Die Gartenlaube (1859)/Heft 3

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[33]

No. 3.   1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vielteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Wat sek de Schwaalkes vertellen. [1]

      Schwaalkes, leev’ Schwaalkes,
      Seggt, wat vertell Ji Jo? –
Van’t Jungtje, ’t was der de best int Loog,
Van’n Meisje, so nüver un blau van Oog.

5
He gung alleen, se satt alleen

Un jung hör sööt Döetjes hier up de Steen,
      In Dunkeln under de Boom.

      Schwaalkes, leev’ Schwaalkes,
      Seggt, wat vertell Ji Jo? –

10
As dat Jungtje nu quamm un der lüsternd stund,

Do kloppt hör’t Hartje, do schweeg hör Mund.
He kunn’t nich draagen, he muß hör sehn,
Nu satten se selig und still to Tween
      In Dunkeln under de Boom.

15
      Schwaalkes, leev’ Schwaalkes,

      Seggt, wat vertell Ji Jo? –
Van’n Vader, de der sien Kind utschull;
Van’n Dochter, de hüm to Footen sull, –
Van’n Meisje, dat der vergung vör Leed,

20
Alleen hör bittere Thranen kreet

      In Dunkeln under de Boom.

      Schwaalkes, leev’ Schwaalkes,
      Seggt, wat vertell Ji Jo? –
Wi togen vandaan över’t wiede, wiede Meer.

25
Do quamm der ee Schippje van’t Noorden her:

„Leeve Schwaalkes, jagt nich so gau vörebi;
Seggt, sitt se wol noch und denkt an mi,
      In Dunkeln under de Boom?“

      Schwaalkes, leev’ Schwaalkes,

30
      Seggt, wat vertell Ji Jo? –

Wi togen werum, dat Schipp stürde Noord,
Sien beste Matrose full över Boord!
„Leeve Schwaalkes, do’t et de Wind tovör
Un bringt mien letzte goode Nacht to hör

35
      In Dunkeln under de Boom.“


      Schwaalkes, leev’ Schwaalkes,
      Seggt, wat vertell Ji Jo? –
Wi quammen weran, wat het uns groo’t!
Wi finden’t jo alle hier uut un dood!

40
Wi bo’n unse Hüüsken en anderswaar,

Hier süchtet un klagt et so sünderbar
      In Dunkeln under de Boom.

Was sich die Schwalben erzählen.

      Schwalben, o Schwalben,
      Sagt, was erzählt ihr euch? –
Vom Bub’, der im Dorfe der beste war,
Vom Mädel, deß Augen so blau und so klar.

5
Er ging allein und sie saß allein

Und sang ihre Lieder auf diesem Stein,
      Im Dunkeln unter dem Baum.

      Schwalben, o Schwalben,
      Sagt, was erzählt ihr euch? –

10
Als der Bube nun kam und still lauschend stund,

Da klopfte das Herz ihr, da schwieg ihr Mund.
Er mußte sie sehen, nicht trug er’s allein,
Nun saßen sie stumm und selig zu Zwei’n
      Im Dunkeln unter dem Baum.

15
      Schwalben, o Schwalben,

      Sagt, was erzählt ihr euch? –
Vom Vater, der wild und zornerglüht,
Von der Tochter, die ihm zu Füßen kniet,
Vom Mägdelein, das vor Leid verging

20
Und bitterlich weinend allein sich erging

      Im Dunkeln unter dem Baum.

      Schwalben, o Schwalben,
      Sagt, was erzählt ihr euch? –
Wir zogen davon über’s weit’, weite Meer.

25
Da schwamm ein Schifflein von Norden daher:

„Liebe Schwalben, o, fliegt nicht so schnell und schwenkt
Euch vorüber, o sagt, ob sie meiner noch denkt
      Im Dunkeln unter dem Baum?“

      Schwalben, o Schwalben,

30
      Sagt, was erzählt ihr euch? –

Wir kehrten zurück, das Schiff ging nach Nord,
Sein bester Matrose fiel über Bord:
„Liebe Schwalben, seid schneller noch als der Wind,
Bringt ihr meine letzten Grüße geschwind

35
      Im Dunkeln unter dem Baum!“


      Schwalben, o Schwalben,
      Sagt, was erzählt ihr euch? –
Wir kamen nach dort – o welch’ schreckliches Leid!
Nur Trauer ringsum und Einsamkeit!

40
Nun bau’n unsre Nestchen wir anderswo,

Es klagt hier so seltsam, hier seufzt es so
      Im Dunkeln unter dem Baum.

[34]
Er betet.
Erzählung von J. D. H. Temme, Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)
Antonie Rohner hatte sich nicht um die stolze Gräfin gekümmert. Sie lebte ja noch im Glück, in der Freude. Was ging sie der Neid, der Haß an? Sie tanzte, sie sprang, sie scherzte, sie lachte. Sie hatte auch nicht darauf geachtet, als später die stolze, schöne Dame nicht mehr da war. Das war um Mitternacht.

Sie habe Kopfweh, hatte die Gräfin zu einer Dame gesagt, sie müsse in einem stillen Zimmer des Hauses ein halbes Stündchen ausruhen. Dann hatte man sie nicht weiter gesehen.

Aber ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte vor ihrem Verschwinden auch noch etwas Anderes wahrnehmen können.

In der Gesellschaft war ein großer, bildschöner Mann. Er war Rittmeister in der Garde, Wenn er in seiner eleganten, knapp anliegenden, die schönen Formen seines Körpers so wundervoll hervorhebenden Uniform den Saal durchschritt, so blieben auch an ihm unwillkürlich viele Blicke bewundernd hängen. Freilich war es eine andere Bewunderung, als mit welcher die Augen der liebreizenden Antonie Rohner folgten. Und vielleicht mußte man ihn auch darum mit desto größerem Interesse ansehen, da man ihn fast nur an der Seite einer häßlichen, kleinen, halb verwachsenen, nicht mehr jungen Dame sah. Die Dame war seine Frau, ein reiches, häßliches, altes Fräulein, die sich für ihr Geld den schönen Officier geheirathet hatte und nun so unendlich eifersüchtig auf ihn war, daß sie nicht von seiner Seite wich und er nicht von ihrem Arme weichen durfte, daß er keine andere Dame ansehen, daß kein anderes weibliches Wesen nur ihr Auge auf ihn richten durfte. Daher mochte es denn auch rühren, daß selbst der aufmerksamste Beobachter nicht darüber hätte in’s Klare kommen können, ob der schöne Rittmeister – er hieß Baron Richter – und jene schöne, stolze Gräfin – sie hieß Auguste von Göppingen – verstohlene Blicke sich gegenseitig zusendeten, oder ob sie dies nicht thaten. Kurz vor Mitternacht indeß mußte es doch Jemand bemerkt haben.

Der Rittmeister hatte seine Frau zwei Freunden überlassen, die ihr sehr angelegentlich den Hof machten. Keine Frau ist so häßlich, daß sie sich nicht den Hof machen ließe; die häßlichste oft am liebsten. Er selbst schritt in Gedanken durch den Tanzsaal. Es war eine Pause. Er ging langsam auf und ab. So kam er an den Reihen sämmtlicher Damen vorbei, also natürlich auch an der schönen Gräfin Göppingen. Er schien sie jedoch nicht zu bemerken, und sie hatte ihn kaum eines Blickes gewürdigt. Er entfernte sich in seinem langsamen, gedankenvollen Gehen auch bald ganz aus dem Saale, vielleicht zum Buffet oder in ein Rauchzimmer. Und die Gräfin Auguste Göppingen hatte in der That wohl um so weniger nach ihm hingeblickt, als sie damals schon ihre Migräne haben mußte. Denn daß sie diese habe, hatte sie schon vorher zu ihrer Nachbarin gesagt, und sie stand auf, um in dem entfernten, stillen Stübchen auszuruhen. Dennoch war in dem Saale Jemand, der etwas Anderes, der mehr als Andere gesehen haben mußte. Es war ein Regierungsrath, der bei dem Polizeipräsidenten arbeitete. Also ein Beamter, gar ein hochgestellter Beamter der Polizei. Er mußte gewiß mehr gesehen haben, als andere Leute. Dazu kam, daß er früher ein Liebhaber der schönen Gräfin gewesen war; denn die schöne Auguste von Göppingen hatte schon Liebhaber gehabt.

Die Dame selbst schien kaum zu bezweifeln, daß er mehr gesehen haben müsse, als er hätte sehen sollen.

Sie erschrak heftig, als sie aufgestanden war und er sich ihr plötzlich nahete und sie sehr theilnahmvoll fragte:

„Sie sind unwohl, meine Gnädige?“

Aber sie mußte ihm doch antworten, und sie hatte sich auch bald wieder gefaßt, und da sollte sie, wenn auch zuerst sich ärgern, doch nachher sogar neugierig werden.

„Ich habe Migräne,“ antwortete sie kurz.

„Und Sie wollen sich aus diesem Geräusche zurückziehen?“

„So ist meine Absicht.“

„Darf ich Ihnen meinen Arm bieten?“

„Ich danke Ihnen.“

„Ich hätte Ihnen Mancherlei mitzutheilen.“

„Sie würden mich in der That in meinem Zustande wenig empfänglich finden.“

„Ah, die Migräne!“

Der Regierungsrath begleitete die Worte mit einem so höhnischen Lächeln, daß die junge Dame wüthend hätte ausrufen mögen: Frecher, unverschämter Polizeimensch! Indessen that sie es nicht, und als der Andere fortfuhr, wurde sie jetzt neugierig und sagte sich auch wohl zugleich: Er hat doch nichts gesehen.

„Die fatale Migräne,“ sagte der Regierungsrath. „Ich hätte Ihnen sonst in Betreff des Fräulein Rohner Mittheilungen machen können.“

„Ah, des Fräulein Rohner?“

„Und gar interessante.“

„Sie wissen etwas Besonderes?“

„Etwas ganz Besonderes.“

„Lassen Sie hören.“

„Wir sind an der Thür, meine Gnädigste, ich darf Sie nicht weiter begleiten. Sie hatten Recht, Sie bedürfen der Ruhe und – Einsamkeit; aber nachher, wenn Sie befehlen.“

Damit verabschiedete er sich sehr höflich von ihr. Und die schlaue Dame, indem sie den Saal verließ, sah zwar noch etwas zornig, aber doch auch nicht mehr erschrocken aus.

„Er hat nichts gemerkt; er wollte mich nur mit der Person, der Rohner, ärgern,“ sagte sie für sich.

Eine halbe Viertelstunde später war dieser „Person“, dem Fräulein Antonie Rohner, ein kleines Malheur passirt. Wie oft schon hat ein kleines Malheur ein recht großes, tiefes Unglück zur Folge gehabt! Und das kleine Malheur war von so geringfügigen, unbedeutenden Umständen herbeigeführt!

Ein Walzer war zu Ende. Antonie Rohner hatte ihn mit einem jungen Legationssecretair getanzt. Er führte sie auf ihren Platz zurück. Sie hatte ihn bei der alten Generalin gehabt, der sie ihr süßer Engel geworden war und die seitdem Mutterstelle an ihr vertrat. Die alte Dame kam ihr schon entgegen.

„Aber mein Gott, mein süßer Engel, Ihr Tänzer hat Ihnen die Taille zerrissen.“

„O weh, ich sehe es auch.“

„Die Herren werden jetzt täglich ungeschickter, selbst die von der Gesandtschaft.“

„O, nicht Alle, liebe Excellenz.“

„Ah, und zum Beispiel?“

„Die Officiere –“

„Ei, ei, süßer Schelm, der kleine Lieutenant von den blauen Husaren –“

„Er hat mir nichts zerrissen.“

„Noch nicht! – Aber wir müssen den Schaden wieder gut machen. Kommen Sie, mein Engel, wir wollen die Präsidentin aufsuchen.“

Die Präsidentin war schon da.

„Der Schade ist leicht gut zu machen; meine Kammerjungfer ist geschickt.“

Die gütige Wirthin führte das freundliche Mädchen in ein Vorzimmer; dort harrte ähnlicher Unfälle Friederike, die Kammerjungfer der Präsidentin. Die Kundige untersuchte den Schaden.

„Mit bloßem Anheften von Nadeln ist das nicht gethan, gnädige Frau.“

„So führe das Fräulein in mein Ankleidecabinet.“

Die Kammerjungfer führte das Mädchen in einen Corridor, zu dem Ankleidecabinet der Präsidentin. Aber das Cabinet war verschlossen und die Jungfer hatte den Schlüssel vergessen.

„Ich laufe, ihn zu holen, Fräulein. Wollen Sie nicht so lange hier nebenan eintreten? Es ist das Schlafzimmer der Frau Präsidentin. Ich bin im Augenblicke wieder bei Ihnen.“

Sie lief.

Antonie hatte von ihr ein Licht genommen. Die schritt damit auf die Thür des Schlafzimmers der Präsidentin zu. Als sie die Thür anfassen wollte, um sie zu öffnen, stieß ihr Fuß vor der Schwelle auf Etwas. Sie sah hin. Es war etwas Glänzendes. Sie bückte sich nieder. Es war ein reiches, funkelndes Diamantenkreuz.

„Das hat gewiß die Präsidentin verloren. Wer sollte sonst hierhergekommen sein? Ich werde es ihr wiederbringen.“

[35] Sie hob das Kreuz auf und steckte es in eine Tasche ihres Kleides; dann öffnete sie die Thür des Schlafzimmers, um hineinzutreten. Sie trat hinein, flog aber im selben Augenblicke erschrocken zurück.

„Mein Gott!“

Sie war blaß wie eine Leiche geworden und zitterte, daß sie kaum das Licht halten konnte.

„Was war das? Das war ja entsetzlich!“

Was war es, was sie so erschreckt hatte?

In dem Schlafzimmer der Präsidentin stand ein Sopha. Auf das Sopha fiel der volle Schein des Lichtes der Eintretenden. Der Schein des Lichtes beleuchtete voll ein Paar, das sich in dem Sopha umarmt hielt. Es waren die schöne Gräfin Auguste von Göppingen und der schöne Rittmeister Baron Richter. Sie hatten in dem Feuer ihrer Umarmung den leichten Schritt des jungen Mädchens nicht nahen hören. So waren sie in ihrer Umarmung überrascht.

„Das ist ja entsetzlich!“ rief das unschuldige Kind, erbleichend, zitternd an allen Gliedern.

Sie flog auf den Tod erschrocken zurück; sie konnte in dem Corridor nicht mehr, sie konnte gar nicht mehr allein bleiben, denn eine entsetzliche Angst hatte sie ergriffen. Sie flog in das Vorzimmer, zu dem Ballsaale zurück. Sie mußte wieder zu Menschen, zu schützenden, zu redlichen Menschen, unter denen sie vor dem erschreckenden Anblicke einer sündhaften heimlichen Umarmung zwischen einem verheiratheten Manne und einem frivolen Mädchen sicher war. Was kümmerte sie ihr zerrissenes Kleid? Sie vergaß Alles, außer dem Einen, dem Anblick, der sie zum Zittern gebracht hatte, über den sie noch immer erbebte.

Die Kammerjungfer war unterdeß zurückgekommen, sie war ihr nachgeeilt und erreichte sie im Vorzimmer.

„Darf ich jetzt bitten, gnädiges Fräulein?“

„Nein, nein, nicht zurück. Machen Sie nur hier, nur rasch.“

„Ah, das gnädige Fräulein wollen den Galopp nicht versäumen, den die Musik da gerade beginnt.“

„Machen Sie nur rasch!“

Der Schaden war jetzt doch mit Stecknadeln zu heilen. Er wurde unter fliegender Eile geheilt.

Antonie stürzte in den Ballsaal zurück. Sie hatte die Kammerjungfer nach dem gefundenen Diamantenkreuze fragen wollen, hatte es aber in ihrem Schreck, in ihrer Angst vergessen. Sie hatte ja Alles vergessen, außer jenem Einen. Es war dem armen, unschuldigen, unerfahrenen Kinde wirr im Kopfe geworden. Sie war unschlüssig in dem hellen, lauten, bunten Saale, ob sie nicht in ein Nebenzimmer gehen solle, in dem sich ihr Vater befand, um ihn zu bitten, daß er mit ihr nach Hause fahren solle. Da stand der kleine Lieutenant von den blauen Husaren vor ihr.

„Mein Fräulein, schenken Sie mir diesen Galopp?“

Er war so hübsch, so schmuck und tanzte so schön. Als sie vorher mit ihm getanzt, war in dem ganzen Saale nur eine Bewunderung des reizenden Paares gewesen. Er war auch so bescheiden, und er war erst Lieutenant, und kein verheiratheter Rittmeister, und er führte sie in die helle, schützende Gesellschaft zurück: er selbst war ihr Schutz. Sie nahm seinen Arm und folgte ihm in die Reihe der Tanzenden. Sie tanzte mit ihm.

Das reizende Paar flog in dem beflügelten Tanze wieder wie beflügelt dahin. Die feinen Füße schienen den Parketboden nicht zu berühren. Die leichten, schwebenden, anmuthigen Bewegungen schienen die eigensten, natürlichsten Bewegungen ihrer freien Glieder zu sein. Die entzückte Bewunderung Aller folgte ihnen wieder.

Zwischen dem Ja und Nein einer Frau, sagt, wie ich meine, Jean Paul irgendwo, gibt es nicht Zwischenraum genug für den Knopf einer Stecknadel.

Wie hätte in das fröhliche Herz des unschuldigen Kindes nicht bald wieder das volle Glück einziehen sollen? Und in dem Glücke vergaß sie zu dem, was sie schon vergessen hatte, auch den Schreck, der sie das Andere hatte vergessen lassen. Sie sollte mit Entsetzen wieder daran erinnert werden, an Alles.

Die schöne Gräfin Auguste von Göppingen war ebenfalls in den Saal zurückgekehrt. Der Regierungsrath, der auf dem Polizeipräsidium arbeitete, empfing sie an der Thür. Er schien auf sie gewartet zu haben.

„Gräfin, wie sehen Sie so verstört aus! Rasch im Galopp zu dem Galopp, ehe man es gewahrt.“

Ein Polizeirath hat allerlei Zwecke und allerlei Mittel.

Die schöne Gräfin ließ sich von ihm in den Galopp ziehen. Um ihrem Gesichte die Farbe, ihren Augen den Glanz wieder zu gewinnen, tanzte sie rasch, wild, über das Maß der Grazien hinaus. Ihr Tänzer konnte ihr kaum folgen; er konnte ihr nicht mehr folgen. Sie selbst konnte nicht weiter, sie erbleichte, sie taumelte. Der schnelle Wechsel der heftigsten Bewegungen ihres Innern, das rasche Drehen des Tanzes, die Hitze des Saales hatten auf einmal zu sehr auf sie eingewirkt; ein Schwindel ergriff sie, sie drohete umzusinken.

Die Arme einer Nachbarin griffen sie stützend auf. Antonie Rohner war die Nachbarin. Das Kind sah plötzlich das erbleichende Gesicht neben sich. Der Schreck der Erscheinung erfaßte sie wieder, sie erblaßte selbst. Aber ihr schönes Herz öffnete ihre Arme, die Sinkende aufzufangen. Sie umfing sie, sie hielt sie aufrecht. Sie konnte sogar die schöne Dame, die eben verrätherisch an einem verräterischen Herzen gelegen hatte, an ihr reines Herz drücken, um sie desto fester zu stützen, desto eher das schwindende Leben in sie zurückzuführen.

Aber die schöne, stolze Gräfin war auch eine kräftige Dame. Ihr Körper hatte jenen inneren und äußeren Eindrücken nur auf einen Augenblick erliegen können. Ehe die Umstehenden sich besinnen, ehe die Flacons sich öffnen konnten, stand sie schon wieder aufrecht, konnte sie ihrem Tänzer wieder den Arm bieten, aus den Armen des freundlichen Kindes sich losreißen. Sie that es, mit einem kalten, stolzen Blicke gezwungenen Dankes auf das Mädchen. Der Blick rief den Schreck, die Verwirrung in das Herz und auf das Gesicht des Kindes zurück. Sie zitterte an dem Arm des kleinen Lieutenants von den blauen Husaren. Er mußte sie verwundert ansehen. Ihre Nachbarinnen mußten es nicht minder.

„Ach, mein süßer Engel, Sie haben sich erschrocken,“ lief die alte Generalin herbei.

Aber die schöne Gräfin Göppingen hatte sich in dem nämlichen Augenblicke noch mehr erschrocken; dann freilich hatte eine fast satanische Freude sie durchbebt.

Der Regierungsrath hatte sie zu einem Sessel führen müssen. Dort musterte die Dame ihren Anzug, ob er durch das Begegniß nicht gelitten habe. Auf einmal erblaßte sie.

„Mein Gott!“

„Was ist Ihnen, Gräfin?“

„Mein Diamantkreuz ist fort.“

„Es wird Ihnen bei dem kleinen Unfall entfallen sein.“

„Unzweifelhaft.“

„Ich suche es.“

Er hatte zu der Stelle des kleinen Unfalls nur drei Schritte zu gehen. Sie war leer, er suchte, und fand das Gesuchte nicht. Er kehrte zu der Gräfin zurück.

„Ich finde nichts. Vermissen Sie das Kreuz erst in diesem Augenblick?“

„Gewiß.“

Sie war bei der Frage erröthet; aber sie konnte sie bejahen. Sie hatte vorher wohl an nichts weniger als an ihr Diamantkreuz gedacht, einen wie hohen Werth es auch haben mochte.

„Sonderbar,“ sagte der Polizeirath, „am Boden liegt nichts, und wenn es Jemand aufgehoben hätte, ohne sich zu melden – nein, nein – in dieser Gesellschaft – es ist nicht möglich.“

„Aber sehen Sie dort?“ rief auf einmal die Dame. „Die kleine Rohner! Sie ist so blaß – man ist um sie beschäftigt. – Mein Gott, was fällt mir da ein? – Sie wollten mir von ihr erzählen.“

Auch der Regierungsrath war auf einmal stutzig geworden.

„Sie lagen in ihren Armen. Sie hatte Sie an sich gedrückt. Ihre Hände waren mit Ihnen beschäftigt.“

„Aber eine Diebin! So jung, den besseren Ständen angehörig, und schon so verworfen, so abgefeimt!“

„O, meine Gnädige,“ versicherte der Regierungsrath, der im Polizeipräsidium arbeitete, „sie ist lebhaft, eitel; davon ist der Leichtsinn nicht fern. Sodann, warum ist sie auf einmal so blaß, so erschrocken? Es ist vielleicht ihre erste That, wenigstens die erste in solcher Gesellschaft, von solcher Bedeutung. Sie ist über sich selbst erschrocken. Und endlich – ach, ich wollte Ihnen in der That vorhin in Betreff der kleinen Dame eine Mittheilung machen. Haben Sie nichts über ihren Bruder gehört?“

„Nichts,“ sagte die Gräfin.

„Es gehört hierher. Ich muß es Ihnen jetzt mittheilen. Wir [36] müssen danach weiter verfahren. Der Bruder dieser jungen Dame ist gestern wegen Betrugs und Wechselfälschung von der Polizei arretirt und den Criminalgerichten überliefert.“

Da stieg in das Gesicht der schönen Gräfin die satanische Freude über das Kind, von dem sie vorhin in der verbotenen Umarmung überrascht worden war.

„Ach, ein würdiges Geschwisterpaar! Der Bruder Wechselfälscher, die Schwester Diebin!“

Der Regierungsrath zuckte die Achseln.

„Und der Vater Gottesleugner! Können die Kinder anders werden? Der Mann soll noch nie gebetet haben!“

Auch der Polizeimann mußte das sagen, und auch er konnte es nicht ohne ein inneres Grauen.

Und das arme, reine, edle Kind sollte eine Diebin sein, weil der Vater nie gebetet hatte!

Die stolze Gräfin hatte rasch einen Entschluß gefaßt. Es war der Entschluß der Bosheit, der Rache, der Rache für jenen Zufall. Es war aber auch zugleich ein Entschluß der eigenen Sicherung: eine Mittheilung über jene Ueberraschung aus dem Munde einer Diebin, auch nur einer verdächtig gemachten, war offenbare, rachsüchtige Lüge, die Niemand glaubte.

Sie sprang auf, zu dem Kreise der Damen.

„Meine Damen, ich vermisse mein Diamantkreuz. Es hat einen hohen Werth. Hat keine von Ihnen es gesehen?“

Sie hatte es laut gerufen, in sonderbarem Tone. Ein allgemeiner Schrecken verbreitete sich. Am meisten erschrak Antonie Rohner. Sie hatte das Kreuz gefunden, schon seit einiger Zeit, und sie hatte es nicht zurückgegeben, sie trug es noch in ihrer Tasche. Doch daran mochte das arglose Kind am wenigsten denken. Aber wenn sie sagte, daß sie es gefunden habe, mußte sie dann nicht auch sagen, wo sie es gefunden hatte? Und konnte sie das?

Sie fuhr dennoch unwillkürlich mit der Hand in die Tasche. Die Gräfin sah es. Sie sah es mit einem fürchterlichen Triumphe.

„Auch Sie nicht, Fräulein Rohner?“ rief sie lauter.

Das Kind hatte in ihrer doppelten Herzensangst das Kreuz schon hervorgezogen. Ihre bebenden Hände hielten es der Gräfin hin.

„Ach, doch Sie!“ rief die Dame.

„Ich fand es –“

Das arme Kind stockte. Sie konnte vor allen den Zeugen nicht weiter reden.

„Ach, Sie fanden es! Ich lag in Ihren Armen!“

Antonie kämpfte in Todesangst mit sich.

„Sonderbar,“ sagte der Regierungsrath einer Dame in’s Ohr, „gestern ist ihr Bruder wegen Wechselfälschung in das Criminalgefängniß eingeliefert.“

Die Dame schrie laut auf:

„Der Bruder ein Wechselfälscher?!“

„Wie ich Ihnen sage, und schon in den Händen des Gerichts.“

„Seit gestern?“

„Seit gestern.“

„Und sie ist heute auf dem Balle!“

Die Dame hatte laut genug gerufen, der Herr hatte laut genug geantwortet. Es entstand ein allgemeiner Tumult.

„Der Bruder ein Fälscher!“

„Dem Criminalgerichte überliefert!“

„Und die Schwester auf dem Balle!“

„Und sie war so erschrocken!“

„Und sie hatte das Kreuz!“

„So jung noch!“

„Und in solcher Gesellschaft!“

„Es ist entsetzlich!“

„Unter uns eine Diebin!“

Die Menge glaubt immer zuerst das Schlechteste. Auch die vornehme Menge. Und hatten sie nicht manche Zeichen eines Schuldbewußtseins vor sich?

„Auf meinem Balle mußte das passiren,“ jammerte die Präsidentin.

„Ich hatte sie für einen Engel gehalten,“ rief mit Abscheu die alte Generalin.

Sie gehörten ja auch zu der Menge. Antonie Rohner hatte jedes Wort gehört. Nein, nicht mehr alle, nur die ersten. Aber es war genug, um ihr die Sinne, den Verstand zu verwirren. Ihr Gesicht war weiß wie Kreide geworden; die Züge waren entstellt, die erloschenen Augen starrten wie wahnsinnig; der Wahnsinn hatte sie ergriffen.

„Der Bruder ein Betrüger! Die Schwester eine Diebin!“

Sie schrie es selbst laut auf.

Der Tumult hatte ihren Vater herbeigeführt. Sie stürzte sich in seine Arme.

„Ich bin eine Diebin, Vater. Sie wollen mich tödten. Bete! Bete für mich!“

Die buschigen Augenbrauen des Raths Rohner senkten sich tiefer, seine Lippen kniffen sich fester zusammen, sein Gesicht wurde härter. So führte er die wahnsinnige Tochter aus dem Ballsaale.

Er betete nicht.

(Schluß folgt.)




Das germanische National-Museum zu Nürnberg.
Von Sgd. S.

Daß im Herzen des deutschen Vaterlandes, in der altehrwürdigen Reichsstadt Nürnberg, ein germanisches Museum besteht, dessen Streben darauf gerichtet ist, gleichsam ein Denkmal deutscher Geschichte, Wissenschaft, Cultur und Kunst aufzubauen, das ist eine Thatsache, die sowohl uns Deutschen wie auch den Ausländern den Beweis liefert, daß trotz aller separatistischen Hindernisse ein nationaler Sinn bei uns noch nicht geschwunden ist.

Ja, wir können mit Recht darauf stolz sein, in dem germanischen Museum einen Mittelpunkt zu besitzen, der aus dem Bedürfnisse einer allseitigen wissenschaftlichen Erforschung der historischen Quellen des Gesammtvaterlandes hervorgegangen ist. Welche herrliche Früchte wird aber noch der Baum tragen, der schon als junger Stamm auf dem Gebiete der Wissenschaft die kräftigsten Zweige getrieben hat! Bilden ja doch bereits jetzt nach Verlauf von wenigen Jahren über zweihundert der hervorragendsten Männer deutscher Wissenschaft den Gelehrtenausschuß des germanischen Museums, so daß es schon gleichsam zu einer Akademie der historischen Wissenschaften herangereift ist.

Das deutsche Volk kann es nicht genug anerkennen, daß ihm durch die Strebsamkeit des germanischen Museums ein großartiges Gesammtbild seiner früheren vaterländischen Zustände in Kirche, Staat und Familie vorgeführt und es ihm sonach möglich gemacht wird, durch Kenntniß der Vergangenheit eine richtige Anschauung der Gegenwart zu gewinnen. Denn die Vergangenheit in ihrer Wahrheit durch gründliche Forschungen zu durchschauen, und die im Schooße früherer Jahrhunderte schlummernden Schätze zu Tage zu fördern, das ist die schöne Aufgabe, welche sich das germanische Museum gestellt hat.

Ueberschaut man die wenigen Jahre seit dem Bestehen des germanischen Museums, so wird man von Staunen erfüllt, welche befriedigende Resultate diese Anstalt bereits erzielte, mit welcher Sicherheit sie aus der von ihr betretenen Bahn fortgeschritten ist, wie sie trotz vieler Hindernisse ihr schönes Ziel niemals aus den Augen verloren hat.

Schon im Jahre 1830 gab ein Handbillet des Königs Ludwig von Baiern, dessen erhabener Sinn für das Schöne und Edele sowohl in Deutschland, wie auch weit über dessen Grenzen hinaus bekannt ist, dem Freiherrn von Aufsess den Impuls zur Gründung eines deutschen Museums. Aufsess bot Alles auf, die Idee zu einem solchen Museum zu verwirklichen, und brachte seinen Plan wenigstens soweit in Ausführung, daß er eine allgemeine Gesellschaft für deutsche Alterthumskunde und Geschichte in Nürnberg begründete. Wurde auch dieser Gesellschaft von mancher Seite die gebührende Beachtung geschenkt, so stieß sie doch auch wieder auf viele nicht zu überwindende Hindernisse. Eine regelmäßige Jahresversammlung deutscher Geschichts- und Alterthumsforscher, wie sie Aufsess beabsichtigte [37] und im Jahr 1833 auch wirklich auf der Burg in Nürnberg zusammenberief, scheiterte in der Folge, und es vergingen viele Jahre, ohne daß sich die gegründete Gesellschaft so entwickelt hatte, wie es zu wünschen war. Auch auf der allgemeinen Germanistenversammlung zu Frankfurt am Main regte Freiherr von Aufsess im Jahre 1846 abermals die Idee zu einem deutschen Museum an, ohne jedoch auch diesmal seine Wünsche verwirklicht zu sehen. Fanden auch hier, wie im folgenden Jahre auf der Germanistenversammlung zu Lübeck, seine weitgreifenden, in einer gediegenen Denkschrift entwickelten Pläne die Zustimmung vieler Koryphäen der Wissenschaft, so mußte er doch zugleich die Ueberzeugung gewinnen, daß eine Durchführung seiner Idee noch nicht zu ermöglichen sei, vielmehr eine Verschiebung derselben für spätere Zeit rathsam erscheine.

Innerer Hof des Karthäuserklosters in Nürnberg.
Kreuzgänge und Kirche.

Und in der That, der Scharfblick des Freiherr von Aufsess hatte die Verhältnisse richtig erkannt. Der zugleich sehr praktische Mann der Wissenschaft hatte nicht vergebens gehofft, in der Zukunft das schaffen zu können, wofür sich die Gegenwart noch nicht empfänglich genug zeigte. Erst sechs Jahre später, auf der Versammlung der Alterthums- und Geschichtsforscher zu Dresden, drang er mit seinen Vorschlägen durch, und unter dem Vorsitz des jetzigen Königs von Sachsen, damaligen Prinzen Johann, wurde die Gründung des germanischen National-Museums beschlossen.

Erschien auch diese Gründung in vieler Hinsicht höchst schwierig, da sowohl ein fester Sitz, wie auch ein Betriebscapital fehlte, so hielt man doch die Realisirung der schönen Idee keineswegs für ein Ding der Unmöglichkeit, denn die in Dresden tagenden Männer der Wissenschaft waren sich bewußt, daß bei den mächtigen Fortschritten unseres Jahrhunderts auf dem Gebiete der Wissenschaft, Kunst und Industrie endlich auch die Schätze der nationalen Denkmale deutscher Vorzeit der Vergessenheit entrissen und zum geistigen und materiellen Nutzen der Gegenwart ausgebeutet werden müßten. Man fühlte allgemein das Bedürfniß, jene Quellen der Vorzeit, nach welchen bisher nur von wenig einzelnen hochgelehrten Männern geforscht worden war, mehr zu einem Gemeingut der deutschen Nation zu machen, und dem Mangel einer deutschen Sitten- und Culturgeschichte, sowie der Unkenntniß des socialen Lebens der Vergangenheit abzuhelfen.

Der Plan, den Freiherr von Aufsess seit Jahrzehnten mit Energie und Begeisterung verfolgt, den er als einzeln stehender Mann bereits zu einem schönen Gebilde gestaltet hatte, er durfte nicht aufgegeben werden. Im Vertrauen auf die deutschen Gelehrten, auf die Regierungen und auf das ganze deutsche Volk konnte man um so mehr ein Gelingen der großen Sache erwarten, als in der Person von Aufsess ein Mann an der Spitze des Unternehmens stand, der bereits Beweise von aufopferndem Gemeinsinn gegeben hatte und aufrichtig darnach trachtete, eine Anstalt in’s Leben zu rufen, wodurch der deutschen Nation nach und nach ein treues Bild der Entwicklung ihres Volksgeistes gegeben werden könne.

Wie Nürnberg einst die Bewahrerin der deutschen Reichskleinodien gewesen war, so sollte es durch seine Wahl zum Sitz des germanischen Museums gleichsam die Bewahrerin jener Kleinodien [38] werden, welche von der geistigen Größe und Herrlichkeit des deutschen Volkes Kunde geben. Gerade Nürnberg mit seiner denkwürdigen Vergangenheit schien besonders geeignet, in seinen Mauern das germanische Museum als Mittelpunkt für die historischen Quellen deutscher Vorzeit zu besitzen.

Für den Anfang genügten die verschiedenen Zimmer in zwei geräumigen Häusern, um die vom Freiherrn von Aufsess dem Museum auf zwanzig Jahre zur Benutzung überlassene Bibliothek von zehntausend Bänden historischer Werke nebst den Repertorien und der reichen Sammlung von Kunst- und Alterthumsschätzen aller Art aufzustellen. Bald machte sich jedoch das Bedürfniß nach größeren Localitäten geltend. Die verschiedenen Zweige der Sammlungen waren von vielen Seiten mit schätzbaren Geschenken bedacht worden, die Anzahl der Beamten des Museums mehrte sich, so daß bei der geringen Aussicht, die in Nürnberg hinsichtlich eines geeigneten Hauses geboten wurde, die Conferenz des Ausschusses, trotz der Vorliebe für Nürnberg, auf die Propositionen des Großherzogs von Weimar oder des Herzogs von Gotha einzugehen geneigt war. Der erstere Fürst bot nicht nur die Räume der Wartburg zur freien Benutzung für die Sammlungen des Museums an, sondern war sogar bereit, seine eigenen Sammlungen mit diesen zu vereinigen und für die Besoldung der erforderlichen Beamten Sorge zu tragen. Aehnliche Vorschläge waren auch von Seiten des Herzogs von Coburg gemacht worden, der ebenfalls die durch Aufsess verwirklichte Idee mit großer Liberalität zu fördern suchte. Die Unterhandlungen mit König Maximilian von Baiern, der die wohlwollendsten Gesinnungen für das Museum bekundete, hatten noch zu keinem Resultate geführt, und es war eine geraume Zeit verflossen, ohne daß die Frage wegen des künftigen definitiven Sitzes der Anstalt entschieden worden war. König Maximilian hatte unterdessen dem Museum einen jährlichen Zuschuß von 1000 fl. und später von 2500 fl. bewilligt, vorausgesetzt, daß es Nürnberg erhalten bleibe; ebenso unterstützten noch viele andere gekrönte Häupter und Staatsregierungen die Anstalt durch regelmäßige Beiträge. Achtbare Männer aus allen Ständen erboten sich zur unentgeltlichen Uebernahme von Agenturen, und suchten namentlich durch Einsammeln von Geldbeiträgen in allen Gegenden des deutschen Vaterlandes im Interesse des Museums zu wirken und die Existenz desselben mehr und mehr zu sichern.

Denn wie zur Ausführung jeder großen, weittragenden Idee materielle Mittel erforderlich sind, so machte sich auch bei dem Museum das Bedürfniß nach Geld um so mehr geltend, als nicht nur die Regiekosten und Besoldungen namhafte Summen beanspruchten, sondern auch zur Erreichung des vorgesteckten Zieles die Sammlungen durch Ankäufe vermehrt werden mußten.

Die deutsche Bundesversammlung, welche gleich von Anbeginn des Museums demselben die Rechte einer juridischen Person zuerkannt hatte, empfahl es der Theilnahme und Unterstützung aller deutschen Regierungen, und bereicherte namentlich die Bibliothek des Museums um 6000 Bände, welche früher im Besitz der National-Versammlung zu Frankfurt gewesen waren. Es würde zu weit fuhren, hier auch nur die hauptsächlichsten Geschenke und Unterstützungen namhaft zu machen, deren sich das Museum von allen Seiten zu erfreuen hatte; sowohl das deutsche Volk, wie die Regierungen und Fürsten bethätigten die erfreulichste Theilnahme für das immer mehr emporblühende Institut.

Schon nach Verlauf von wenigen Jahren hatte der junge Baum die kräftigsten Wurzeln geschlagen, ja, zur Freude Aller, die an seinem Gedeihen Interesse nahmen, sollten sich diese Wurzeln in dem Boden, wo sie die ersten Keime getrieben hatten, immer mehr befestigen, indem durch einen Beschluß des Königs Maximilian von Baiern das schon früher in Aussicht gestellte Karthäuserkloster an das Museum überlassen wurde. Hiermit war die Anstalt in Besitz eines Wohnsitzes gelangt, der ihrem künftigen Bestand immer mehr Garantie bot und zugleich gestattete, die Kräfte ihres Organismus mit freudigem Muth weiter zu entfalten.

Eben dieser innere Organismus des Museums hatte sich im Laufe weniger Jahre trefflich entwickelt, und es dürfte wohl von Interesse sein, desselben hier näher zu gedenken.

Zur obersten Leitung des Museums war ein Directorium gewählt worden, bestehend aus dem Freiherrn Dr. von Aufsess als erstem und Rector Dr. Bang als zweitem Vorstand. Die Hauptaufgabe dieses Directoriums besteht darin, die in Bezug auf das Museum getroffenen Bestimmungen in jeder Hinsicht aufrecht zu erhalten, Beamte anzustellen und ihnen geeignete Arbeiten zuzuweisen, ferner die Oberaufsicht über die Sammlungen zu führen und die Zusammenkünfte der Ausschüsse zu berufen und zu leiten. Zur Seite des Directoriums steht ein aus vierundzwanzig Mitgliedern gebildeter Verwaltungsausschuß. Ferner sei hier noch des Gelehrtenausschusses gedacht, der aus einer unbestimmten Anzahl von Männern der Kunst und Wissenschaft gebildet ist und das Museum durch Förderung seiner wissenschaftlichen und artistischen Zwecke zu unterstützen hat. Es können aber nur solche Männer diesem Ausschusse als Mitglieder angehören, welche sich durch hervorragende Leistungen in irgend einer Fachwissenschaft bereits ausgezeichnet haben, so daß auf diese Weise eine vollständige Vertretung aller Zweige der Geschichte und Alterthumswissenschaft bei dem Museum erzielt worden ist.

Da das germanische Museum als eine der Geschichtswissenschaft dienende Anstalt betrachtet werden muß, so erscheint es vollkommen gerechtfertigt, daß gerade dem Archiv, das auch unter Leitung eines besonderen Vorstandes und Secretairs steht, die angelegentlichste Sorgfalt zugewendet wird. Sein Hauptaugenmerk ist darauf gerichtet, aus dem unsicheren Privatbesitze noch manchen Schatz für die Wissenschaft zu retten und namentlich auch durch Copieen und Regesten nach und nach werthvolle handschriftliche Schätze zu sammeln. Außer der höchst schätzbaren Urkundensammlung verdient noch das mit derselben vereinigte Verzeichniß aller für die deutsche Geschichte bedeutungsvollen urkundlichen Schätze genannt zu werden.

In engster Beziehung zu dem Archiv steht die Bibliothek, in eine Abtheilung der Handschriften und in eine solche der Druckwerke zerfallend, welche systematisch geordnet in den geräumigen Sälen des Karthäuserklosters aufgestellt sind. Die wichtigsten Urkunden und Documente der deutschen Geschichte sind also hier entweder in Original oder guten Copieen aufgestellt und zwar so systematisch geordnet, daß der Forscher und Gelehrte sofort ohne große Mühe die nöthigen Quellen finden und benutzen kann. Die Abtheilung der Handschriften bewahrt höchst namhafte Werke, ist aber auch, wie erwähnt, durch treue Copieen wichtiger Handschriften wesentlich bereichert worden. Auch die Druckwerke der Bibliothek haben seit Bestehen des Museums sehr ansehnliche Beiträge erhalten, da namentlich viele hundert Buchhändler ihre Verlagswerke unentgeltlich liefern. Es wird dadurch die Bibliothek mit der Zeit eine große Bedeutung gewinnen und dem Forscher alle die Druckschriften in erwünschter Vollständigkeit bieten, welche auf deutsche Geschichte und deutsches Leben irgend welchen Bezug haben. Die Kunst- und Alterthumssammlungen des Museums wurden bisher von Freunden in der Nähe und Ferne mit den schätzbarsten Geschenken so reichlich bedacht, daß schon jetzt einzelne Zweige dieser Sammlung ein befriedigendes Bild der schaffenden Künste deutscher Vorzeit bieten. Noch viele Jahre können allerdings vergehen, bevor die Kunstsammlungen des Museums die Vollständigkeit erreicht haben, wie sie mit Recht angestrebt wird und auch nothwendig ist, wenn es sich darum handelt, uns durch Erzeugnisse der bildenden Kunst und durch Producte der gewerblichen Thätigkeit ein Bild vergangener Jahrhunderte vorzuführen.

Das Karthäuserkloster mit seinen weitausgedehnten Kreuzgängen, den großen Sälen und zahlreichen Zimmern bot nicht allein für die Bibliothek und das Archiv die geeignetsten Räumlichkeiten, sondern gestattete namentlich für jeden Hauptzweig der Kunst- und Alterthumssammlung ein separates Local einzurichten. Glasmalereien, Teppiche, Altäre, Taufbecken finden wir in einer im gothischen Style erbauten Capelle. Andere kirchliche Gegenstände, Reliquarien, Kirchenornate und Gefäße sind in einer kleineren gothischen Capelle aufgestellt, während die Sammlungen von Gemälden, Sculpturen, Holzschnitten, Kupferstichen, Münzen, Siegeln, Waffen, Medaillen und Hausgeräthen wohlgeordnet in verschiedenen Sälen und Zimmern aufbewahrt werden. Zahlreichen Grabmonumenten der hervorragendsten Männer und Frauen Deutschlands von der frühesten Periode des deutschen Reiches bis zum dreißigjährigen Kriege begegnen wir in dem schön gewölbten Kreuzgange. Es bilden diese in langer Reihe aufgestellten Grabmonumente gleichsam ein Ehren- und Geschichtsdenkmal, das die Gegenwart den großen Verstorbenen in diesen so ganz dazu geeigneten Räumen gesetzt hat.

Die Kunst- und Alterthumssammlungen des germanischen Museums dürften viele Laien mit am meisten interessiren. Sie erregen im Vergleich mit ähnlichen Sammlungen in anderen Städten schon dadurch eine größere Aufmerksamkeit des Beschauers, daß jedes einzelne Zimmer, in dem die Gegenstände aufgestellt sind, getreu in [39] dem Geschmack der Vorzeit hergerichtet ist und dem Auge neben höchst übersichtlicher Zusammenordnung der Originale und Copieen ein anziehendes und belehrendes Bild in abgerundetem Rahmen geboten wird.

Viele Copieen aus verschiedenen fremden Sammlungen weisen uns darauf hin, wie äußerst förderlich eine solche Art der Vereinigung des zerstreuten Materials zur deutschen Kunst- und Alterthumsgeschichte werden muß. Es wird sich hierdurch das Museum nach und nach eine Sammlung erringen, wie sie keine andere Anstalt aufzuweisen hat. Durch die vor mehreren Jahren im Museum gegründete Gypsgießerei und ein Zeichnungsatelier ist man im Stande, unter der Leitung talentvoller Künstler Bedeutendes zu liefern, und nicht allein die bereits vorhandenen Copieen von Jahr zu Jahr wesentlich zu vermehren, sondern dieselben auch durch Verkauf für das Publicum nutzbar zu machen.

Durch den jeden Monat von Seiten des germanischen Museums veröffentlichten Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit wurde nach Gründung der Anstalt von Neuem ein Vermittlungsorgan zwischen den Männern der Wissenschaft und dem Publicum überhaupt geschaffen, dessen Wichtigkeit schon im Jahre 1833 erkannt worden war, obwohl sein Erscheinen nach Verlauf mehrerer Jahre nicht länger durchgeführt werden konnte. Jetzt erfreut sich aber diese Zeitschrift der vielseitigsten Theilnahme und hat nicht allein durch eine Reihe gediegener Abhandlungen, sondern auch durch regelmäßige Berichte über den Fortgang des Museums ihre Bestimmung in jeder Hinsicht erfüllt.

Blickt man zurück auf die fünfjährige Wirksamkeit des germanischen Museums, so muß man der Anstalt um so mehr die vollste Anerkennung zollen, wenn man bedenkt, daß im Anfange alle Mittel zur Unterstützung derselben fehlten. Denn gar viele Leute, welche zwar den von Aufsess entworfenen Plan vollkommen billigten, wollten sich erst überzeugen, ob das germanische Museum einer Entwickelung fähig sei, bevor sie die zur Durchführung des Planes so nothwendigen Geldmittel hergaben. Trotzdem hat sich das schöne Unternehmen des thatkräftigen Privatmannes Bahn gebrochen, es hat Früchte getragen und sich den Beifall der deutschen Fürsten und Regierungen, so wie aller derer errungen, welche sich herbeiließen, das Museum und seine Tendenz zu prüfen.

Der patriotische Sinn der Deutschen und der Wahlspruch des germanischen Museums „Durch Einheit stark“, sie haben sich bald bewährt, denn nur durch die Wirksamkeit vereinter Kräfte war es möglich, das germanische Museum jenem erhabenen Ziele entgegenzuführen, das es sich gestellt und zum Theil errungen hat. Von der Theilnahme Aller bereichert, steht es in der engsten Beziehung zu dem deutschen Volke. Die ganze Nation ohne Unterschied der Stände hat die Bausteine zu einem Tempel herbeigetragen, in dem die Errungenschaften der Wissenschaft und Kunst aus früheren Jahrhunderten zum Nutzen und Frommen der Gegenwart und Zukunft niedergelegt werden. Besitzt ja doch nunmehr in dem germanischen Museum auch Deutschland ein Nationaleigenthum, durch dessen Aufbau das Volk den besten Beweis gegeben hat, was sein kräftiger Gemeingeist zu schaffen vermag, sobald es gilt, eine großartige Idee zu fördern.

Biographie und Portrait des Gründers dieses echt nationalen Instituts theilen wir in einer der nächsten Nummern mit.




Die gefährlichsten Hustekrankheiten des Kindesalters.
1. Croup oder häutige Bräune.

Die mit Recht gefürchtetste von allen Kinderkrankheiten ist „der Croup oder die häutige Bräune“, denn es sterben die allermeisten der davon befallenen Kinder. Stirbt ein Kind, welches vom Croup heimgesucht sein soll, nicht, so hat es in der Regel nicht am Croup gelitten. Ich würde rathen, in solchen Fällen nur dann an die Existenz dieser Krankheit zu glauben, wenn man das Product derselben, nämlich: hautähnliche oder röhrenförmige Gerinnsel (von Faserstoff), aushusten sieht. Glücklicher Weise kommt nun aber der Croup gar nicht so häufig vor, als man annimmt, und da die Krankheitserscheinungen bei demselben (zumal bei Beginn des Leidens) durchaus nicht so charakteristisch sind, daß man stets mit Sicherheit dieses Uebel erkennen kann, im Gegentheil noch manche andere und weniger gefährliche Krankheiten im Athmungsapparate croupähnliche Erscheinungen veranlassen können, so braucht man sich nicht zu wundern, daß Aerzte (sogar die Homöopathen mit ihren Nichtsen) so viele häutige Bräunen curirt haben wollen. Es waren eben keine.

Der Croup befällt am häufigsten Kinder (im Ganzen mehr Knaben als Mädchen) vorwiegend vom zweiten bis fünften Lebensjahre, seltener im sechsten bis zehnten Jahre. Die gewöhnlichste Veranlassung dazu ist das Einathmen einer kalten rauhen (Nord- oder Ost-) Luft, besonders der schnelle Wechsel zwischen Warm und Kalt, sowie gleichzeitiges lebhaftes Schreien und Laufen in der Kälte. Ansteckend, wenn auch bisweilen epidemisch auftretend, dürfte der Croup wohl nicht sein. Neigung zur Wiederkehr hinterläßt er durchaus nicht; nur in äußerst seltenen Fällen ist ein und dasselbe Kind wiederholt vom Croup heimgesucht worden. Sein Verlauf dauert gewöhnlich 3 bis 8 Tage, in seltenen Fällen 10 bis 12 Tage.

Das Wesen der häutigen Bräune besteht darin, daß in Folge einer heftigen Entzündung der den Kehlkopf und die Luftröhre auskleidenden und zur Zeit der Krankheit bedeutend geschwollenen Schleimhaut sich im Canale dieser Organe, durch welche ja die Luft in die Lungen strömen muß, hautähnliche oder röhrenförmige Gerinnsel (aus Faserstoff) bilden, die diesen Canal verengern oder wohl auch ganz verstopfen und dann, durch Verhinderung des Luftzutrittes zu den Lungen ebenso eine Erstickung veranlassen, wie dies auch eine Zusammenschnürung der Kehle thut. Diese verstopfenden Gerinnsel in den oberen Luftwegen sind also das Charakteristische der Krankheit, die schnelle Entfernung und das Verhüten einer Neubildung derselben aber ist die Aufgabe des Arztes bei diesem Uebel. Nur wenn solche Gerinnsel bei einem Kinde ausgehustet werden, kann man den Croup mit Sicherheit als vorhanden ansehen. Aerzte, die sich rühmen, einen Croup schon vor dieser Gerinnselbildung curirt zu haben, sind schlaue oder unwissenschaftliche Renommisten.

Der Croup beginnt wohl stets mit geringeren, einige Tage dauernden Krankheitserscheinungen, die einem leichteren Katarrh des obersten Theiles des Athmungsapparates angehören und in Schnupfen, Niesen, Hüsteln, Heiserkeit, leichten Schlingbeschwerden bestehen, verbunden oft mit leichten Fieberbewegungen, unruhigem Schlafe, mürrischer Stimmung. Es sind diese Erscheinungen oft so gering, daß sie bei einiger Unachtsamkeit leicht übersehen werden, so daß es dann scheint, als ob der Croup ganz plötzlich in seiner Heftigkeit beginne. Sehr rasch steigern sich aber jene leichten Katarrh-Erscheinungen zu heftigen Entzündungssymptomen mit starkem Fieber und brennender Haut; die Gegend des Kehlkopfes zeigt sich schmerzhaft und schwillt etwas an, ebenso auch die Halsdrüsen; das Athmen wird schneller, der Husten häufiger, die Stimme heiser und rauher, das Schlingen schmerzhafter. Gewöhnlich tritt nun in den ersten Stunden der Nacht der erste sogen. „Croupanfall“ ein: das Kind schreckt plötzlich in größter Unruhe unter den Zeichen heftiger Athemnoth auf und macht tiefe pfeifende Athemzüge, die von kurzem, trocknem, rauhem, klanglosem, grobbellendem Husten („Crouphusten“) unterbrochen werden. In späterer Zeit und bei höheren Graden der Krankheit, wo die Athemnoth ihre höchste Höhe erreicht, sucht das Kind unter lauten pfeifenden und langgezogenen Athemzügen mit zurückgeworfenem Kopfe, Schweiß auf der Stirn, hervortretenden Augen, bläulichem, gedunsenem, ängstlichem Gesichte und geschwollenen Halsadern, gewaltsam und krampfhaft die nöthige Luft einzuziehen und greift dabei mit den Händen an den Hals, als ob es die Strangulation abwenden oder aus dem Halse etwas herausreißen wolle. Mitunter geschieht es auch, daß das Kind in einem solchen Anfalle erstickt. Meist aber läßt der Anfall nach einigen Minuten nach, das Kind sinkt ermattet zurück, schläft wieder anscheinend ruhig weiter oder würgt hustend eine geringe Menge eines zähen eiterigen Schleimes mit hautähnlichen Fetzen aus. Solche Croupanfälle wiederholen sich in ganz unbestimmten Zeiträumen, oft mehrmals in derselben Nacht, manchmal aber erst nach tagelanger Pause, während welcher nur etwas heisere Stimme, rauher Husten und mäßiges [40] Fieber bemerklich ist. Bisweilen springt die heisere, rauhe und tonlose Stimme in hohe Fisteltöne über, so daß sie dem Krähen junger Hähne ähnelt.

Stirbt das kranke Kind nicht in einem Croupanfalle an Erstickung, sondern schreitet die Krankheit noch weiter vorwärts, dann treten jene plötzlich erscheinenden Anfälle in den Hintergrund und machen einem Zustande bleibender Athemnoth Platz. Der Athem ist jetzt jagend, unregelmäßig, sägend und pfeifend, die Stimme klanglos, die Miene leidend, ängstlich und lufthungrig, die Lippen sind blau und die Gliedmaaßen kühl, die Haut ist trocken oder mit klebrigem Schweiße bedeckt. Das in leichter Betäubung liegende und in der Erstickungsangst unruhig sich hin- und herwerfende Kind wirft öfters unter gewaltsamen Athemholen den Kopf zurück; die Brust wird dabei nur mit größter Anstrengung gehoben und die Kehle gewaltsam gegen das Brustbein gedrückt. Unter immer mehr und mehr zunehmender Athemnoth erstickt endlich das Kind, nachdem manchmal zuletzt noch allgemeine Convulsionen eintraten.

Von der allergrößten Wichtigkeit für das frühzeitige Erkennen des beginnenden Croup ist: die Schmerzhaftigkeit der Kehle (des Kehlkopfs und der Luftröhre) und der entzündliche Zustand des Rachens. Die Erfahrung hat nämlich gelehrt, daß in den meisten Fällen die Entzündung im Rachen (an und hinter den Mandeln) beginnt und von hier aus in den Kehlkopf hinabsteigt. Deshalb versäume man nie beim Husten eines Kindes mit Fieber und Heiserkeit, die Kehle zu befühlen und zu drücken, um zu wissen, ob sie schmerzhaft ist (was bei kleinen Kindern bisweilen nur aus ihrem Gebahren beim Drücken ersichtlich wird). Sodann unterlasse man es auch nie, den Gaumen und Rachen bei tiefniedergedrückter Zunge (oder mittels Zuhaltens der Nasenlöcher) zu besichtigen. Finden sich die letztern Theile entzündet (stark geschwollen und geröthet) und mit weißlichgrauen Faserstoffgerinnseln bedeckt, dann suche man den Uebergang der Entzündung in den Athmungsapparat durch Bestreichen der entzündeten Theile mit Höllenstein oder durch Bepinseln mit concentrirter Höllensteinlösung, zu verhindern. Auch kann jetzt schon ein Brechmittel vorbauend wirken.

Geht die Krankheit in Genesung aus, dann nimmt das Fieber und die Athemnoth, sowie Husten und Heiserkeit allmählich ab, der Husten wird feucht und an die Stelle des trockenen und pfeifenden Athmens tritt Schleimrasseln. Zuweilen werden dann die im Kehlkopfe und in der Luftröhre befindlichen (Faserstoff-) Gerinnsel in röhrigen und fetzigen Stücken ausgeworfen, nicht selten aber auch von den Kindern sofort verschluckt, wenn sie aus jenen Athmungswegen in die Mundhöhle ausgestoßen wurden. Doch ist die Entfernung der Gerinnsel aus den Luftwegen keineswegs zur Heilung durchaus erforderlich, ebensowenig wie die Ausstoßung derselben eine Garantie der Heilung gibt. Es können jene festen Gerinnsel nämlich zerfließen und dann noch innerhalb der Luftwege weggesogen werden; die ausgeworfenen können sich aber durch neugebildete ersetzen. Mitunter bleibt auch nach Heilung des Croup noch kürzere oder längere Zeit die Stimme etwas rauh und heiser.

Was die Behandlung des Croup betrifft, so kann diese nur von einem wissenschaftlich gebildeten Arzte richtig geleitet werden. Höchstens könnten die Angehörigen eines croupkranken Kindes durch öfteres Brechenlassen desselben (mit Hülfe von Brechwein oder Kitzeln des Rachens mit einem Federbarte) die Gefahr verringern. Auch mögen dieselben durch Herstellung einer feuchtwarmen Luft im Krankenzimmer (durch Verdampfen kochenden Wassers), sowie durch warme Ueberschläge (Breiumschläge, Schwämme in heißes Wasser getaucht) auf den Hals des Kindes, das Zerweichen der Gerinnsel in den Luftwegen zu unterstützen suchen; sodann ist dem Kinde öfters eine geringe Menge eines lauwarmen Getränkes und reizlose, flüssige Nahrung, am besten warme Milch, darzureichen. Von allen Behandlungsarten verdient übrigens die zweckmäßige Verbindung und Abwechselung der Brechmittel mit den örtlichen Aetzungen der Rachen- und Kehlkopfsschleimhaut mittels Höllenstein das meiste Vertrauen, denn sie hat am häufigsten noch geholfen. – Das letzte und oft nur einzig noch Erfolg versprechende Mittel, aber in manchen Fällen ein ganz vortreffliches, weil lebenrettendes Mittel, ist der Luftröhrenschnitt. Freilich muß derselbe zum richtigen Zeitpunkte, nicht zu spät, beim schon sterbenden Kinde gemacht werden, wie dies früher gewöhnlich geschah, weshalb auch diese Operation einige Zeit als nutzlos in Mißcredit gekommen war. Aber ganz mit Unrecht; Roser erzielte damit in 13 Fällen 6mal und Passavant unter 9 Fällen 4mal Heilung. Trousseau hat unter 222 Fällen 127 mal Rettung vom Tode durch diese Operation gesehen. Jedenfalls ist es die Pflicht jedes gewissenhaften Arztes, auch wenn er zu spät herbeigerufen wird, doch noch den Luftröhrenschnitt als das möglicher Weise noch einzig rettende Mittel ohne Verzug vorzunehmen. Wenn in einem homöopathischen Arzneischatze gesagt wird, daß durch die famose Luftröhrenschneiderei, welche die Verlegenheit der alten Schule neuerdings ersonnen hat, nicht weniger sterben, als sonst, so beweist dies nur, wie wenig ein Homöopath von der Wissenschaft weiß.

Die Genesungsperiode bei einem Croupkranken verlangt sorgfältige Schonung. Vorzüglich behüte man denselben längere Zeit vor Einathmungen kalter Luft, vor Schreien und Singen; man lasse Hals und Füße warm halten, später jedoch nach und nach den Hals durch Entblößungen und kalte Waschungen gegen Kälte unempfindlicher machen (abhärten). Reizende Nahrungsmittel dürfen natürlich nicht gereicht werden.

Schließlich warne ich nochmals vor der Homöopathie beim Croup. Denn Brechen, was doch bei dieser Krankheit ganz unentbehrlich ist, können die Homöopathen durch ihre Arzneigaben (Nichtse) natürlich ebensowenig erzielen, wie überhaupt einen reellen Effect. Deshalb kann denn auch Herr Dr. Clotar Müller in seinem Haus- und Familienarzte nicht anders, als beim Croup Brechweinstein in allopathischer Dose zu empfehlen, um die Verstopfung der Luftröhre zu beseitigen und – „um den homöopathischen Arzneimitteln Zeit zu ihrer Einwirkung zu verschaffen.“ – Daß den homöopathischen Aerzten so selten croupkranke Kinder sterben, ist ganz natürlich und erklärt sich dadurch, daß, wenn die Gefahr bei dieser Krankheit wächst, die Eltern stets das Vertrauen zur Homöopathie verlieren und nach einem allopathischen Arzte schicken. Nicht verschwiegen darf es übrigens zum Heile der Menschheit werden, daß dem Dr. und homöopathischen Physikus Goullon zu Weimar einmal die sechste Verdünnung der Pflanzenkohle (d. i. der millionste Theil eines Grans des indifferentesten Mittels) Rettung im höchsten Grade des Croup gebracht hat. Und Das sollte kein Vertrauen zur Homöopathie einflößen? .

Bock.




Land und Leute.
Nr. 13. Pußtenleben in Ungarn.
(Schluß.)
Ernte in der Pußta. – Theißfischer. – Eigenthümlichkeit der Theiß und Karpfenfang mit Harpunen. – Nationaltanz in der Csárda. – Ungarische Nationalmusik. – Reichthum Ungarns.

Diese weiten, ungeheuren Sümpfe entstehen durch die Ueberschwemmungen der Theiß, die sich durch diese Ebenen langsam und träge in den sonderbarsten Krümmungen hinzieht. Ihre Ufer sind an manchen Stellen so flach, daß sie bei Regen von den trüben Wellen übertreten werden, die sich dann weithin ergießen. Bei der großen Ueberschwemmung im Frühjahre 1854 standen eine Million und 300000 Joch Feld unter Wasser. Der Schaden war unberechenbar. Diesen zügellosen Ausbreitungen der Theiß werden jetzt Grenzen gesetzt durch die Regulirung ihres Bettes. Wenn dies großartige Unternehmen einmal beendet sein wird, so werden die Sümpfe größtentheils verschwinden und in fruchtbare Getreidefelder verwandelt sein.

Auffallend ist der Umstand, daß man in den Wirthshäusern dieser wilden Pußten beinahe nie einen Ungar, sondern fast immer Juden als Wirthe findet. Diese überwinden ihre angeborene Furchtsamkeit der Gewinnsucht zu Liebe, die hier, wo so verworrene Begriffe über Mein und Dein in manches kühnen Burschen Kopfe wohnen, ein weites Feld für ihre Industrie findet. Der Ungar ist nicht geschaffen zum Gastwirth, ihm fehlt der speculative Geist der Gewinnsucht, der sich vor dem Reichen in alle Formen der Unterthänigkeit schmiegt und dem Armen gegenüber in hochmüthige Gemeinheit umschlägt. Der Ungar bleibt selten gleichgültig gegen eine Bitte, aber immer taub gegen den Befehl eines Unbekannten, mag ihm auch noch so reichliche Bezahlung seiner Dienste geboten [41] werden. Freilich schwindet dieser Hauptzug des ungarischen Charakters mehr und mehr aus dem gesellschaftlichen Leben und wird bald nur in jenen wilden Pußten und ihren einfachen Naturkindern zu treffen sein.

Verlassen wir nun die wilde einsame Pußta mit ihren seltsamen Bewohnern und wenden uns zu einem anderen Theile derselben, welcher seines fetten fruchtbaren Bodens wegen als Ackerland benutzt wird.

Im Winter und Frühsommer bis zur Erntezeit finden wir übrigens auch diese Pußta ziemlich einsam. Unabsehbare grüne Saaten, zwischen denen die blühenden Ripsfelder mit ihrem hellen Gelb auffallend hervortreten, dehnen sich vor unsern Augen aus. Einige Zeit später – und gleich einem phantastischen Walde erhebt sich der Mais, dessen breite grüne Blätter seltsam flüstern und nicken, wenn sie der Lufthauch bewegt. Der Mais, bei uns Kukurutz genannt, erreicht in günstigen Jahren eine Höhe von zehn bis zwölf Fuß und wird nächst dem schönen goldigen Weizen und dem Winterrips am meisten gebaut.

Inmitten dieses grünen wogenden Saatenmeeres sehen wir manchen netten Wirthschaftshof mit seinen freundlichen weißen Wänden und glatten Strohdächern hervorragen. Diese Höfe werden Tanya genannt und bestehen aus den Wohnhäusern der Dienerschaft, des Wirthschaftsbeamten und den nöthigen Stallungen. Von Scheunen und Schuppen zum Aufbewahren des Getreides und Futters findet man in Niederungen keine Spur. Es wäre auch sehr schwierig und ungemein kostspielig, wollte man solche große Gebäude in diesen Gegenden aufführen, denen das Baumaterial gänzlich mangelt. Das Getreide wird auf einem eingezäunten großen Platze in hausgroße Triften (Karal) zusammengelegt und dann durch Pferde ausgetreten.

Mit dem Beginne der Ernte wird auch die Pußta belebt; es gibt Besitzungen, die sechs- bis achthundert Schnitter beschäftigen. Diese Arbeiter kommen meist aus den nördlichen slavischen Comitaten, deren große Bevölkerung von dem geringen Ertrage des magern Bodens nicht leben kann. Sie bilden für die Zeit ihres Aufenthaltes eine Art communistische Gesellschaft. Einer wird zum Oberhaupt gewählt und hat die Obliegenheit, für ihre Interessen zu wachen, den Contract für das künftige Jahr abzuschließen und für die Beköstigung zu sorgen. Ihm zur Seite steht die Wirthin, welche für Alle kochen und backen muß. Der gewöhnlichste Arbeitslohn dieser Schnitter ist der vierzehnte Theil des gesammten durch sie bearbeiteten Getreides. Es ist eine wahre Freude, dem außerordentlichen Fleiße dieser Leute zuzusehen. In der fürchterlichen Sonnenhitze, die kein Lüftchen, nicht der Schatten eines Baumes mildert, arbeiten sie singend unaufhörlich, oft bis tief in die mondhelle Nacht hinein, und sind mit dem ersten Morgengrauen wieder auf ihrem Platze.

Wenn der Besitzer zum ersten Male auf dem Felde erscheint, so wird er nach uralter Sitte von den hübschesten Mädchen und Weibern umringt und mit einem dünnen, reich mit Aehren behangenen Strohseile gebunden. Er muß sich dann loskaufen, gewöhnlich geschieht dies durch einen oder zwei Eimer Wein. Ist die Ernte beendet, so zieht die ganze Schnitterschaar mit dem schön geschmückten Erntekranze in den Hof des Gutsherrn oder, wenn dieser nicht anwesend, des Beamten singend ein. Einige Schafe fallen als Opfer und es wird die ganze Nacht hindurch bei den Klängen eines bescheidenen Dudelsacks getanzt und geschmaußt.

Außer dem Wirthschaftsbeamten oder dem Herrn selber finden wir auf diesen Tanya’s noch einen Aufseher (Gazda). Seine Kleidung ist die der wohlhabenden ungarischen Landleute, nur tragen diese immer schwarze oder dunkelblaue Tuchkleider, die bei den Reichen mit vielen silbernen, bei den Aermeren mit zinnernen Knöpfen und schwarzen Schnüren verziert sind, während die herrschaftlichen Wirthschaftsaufseher noch einen lichtblauen Spencer tragen. Eine dem Ungar eigenthümliche Kleidung ist die Bunda, dieser lange Pelz von Schaffellen darf nie fehlen; der Ungar behauptet, im Winter schütze er vor Kälte, im Sommer vor Hitze. Er wird gegen die erstere mit der wolligen Seite nach innen, gegen letztere umgekehrt getragen. Die Mädchen tragen weite, faltige, blaue oder rothe Röcke mit festanschließendem Leibchen und ein weißes oder buntes Halstuch. Die glänzend schwarzen Haare, an der Stirn gescheitelt, werden in einen Zopf geflochten und mit Band reich verziert. Die Füße sind durch rothe Stiefeln geschützt. Junge Weiber tragen Häubchen von Gold- oder Silberspitzen, der Pelz ist mit feinem Tuche überzogen, mit Marderfell verbrämt und bei den Reichen mit silbernen Knöpfen und Borden verziert.

Noch eines Bewohners dieser Pußten, durch welche sich die Theiß in tausend wunderbaren Krümmungen hinzieht, müssen wir gedenken, des Fischers, der an den Ufern dieses ungemein fischreichen Flusses seine Hütte baut und sich reichlichen Lebensunterhalt aus seinen Wellen holt. Obwohl die Fischerei auch sonst überall an den Seen und Flüssen sehr fleißig betrieben wird, so kann man doch nur den Theißfischer als eigentlichen Fischer bezeichnen, weil er sich sein Leben lang mit nichts Anderem, als mit der Fischerei, beschäftigt. Die Liebe zu dem Flusse und zu der Fischerei ist in ihm so tief gewurzelt, daß man beinahe kein Beispiel findet, daß der Sohn dem Gewerbe des Vaters nicht treu geblieben wäre.

Es ist fast unglaublich, welche ungeheure Menge von Fischen dieser Fluß enthält. Die ausgezeichnetsten darunter sind besonders Karpfen, Hechte, Störe; diese letzteren kommen zur Laichzeit in Menge aus den Donaumündungen, sind jedoch selten über fünfzehn Pfund schwer. Man fängt die Fische meist mit Netzen, nur die Karpfen, deren einzelne 25–30 Pfd. schwer sind, werden mit eigens dazu gearbeiteten Harpunen gefangen. Hier müssen wir einer sonderbaren Erscheinung gedenken, welche nur dem Theißflusse eigen ist und sich alljährlich wiederholt. In den heißesten Tagen des Hochsommers erscheint plötzlich die ganze Oberfläche des Wassers mit einer zahllosen Menge von Insecten völlig bedeckt, die bald ihre Hülle abstreifen und als eine Art Falter mit schmalen weißen Flügeln aufflattern, um nach einigen Stunden wieder in das Wasser zurückzufallen. Sie bedecken den Strom auf meilenweiten Strecken – „die Theiß blüht“ – sagen die Fischer. Diese Insecten sind eine Lieblingsspeise der Fische, besonders der Karpfen, die, alles Andere vergessend, schaarenweis, mit weit geöffnetem Maule, daherschwimmen und sie verschlingen. Der Fischer begibt sich nun auf seinem kleinen, leichten Kahne, mit mehreren Harpunen versehen, die an dem Kahne mittelst starker Seile befestigt werden, auf den Strom. Die Karpfen bemerken in ihrer Gefräßigkeit seine Nähe nicht eher, als bis die Harpune in ihrem Leibe steckt. Nicht selten bringen sie dann den Fischer durch ihre verzweifelten Anstrengungen, sich zu befreien, in Lebensgefahr und reißen den leichten Kahn mit ungeheurer Schnelligkeit eine bedeutende Strecke mit sich fort. Wenn endlich das Thier durch Schmerz und Blutverlust erschöpft ist, wird ein zweiter auf’s Korn genommen, und zuweilen bringt ein Kahn deren fünf bis sechs an’s Land.

Die Erscheinung dieser Millionen Insecten ist bis jetzt noch nicht enträthselt, obwohl dies jedenfalls ein interessanter Gegenstand für Naturforscher wäre. – Auch ein Beweis, wie wenig Ungarn gekannt ist.

Einen romantischen Anblick gewährt die Theiß an mondhellen Abenden, wenn die zahlreichen Fischerkähne über die glatte Fläche gleiten, und kräftige sonore Männerstimmen manches Nationallied, vom Ruderschlage begleitet, singen.

Auch auf den bebauten Pußten finden wir eine Csárda, die sich jedoch von der früher beschriebenen bedeutend unterscheidet. Ihre weißen Wände mit dem roth angestrichenen Schnitzwerk der Fensterrahmen schauen gar einladend in die Weite. Auf dem zierlichen glatten Strohdache sonnen sich bunte Tauben, und blicken zuweilen nach dem gravitätisch auf dem Giebel stehenden Storche. In dem reinlichen Hofe lebt und schnattert fröhliches Geflügel, selbst die großen weißen Hunde, welche, wie behauptet wird, unsere Väter aus ihren asiatischen Wohnsitzen mit nach Ungarn gebracht, sind freundlicher und schauen sich mit ihren schwarzen Augen, die aus den dichtbehaarten schneeweißen Gesichtern hervorleuchten, ganz vergnügt um. Vor der Thüre sonnen sich schneeweiße, wohlgenährte Katzen mit ihren Familien und zeugen, nach dem ungarischen Sprüchwort, von der Wohlhabenheit des Hauses und der vorsorglichen Hausfrau. Im Hause selbst finden wir Alles rein und blank, und begegnen nicht dem auf Gewinn lauernden Sohne Israels, sondern einem biedern Ungar, der, behaglich seine Pfeife rauchend, uns empfängt.

Des Abends versammeln sich die Bewohner der umliegenden Tanya’s in der Csárda, und sprechen bei einem Glase Wein über ihre Arbeiten und Erlebnisse, nicht selten sogar über Politik. Zuweilen kommen ein oder mehrere Musikanten von jenem Heimathlosen braunen Volke der Zigeuner, und nehmen in einer Ecke des Zimmers Platz. Sie stimmen ihre Geigen und Cymbel. Kaum haben sie den Saiten die ersten leisen melancholischen Töne entlockt, mit denen jede Nationalmelodie beginnt, so erhebt sich der junge Bursche, [42] der bis jetzt theilnahmlos neben dem Ofen auf der Bank gelegen hat, und wie die Töne lauter erschallen, steht er auf, sein Auge beginnt zu leuchten, sein Körper bewegt sich nach den Klängen der Musik. Er tritt vor an die Zigeuner und gibt an, welche Melodie sie aufspielen sollen, indem er den ersten Vers des Liedes singt – die ungarischen Tanzmelodieen sind eben auch die der Volkslieder. – Und wie die schmelzenden Töne des Adagio nach und nach in ein schnelleres Tempo übergehen, so werden auch seine Bewegungen rascher. Er umfaßt die hübsche Wirthstochter. Sein Tanz wird zur glühenden Leidenschaft. Da – mitten im Tanze bricht plötzlich heftig die Musik ab – das Paar bleibt unbeweglich, als würde die entfesselte Leidenschaft von einer höhern Macht beherrscht.

Jetzt beginnt die Musik wieder, klagend, traurig – die Tänzerin entschlüpft dem Burschen, als fürchte sie, ihre Gefühle zu verrathen; sie tanzen getrennt; durch manche Wendung entgeht sie dem Arm, der sie wieder umfassen will. Der Tänzer erzählt gleichsam seinen Schmerz, seine Liebe. Seine Bewegungen folgen den melancholischen Tönen – er nähert sich allmählich dem zögernden Mädchen, und – in dem Augenblicke des Uebergangs vom Adagio in das brausende Allegro hat sie sein Arm umfaßt und dreht sie in sinnverwirrendem schnellem Wirbel, und durch die Macht der Leidenschaft besiegt, schmiegt sich das glühende Mädchen in seinen Arm.

Die ungarische Nationalmusik ist etwas so Eigenthümliches, wie unser Nationaltanz, den man eigentlich eine mimische Darstellung nennen kann. Da, wie schon gesagt, die Musik, nach der wir tanzen, die Melodie bestimmter Lieder ist, so ist der Tanz eine Darstellung bestimmter Worte; es ist ein Gespräch, welches der Tänzer mit seiner Tänzerin führt; eine geheimnißvolle Unterredung, ein Geständniß seiner Gefühle, eine Enthüllung seines durch Leidenschaft bewegten Gemüths. Und deshalb gibt es für diesen Tanz keine Regeln, nach denen er gelehrt werden könnte. Nie wird ihn ein Anderer, als ein geborner Ungar, so tanzen, wie er getanzt werden soll, um nicht zu einem wirren, bedeutungslosen Durcheinander zu werden.

Der Bewohner der Pußta ist noch freigeblieben von jener Convenienz, die das offene ehrliche Gesicht mit trügerischer Schminke überzieht; aber es fehlt ihm nicht an Anmuth und sittlichem Anstand; wie denn überhaupt der Ungar frei ist von jener rohen Gemeinheit und Plumpheit, von jener stumpfen Stupidität, die wir bei den untern Volksclassen mancher andern Nationen, die uns so gern „rohe Barbaren“ nennen, so häufig antreffen. Er hat von der Natur reinen, hellen Verstand erhalten. In seinem Charakter liegt eine gewisse Ritterlichkeit, die sich am deutlichsten in der rücksichtsvollen Behandlung des weiblichen Geschlechts kund gibt. Ein stolzes Selbstgefühl, ein Bewußtsein von Kraft liegt in seiner Brust, sowie angeborne Liebe zur Musik und Poesie. Es ist ein trauriges Zeichen der Civilisation, daß wir die Grundzüge des ungarischen Nationalcharakters weit deutlicher bei dem wilden Bewohner der Pußta, als in den höhern Ständen, finden. Es hat sich seit einem Jahrzehnt so Vieles geändert im theuren Vaterlande, daß der Ungar sich am Ende fremd fühlen wird in der Heimath!

Ebenso wie unsern Tanz wird ein Fremder auch unsere Musik nie verstehen, wenn auch ihre Töne seinem Ohre angenehm klingen und selbst auf sein Gemüth tiefen Eindruck machen. Diese wunderbaren, durch Gefühl und Leidenschaft hervorgerufenen Melodieen, die an kein Gesetz, an keine Regel gebunden sind, deren Ursprung Niemand kennt – sie ergreifen die Seele des Ungars mit gewaltiger Zaubermacht. Er versteht die Töne. Er fühlt in ihrer Harmonie das Wehen einer schönen Vergangenheit; hört durch ihre Klänge die Geister seiner Väter, die mit ihrem Blute den Boden getränkt, mit ihrem Leben die theure Heimath erkauft, zu seinem Herzen sprechen. Sie lehren ihm dies schöne Land mit aller Kraft seiner Seele lieben, und – deshalb ist das Gefühl der Vaterlandsliebe so tief, so mächtig in der Brust des Ungars. Nie wird er sein Heimathsland in der Fremde vergessen, wenn auch das Glück sein reichstes Füllhorn über ihn schüttet – er steht überall allein – ihm ist keine der andern Nationen verwandt, keine versteht ihn mit seinen Träumen von der Zukunft, versteht ihn mit seinen theuren sorgfältig gehegten Erinnerungen an eine große, glänzende Vergangenheit, bei denen seine Seele so gern verweilt, daß er darüber der Gegenwart vergißt.

Dieses schöne Land ist aber auch ganz geschaffen, es so zu lieben, wie es eben der Ungar liebt. Es ist reich ausgestattet mit Allem, was der Mensch zu seinem Wohlsein bedarf; man kann es füglich Europa im Kleinen nennen, so mannichfach sind seine Producte, sein Klima, seine Bewohner mit ihren Sprachen und Sitten.

Während der glühende Sonnenstrahl in einem Theile dieses wunderbaren Landes die köstlichsten Trauben, Melonen, Pfirsiche, Feigen, Anis, und Baumwolle reift, gedeihen in dem bergigen kalten Norden kaum Kartoffeln, Rüben, Schlehen und einige Obstgattungen. Es gibt z. B. im Sohler Comitate einige hoch im Gebirge liegende Ortschaften, wo Kirschen und Erdbeeren erst im September reifen, während man diese Früchte im Banate schon Mitte Mai gegessen.

Während der Ungar in seinem hübschen reinlichen Hause im Winter behaglich am wohlbesetzten Tische seine Pfeife raucht und seinen guten Wein schlürft, täglich Fleisch und gutes Weizenbrod ißt, kauert der Slovak der Comitate Liptau, Arva, des nördlichen Theiles von Trentschin in seiner elenden Hütte und ist glücklich, wenn er Kartoffeln ohne Fett, oft auch ohne Salz, und ein Stück Haferbrod zu essen hat und Sonntags einen Schluck schlechten Branntwein dazu trinken kann. Er denkt mit Neid an die fetten fruchtbaren Ebenen, wo er den Sommer über als Schnitter gearbeitet, an die ungeheueren Massen des herrlichen Weizens, der in dem ungedüngten Boden wächst – während sein magerer Bergboden kaum ein wenig Hafer hervorbringt. Aber diese Gebirge bergen reiche Schätze edler Metalle und Erze in ihrem Innern.

Auf den weiten Pußten Niederungarns weiden edle Rosse, schöne Rinder und feinwollige Schafe. Der Statistiker Fényes gibt die Anzahl der Schafe, die in Ungarn gezüchtet werden, auf 17 Millionen, des Rindviehes auf 4,800,000 an. Im Norden gibt es treffliche Alpenweiden, die für Schafe benutzt werden, aus deren Milch ein köstlicher Käse bereitet wird. In den Wäldern haust unzähliges Wildpret; auf den Felsenspitzen der Karpathen sehen wir sogar die Gemse herumklettern. Die großen Moräste sind von Tausenden von Wasservögeln, die Seen und Flüsse von wohlschmeckenden Fischen belebt. Aus den geheimnißvollen Tiefen der Gebirge quellen zahlreiche Mineralwasser; unter der fruchtbaren Erdoberfläche liegen unermeßliche Steinkohlenschichten; die Gebirge von Marmarosch liefern das beste Salz – Alles, Alles finden wir innerhalb der Grenzen unseres Vaterlandes, welches mit Recht Oesterreichs Kornkammer genannt wird. Man nimmt nach der schon erwähnten Statistik von Fényes den Ertrag des Ackerlandes auf achtzig bis neunzig Millionen österreichische Metzen Getreide an. Auf den Tanya’s werden ungeheuere Schaaren Gänse gezogen; im Jahre 1845 wurden allein 8634 Centner Bettfedern ausgeführt.

Nächst dem Ackerbau wird der Weinbau am meisten in Ungarn gepflegt, doch steht die Cultur des letzteren noch lange nicht auf jener Stufe, die sie erreichen muß, wenn unsere Weine den ihnen gebührenden Rang einnehmen sollen. Der Weinbau dürfte eine unermeßliche Quelle von Gewinn für Ungarn werden, wenn man mehr Fleiß und Aufmerksamkeit darauf verwenden wollte. Vielleicht werden die Weinbergsbesitzer durch die hohen Steuern zu der heilsamen Erkenntniß gebracht, daß in den Adern ihrer Reben Gold fließt, wenn man es zu Tage zu fördern versteht.

Seit einigen Jahren kommt die Seidenzucht bedeutend in Aufnahme, der Tabaksbau jedoch ist seit der Einführung des Monopols bedeutend gesunken.

Und so nehmen wir denn Abschied von der Pußta und ihren einsamen Bewohnern. Erscheint sie auch dem Fremden ohne Interesse und einförmig, für den Ungar hat sie ihre Poesie – er liebt sie, wie der Araber seine Wüste, der Schweizer seine Alpen, der Indianer seinen Urwald, der Seemann sein Meer.

Mag uns das Schicksal noch so weit vom Vaterlande entfernen – die vielen wunderbaren Stimmen, die in dem Wehen der heimathlichen Lüfte zu uns sprechen, klingen stets in unserer Seele, und ewig wahr bleiben die Worte unseres unsterblichen Dichters: „Außerhalb der Grenzen des Vaterlandes gibt es kein Glück, kein Leben für den Ungar!“

Irma von Beniczky.



[43]
Ein Burschentag in Bamberg.
(Eine Jugenderinnerung.)

Studenten sind durchschnittlich ein fröhliches Völkchen, und wir vom Jahre 1826 hatten wohl das Recht, uns zu den Fröhlichsten zu zählen, denn wir lebten noch in stolzer Ungebundenheit, die aber der in unserer Burschenschaft herrschende ritterliche Sinn niemals – ich schreibe wohlbedächtig: niemals – in Zügellosigkeit ausarten ließ. Es war das letzte Aufflammen der akademischen Freiheit, die zu Anfang der dreißiger Jahre in’s Grab gelegt wurde, in welchem sie noch bis heute schlummert. Unsere Behörden waren human genug, uns gewähren zu lassen, obschon das schwarz-roth-goldene Band sich schüchtern unter dem altdeutschen Rocke bergen mußte, damit es ja nicht verrieth, welches harmlose Demagogenherz unter ihm schlug. Dies war aber auch der einzige Zwang, dessen ich mich aus jenen Jahren erinnere, Das geringe Geheimniß, in welches wir unsere Verbindungsangelegenheiten hüllen mußten, trug jedoch nicht wenig dazu bei, uns in unseren und unserer Commilitonen Augen eine gewisse Wichtigkeit zu verleihen und eine Art von Stolz zu wecken.

Im Jahre 1826 waren – wenn ich nicht ganz irre – die zersprengten einzelnen Glieder wieder zusammengefügt und die meisten vereinzelten Burschenschaften zu einer allgemeinen deutschen Burschenschaft zusammengetreten. Auch Leipzig hatte sich dem großen Verbande angeschlossen und daher im Sommer 1827 die Einladung erhalten, einen oder zwei Abgeordnete zum Burschentage nach Bamberg zu senden, woselbst mehrere Fragen von allgemeiner burschenschaftlicher Wichtigkeit zur Erledigung gelangen sollten. Wie stolz fühlte ich mich, als die Wahl eines solchen Vertreters auf mich fiel, einen der jüngeren in der Verbindung, der jedoch, was Begeisterung für die Ideale unseres Burschenlebens anlangt, keinem der ältesten nachstand.

Der Reisekoffer war bald gepackt: das Tornister wurde mit einigen Hemden, einigen Paar Strümpfen und einigen Taschentüchern gefüllt, ein halb Pfund Tabak eingekauft – und die Reisezurüstungen waren beendigt. In der einen Hand die lange Pfeife mit den dreifarbigen Quasten, in der andern den unvermeidlichen Ziegenhainer, den weißen Kragen über den altdeutschen Rock geschlagen und die Verbindungsmütze auf dem stürmischen Kopfe, so ging’s, ein lustiges Wanderlied singend „fröhlich und frei“ zunächst nach Jena, jener Perle unter den deutschen Universitäten, wo ein freier Geist sich selbst unter den trübsten Zeitläufen des Vaterlandes unverkümmert erhalten hatte. Hier schlossen sich alsbald zwei andere Genossen der Burschenschaft an, die in gleicher Absicht, wie wir, nach Bamberg pilgerten.

Ich enthalte mich einer Beschreibung der herrlichen Reise, die durch das romantische Schwarzathal, bei Vierzehnheiligen und Kloster Banz vorbei ihren nächsten Endpunkt in Bamberg fand, wo schon am zweiten Tage nach unserer Ankunft die Sitzungen unseres Burschentages eröffnet wurden. Es waren – wenn ich mich recht erinnere – nur sechs Universitäten vertreten: Erlangen, Jena, Heidelberg, Leipzig, München und Würzburg. Jena präsidirte als geschäftsführende Burschenschaft und übte sein Amt mit einem Takt und einer Würde, wie sie bei vielen größeren Versammlungen nicht immer gefunden wird.

Die erste Frage, die uns beschäftigte, war die Formulirung des Zweckes unserer jetzigen allgemeinen deutschen Burschenschaft. Noch heute erinnere ich mich des stürmischen Titus aus Bamberg (nachmals Abgeordneter zum Parlament in Frankfurt a. M.), der in einer feurigen Rede darauf hinwies, wie uns der von feilen Schriftstellern erhobene Verdacht, thätig in die politischen Verhältnisse des Vaterlandes eingreifen zu wollen, nicht abhalten dürfe, uns mit Politik zu beschäftigen, da ja Politik alles das umfasse, was des Vaterlandes Wohl und Wehe bedinge.

„Schon Cicero,“ rief er uns begeistert zu, „nennt das Studium der Staatsverfassung ein carmen necessarium für die Jugend; und wir sollten kalt dastehen und zusehen, wo es sich um die heiligsten Angelegenheiten des Vaterlandes handelt? Wir sollten nicht regen, lebendigen Antheil nehmen an Allem, was dem geliebten Vaterlande frommt? Wir sollten nicht das Wort unseres edelsten Dichters beherzigen:

„An’s Vaterland, an’s theure, schließ Dich an,
Das halte fest mit Deinem ganzen Herzen!
Hier sind die starken Wurzeln Deiner Kraft,
Dort in der fremden Welt stehst Du allein,
Ein schwankes Rohr, das jeder Sturm zerknickt.“

Und so eiferte er fort in mahnender Rede und warnte vor allem Geheimniß, wenn uns die Regierungen nicht selbst in ein solches zurückdrängten, vor aller zu ängstlichen Beobachtung des Formenwesens, unter welchem nur zu leicht der Geist ersticke, vor allem Zusammentreten zu verbotenen, zu unedlen Zwecken.

Nach längerem Erörtern einigten wir uns endlich dahin, als Zweck unseres Zusammenlebens hinzustellen: Vorbereitung zur Herbeiführung eines freien, gerecht geordneten und in volkshtümlicher Einheit gesicherten Staatenlebens mittelst sittlich-wissenschaftlicher Ausbildung auf der Hochschule und der Uebung jeder geistigen und körperlichen Kraft zum Dienste des gemeinsamen Vaterlandes.

Dieses schöne Ziel sollte fortan das Ideal unseres Burschenlebens bilden, aber jeder Mißdeutung, wodurch dasselbe zu erreichen sei, dadurch vorgebeugt werden, daß die Worte: „mittelst sittlich-wissenschaftlicher Ausbildung“ besonders betont wurden. Hierdurch glaubten wir der scheinbar hochverrätherischen Tendenz – und was galt damals nicht Alles dafür?! – die Spitze abgebrochen zu haben.

Die zweite Hauptfrage galt der in Jena ausgebrochenen Spaltung im Schooße der Burschenschaft selbst, die sich alsbald auch über mehrere andere Universitäten verbreitete. „Germanen“ und „Arminen“, so lautete das Feldgeschrei in beiden Lagern, und es war nicht gut möglich, eine Einigung wieder herbeizuführen, da beide Parteien einander principiell entgegenstanden. Die „Arminen“ jener Tage wollten allen politischen Anstrich aus der Burschenschaft verwischt sehen, kein einigendes Band auf den verschiedenen Universitäten anerkennen, wohl aber dieselben sittlich-wissenschaftlichen Zwecke verfolgen; zugleich verwarfen sie – wenigstens in der Folgezeit – das Duell als ultima ratio studiosi und geriethen bald wieder auf Abwege des Mysticismus und Pietismus, von welchen sich nur wenige Perioden der früheren Burschenschaft freigehalten haben. In Leipzig ging es so weit, daß ein sonst ganz tüchtiger Bursch in seinem gelinden Wahnwitz sich weigerte, eine gebratene Taube zu essen, weil die Taube das Symbol des Geistes sei! – Bei einer solchen Auffassung ließ sich natürlich nichts vermitteln, und es blieb uns daher nichts Anderes übrig, als in den Germanen die wahren Burschenschafter anzuerkennen, abgesehen davon, daß das ganze Auftreten dieser Germanen uns vom studentischen Standpunkte aus weit mehr gefiel, als das träumerische Wesen der Arminen, die, wie ihnen die Spötter nachhöhnten, ihre „gemüthlichen“ Commerse in Milch abhielten.

So war denn das große Tagewerk gelöst, und nachdem noch manch ermuthigendes, erfreuendes Wort gesprochen worden war, trennten wir uns denn re bene gesta von dem halb mittelalterlichen, halb modernen Bamberg. Nachdem ich noch einige Zeit bei Bundesbrüdern in Erlangen und Nürnberg verweilt und mich, namentlich in dem ehrwürdigen Nürnberg, ganz in die Dämmerungen des Mittelalters versenkt hatte, aus denen mich jedoch allabendlich die Erlanger „Schimmle“ oder die Nürnberger „Seidle“ zurückriefen, ging es im Geleit eines anderen Universitätsgenossen aus Wunsiedel nach Muggendorf und Streitberg, das Fichtelgebirge entlang, wieder der engeren Heimath zu. Der frische Jugendmuth artete fast in Uebermuth aus, als wir in einem bairischen Grenzstädtchen anlangten, und der traurige Zustand unserer Börsen uns zur Ausführung eines kleinen Humbugs zwang, der vielleicht von manchem Griesgram verdammt wird. Schon in Jena hatte uns Freund W. aus Wunsiedel erzählt: er besitze in dem genannten Grenzstädtchen einen nahen Verwandten, den er noch nie gesehen, dessen Töchter aber im Laufe des Frühjahrs seine beiden Schwestern in Wunsiedel besucht hätten. Sollte uns das Geld ausgehen, so könnte sich leicht mein bairischer Reisegenoß für W. ausgeben, und dann würde eine freundliche Aufnahme uns nicht fehlen. Der nahe Verwandte W.’s war Postmeister und besorgte zugleich die Restauration der Reisenden. Wir kehrten bei ihm ein, trafen die beiden Schwestern im Gastzimmer und äußerten unsere Sehnsucht, bald in Wunsiedel zu sein. Schon nach wenigen Minuten trat der inzwischen von einer seiner [44] Töchter benachrichtigte Wirth in’s Zimmer, lüftete sein Käppchen und begann sein Examinatorium. – „Wo studiren die Herren Studenten, wenn ich fragen darf?“ – „In Jena.“ – „Gewiß auch aus Baiern?“ – „Ja, aus Wunsiedel.“ – „So, so, da habe ich auch einen Verwandten, der in Jena studirt, den Sohn des –rathes W.“ – „Was? der W. bin ich ja; Sie sind der Herr X.?“ – „Freilich, freilich, und Sie Fritz W.?“

Ich stand dabei in stillen Aengsten, wie sich die Sache endigen würde, zumal ich endlich auch als ein weitläufiger Verwandter aus Sachsen vorgestellt wurde.

Der alte Herr rief die ganze Familie zusammen; Mutter und Töchter mußten dem neuen Vetter einen Kuß geben, und dieser Vetter spielte, mit den Verhältnissen in Wunsiedel ziemlich vertraut, seine Rolle so gewandt, daß ich manchmal selbst auf den Gedanken kam, ihn für den rechten Vetter zu halten. Nur einmal, als die eine Cousine nach dem „Tantchen“ frug, und der Vetter deren vollständiges Wohlsein versicherte, wäre er bald in eine unvermuthete Schlinge gefallen, denn das „Tantchen“ lag bereits seit sechzehn Wochen krank; doch half er sich schnell, und nannte eine andere Tante, die er im Sinne gehabt habe, während er die fortwährende Krankheit der andern treuherzig bestätigte.

Da gerade das Vogelschießen – das größte Fest des ganzen Jahres – in die Woche unseres Besuches fiel, so nützte uns kein Sträuben, wir mußten ausharren und wurden natürlich bei der ganzen großen Verwandtschaft des Städtchens herumgeführt und von derselben zum Theil zu weiteren Festlichkeiten geladen. Endlich nahte der Glanzpunkt aller Herrlichkeiten – der Ball am letzten Abend des Vogelschießens, und hier wäre bald der neue Vetter mit seiner bis jetzt so glücklich gespielten Rolle durchgefallen. Die früher als wir in den Ballsaal geeilten Cousinen trafen dort einen jungen Pfarradjuncten aus der Nachbarschaft, der früher in Jena studirt hatte und Mitglied der Burschenschaft gewesen war; in der Freude ihres Herzens verkündigten sie ihm sogleich, daß Vetter Fritz W. von Jena anwesend sei und bald erscheinen werde.

„Aber Fritz trägt einmal einen langen Bart!“ versicherte prahlend die eine Cousine.

Der Pfarradjunct machte große Augen, denn er hatte erst vor einem halben Jahre von dem wirklichen Fritz W. Abschied genommen, als an dessen Kinn der Streit zwischen Haaren und Flaum noch nicht recht entschieden war. Als wir hierauf in den Saal traten, stutzte er nicht wenig; doch bald erkannte er den Pseudofritz, mit dem er ja noch zusammen die Universität besucht hatte. Der falsche Vetter trat auch sofort an ihn heran, und mit den leise zugeflüsterten Worten: „Verrathe mich nicht“ war seine Zunge vorläufig gebunden. – Fast schäumte der jugendliche Uebermuth über die Grenzen hinaus, als der Pfarradjunct bei Tafel das Glas erhob, dem Postmeister zu seinem Vetter Glück wünschte, und die ganze zahlreiche Gesellschaft – zwei Drittheile bestanden aus „Vettern“ und „Muhmen“ – in lautem Jubelruf den seligen Vetter umringte, der gar nicht müde wurde, den Glückwünschenden seinen Dank in herzlichen Küssen zu erkennen zu geben.

Am nächsten Morgen eilten wir (der Postmeister ließ uns drei Meilen weit in einem eleganten Wagen fahren, und die Cousinen hatten für ein elegantes Frühstück Sorge getragen) aus dem fröhlichen Städtchen, und sendeten von der Grenzstation aus unserm freundlichen Wirthe einige dankende Zeilen, in denen wir ihm unseren Scherz gestanden und ihn freundlich baten, uns zu verzeihen, zugleich aber uns bald einmal mit den liebenswürdigen Cousinen in unserem wirklichen Wohnorte zu besuchen, um wenigstens die Zinsen abstoßen zu können, die seine Güte auf uns gehäuft hätte, da wir das Capital doch nicht zurückzuzahlen vermöchten. Der alte Herr hat, wie wir später hörten, ein etwas saures Gesicht bei Durchlesung des Briefes gemacht, und sich namentlich geärgert, wenn ihn Spottvögel gefragt, ob nicht bald wieder ein Vetter ankommen würde. Jetzt wird er wohl das Irdische gesegnet haben; sicher wird er ebensowenig, wie seine lieblichen Töchter, jetzt noch den beiden Wildfängen zürnen, die sich damals einen etwas starken, immer aber harmlosen Scherz mit ihnen erlaubt hatten.

E. Bdt.




Blätter und Blüthen.

Kinkel’s Wochenschrift. Die Deutschen in London und England überhaupt haben auf die verschiedenste Weise versucht, durch Englisirung Ersatz für das Vaterland zu finden. Aber es scheint überall mißlungen zu sein. Das englische Leben, so viele Vorzüge man ihm auch vor dem deutschen zuschreiben mag, bietet keinen Ersatz für das deutsche. Dieses hat sich denn auch nicht nur unter den Deutschen in England, sondern auch unter den Engländern zunehmend geltend gemacht.

Gegen das Englischthun der Deutschen ist seit Jahren eine immer stärkere Reaction eingetreten. Der Deutsche lernte sich, obgleich in dieser Beziehung selten unterstützt durch Ereignisse im Mutterlande, nach und nach als Deutscher fühlen und zeigen. Die Kinder einer Mutter, die sich früher flohen und mieden, fanden sich wieder zusammen. Es entstanden deutsche Vereine und Clubs aller Art, größere oder kleinere deutsche Colonien in den verschiedensten Stadttheilen Londons; deutsche Zeitungen, Journale und Bücher wurden von denen gesucht, die früher mit bitterem Hohn sich gerühmt, daß sie längst verlernt, noch etwas Deutsches zu lesen. Auch lernte man mit der Zeit einsehen, daß deutsche Arbeiter, Künstler, Gelehrte, Fabrikarbeiter, Gewerbtreibende, Kaufleute, alle Berufsarten und Stände, wenn auch oft durch landsmannschaftliche Taugenichtse irritirt und gedemüthigt, doch ganz wesentlich und in überwiegendster Majorität durch Persönlichkeit und Leistung die Engländer bei Weitem übertreffen. Eine Menge Leistungen und Arbeiten werden längst schon von den Engländern nur bei Deutschen gut gesucht und gefunden.

Kurz, die Deutschen in England fanden ihr Deutschland hier und cultiviren es seitdem mit zunehmendem Selbstgefühl.

Gottfried Kinkel hat sich das entschiedenste Hauptverdienst um Belebung und Veredelung des Selbstgefühls der hiesigen Deutschen erworben. Schon seine imposante, edele, auch in England hochgeehrte Persönlichkeit that Etwas. Aber erst seine Vorträge vor Arbeiter- und Kaufmanns-, Künstler- und Gelehrtenkreisen über deutsche Literatur, Geschichte und Kunst, worin er mit goldener, freier anmuthiger Rede die ewigen Schätze des deutschen Genius den hier Zerstreuten und oft sich ihres Vaterlandes Schämenden vor die Augen stellte und zu Herzen führte, vollendeten den Proceß aus deutscher Selbstentfremdung heraus in deutsches Selbstgefühl. Auch war Er es mehr wie jeder andere Patriot, Er, dem man Bitterkeit gegen das Vaterland am ersten verziehen haben würde, von dem es Viele erwarteten, der mit Liebe, mit Anerkennung, mit Hoffnung von den gegenwärtigen Zuständen sprach und – seiner ganzen Natur und Richtung nach – stets das Positive, Bedeutende, Erfreuliche in vergangenen und gegenwärtigen Zuständen und Thatsachen hervorzuheben und so seine Zuhörer zu trösten, zu erheben verstand. Wie oft wußte er bienenartig selbst entschiedenen Giftblumen ein Tröpfchen Honig abzugewinnen!

Um den Proceß des deutschen Sichwiederfindens in England und im Auslande überhaupt kräftiger unterstützen und weiter, anhaltender wirken zu können, entschloß er sich plötzlich, nachdem er sich aus den Ruinen einer mit der edeln Frau gemeinschaftlich errungenen Thätigkeit und Stellung kräftig emporgerungen (aber sein Haar ist dabei binnen wenig Wochen weiß geworden) zur Herausgabe des „Herrmann. Deutsches Wochenblatt aus London“. Es herrschte hier in London eine wahre freudige Begeisterung darüber, die ihm persönlich und durch Briefe eben so massenhaft zuströmte, wie vor einigen Wochen die erschüttertste Theilnahme.

Das Blatt will, wie der Prospect sagt, den Zweck verfolgen: „unter den im Auslande lebenden Deutschen den Antheil an der Nationalität und Freiheit des Vaterlandes zu wahren, und den Deutschen daheim einen Sprechsaal zu eröffnen in einem stammverwandten Lande, wo die Presse nur durch das von Geschworenen vertretene Gesetz beschränkt ist.“ – „Außer der Politik soll besonders das Ziel in’s Auge gefaßt werden, von deutschen Erfolgen in Leben, Kunst und Wissenschaft Bericht zu geben, zumal wenn sie von Landsleuten im Auslande errungen sind. Jede Nummer bringt einen Kunstbericht aus London, welcher im Laufe des Jahres für den Reisenden und Einheimischen in eine vollständige Anweisung zum Sehen der hier aufgehäuften Schätze sich abrunden soll. Ein Feuilleton von Originalarbeiten vertritt den Fortschritt der Literatur.“

Die erste Nummer ist erschienen. Der Leitartikel weist nach, daß von den verspotteten und verfolgten „Errungenschaften“ in Deutschland eine gute, nicht zu verachtende Zahl geblieben ist und Wurzel geschlagen habt, aus denen Blüthen und Früchte zu erwarten sind. „Deutschland“ wird mit einer freudigen Perspective rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft in seinen gegenwärtigen Verhältnissen und mit seinen zufälligen Tages-Ereignissen anerkennend revidirt. Wir machen hier nur noch auf das Feuilleton aufmerksam: Erlebnisse der Frau Johanna Kinkel aus ihrem kurz vor ihrem Tode vollendeten größeren Romane entnommen. Sie werden das Feuilleton mehrere Wochen füllen und Allen, die an ihrem Leben, Leiden und Tode so innigen Antheil nahmen, um so willkommner sein, als sie ihr bis jetzt wenig bekanntes Londoner Leben und Streben, komische und tragische Schicksale beleuchten.

In London herrscht große Freude über das neue Unternehmen Kinkels. Es ist uns, als hätten wir nun erst das rechte Band vaterländischer Gemeinsamkeit auf diesem fremden, schweren Boden gewonnen. Große Freude auch deshalb, weil jetzt, nachdem verschiedene Versuche einer deutschen Presse hier von unfähigen, sogar schmutzigen Händen gemacht wurden, zum ersten Male diese literarische Vertretung Deutschlands in London und England von den Händen eines würdigen Mannes, Gelehrten, Dichters und Schriftstellers in Angriff genommen ward.[2]


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Als Probe aus der Sammlung ostfriesischer Gedichte von Müller.
  2. Die Verlagshandlung der Gartenlaube wird später mittheilen, durch welche Gelegenheit und zu welchem Preise der „Herrmann“ zu beziehen ist.