß, war daneben aber der zärtlichste Gatte und seinen vier Kindern der liebevollste Vater. Seit mehreren Jahren lebte er in verschiedenen Städten Deutschlands, in Leipzig, Linz und in der letzten Zeit in Strehlen bei Dresden. Dem Anscheine nach ohne Erwerb, bewegte er sich als wohlhabender Mann stets in guter Gesellschaft und war als feiner jovialer Gesellschafter überall beliebt und gern gesehen. Er ist viel von seiner Frau getrennt gewesen und hat neuerdings mehrere Reisen nach Amerika gemacht, angeblich in Geschäften, um Geldverluste durch neue Unternehmungen zu ersetzen. In seiner Brieftasche fand man noch vierundzwanzig Pfund Sterling mit der Bemerkung: „Für meine Frau und meine armen Kinder!“ und eine Abrechnung von Baring Brothers in London über dreitausend Pfund Sterling, welche er dort deponirt und in den letzten Jahren erhoben und verzehrt hatte. Eine Haussuchung in Strehlen blieb resultatlos.

Frau Thomas, durch eine amtliche Depesche nach Bremerhaven befohlen, kam Dienstag Morgen gerade in dem Augenblicke an, als die Trauer einer ganzen Stadt dreiundvierzig Opfer der Bosheit ihres Mannes zu Grabe geleitete. Thomas äußerte kaum ein ernstliches Verlangen, seine Frau zu sehen; seinem Arzte gegenüber konnte er sogar eine auf dieselbe bezügliche cynische Bemerkung nicht unterdrücken. Ein Brief von ihr, in den zärtlichsten Ausdrücken und mit der Versicherung geschrieben, daß seine armen Kinder täglich für das Seelenheil ihres unglücklichen Vaters beten, macht trotz klarsten Bewußtseins des hartherzigen Mannes kaum einen sichtlichen Eindruck auf ihn. Zu weiteren Geständnissen auf keine Weise zu veranlassen, wendet er sich am letzten Abend seines Lebens mit der Klage an den Arzt, daß man ihm gar keine Ruhe lasse, ihn noch immer mit Fragen belästige und erwidert auf die Mahnung, doch endlich die volle Wahrheit zu sagen: „man hat mich ganz confusionirt.“ Am folgenden Morgen trat in dem Befinden des Thomas ein Zustand ein, der eine weitere Vernehmung unmöglich machte und sein baldiges Ende voraussehen ließ. Seine Frau wurde ihm zugeführt; er erkannte sie und versuchte, ihr die gelähmte Hand zu reichen. Diese Frau hat eine seltsame Rolle im Krankenhause gespielt, für alle Anwesenden im höchsten Grade peinlich. Sie hat die behandelnden Aerzte wiederholt aufgefordert, ihren Mann zu tödten, um seine Leiden abzukürzen. („O dear doctor, kill him, kill him!“ hörte man sie mehrmals ausrufen.) Am Tage vorher äußerte sie gar kein dringendes Verlangen, ihren Mann zu besuchen; auch wollte sie ihn anfangs im Lazareth nicht sehen und bat nur, seine Hand küssen zu dürfen.

Die Frau reiste nach Dresden zurück, und Nachmittags endete ein furchtbarer Todeskampf das Leben des beispiellosen Verbrechers. Ohne eine Spur von Reue ist er aus der Welt gegangen, ein moderner Herostratus, der ohne ein Zucken seines Gewissens Hunderte von Mitmenschen opfern konnte, nur um sich vielleicht für einige Jahre die Existenzmittel zu einem behaglichen Leben zu verschaffen.

Hoffentlich sind damit die Acten der Unthat noch nicht geschlossen; vielleicht hat die Untersuchung Thatsachen ergeben, die, noch nicht zur öffentlichen Kenntniß gelangt, dem Ursprunge [38] des frevelhaften Attentats auf die Spur zu kommen geeignet sind oder zur Beruhigung der erschreckten Gemüther beitragen. Vielleicht ist die entdeckte gewissenlose Speculation, welche sich ohne Rücksicht auf Menschenleben auf den Geschäftsbetrieb des modernen Verkehrs gründet, nur ein einzelner Fall oder, wie andere Andeutungen vermuthen lassen, ein Complot, dessen Vernichtung im Interesse der Menschheit geboten ist.

Noch einen trauernden Blick werfen wir auf die frischen Gräber, welche die Gebeine von nahezu hundert gemordeten lebensfrohen Menschen umschließen, auf die fast ebenso große Zahl der Verstümmelten und schwer Verletzten. 56 Wittwen und 135 vaterlose Kinder sind durch die Katastrophe ihrer Ernährer beraubt worden. Möchte doch opferwillige Nächstenliebe ihre Trauer und ihren Schmerz zu lindern versuchen!