Die Gartenlaube (1860)/Heft 20

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 20. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


In den Casematten Magdeburgs.

Von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Nachdem das von den Gefangenen der Casematte gegrabene Loch so tief war, daß Frohn bis unter die Achseln darin stak, als er hineinsprang, ließ er den Sand seitwärts, unter der äußeren Mauer der Casematte fortwühlen. Es konnten nur noch zwei Leute da unten neben einander arbeiten, weil nur so viel Platz fanden; zwei andere hoben den Sand nach oben, wo wieder andere ihn bei Seite schafften. Es war eine regelmäßige Minenarbeit, die auffallend rasch in dem weichen Erdreich gefördert wurde.

Plötzlich, und mitten in ihrer Thätigkeit, welche die zwei Wühler trotz der fast völligen Dunkelheit, die jetzt da unten herrschte, fortgesetzt hatten, hörten sie auf, kamen aus ihrer Mine zurückgekrochen und hoben sich, während der Sand wie ein Regenguß von ihnen niederrieselte, in die Höhe.

„Ihr könnt nicht mehr sehen?“ sagte Frohn – „ich habe ein Licht, das ich Euch geben will …“

„Es ist nicht darum,“ versetzte Einer der Leute, mit einem Gesichte, auf dem man, wenn es heller Tag gewesen wäre, deutlich eine gewisse Ueberraschung hätte lesen können – „aber der Sand ist vor uns zusammengestürzt, und es liegt ein offenes Loch wie eine Höhle vor uns.“

„Das wußt’ ich, und dahinein wollt’ ich eben!“ sagte der Officier. „Kommt jetzt nur heraus,“ fuhr er fort, indem er tastend aus seiner unerschöpflichen Matratze allerlei Dinge hervorzog, deren nähere Beschaffenheit die Umstehenden nicht mehr unterscheiden konnten. Dann warf er seine Mütze ab, knöpfte den knappen Uniformrock dicht über der Brust zusammen und sprang in das Loch hinunter. Unten begann er sofort eine Manipulation, welche zeigte, daß er sich mit Feuerzeug versehen habe, und nachdem er eine kleine Diebslaterne angezündet, leuchtete er mit dieser in den ausgeworfenen Minengang hinein. Nach einer Weile sagte er, sich halb aufrichtend: „Ich werde dahinein kriechen, Leute, hab’ aber Einen zur Begleitung nöthig. Freiwillige vor! Wer meldet sich?“

Zwei, drei verwegen aussehende Kerle waren sofort bei der Hand. „So mag’s der Auerhuber sein,“ sagte der Officier; „also Du folgst mir, Auerhuber, so daß immer vier Schritt Entfernung zwischen uns bleibt; wenn der Sand über mich einstürzen sollte, so säumst Du nicht, mich bei den Beinen schnell zurückzuziehen – verstehst Du?“

„Versteh Eur Gnoden schon, hob’n’s kein Trema!“ sagte der Auerhuber, und nachdem er sein leinenes Wamms zusammengeknüpft, sprang er dem Officier in die Grube nach.

Dieser verschwand nun in die aufgeworfene Mine und trat seine Wanderung auf allen Vieren an. Der Gang, dem seine Leute entgegengearbeitet, und den sie so glücklich getroffen hatten, lag etwas seitwärts, zur Linken; um hineinzukommen, bedurfte es jedoch nur einer kleinen Schlangenwendung. Er war allerdings nicht so weit und bequem zu passiren, wie der, welchen Frohn hatte auswühlen lassen – aber er bot auch für einen starken Mann mit breiten Schultern hinlänglich Raum dar; seine Höhe mochte ungefähr drei Schuh betragen. Er war in der Form eines Gewölbes oben ausgerundet.

Frohn arbeitete sich rasch in diesem Gange vorwärts. Als er etwa zwanzig Fuß weit gekommen, flüsterte er seinem Begleiter zu: „Nun, wie geht Dir’s, Auerhuber – hast Du Luft?“

„Es thut’s halt noch, Eur Gnoden,“ flüsterte Auerhuber zurück – „aber neugieri bin i holt, wos der Fuchs sogt, der dies Loch groben hat, wenn’s in sein Nest eini schaug’n!“

„Wir sind nicht weit mehr von dem Nest, mein’ ich,“ antwortete Frohn, „denn ich fühle frischere Luft mir entgegenströmen.“

„Na, desto besser is’,“ meinte Auerhuber.

Die unterirdische Reise wurde fortgesetzt. Nach einer Weile sah Frohn beim Scheine seines glimmenden Laternchens, daß er sich nicht mehr zwischen Sand, sondern zwischen starken durchbrochenen Mauern befand, welche hier viel dicker und tiefer fundamentirt waren, als diejenigen, die vorher seine Leute zu überwinden gehabt hatten. Es mußte außerordentlich viel Mühe und unsägliche Ausdauer gekostet haben, den Gang durch sie hindurch zu führen. Dann sah er sich in einem oben offenen, brunnenartigen Loch, ähnlich, nur viel kleiner, wie das, welches drüben in seiner Casematte den Eingang zu der Mine bildete.

Als Frohn so weit gekommen war, hob er sich auf seinen Knieen in die Höhe, leuchtete mit der Laterne rings umher und richtete sich dann leise auf, indem er die Leuchte so hoch wie möglich emporhielt. Er stand bis an die Brust in dem Loche; ein offenbar ausgehobener Boden von dreifachen festen Planken umgab ihn in dieser Höhe.

Der Schein seines kleinen Lichtes zitterte schwach und unzulänglich in dem Raum, in welchem sich Frohn, wenigstens mit dem Kopfe und den Schultern, befand, umher. Der gefangene Officier nahm zuerst nur ein niedriges Gewölbe, dann eine nackte Wand, dann etwas, was dicht vor ihm lag und einem gefüllten Sacke glich, wahr … dann – er erschrak dabei trotz aller seiner Herzhaftigkeit – hörte er einen tiefen Athemzug. Als er rasch die Blicke nach der Seite warf, woher der Laut kam, sah er eine hohe, [306] geisterhafte, weißgraue, über und über mit Ketten behangene Gestalt dicht an der einen Mauer des etwa zehn Schuh im Quadrat haltenden Raumes stehn.

Die Gestalt sah ihn mit großen, weit offenen Augen an; sie stand trotz ihrer Kettenlast hoch aufgerichtet, fast drohend da. Frohn erfaßte ein unwillkürlicher Schauder bei dem Anblick. „Zum Teufel, in welche Galeere bin ich da gerathen?“ fragte er sich halblaut – „das muß ein Wahnsinniger sein, einen vernünftigen Menschen braucht man nicht so mit Ketten zu behängen!“ Er stand einen Augenblick unentschlossen da, einen Augenblick, in welchem er seinen Gefährten Auerhuber in der Gegend seiner Beine anlangen und sich jetzt ebenfalls halb aufrichten fühlte. Dann flüsterte er: „Gut Freund, Camerad!“

Die weißgraue Gestalt streckte ihm jetzt mit starkem Kettenklirren die Arme entgegen und antwortete eben so leise: „Wer ist Er? – was will Er?“

„Was ich will? – nun, Ihm einen Besuch machen, wie Er sieht …“

„Er ist kein Scherge, kein Verräther?“

Frohn wollte, bevor er antwortete, sich in die Höhe schwingen und aus seinem Loch emporsteigen, in der menschenfreundlichen Absicht, seinem Auerhuber Raum zu machen und ihn heranzulassen; aber der Mann in Ketten flüsterte heftig und gebieterisch: „Bleib’ Er, wo Er ist!“

„Will Er mich hindern?“ fragte Frohn ruhig, indem er mit einem Sprunge sich so weit in die Höhe schnellte, um sich auf den von den ausgeschnittenen Dielen gebildeten Rand des Loches setzen zu können.

„Meint Er etwa, die Ketten hielten mich ab, Ihm den Schädel einzuschlagen?“ sagte der Andere. Zugleich begann er mit einer unglaublichen Schnelligkeit eine dicke Kette, die an seinem Fuße befestigt war, zu lösen, dann die Hände aus zwei schweren, durch eine Stange mit einander verbundenen Handschellen zu befreien, eine andere Kette, die von einem breiten Halsring niederhing, abzulösen – und nach wenig Augenblicken stand er von allen Fesseln bis auf das breite eiserne Halsband befreit da, in seiner Rechten die Stange mit den Handfesseln haltend, die in seiner kräftigen Faust keine zu verachtende Waffe war. Er richtete jetzt auf den fremden Eindringling einen triumphirenden Blick, der offenbar die Bewunderung desselben herausforderte.

„Ich sehe, daß Er wahr machen könnte, was Er sagt,“ bemerkte Frohn erstaunt – „wie Teufel hat Er das angefangen?“

Der Andere lachte höhnisch auf.

„Ein Mann, wie ich, wird mit Allem fertig,“ sagte er. „Aber erst will ich wissen, wer Er ist, und wie Er in meinen Gang gerathen ist!“

„Ich bin ein österreichischer Kriegsgefangener,“ versetzte Frohn, „nenne mich von Frohn und stehe bei Prohasca-Dragonern. Ich habe in der Casematte drüben, wo ich eingesperrt bin, Sein Arbeiten und Wühlen unter dem Boden gehört, und habe Ihm den Gefallen thun wollen, Ihm die Sache zu erleichtern, indem ich Ihm entgegenkam.“

Der Gefangene schwieg eine Weile. Dann sagte er: „Wir wollen uns erst mehr Licht verschaffen, damit wir uns besser sehen können.“

Mit diesen Worten holte er aus einer Ecke ein halb niedergebranntes Talglicht auf einem niedrigen Blechleuchter hervor, zündete es an Frohn’s Laterne an und stellte es auf einen aus Steinen aufgemauerten Tisch, der sich in der Mitte der einen Wand befand, dicht neben dem schweren eingemauerten Ringe, von welchem die Ketten niederhingen. Zur Seite des Tisches, gerade unter dem Ringe, lag auf dem Boden ein Strohsack mit einer Decke; der Gefangene hatte, als Frohn ihn zuerst erblickte, darauf gestanden, was seine Gestalt um so größer und seine ganze Erscheinung um so gespensterhafter gemacht hatte.

„Nun, kommen Sie nur aus dem Loche heraus, Herr Camerad, und der da unter Ihnen krabbelt, auch,“ sagte der Gefangene, und indem er sich so stellte, daß das volle Licht auf seine Züge und seine Gestalt fallen mußte, fuhr er mit einem gewissen Pathos fort: „Ich bin der kaiserlich königliche Rittmeister Freiherr von der Trenck!“

„Von der Trenck?“ antwortete Frohn verwundert.

„Von dem Sie gehört haben werden,“ sagte der Gefangene mit stolzem Selbstgefühl.

Frohn schüttelte den Kopf. „Von dem Oberst von der Trenck, der die Panduren …“

„Das ist mein Vetter! Ich bin der Rittmeister von der Trenck, vom Regiment Cordua-Dragoner.“

„Also auch Kriegsgefangener – und man behandelt Sie auf solche Weise?“ fiel der Lieutenant von Frohn ein.

„Wo haben Sie denn gesteckt in der Welt,“ fragte der Andere, „daß Sie von dem Rittmeister von der Trenck nichts gehört haben, von dem doch, mein’ ich, alle Welt weiß? Ich kriegsgefangen? Nein, Herr Camerad, ich bin ein Vogel, den man um anderer Dinge willen in diesen Käfig gesteckt und, weil er durchaus nicht darin bleiben wollte, endlich mit 68pfündigen Ehrenketten behängt hat, um ihn zu bewegen, es sich hier als Gast des großen Friedrich auf längere Zeit gefallen zu lassen. Aber ich kehr’ mich wenig an die Ketten, und werde mich in den nächsten Tagen bei Seiner Majestät beurlauben!“

„Weshalb legt denn der König so großen Werth auf Ihr Hierbleiben, wenn ich fragen darf, Herr Camerad?“

„Das sind Familienverhältnisse,“ entgegnete Trenck lächelnd; „Geheimnisse zwischen mir und meinem Herrn Schwager. Nehmen Sie, um die Sache in einem romantischen Lichte zu sehen, an, es hätte uns ein und dieselbe Dame nahe gestanden, aber mit verschiedenen Gefühlen freilich – auf seiner Seite seien mehr die schwesterlichen in’s Spiel gekommen …“

Frohn blickte überrascht den mit einem eigenthümlichen Tone von Renommisterei sprechenden Gefangenen an. War der Mensch am Ende doch ein Wahnsinniger? Aber nein, er fuhr mit vollständiger Ruhe und Klarheit zu reden fort: „Glauben Sie etwa, ich sei ein Aufschneider? Nun, es steht bei Ihnen. Ich wüßte nicht, weshalb ich mich darum ereifern sollte. Ich bin der beste Soldat im Heere des Königs gewesen. Jetzt sorgt der große Friedrich, der ja ein leidenschaftlicher Liebhaber der Philosophie und der Philosophen ist, dafür, daß ich mich hier auch zu einem Weltweisen wie Sokrates ausbilde. Gewiß, um mich dann zum Präsidenten seiner Akademie zu machen. In der That, wenn dies seine Absicht ist, so habe ich in den neun Jahren, die ich hier zugebracht, derselben glänzend entsprochen. Ich kann Ihnen meine Schriften zeigen, meine Gedichte, alle mit meinem Blut geschrieben … sie werden mehrere Foliobände füllen – aber davon ein andermal, in diesem Augenblicke wollte ich Ihnen nur andeuten, daß meine Philosophie darüber erhaben, was ein kaiserlich königlicher Lieutenant von Prohasca-Dragonern von mir denken mag!“

„Weshalb sollte ich Ihnen nicht glauben, Herr Camerad?“ antwortete Frohn auf diesen Erguß – „daß man auf Ihre Person einen besonderen Nachdruck legt, zeigen diese schweren Ketten, die Sie mit einer mir ganz unerklärlichen Leichtigkeit abgestreift haben.“

„Wollen Sie sehen, wie ich es mache?“ fragte von der Trenck, ganz begierig, wie es schien, das Staunen seines Gastes noch einmal zu genießen.

Frohn trat näher zu ihm heran; während des Vorigen hatte Auerhuber sich auf den Rand der Grube gesetzt und glotzte jetzt mit derselben Verwunderung, wie vorher sein Lieutenant, den Gefangenen an.

„Sie haben da eine Escorte bei sich,“ sagte dieser, den Menschen in’s Auge fassend – „kann man sich auf ihn verlassen?“

Frohn nickte mit dem Kopfe. „Ich stehe für ihn ein,“ antwortete er.

Von der Trenck zeigte nun, wie leicht er seine Fesseln löste: zunächst die Handschellen, die sehr weit waren. „Sie waren ursprünglich schlimmer,“ bemerkte er dabei; „es war eine Höllenpein, heraus und hinein zu kommen; später jedoch fand ich einen guten Freund unter den Officieren, der mir ein Paar weitere machen ließ. Für eine Hand voll Gold bekommt man eben Alles. Mit Gold macht man sich sogar Fesseln und Ketten bequem!“

„Gold? – und haben Sie das? – hat man es Ihnen gelassen?“

Der gefangene Freiherr antwortete nicht; er fuhr fort, seine Ketten zu zeigen, wie er hier durch sorgsames Ausfeilen der Nietungen, dort durch Aufbiegung von Haken, durch Lücken, die nachher mit schwarzem Brode verstrichen wurden, es dahin gebracht hatte, die ganze Last nach Belieben abwerfen und, wenn sein Kerker inspicirt wurde, was, wie er sagte, täglich ein Mal, um Mittag, geschah, wieder anlegen zu können.

[307] Nachdem er hierüber Frohn’s Verwunderung sattsam erregt, wandte er sich der von starken Eichenbohlen gefertigten und eisenbeschlagenen Thüre seines Kerkers zu, und arbeitete ein paar Augenblicke lang an der Einfassung derselben, ohne daß Frohn sehen konnte, was er beginne. Dann trat er in einen Winkel der Zelle und machte sich unten an dem Fußboden zu schaffen. Endlich hielt er Frohn die offene, mit kleinen Geldrollen gefüllte Hand hin. „Sie fragten nach Gold?“ sagte er, „da sehen Sie Gold, und ich habe noch mehr. Es macht mir Vergnügen, es hier zu haben, obwohl ich nicht ein Stück Brod dafür kaufen kann. Aber ich mache mir zur Abwechselung zuweilen das Vergnügen, mir einzubilden, ich sei ein Geizhals, der in seinen Keller gestiegen ist, um seine Schätze zu hüten. Kann ich nicht hier bei meinen Dukaten eben so stolz, so neidisch, so mürrisch lächeln, als der Mammonsknecht, der ängstlich bei seinem Gold schwitzt? Und noch mehr als dieser, denn ich bin vor Räubern sicher! Ein anderen Mal bilde ich mir ein, ich sei ein Bergmann, der in einem tiefen Schachte sitzt und arbeitet, auch von Licht und den Lebendigen fern, auch bei seinen Goldadern. Freilich leistet das Gold mir auch wesentlichere Dienste. Von den vier Officieren, welche abwechselnd die Inspektion bei mir haben, habe ich drei bestochen. Ich erhalte von ihnen alles Mögliche, was ich wünsche.“

Frohn hatte sich während dieser Rede des Gefangenen auf den Sandsack gesetzt, der in der Mitte des Raumes lag, während Auerhuber neben ihm auf dem Rand der Grube saß; Trenck stand perorirend vor ihnen, in der einen Hand sein Licht, in der andern seine Goldrollen; es war ein merkwürdiges Bild, dessen Seltsamkeit durch die charakteristische Erscheinung Trencks um Vieles erhöht wurde. Der berühmte Gefangene der Magdeburger Sternschanze war groß und kräftig gebaut, sodaß er Frohn wenig nachgab. Seine Züge waren wo möglich noch edler und schöner, als die des Letzteren; die Blässe, welche die Kerkerluft darauf gelegt hatte, ließ der rothe Lichtschein wenig wahrnehmen, und seine dunklen, großen Augen zeigten das Feuer eines ungebeugten Muths. Eigenthümlich war sein Costüm. Es bestand aus einem Kittel von grobem blauem Tuche; weil aber die Fesseln ein Aus- und Anziehen der Kleidungsstücke, wenn sie nach gewöhnlichem Schnitt gemacht worden wären, verhindert hätten, so zeigten sie von oben bis unten an den Seiten Reihen von Knöpfen, vermittelst deren sie angelegt und festgehalten werden konnten. Ein Paar wollene Strümpfe und Pantoffeln bedeckten die Füße. Man sah übrigens, daß dem Gefangenen trotz seiner langen Haft nicht die Lust an einer gewissen Sorgfalt für sein Aeußeren geschwunden war; sein langes, schwarzes Haar war wohl gekämmt und hing in dichten Locken auf seine Schulter; sein Kinn war glatt, wie eben rasirt – er hatte sich die schmerzliche Operation nicht verdrießen lassen, die Haare immer einzeln auszurupfen.

„Und wie bekommen Sie das Gold?“ fragte Frohn nach einer Pause.

„Sie haben gehört, daß ich Schreibzeug besitze,“ antwortete der Gefangene, indem er ging, seine Goldrollen wieder an ihren Platz zu bringen. „Ich schreibe an einen Freund in Wien; ich sende ihm Anweisungen auf meine großen Herrschaften in Ungarn und Slavonien; er besorgt mir die Summen nach Gommern, zwei Stunden von hier, jenseits der sächsischen Grenze; dort werden sie durch einen Vertrauten abgeholt. Bedürfen Sie vielleicht Geld, Herr Camerad? – es steht zu Ihrer Disposition.“

Frohn antwortete im Augenblick nicht – er war innerlich zu beschäftigt, sich Rechenschaft über den räthselhaften Charakter des Mannes zu geben, der ihm eine seltsame Verbindung von Unerschrockenheit, Muth, geistiger Energie, Eitelkeit und Prahlerei schien – dann sagte er: „Eine Rolle Gold würde allerdings meine Pläne wesentlich erleichtern. Aber ich will es nicht eher annehmen, als bis ich Ihnen angedeutet habe, wozu Sie es hergeben. Sagen Sie mir erst, welche Fluchtpläne Sie haben – wir wollen sehen, wie wir unsere Entwürfe combiniren können.“

„Meine Fluchtpläne? Wollen Sie auch das wissen? Nun, Sie sehen ja, ich habe den Gang unter der Mauer dort ausgegraben, um in die Casematte drüben zu kommen. Es ist eine Arbeit von vielen Monden, von Jahren. Zu dem Sande unten ist leicht zu wühlen. Aber die Schwierigkeit war, den Mauerschutt und den Sand fortzuschaffen. Es wäre nicht möglich, wenn ich nicht einen Grenadier bestochen hätte, der von Zeit zu Zeit vor dem Luftloch meiner Zelle draußen Wache steht. Er hat mir ein Paar Sandsäcke zukommen lassen, die ich ihm durch die Stangen des Fensters zuschiebe, und die er dann ausleert, so gut er kann. Und nun ist das Schlimmste, daß ich die Stunden vor Mittag stets damit verlieren muß, den Fußboden wieder so herzustellen, daß, man bei dem täglichen Besuche meines Kerkers nichts bemerkt. Eine entsetzliche Arbeit war es auch, diesen Fußboden zu durchschneiden. Wie Sie sehen können, besteht er aun drei Lagen von je drei Zoll dicken eichenen Bohlen. Ohne die Stange zwischen meinen Handschellen, die ich mir an dem einen Ende scharf geschliffen habe, wäre es gar nicht möglich gewesen. Aber ein Kopf und eine Hand wie die meine werden mit Allem fertig. Ich würde heute beinahe bis unter die Casematte drüben gekommen sein, wenn ich nicht das Arbeiten jenseits gehört hätte, was mich bewog, inne zu halten und mich in meine Zelle zurückzuziehen, um abzuwarten, was kommen werde.“

„Und wenn Sie bis in die Casematte vorgedrungen wären?“

„So würde ich die Arbeit so lange haben ruhen lassen, bin eine Auswechselung von Kriegsgefangenen oder das Ende des Krieges die Casematte von ihren jetzigen Einwohnern befreit haben würde. Meine Verständnisse mit gewissen Leuten haben mir den Schlüssel zu der Thüre der Casematte verschafft, die sich damit von innen aufschließen läßt. In einer sternlosen Nacht kann ich ganz bequem zu dieser Thüre hinaus, über die Festungswälle, durch die Gräben, in’s Weite; ich habe an einem bestimmten Orte meine gesattelten Pferde stehen!“

„Sie haben den Schlüssel zu unserer Casematte?“ fragte Frohn.

Von der Trenck nickte mit dem Kopfe.

„Dann freilich,“ versetzte Frohn, „haben Sie eine große Chance, daß Ihre Flucht gelingen kann.“

„Eine Chance? Gewißheit!“

„Nun, es ist immer gut, sich auf Zufälle und unvorhergesehene Ereignisse gefaßt zu machen, die unsre besten und klügsten Pläne zu Nichte machen können.“

„Soll ich Ihnen die Geschichte meiner Flucht aus der Festung Glatz erzählen?“ fiel Trenck selbstbewußt ein. „Sie werden dann keinen Zweifel mehr an dem hegen, was ich zu Stande bringen kann.“

„Ein anderes Mal,“ erwiderte Frohn, „wir wollen die Zeit in diesem Augenblicke besser benutzen; aber Sie reden ein wenig laut, Herr Camerad – die Schildwache, die ich draußen gehen höre, könnte Verdacht schöpfen …“

„Haben Sie deshalb keine Sorge,“ antwortete Trenck lächelnd – „die Wachen wissen, daß zuweilen die Herren Officiere von der Besatzung bis tief in die Nacht hinein bei mir sind und sich meiner geistreichen Unterhaltungsgabe erfreuen. Hinein schauen in meinen Kerker kann die Wache nicht – ich habe, wie Sie sehen, eine Decke vor das Fenster gehängt.“

„Desto besser,“ versetzte Frohn – „so haben wir Muße, den Vorschlag zu discutiren, den ich Ihnen machen will, Herr Camerad.“

„Sprechen Sie.“

„Zuerst will ich meinen Begleiter beurlauben. Auerhuber, Du kannst die Rückreise antreten. Kriech in die Casematte zurück; Du kannst dort erzählen, daß ich hier eine sehr anziehende Bekanntschaft gemacht habe, mit der ich mich noch eine Weile unterhalten werde.“

Auerhuber hätte eigentlich vorgezogen, dieser Unterhaltung beiwohnen zu dürfen, er gehorchte jedoch, und während Frohn ihm die Laterne hielt, tauchte er alsbald unter, um wie ein Maulwurf unter der Erde zu verschwinden.

„Mache nur, daß Dich ja die Schildwache nicht hört“ – flüsterte Frohn ihm nach; er löschte darauf sein Licht aus, um die Kerze zu sparen, und dann sich zu Trenck wendend, sagte er: „Wir sind jetzt allein, und ich will Ihnen meinen Plan anvertrauen. Vielleicht sind Sie geneigt, Ihren Plan mit dem meinigen zu combiniren. Ich glaube, ebenso wenig wie Sie mein Ehrenwort auf unbedingtes Stillschweigen verlangt haben, brauche ich das Ihrige zu verlangen. Ich traue Ihnen zu, daß Sie lieber sich foltern ließen, als einen Cameraden in’s Unglück zu bringen …“

„Sie thun sehr wohl, ein solchen Ehrenwort nicht von mir zu verlangen – ich würde unter meiner Würde halten, es zu geben,“ erwiderte von der Trenck stolz.

[308] „Nun wohl, so hören Sie denn. Es ist mir gelungen, diejenigen Leute, zu denen ich mich in die Casematte habe sperren lassen, mir unbedingt gehorchen zu machen. Ich habe Verbindungen mit mehreren anderen Casematten der Festung anzuknüpfen gewußt, in denen ebenfalls einzelne Officiere, die ihr Ehrenwort, nicht zu fliehen, verweigert haben, mit Gemeinen zusammengesperrt sind. Ich habe dort überall Anführer wählen lassen, die gelobt haben, meine Befehle anzunehmen. Ich habe mir einen Plan der Festung verschafft. Ich bedarf jetzt nur noch sehr weniger vorbereitender Schritte, um das Signal geben zu können, nach welchem alle diese Gefangenen im selben Augenblick losbrechen, ihre Wachen überwältigen und sich zum Herrn der Festung machen werden. Ich übernehme dann das Commando von Magdeburg und halte die Festung so lange, bis unsere große Kaiserin mir ihre Befehle hat zugehen lassen.“

„Der Teufel! der Plan ist großartig!“ rief von der Trenck aus – wie es schien, nicht ganz erfreut von der Aussicht, daß er in’s Werk gesetzt werde.

„Was sagen Sie dazu, Herr Camerad?“

„Woher wollen Sie Waffen bekommen?“

„Wir nehmen sie der Besatzung ab. Wir haben sechs- bis achttausend österreichische Gefangene in der Festung. Meine Einleitungen sind so getroffen, daß ihrer vier- bis fünftausend etwa auf meinen Befehl sofort losbrechen können. Die ganze Besatzung besteht aus höchstens 1500 Mann – keine kriegsgeübten Feldtruppen, sondern Landmilizen, die nichts lieber thun, als ihre Flinten wegwerfen, um nach Hause zu kommen.“[1]

„Aber die Geschütze? Man wird gewiß die Geschütze den Eingängen der Casematten gegenüber aufgepflanzt haben und Ihre Leute niederkartätschen, wenn sie ausbrechen!“

„Nun, die Geschütze müssen wir, wenn sie vertheidigt werden, freilich nehmen, ebenso gut wie irgend eine Redoute in der Schlacht.“

„Dann fehlt Ihnen die Munition, wenn Sie die Geschütze haben.“

„Wir können die Geschütze vernageln, umstürzen, mit Erde verstopfen – aber allerdings wäre es besser, wenn wir uns Munition verschaffen könnten. Darum eben mache ich Ihnen diese ganze Eröffnung; gesellen Sie sich zu uns, stellen Sie sich unter mein Commando, geben Sie Ihren Schlüssel zu unserer Casemattenthüre her, um uns das plötzliche Losbrechen zu erleichtern, und geben Sie mir jetzt von Ihrem Golde – damit wird es mir möglich sein, Munition zu bekommen!“

„Wie wollen Sie das anfangen?“

„Lassen Sie das mein Geheimniß sein; um es Ihnen zu erklären, müßte ich Namen nennen, die ich versprochen habe zu verschweigen.“

„Also ganz Magdeburg wollen Sie in Ihre Gewalt bringen?“ sagte leise flüsternd und nachdenklich von der Trenck.

„Und Sie sollen dazu helfen!“

Von der Trenck schüttelte zweifelnd den Kopf.

„Sie wollen nicht?“

„Ich will mir’s überlegen, Herr Camerad,“ sagte Trenck. „Wir haben ja Zeit, uns noch weiter darüber zu besprechen.“

„Nun wohl, ich will morgen wieder zu Ihnen kommen. Oder ziehen Sie vor, mir meinen Besuch in meiner Casematte zu erwidern?“

„Nein,“ versetzte Trenck. „Ich würde dort drüben von zu vielen Leuten gesehen werden – es könnte ein Verräther darunter sein. Kommen Sie zu mir. Nur in den Stunden von Neun bis Mittag bin ich nicht im Stande, Sie zu empfangen. Um Neun muß ich beginnen, die Spuren meines Ganges zu verbergen, und dann in meine Fesseln zurückschlüpfen und sie mit Brod verkitten – um Mittag kommt man zur Inspection und mit meinem Essen.“

„So komme ich morgen Abend wieder,“ entgegnete Frohn.

„Gut, der Gang soll dann geöffnet sein. Auch will ich Ihnen Gold geben.“ Von der Trenck holte eine seiner Rollen herbei und übergab sie Frohn. „Hier sind fünfzig Louisd’or!“ sagte er; „aber warten Sie,“ fuhr er fort, das Gold zurücknehmend, „ich will Sie Ihnen in einem anständigen Etui geben – eine goldene Tabatière habe ich zwar nicht, aber etwas Anderes, was noch werthvoller ist als eine goldene Tabatière; ein Werk meiner Hand – behalten Sie es als Andenken.“ Er nahm etwas aus der Ecke hinter seinem steinernen Tisch hervor und nachdem er die Goldrolle hineingeworfen, überreichte er es Frohn. Es war ein zinnerner Becher, ganz dem ähnlich, den wir schon in Frohns Händen sahen, über und über mit Bildern und Sprüchen bedeckt.

„Was … Sie sind der Mann, der diese merkwürdigen Becher macht?“

Von der Trenck nickte stolz mit dem Kopfe. „Es ist nicht der erste, den Sie sehen?“

„Man hat mir einen geschenkt … aber als Andenken soll mir dieser darum nicht minder werth sein. Ich habe noch heute bei der Betrachtung des meinigen den lebhaftesten Wunsch gefühlt, mit dem Gefangenen, der sie mache, in Verbindung zu kommen. Aber ich muß Ihnen dabei bekennen, daß ich überzeugt war, der Schöpfer dieser feinen und wunderbar künstlichen Arbeit sitze ganz ohne Zweifel als Falschmünzer, Schriftenfälscher oder etwas dem Aehnliches gefangen … ich dachte, er werde der rechte Mann sein, um durch ihn falsche Schlüssel und dergleichen Arbeiten vorkommenden Falls besorgen zu lassen. Ich habe Ihnen Abbitte zu thun!“

„Ja, da haben der Herr Camerad sich freilich geirrt!“ fiel Trenck stolz ein.

Frohn steckte den Becher und das Gold zu sich und mit den Worten: „Nun, nichts für ungut!“ reichte er dem Gefangenen die Hand.

Dieser schüttelte sie mit anscheinender Herzlichkeit, und Frohn zündete jetzt das Licht in seiner Laterne wieder an. Dann ließ er sich in die Grube hinabgleiten und verschwand in der Erde.

(Fortsetzung folgt.)



Ein ehemaliger Klostergarten.

Nur wenige Orte dürfte es geben, welche in so gleichem Maße durch die Reize, womit die Natur sie freigebig schmückte, und die historischen Erinnerungen, die an ihren Namen sich knüpfen, sich auszeichnen, als dies mit dem 11/4 Meile von Danzig gelegenen säcularisirten Cistercienser-Kloster Oliva der Fall ist. Im Jahre 1178 durch Sambor II., Herzog von Pommerellen – dasselbe, auch das „Land der Kassuben“ genannt, und ein Lehen des stammverwandten Polens, an welches es auch im Jahre 1294 zurückfiel, umfaßte den heutigen preußischen Regierungs-Bezirk Danzig, die größere Halbscheid des Regierungs-Bezirks Marienwerder und einen kleinen Theil Hinterpommerns – zur Erfüllung eines Gelübdes gegründet, ad montem olivarum (woraus durch Contraction der heutige Name entstand) benannt und mit Cistercienser-Mönchen besetzt, ward es bald ein Brennpunkt der Civilisation in den baltischen Ländern und eine Leuchte in der dunklen Nacht der Unwissenheit, des Aberglaubens und der Barbarei, die damals noch über jenen Provinzen lagerte.

Gar mancher in Lehre und Leben ausgezeichnete Mann ging aus dem Kloster hervor; so schon im zweiten Viertel des 13. Säculums jener Abt Christian, der gemeinsam mit dem Herzoge Konrad von Masovien die deutschen Ordensritter zur Bekehrung (und Unterjochung) der heidnischen Preußen in’s Land rief, dadurch Veranlassung gab zur Gründung der merkwürdigen Aristo-Theokratie des deutschen Ordens in Preußen, und selbst erster Bischof von Westpreußen zu Culm ward. Papst Innocenz IV. verlieh (1240) dem Kloster die Befreiung von jeglicher bischöflicher Jurisdiction, so daß der Abt von Oliva fortan in geistlichen Dingen nur von dem Papste und dem General seines Ordens abhängig sein sollte. Fromme oder auf ihr Alter zu reuigen Sündern gewordene Große statteten das Kloster mit Geld und Besitz an liegenden Gründen aus, und Polens Könige, welche 1466 in den Besitz von Westpreußen gelangt und somit des Stiftes Landes- und Schirmherren geworden waren, verliehen den Aebten auf den Landtagen Westpreußens eine eigne Stimme und den Rang unmittelbar nach den

[309] Bischöfen, über ihr weltliches Besitzthum aber – „über Land und Leute“, wie man damals sagte – verschiedene wichtige Regierungs-Rechte, ja sogar den „großen Blutbann“; d. h. das Recht über Leben und Tod der Unterthanen des Klosters. Geldreichthum und Territorialhoheit, mehr als Beides aber noch die eifrige Pflege, welche Wissenschaften (Theologie und Historie namentlich) und Künste (Malerei, Architektur, Tonkunst und Gartenbau) in ihm fanden, verschafften dem Kloster einen hohen Ruf: auf die späteste Nachwelt aber bringt seinen Namen der am 3. Mai 1660, also vor jetzt gerade zweihundert Jahren, unter Frankreichs Vermittelung hier geschlossene Friede.

Derselbe endete den sechzigjährigen Thronstreit der protestantischen (schwedischen) und der katholischen (polnischen) Linie des Hauses Wasa, mit ihm den sechzigjährigen, nur durch einzelne mehr oder minder lange Waffenstillstände unterbrochenen Krieg Polens mit Schweden, und stellte auf ein halbes Jahrhundert hinaus die staatlichen Verhältnisse des europäischen Nordens fest. Im „Frieden von Oliva“ entsagte König Johann Casimir von Polen allen Ansprüchen auf Schweden; die „Republik“ Polen trat an dieses Liefland und Esthland ab; Schweden gab dagegen an Polen das gleichfalls eroberte Herzogthum Kurland, und an Polens Bundesgenossen Dänemark die Insel Bornholm und die Provinz Drontheim zurück, wogegen es die durch Jahrhunderte von Dänemark besessenen, im Laufe der letzten Kampfesjahre aber von Schweden gleichfalls eingenommenen Landschaften Halland, Schonen und Blekingen behielt. Dem Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (der „große Kurfürst“), der es abwechselnd mit Schweden und Polen gehalten, ward von beiden Mächten der souveraine Besitz des Herzogthums Preußen bestätigt; mit Rußland aber, das für Schweden Partei ergriffen, von Johann Casimir ein Waffenstillstand geschlossen, welchem im folgenden Jahre der Friede von Kardis folgte, der den vorigen Besitzstand unverändert wieder herstellte.

Das Kloster Oliva.

So wurden denn aus dem „Friedens-Congresse von Oliva“ – derselbe dauerte vom „heiligen Dreikönigstage“ bis zum vorgedachten 3. Mai 1660 – die verwirrten Verhältnisse von halb Europa wieder in Ordnung gebracht und verblieben in dieser Ordnung, bis der Tag von Pultawa (1709) Schwedens Hegemonie vernichtete und die Friedensschlüsse zu Stockholm (1719), Friedrichsburg (1720) und Nystadt (1721) den nordischen Staaten andere Grenzen gaben.

Mit dem Anfange des 18. Säculums begann der Verfall der berühmten Abtei. Ihr Wohlstand schwand durch die großen Anforderungen, welche sowohl in dem langen, die beiden ersten Decennien des Jahrhunderts ausfüllenden „zweiten nordischen Kriege“, als auch bei der zwiespältigen polnischen Königswahl (1734) an sie von Freund und Feind gemacht wurden. Ihre Territorialhoheit, und mit ihr einen guten Theil ihrer Einkünfte, verlor die Abtei bei der Besitznahme Westpreußens durch Friedrich den Großen in Folge der ersten Theilung Polens; im Jahre 1810 erfolgte ihre theilweise, 1836 ihre gänzliche Säcularisirung, nach einem Bestehen von nicht weniger als 658 Jahren. Dreiundfunfzig Aebte, resp. Fürst-Aebte, hatten in diesem langen Zeitraume hier gewaltet; die beiden letzten Prinzen aus dem Hause Hohenzollern-Hechingen. Bei der Säcularisirung ward Oliva nicht, wie die meisten aufgehobenen Klöster, zur Staatsdomaine, sondern kam in den Privatbesitz des königlich preußischen Hauses.

Diesem Umstande ist es denn zu verdanken, daß das, was die Aebte im vorigen Jahrhunderte, und namentlich die Fürst-Aebte Karl und Joseph von Hohenzollern (von 1783 bis 1836 waltend) geschaffen, zum guten Theil erhalten blieb. Das im zweiten Viertel des vorigen Säculums erbaute, einst eine der glänzendsten Fürstenwohnungen bildende Schloß, „die neue Residenz“ benannt, steht allerdings seit der Säkularisation leer und hat viel von seiner inneren Pracht verloren, ist aber keinesweges verfallen und kann jeden Augenblick zu einer stattlichen fürstlichen Sommerresidenz eingerichtet werden. Zu einem fürstlichen Sommersitze eignet es sich durch die leichte, geschmackvolle Bauart, seine malerische Lage und vor Allem durch den herrlichen Garten, der es umgibt. Dieser gehört zu den schönsten und größten Gärten Deutschlands, und dürfte den berühmten fürstlichen Gärten von Schwetzingen, Wörlitz, Charlottenburg wohl nur wenig nachstehen. Von den Gärten der Provinz Preußen ist er weitaus der schönste, wie er denn überhaupt wohl von keinem unter gleichem nördlichen Breitengrade befindlichen Garten an Zierlichkeit der Anlagen und Mannichfaltigkeit [310] der in ihm vorhandenen Gewächse übertroffen werden dürfte. Schauen wir uns ein wenig in demselben um!

Unmittelbar vor dem Schlosse erfreut uns ein großes Beet voll mächtiger Alpenrosen; neben ihm Beete voll Azaleen, Camelien und der aus Lappland hierher verpflanzten, schön blühenden Andromeda. Andere Beete mit Noisettes- und Theerosen, mit Heliotrop und Jalappe bepflanzt, hauchen den Duft peruanischen Balsams uns entgegen. Den Rasenplatz dahinter schmückt ein riesiges Blumenrohr vom Aussehen des Pisang, dieser hochwichtigen Culturpflanze heißer Länder, über welche hin das noch höhere Pfefferrohr schwankend sich bewegt. In seinem Schatten aber erfreut sich ein Sohn des alten classischen Latiums, der Acanthus, seines Daseins; zwar ein Zwerg unter dem gewaltigen Rohre, aber hochberühmt durch seine Blätter, von denen die Baukünstler des Alterthums das Muster zur Verzierung des korinthischen Säulenknaufs hernahmen.

Schreiten wir nun durch einen Baumgang von schattigen Kastanien, die sechzig Fuß hoch emporstreben. Hinter prangenden Blumenbeeten lachen uns freundliche Rasenplätze an, sorgsam unter der Sense gehalten. An sie reihen sich Teiche, eingehegt von Staudengewächsen mit Blättern, groß wie Sonnenschirme, und Büschen voller Beeren. Da spiegelt sich die große indische Kresse mit ihren schildrunden Blättern im Teiche, erheben Festons von Schlingpflanzen sich zu Ehrenbögen über steinernen Najaden; da wirft eine Fontaine ihren Silberstrahl himmelan und schäumen zwei kleine künstliche Wasserfälle lustig über bunte Kiesel.

Ueber zierliche Brücken gelangen wir zum „Ohr des Dionys“, das in zwei Grotten den leisesten Hauch des Mundes an der Wand der einen Grotte laut und vernehmbar an der entgegengesetzten wiedergibt. Durch ein ernstes Tannen- und Birkenwäldchen schreitend, kommen wir zur Höhenpartie des Gartens, und die Fronte des Schlosses springt uns in gefälliger Würde entgegen, reizend durch die duftigen Laubgänge und Rosenhecken, welche, von ihr ausgehend, die blumenreiche Ebene davor bekränzen.

Aber es würde uns zu weit führen, wollten wir den Leser durch alle Theile des großen Gartens geleiten; wir führen ihn daher nur noch zum schönsten Punkte desselben. Diesen bilden zwei hohe, geschorene Lindenhecken, durch welche man, wie durch ein kolossales Fernrohr, über ein künstlich dahinter angelegtes Wasserbassin fort, mitten aus dem Garten in das eine halbe Meile entfernte Meer schaut. Durch einen optischen Zauber getäuscht, glaubt man nicht anders, als es laufe die Lindenallee bis zum Gestade der Ostsee fort. Ein köstlicher Anblick und ein höchst überraschender! Es ist, als wäre plötzlich ein Vorhang weggezogen, der ein herrliches Panorama bisher verschleierte; doppelt köstlich ist er, wenn sich ihm die Stille eines sommerlichen Sabbath-Abends beigesellt, welche nur den Wellenschlag des nahen Meeres als dumpfes Murmeln und die Abendglocke von der nahen Klosterkirche als Mahnung zum Gebet an unser Ohr dringen läßt.

Doch so schön dieser Garten auch ist, so wird er an Naturreizen doch noch von dem „Karlsberge“ übertroffen. Diesen Namen führt ein von dem eigentlichen Schloßgarten durch die Landstraße getrennter Berg, welcher von dem vorletzten Fürstabte, dem Prinzen Karl von Hohenzollern, der Stadt Danzig, die ihn damals besaß, abgekauft, mit mannichfachen Anlagen versehen und dadurch gewissermaßen zu einem Bestandtheile des Gartens gemacht und nach seinem Namen benannt wurde. Obschon nur 280 Fuß über den Spiegel der nahen Ostsee sich erhebend, bietet der Karlsberg, als ein isolirt stehender Berg, doch eine reiche, und namentlich sehr schöne Aussicht dar. Als im Jahre 1798 Preußens unvergeßliche Königin, die geist- und gemüthvolle Louise Danzig und Oliva besuchte, ließ in ritterlicher Galanterie der Fürstabt Prinz Karl bis zum waldumsäumten Gipfel der Hauptanhöhe einen breiten Fahrweg anlegen, auf welchem dann die junge Königin in einer Chaise bequem hinauffuhr. Von diesem Hauptwege laufen bald breitere, bald schmälere, bald lichtere, bald dunklere Nebenwege aus, an anmuthigen Ruheplätzen, Eremitagen und Grotten vorüberführend. So gelangen wir denn auf verschlungenen Pfaden, die oft die schönsten Prospecte darbieten, bis zum Gipfel des Karlsberges. Ihn ziert ein chinesisches Lusthäuschen, über dem ein Belvedere sich erhebt, zu welchem von außen eine Treppe hinaufführt. Hoch über Wald und Gebüsch blickt man von dort auf den bunten Teppich hinab, der sich tief unten mit seinen Gruppen von Häusern, Bäumen, Saatfeldern, Wiesen, Teichen und Büschen ausbreitet. Am Horizonte dehnt sich die weite Meeresfläche, im Sonnenglanze leuchtend, mit ihren bald näher, bald entfernter vorübersegelnden Schiffen, die theils von fremden Gestaden kommen, theils mit schwellenden Segeln ihnen zueilen, aus. Näher aber erheben sich, am Rande einen munter dahin hüpfenden Baches, die Hammer- und Mühlenwerke des Freuden- und Schwabenthals, und am Fuße des Berges erblickt man den Flecken Oliva mit seinen freundlichen Häusern und Gärtchen, die Kirche der Abtei mit ihren Thürmen, das Schloß, den Schloßgarten und das ehemalige Kloster, so viel davon noch übrig ist. Ein herrliches Panorama; doppelt entzückend am Feierabend, wenn die Sonne hinter die blühenden Gefilde hinabsinkt, das Geräusch der Tagesbeschäftigungen schweigt und kein anderer Laut, als das Schlummerlied der zahlreichen gefiederten Sänger hier oben auf luftiger Höhe, das im Anschauen versunkene Gemüth aus seliger Selbstvergessenheit aufweckt.

Schwer nur reißen wir uns los, um zur Ebene hinunter zu steigen und hier noch der Klosterkirche einen Besuch abzustatten. Diese ist ein altes und ziemlich imposantes Gotteshaus, zumal wenn man den Eingang durch das Hauptportal nimmt. Eigenthümlich beleuchtet ist die in Form eines schmalen lateinischen Kreuzes erbaute Kirche dadurch, daß das Hauptschiff nur durch kleine, ganz oben angebrachte Fenster sein Licht erhält, die Seitenschiffe aber ihre eigenen Fenster haben. Hinter dem Querschiffe folgt der erhöhte Chor. Dort steht der Hochaltar. Dies geschmackvolle Bauwerk gewinnt noch durch das volle Licht von oben her, sowie durch die mit sorgfältiger Berechnung des Effects gefärbten Glasfenster; Marmorsäulen tragen die Decke über ihm. Unter einem mächtigen Sarkophage von schwarzem Marmor ruhen hier die Herrscher Pommerellens, von dem Begründer des Klosters bis zu dem Letzten seines Stammes, von den Thaten und Mühen ihres meist vielbewegten Lebens aus: „olim heroës, nunc nihil nisi cinis et ossa!“

Die Kirche enthält zwar nicht viele, aber meist gute Gemälde; eine prächtig vergoldete Kanzel; außer dem Hauptaltare noch zweiundzwanzig kleinere Nebenaltäre, unter denen einige vortreffliche Kunstwerke von Marmor (einer von Alabaster) sind; und zwei Orgeln, von denen die eine ein herrliches Werk und nicht nur die zweitgrößte Orgel im preußischen Staate (die größte ist die in der Peter-Pauls-Kirche zu Görlitz), sondern überhaupt eine der größten in Europa ist.

Von dem Kloster selbst (claustrum oder monasterium) ist nur noch das Hauptgebäude stehen geblieben. Dasselbe bildet ein regelmäßiges Viereck, hat innen einen schön gewölbten Kreuzgang mit leidlichen Gemälden aus der biblischen Geschichte, und außer mehreren kleinen Gemächern, ehemaligen Mönchszellen, drei Säle: das „Sommer-Refectorium“ (Speisesaal der frommen Patres zur schönen Jahreszeit), ein weites, hohes Gemach, welches auf drei schlanken Granitsäulen ruht und die Bildnisse aller 53 Aebte enthält, welche in dem Zeitraume von 66 Decennien hier gewaltet haben; den „Capitel-Saal“, der zu den Sessionen des Capitels diente, und das kleinere „Winter-Refectorium“, auch der „Friedenssaal“ genannt, weil in ihm jener hochwichtige Friede abgeschlossen wurde, welcher dem Namen „Oliva“ einen Platz in der Weltgeschichte, dem Orte Weltberühmtheit verschaffte.

An das Kloster schließt sich der Marktflecken Oliva, ein ungemein freundlicher Ort, welcher im Laufe der letzten Jahrhunderte um das Kloster entstanden ist und gegenwärtig etwa 2100 gewerbfleißige Einwohner – zu zwei Drittheilen Katholiken, zu einem Drittheil Protestanten, die seit 25 Jahren im Besitze einer eigenen, zwar kleinen, aber sehr niedlichen Kirche sind – zählt.

Die jetzt im Beginne der Ausführung begriffene hinterpommersche Eisenbahn von Stolpe nach Danzig wird dem Orte insofern ein erhöhtes Leben verleihen, als dieselbe Oliva (das übrigens einen Stations-Bahnhof erhalten soll) gewiß aus der Ferne manche Besucher zuführen wird, die den in zwiefacher Beziehung merkwürdigen Ort durch eigene Anschauung kennen lernen wollen.
G. J.

[311]
Der Höhenrauch.
Von Dr. Schwabe.

Endlich haben wir ihn wieder da, den ersehnten, lieben, schönen Mai mit seinen Blüthen, seinen sonnigen Tagen und – mit seinem Höhenrauche!

Allerdings, werther Leser, gehört der Höhenrauch in gewissem Sinne zu den Attributen des schönen Monats Mai, wenigstens für einen großen Theil des deutschen Vaterlandes. Ob aber jenes Bild des Mai’s, welches Deiner Phantasie vorschwebt, durch den Gedanken an den stinkenden Nebel beeinträchtigt wird, das soll mich einmal nicht kümmern, denn ich beabsichtige, weit entfernt von allen poetischen Ergüssen, ein verständiges Wort mit Dir zu reden über den Höhenrauch, diesen Gast aus der Fremde, von dem noch immer so Viele nicht wissen, „woher er kam“, und wer er eigentlich ist. Dieser fast alljährlich im Mai und Juni, bisweilen auch in den ersten Tagen des Juli, im Spätsommer und im Herbste bei uns im mittleren, seltener im südlichen Deutschland einsprechende Gast verfehlt nie, so oft er erscheint, lebhafte, ja oft lächerlich heftige Disputationen zu veranlassen. Die Einen sagen, der Höhenrauch sei das Product der Moor- und Haidebrände, welche jährlich in gewissen großen Länderstrecken des nordwestlichen Deutschlands zum Behuf der Cultur des Moorbodens angestellt werden. Die Anderen behaupten, es seien „zersetzte Gewitter“. Noch Andere lachen über den Unsinn beider Behauptungen, und erklären den Höhenrauch für gewöhnlichen Nebel, der mit Schwefeldünsten geschwängert sei. Endlich müssen wir noch der allerneuesten Entdeckung erwähnen, die ein gelehrter Mann in einer besonderen Schrift niedergelegt hat, und welcher zufolge der Höhenrauch durch Zersetzung der in der Luft enthaltenen Kohlensäure in ihre Grundbestandtheile, Kohlenstoff und Sauerstoff, entsteht.

Man möchte wirklich am gesunden Menschenverstande verzweifeln, wenn man den entsetzlichen Unsinn mit anhören muß, der oft bei solchen Disputationen zu Tage gefördert wird und auf einer völligen Unkenntniß der einfachsten physikalischen Vorgänge beruht. Bleiben wir einen Augenblick bei der am häufigsten laut werdenden Ansicht über die Natur des Höhenrauches stehen, nach welcher dieser aus zersetzten Gewittern bestehen soll. Ein „zersetztes Gewitter“ ist ein Unding. Nur ein aus mehreren Bestandtheilen zusammengesetzter Stoff kann zersetzt werden; ein Gewitter aber ist kein Stoff, sondern ein Vorgang, ein physikalischer Proceß, welcher darin besteht, daß sich die in einzelnen Wolken angehäufte positive Elektricität mit der negativen Elektricität anderer Wolken oder der Erdoberfläche mittels sogenannter Entladungen (Blitz und Donner) ausgleicht. Man sollte daher wenigstens, um nicht sinnlos zu reden, statt von zersetzten Gewittern, von zersetzten Gewitterwolken sprechen. Darunter könnte man allenfalls solche Wolken verstehen, welche ihre Elektricität, ohne plötzliche Entladung durch Blitz und Donner, mittels allmählicher Ableitung gegen die entgegengesetzte Elektricität anderer Körper, was allerdings oft geschieht, ausgleichen.

Man bildet sich nun ein, daß die „freigewordene“ Elektricität in der Luft schwebe und den dem Höhenrauch eigenen Geruch erzeuge, und daß die gewesene Gewitterwolke sich zur Erde gesenkt habe und hier als Nebel (Höhenrauch) verweile. Diese irrigen Ansichten sind leicht zu berichtigen. Wolken, die als Nebel auf der Erde liegen, ertheilen der Luft selbstverständlich eine feuchte Beschaffenheit, während die zur Messung des Feuchtigkeitsgehaltes der Luft dienenden Instrumente (Hygrometer) bei Höhenrauch stets zeigen, daß die Luft sehr trocken ist. Auch fehlt dem Wassernebel jene eigenthümliche Färbung, die der Höhenrauch, wenn er einigermaßen dicht ist, deutlich genug an sich trägt. Was nun die „frei gewordene“ Elektricität und ihren Geruch betrifft, so kann zunächst von einer solchen frei gewordenen Elektricität gar keine Rede sein; die Elektricität ist stets an Körper gebunden. Auch hat die Elektricität durchaus keinen Geruch, obgleich man bekanntlich einen phosphorähnlichen Geruch verspürt, wenn man die Nase einem erregten elektrischen Körper, z. B. einer stark geladenen Elektrisirmaschine nähert. Diese Erscheinung schreibt Schönbein seinem noch in vieler Beziehung problematischen Ozon zu; sie findet aber ihre viel einfachere und näher liegende Erklärung in der Thatsache, daß jeder auf einen Sinnesnerv wirkende Reiz, gleichviel woher derselbe rührt, in dem Nerv die ihm eigenthümliche Sinneswahrnehmung hervorruft. So bewirkt ein Stoß gegen das Auge, der stark genug ist, um den im Hintergrund des Augapfels sich ausbreitenden Sehnerv zu reizen, sofort eine Lichterscheinung, das sogen. Funkensehen; Blutzudrang nach dem Gehörorgan erzeugt Ohrenklingen; ein auf die Zunge geleiteter, noch so schwacher galvanischer Strom erregt augenblicklich einen eigenthümlichen, metallischen Geschmack; und in gleicher Weise ruft ein die Geruchsnerven treffender elektrischer Strom hier eine Geruchsempfindung hervor, eben so gut, wie das ein diesen Nerv berührender Nadelstich thun würde.

Um den Geruch der Elektricität zu beweisen, wird auch oft angeführt, daß man in Gebäuden und an anderen Orten, wo der Blitz eingeschlagen hat, selbst dann, wenn er nicht gezündet hat, oft noch eine Zeit lang deutlich einen schwefligen Geruch wahrnimmt. Hiergegen ist ganz einfach zu erwidern, daß der Blitz in solchen Fällen den schwefligen Geruch nicht mitgebracht, sondern daß er den Schwefel da, wo er einschlug, vorgefunden hat. In dem Eisenwerk der Gebäude, in den Mauersteinen, in dem Bindekalk, in den Kieseln und dem Kalkgeröll des Erdbodens – überall finden sich Schwefelbestandtheile, welche da, wo der Blitz mit ihnen in Berührung kommt, verbrennen und so den schwefligen Geruch verbreiten.

Diejenigen, welche das Phänomen des Höhenrauches zu erklären glauben, wenn sie sagen, dieser Rauch sei mit Schwefeldünsten geschwängerter Nebel, geben statt einer Erklärung lediglich eine Paraphrase. Denn sie lassen uns gänzlich darüber im Dunkeln, woher die Schwefeldünste kommen sollen, und ein mit Schwefeldünsten geschwängerter Nebel ist doch wahrlich kein so selbstverständliches Ding.

Uebrigens liegt diesen Annahmen eine sehr mangelhafte sinnliche Auffassung zu Grunde, denn die durch einen elektrischen Strom erregte Geruchsempfindung, sowie der Geruch nach Schwefel sind deutlich von dem Geruch des Höhenrauches zu unterscheiden. Der Höhenrauch riecht ganz entschieden nach brennendem Torf.

Die oben erwähnte neueste gelehrte Hypothese, nach welcher der Höhenrauch das Product einer Zersetzung der in der Luft enthaltenen Kohlensäure in Sauerstoff und Kohlenstoff sein soll, ist zu fabelhafter Natur, als daß wir hier näher darauf eingehen möchten.

Wenden wir uns mit Uebergehung der zahlreichen übrigen Hypothesen, die oft wunderlich genug klingen, zur Darstellung des wirklichen, nicht in den Irrgängen der Phantasie, sondern in einfachen natürlichen Vorgängen begründeten Ursprunges jener Erscheinung, die wir Höhenrauch, richtiger Moorrauch oder Haiderauch nennen.

Im nordwestlichen Theile von Deutschland, namentlich im Großherzogthum Oldenburg und in den hannöverschen Fürstenthümern Ostfriesland und Bremen, befinden sich weit ausgedehnte Landstriche, die aus Moorboden bestehen. Wir wollen hier nur kurz andeuten, daß der Moor aus theils fertigem, theils im Werden begriffenen Torf besteht. Jene Gegenden würden völlig unfruchtbar und daher auch unbewohnt sein, wenn es nicht ein Mittel gäbe, selbst diesem traurigen Moorboden eine Gabe abzuzwingen. Diese Gabe ist der Buchweizen, und das Mittel, den Boden zu seiner Production geeignet zu machen, ist das Abbrennen des Moores.

Dieser eigenthümliche Zweig der Feldwirthschaft besteht erst seit etwa anderthalbhundert Jahren. Der Prediger Bolenius zu Hatshusen hat zwischen 1707 und 1716 den Anfang damit gemacht. Soll ein noch wüstes Moor zum Buchweizenbau zugerichtet werden, so zieht man eine Menge kleine Gräben, um für die nöthige Abwässerung zu sorgen. Hiernach wird die Bodenoberfläche in lauter einzelne Schollen von etwa 3/4 Fuß Durchmesser mittels der sogen. Hackthaue zerstückelt. Das geschieht im Herbst; man läßt die Schollen den Winter hindurch liegen, und wenn sie im Frühling – gewöhnlich Mitte Mai – trocken sind, so setzt man die Schollen in kleine Haufen und brennt sie dann an. Bei dem Brennen ist sorgfältige Aufsicht nöthig; das Feuer muß überall blos glimmend oder schmauchend fortgehen und darf nirgends in Flammen ausbrechen, weshalb man die Schollen nie ganz trocken werden läßt. Fortwährend sind Leute beschäftigt, die brennenden [312] Schollen mit eisernen, langstieligen Pfannen gegen den Wind auf dem Acker umher zu werfen.

Das Ausbrennen eines einzelnen Stückes währt einen bis zwei Tage, bei feuchter Witterung noch länger. Ende Mai oder Anfang Juni wird in den so zubereiteten Boden der Buchweizen gesäet. Dasselbe Ackerstück wird auch in den folgenden Jahren, jedesmal vor der Einsaat des Buchweizens, wieder gebrannt. Hat der Moorboden einige Jahre Buchweizen getragen, so wird er hier und da, namentlich auf dem ostfriesischen Hochmoor, auch fähig, Roggen zu tragen, der an manchen Stellen sogar ohne weitere Düngung sehr gut gedeiht. Doch auch vor der Einsaat des Roggens muß der Boden jedesmal gehackt und gebrannt werden. Es finden daher, obgleich weniger häufig, auch im Herbst Moorbrände statt.

Hier haben wir die thatsächlich feststehende Ursache einer ganz kolossalen Rauchentwicklung vor uns. Jeder weiß, daß ein völlig ausgetrocknetes Stück reinen Torfes mit kleiner Flamme brennt, und dabei sehr viel Rauch und einen penetranten, eigenthümlichen Geruch erzeugt. Nun denke man sich, daß die vielen tausend aus noch ziemlich feuchtem Torf und den Wurzeln und Stengeln verschiedener Moorpflanzen bestehenden Schollen eines einzelnen Ackerstückes auf einmal in Brand stehen. Welche ungeheure Masse Rauch muß das geben! Man denke sich ferner, daß nicht ein einziges, daß nicht zehn oder hundert, sondern daß Tausende von Ackern zu gleicher Zeit brennen, deren Flächengehalt nach Quadratmeilen zu berechnen ist, und man wird zugeben, daß dies genug Rauch gibt, um ganz Deutschland und noch einige umliegende Gegenden einzuräuchern.

Dieser Rauch ist da, wo Moor gebrannt wird, und auf mehrere Meilen in der Nachbarschaft so dicht, daß man daselbst bei sonst heiterem Himmel die Sonne kaum erkennen kann. Alle Gegenstände erscheinen durch den Moorrauch in gelbröthlicher Färbung.

Dieser Rauch nur ist es, welcher unter günstigen Umständen, wozu vor allen eine trockne Luftbeschaffenheit zu zählen ist, von den Strömungen des ewig beweglichen Luftmeeres aufgenommen, viele Meilen weit fortgetragen wird und sich über unsere Fluren als sogenannter Höhenrauch verbreitet. Höhenrauch nennt man ihn deshalb, weil die in größerer oder geringerer Entfernung den Horizont begrenzenden Anhöhen es am besten erkennen lassen, wenn die Durchsichtigkeit der Luft durch Dünste oder, wie hier, durch Rauch vermindert worden ist, und weil diese Höhen dann in Rauch eingehüllt erscheinen. In Gegenden, wo es keine über die Ebene hervorragende Höhen gibt, wie in der norddeutschen Ebene, kennt man den Ausdruck Höhenrauch gar nicht; überdies ist man dort mit der Herkunft des Qualmes zu wohl bekannt, um ihn nicht mit seinem rechten Namen zu nennen. Dieser Name ist Moorrauch.

Einen Reisepaß hat dieser Gast aus der Fremde, wenn er bei uns in Mitteldeutschland einkehrt, nicht vorzuweisen, wohl aber führt er einen sehr glaubwürdigen Heimathschein mit sich, und das ist der ganz unverkennbare, oft penetrante Geruch nach brennendem Torf. Dieser Geruch ist so deutlich, daß er allein schon für Jeden, der eine Nase zum Riechen hat, hinreichen sollte, um die Herkunft des Höhenrauches zu beweisen. Der Torfgeruch wird um so auffallender, jemehr man sich dem Heerde der Moorbrände nähert. Dasselbe ist der Fall mit der gelbröthlichen Färbung des Höhenrauches, welche mit der Annäherung an die Moorgegenden zunimmt und oft schon, wenn man noch zehn bis zwölf Meilen davon entfernt ist, in ein intensives Braunroth übergeht.

Sehr beweiskräftig ist ferner der Umstand, daß Höhenrauch nur zu solchen Zeiten sich zeigt, in denen nachgewiesenermaßen bedeutende Moorbrände stattfinden, das ist im Mai und Juni, oft auch im Herbst zur Zeit der Einsaat der Winterfrüchte.

Endlich ist noch hervorzuheben, daß der Höhenrauch – oder sagen wir nun doch richtiger: der Moorrauch – uns mit höchst seltenen Ausnahmen durch eine solche Richtung des Luftstromes gebracht wird, die geradeswegs auf die Gegend des Moorbrennens hinweist. Dies ist also für den größten Theil von Deutschland Nordwestwind. Die eben erwähnten Ausnahmen finden in der anerkannten Thatsache, daß in den oberen Luftregionen oft eine ganz andere Windrichtung stattfindet, als in den unteren, ihre einfache Erklärung. Es ist z. B. recht gut möglich, daß die Rauchmassen durch einen Westwind gehoben und weit fortgetragen werden, sich dann senken, und durch Ostwind uns zugeführt werden.

Man hört oft den Einwand, es sei nicht möglich, daß Rauch auf so weite Entfernungen hin sich verbreiten könne. Man meint dies eben nur, ohne zur Begründung seiner Meinung etwas einigermaßen Stichhaltiges anführen zu können. Lassen wir dagegen Thatsachen sprechen! Im Januar 1835 warf der Vulcan Cosiguina eine ungeheure Menge Asche aus, welche die Atmosphäre in einem Umkreise von 220 geographischen Meilen verdunkelte, und noch als dichter Aschenregen in einer geraden Entfernung von 180 geographischen Meilen auf Jamaica niederfiel. Der Verbreitungskreis dieses Aschenregens hatte mindestens 4000 englische Meilen im Umfange; sein Flächengehalt war daher etwa acht Mal so groß als der von ganz Deutschland. Allen Respect vor der Rauchproduction des Cosiguina! aber ich zweifle doch, ob er in gleicher Zeit ebenso viel Rauch auszuspeien vermag, als einer halben Quadratmeile brennenden Moorbodens entsteigt. Aus eigener Erfahrung kann ich berichten, daß vor ungefähr 30 Jahren in Weimar bei Ostwind ein ziemlich dichter Aschenregen niederfiel. Unter den Kohlentheilchen dieses Regens befanden sich halbverkohlte Stückchen von Strohhalmen und halbverkohlte Papierfetzchen. Es ergab sich, daß dieser Aschenregen einer Feuersbrunst entstammte, die denselben Tag in der zehn Meilen entfernten Stadt Ronneburg 20 bis 30 Häuser verzehrt hatte. Aehnliche Beispiele von Wanderungen des Rauches auf noch größere Entfernungen hin sind notorisch bekannt. Was will aber die Rauchmenge, welche beim Abbrennen von 20, 50, ja Hunderten von Häusern entsteht, sagen gegen die unermeßliche Masse von Qualm, die nur 20 oder 50 Acker brennenden Torfmoores verbreiten! Und welche ungeheure Strecken hat denn eigentlich der Moorrauch zurückzulegen, ehe er bis zu uns gelangt? Etwa 180 Meilen, wie der Rauch, welcher aus dem Cosiguina über’s Meer bis nach Jamaica wanderte? O nein! von den Gegenden, wo Moor gebrannt wird, bis nach Thüringen und Sachsen beträgt die directe Entfernung nur 40–50, bis Carlsruhe 60, bis München und Prag 80, bis Berlin 40 Meilen!

Viele wollen in dem Moorrauch durchaus eine meteorologische Erscheinung erblicken, weil sie einen gewissen Einfluß des Rauches auf die Witterung zu erkennen glauben. Bald soll der Moorrauch schuld sein an anhaltend trockener Witterung, bald an rasch mit ihm zugleich eintretender kühler Temperatur, bald an der Zertheilung aufsteigender Gewitterwolken. An dem Allen ist etwas Wahres, nur ist auch hier wohl zu unterscheiden. Daß es beim Erscheinen des Moorrauches oft kalt wird, hat darin seinen Grund, daß der Nordwestwind, auf dessen Fittigen der Rauch daher schwebt, in der Regel Kälte bringt. Also nicht der Rauch, sondern der Nordwestwind ist schuld an der kühleren Temperatur. Was die Trockenheit der Luft betrifft, so ist zu bedenken, daß der Moorrauch sich nur bei trockener Luftbeschaffenheit weit zu verbreiten vermag, weil die Aschentheilchen, aus denen er besteht, sich rasch vollsaugen, wenn die Luft sehr feucht ist, dadurch schwerer werden und zu Boden sinken. Also war die Luft schon trocken, als der Höhenrauch kam. Indessen ist die Möglichkeit nicht zu leugnen, daß ein weit verbreiteter Moorrauch das längere Fortbestehen trockner Witterung befördert, weil seine zahllosen Aschentheilchen die in der Luft stets enthaltenen Wasserdünste zum großen Theil aufsaugen und so die Atmosphäre noch trockner machen, als sie vorher war.

Unbedingt muß man aber zugeben, daß der Moorrauch sehr wohl im Stande ist, durch sein Auftreten das Zustandekommen von Gewittern zu verhindern. Die stets mit positiver Elektricität geschwängerte Rauchmasse wird von der negativ-elektrischen Erdoberfläche angezogen, und lagert sich zwischen dieser und den darüber schwebenden positiv-elektrischen Gewitterwolken. Nun kann zweierlei stattfinden. Entweder dient die weit ausgedehnte Rauchmasse vermöge der großen Berührungsfläche, welche sie den Wolken sowohl wie der Erde bietet, zur allmählichen Ausgleichung der beiden entgegengesetzten Elektricitäten, wodurch die nothwendigste Bedingung für die Entstehung des Gewitters wegfällt. Oder die positiv-elektrische-Rauchmasse wirkt abstoßend auf die mit gleichartiger Elektricität geladenen Wasserbläschen, deren dichte Anhäufung die Gewitterwolken bildet. Letztere werden dadurch veranlaßt, sich in höhere Luftschichten zu erheben, wo sie vom Winde erfaßt, fortgeführt und zerstreut werden. Wir können diese Vorgänge hier nur andeuten und müssen als bekannt voraussetzen, daß ungleichartig-elektrische Körper sich anziehen, gleichartig-elektrische sich abstoßen.

[313] Fassen wir das Resultat unserer Untersuchungen nochmals kurz zusammen:

1) Die Thatsache steht fest, daß im nordwestlichen Deutschland alljährlich zu bestimmten Zeiten Moorbrände stattfinden, bei welchen ungeheure Massen von Rauch entwickelt werden.

2) Der bei uns auftretende Höhenrauch oder Moorrauch hat denselben specifischen Torfgeruch und dieselbe Färbung, wie der durch das Moorbrennen erzeugte Rauch. Je mehr man sich den Gegenden der Moorbrände nähert, um so deutlicher treten diese Eigenthümlichkeiten hervor.

3) Der sogenannte Höhenrauch tritt nur dann ein, wenn bedeutende Moorbrände stattfinden oder soeben stattgefunden haben.

4) Die Richtung des Windes beim Erscheinen des Höhenrauches ist die nämliche, in welcher die Gegenden liegen, wo Moor gebrannt ist. (Die selten vorkommenden Ausnahmen von dieser Regel sind oben bezeichnet und erklärt worden.)

Man sollte glauben, daß eine unbefangene Prüfung dieser Thatsachen die Herkunft des Höhenrauches auch dem einfachsten Verstande außer Zweifel setzen müßten. Aber die Sucht nach dem Wunderbaren, für welches Gall mit vollem Rechte ein besonderes Organ im menschlichen Gehirn statuirt hat, ist gar mächtig im Menschen und verleitet ihn nur zu oft, das Naheliegende, Natürliche zu verschmähen und Dinge, die eine sehr einfache Erklärung zulassen, mit Gewalt in das Reich des Uebernatürlichen, Wunderbaren, Schwindelhaften, Unklaren hinüber zu ziehen. Die Leser der Gartenlaube haben ihre Theilnahme einer Zeitschrift zugewendet, die schon oft wacker und erfolgreich für Wahrheit und Aufklärung gegen Aberglauben, Mysticismus und Vorurtheile gekämpft hat. Möge auch der vorliegende Aufsatz dieser Tendenz der Gartenlaube durch die Berichtigung alter, verbreiteter und eingewurzelter Vorurtheile entsprechen!




„Seine Ehre gebrochen“.
Eine Erinnerung an Johanna Kinkel.[2]

Ich beabsichtige keine Charakteristik, noch weniger eine Biographie dieser ausgezeichneten Frau zu schreiben, die durch ein grauenvolles Verhängniß ihrer Familie entrissen wurde, als ihr Leben sich eben wieder auf das Glücklichste zu gestalten begonnen hatte. Sie wird ihren Biographen finden, sie verdient, sie bedarf ihn, einfach, weil sie wirklich ausgezeichnet war und weil der böse Leumund sich am liebsten mit dem Ausgezeichneten beschäftigt und es neidisch und mißgünstig in die Sphäre eigner Niedrigkeit herabzuziehen trachtet.

Nur einige charakteristische Züge aus ihrem Leben mit Gottfried Kinkel mitzutheilen, sei mir gestattet, die mehr als emphatische Apotheosen den hohen Werth dieser Frau erkennen zu lassen geeignet sind.

Mit Kinkel seit Jahren in brieflichem Verkehre, wollte ich ihn 1848 auf einer Studienreise – richtiger könnte ich meine damaligen Wanderungen im aufgeregten Vaterlande nicht bezeichnen – aufsuchen, um den Mann, dessen Worte stets von eben so viel Anmuth als Herzlichkeit durchweht waren, auch persönlich kennen zu lernen. Ich traf ihn nicht, wohl aber traf ich Johanna Kinkel, die mich freundlich bewillkommnete und mich durch ein lebhaftes Gespräch leicht zu fesseln wußte. Bald riefen Mutterpflichten sie zu ihren Kleinen, die krank gewesen waren, und ich folgte gern ihrer Einladung in das Kinderzimmer, um sie, wie ich sie vorher als geistreiche und liebenswürdige Gesellschafterin bewundert, nun auch als die zärtlichste, sorgsamste und verständigste Pflegerin ihrer kleinen Lieblinge kennen zu lernen. Jeder weiß, wie verhältnißmäßig selten diese drei Eigenschaften bei Müttern vereinigt angetroffen werden; bei Frau Kinkel kam noch die seltene Intelligenz hinzu, mit der sie Erziehung und Pflege betrieb. Gottfried, das älteste Kind, war Reconvalescent von einer hitzigen Gehirnentzündung; Arzt und Mutter hatten das Glück und Verdienst gehabt, den kleinen Patienten von dieser gefährlichsten aller Kinderkrankheiten zu retten. Unermüdlich Tag und Nacht hatte sie gesorgt, und nun stand ihr Liebling wieder gerettet vor ihr, die großen, klugen Augen zu mir aufschlagend und die Strophen halb singend, halb declamirend, in die ihm die geniale Mutter die Verhaltungsmaßregeln des Arztes eingekleidet hatte. Rührend war die Treuherzigkeit, mit der er die Schlußzeilen besonders betonte:

„Sonst kommt der Doctor Velten
Und thut gewaltig schelten.“

Ueber Politik war kein Wort gefallen, und auch als Kinkel nach ungefähr einer Stunde aus dem Colleg heimkehrte und ich mich zum Mittagessen halten ließ, waren es keinesweges die banalen Stichworte der Parteien, denen man damals kaum in irgend einer Gesellschaft entgehen konnte, welche das einfache, aber lecker bereitete Mahl begleiteten. Von Kindern und Kinderzucht, vom Rhein und von Rheinreisen war die Rede, und dabei verstand es Kinkel nicht nur, wie wenig Männer, seiner Johanna, der einzigen Dame bei Tische, die ihr gebührende Aufmerksamkeit und Artigkeit in ungezwungenster Weise zuzuwenden, er gab auch durch Wort und Ausdruck die glückliche Befriedigung seines Seelenlebens zu erkennen, der er durch ihren Besitz theilhaftig geworden war.

Nach Tische kamen einige Handwerker, deren Wünsche, obgleich sie noch weit über das verrottetste Innungsgelüste hinausgingen, doch mit freundlicher Klarheit berichtigt wurden. Nach ihrem Fortgehen klagten beide Ehegatten, wie schwer es sein werde, den Forderungen dieser Classe, die nur ihr nächstes und eigenstes Interesse in’s Auge zu fassen vermöge, gerecht zu werden. „Weil unser Bäcker keineswegs ein sonderlich virtuoses Brod bäckt,“ sagte Johanna, „verlangt er von Kinkel, er solle den Eingang des oberländischen Brodes verhindern, und ein verarmter Nagelschmied will ein Gesetz gegen die Anfertigung der Fabrikdrahtnägel. Aber so sind unsere Menschen fast sämmtlich. Kaum Einer unter den Tausenden, die wir sprechen hören, ist aufrichtig gemeint, dem Jahre 48 ein Opfer zu bringen. Weil Jeder zu gewinnen trachtet, wird der Fortschritt zum Bessern aufgehalten und einstweilen Jeder, der von höheren Ideen erfüllt ist, verlieren.“

Trotz der Kürze der Zeit war ein inniges Freundschaftsbündniß zwischen uns angeknüpft, und besonders von Johanna in Briefen fortgesetzt, die ich als ein theures Vermächtniß aufbewahre.

Kinkel wurde mehr und mehr von dem Ungestüm seiner Partei in den Strudel gerissen, dem er so wenig wie Andere einen Damm entgegen zu setzen vermochte, der aber, wie jede unvorbereitete Bewegung, sein natürliches Ende finden mußte, und dem sich zu entziehen er für ehrlos hielt. Es verfing nichts, daß ich ihm vorhielt, man werde nicht gründlicher, wenn man radicaler werde, und zuletzt seien die Verhältnisse stärker, als die Menschen. „Das Alles sagen wir uns selbst oft,“ bemerkte Johanna, „aber wenn Kinkel aus der Bewegung zurücktritt, welcher Bessere soll sie dann leiten? muß sie nicht in die Hände der unsaubern Geister fallen?“

Eine öffentliche Anstellung, die sich mir bot, nahm ich deshalb gern an, um den Kummer über das unausbleiblich bevorstehende Scheitern vieler meiner Hoffnungen zu bekämpfen, und widmete meine sämmtlichen Mußestunden den ernstesten Berufsstudien. Es gelang mir, des Fiebers, das auch in meinem Blute glühte, Herr zu werden, bis nach ungefähr Jahresfrist eine Zusammenkunft mit meiner Mutter mich wieder nach Bonn führte. Als die theure Frau bald wieder nach dem nördlichen Deutschland abgereist war, sah ich mich nach meinen Freunden um, aber ich traf nur noch wenige. Die ich sprach, waren ernst und traurig, einige waren ausgewandert, gar manche als Opfer gefallen, Kinkel war in der Pfalz.

Ich war viel allein, auf dem alten Zoll, auf dem Schänzchen. Jene Todessehnsucht kam über mich, die in jungen Jahren zu den gewöhnlichen Erscheinungen gehört, selbst wenn die Wirklichkeit keine herbe ist und höchstens mit den schwärmerischen Idealen ungereifter Ansichten contrastirt. Die kurze Frist im Kreise der Meinigen hatte mir wohl gethan und war mir im Gefühl wie ein Abschiedsfest, das mich frei gemacht habe. Der blutige Tod, die [314] Gefahren meiner Freunde standen mir lebhaft vor der Seele, und ich fand keine Ruhe vor Selbstvorwürfen, die ich mir machen zu müssen glaubte.

So kam ich zu Johanna und fand sie in der Kinderstube, ihr Jüngstes auf dem Schooße, in Vertretung ihres Mannes mit – der Redaction von Kinkel’s politischer Zeitung beschäftigt. Sie war bleicher, als früher, und hatte ein leidendes und angegriffenes Ansehen, das sich aber bald verlor und jener Spannung aller Fasern Platz machte, die wir bei energischen Staturen selbst noch beim Nahen des Todes nicht selten zu beobachten Gelegenheit haben.

Nach den ersten Begrüßungsworten und nachdem ich ihr mitgetheilt, welcher Zweck mich nach Bonn geführt habe, fragte ich nach Kinkel und erklärte, ihm folgen zu wollen. Ihre Beistimmung, der ich sicher zu sein glaubte, weil es ihr doch nur erwünscht sein konnte, einen Freund an Kinkel’s Seite zu wissen, sollte meinen Entschluß befestigen und mir die Rückkehr in meine friedlichen Arbeitskreise unmöglich machen.

Aber wie sehr hatte ich mich getäuscht! „Junger Mann, versündigen Sie sich nicht an Ihrer Mutter!“ rief Johanna, indem sie aufstand und ihre schönen, großen, unbeschreiblich sprechenden und gedankentiefen Augen auf mich richtete. Kaum je hat ein Blick so zauberhaft und schreckhaft auf mir geruht. „Denken Sie an Ihre Mutter, Freund! Was wollen Sie? Ist es nicht genug, daß wir sehenden Auges dem Abgrunde entgegengehen, der uns bald verschlingen wird? Ist es mit den Opfern nicht genug? Sie meinen, es werde mir eine Freude sein, Sie bei Kinkel zu wissen? O ja, ich leugne nicht, gerade Sie sähe ich gern dort. Er hat viel Gesindel und armselig elend Volk um sich. Aber nein, nein! Gehen Sie hin, woher Sie gekommen sind. Ich will nicht, daß Sie dem Gottfried folgen, denken Sie an Ihre Mutter, Ihre Mutter!“

Unser Gespräch wurde durch Besuche der damaligen Freunde Kinkel’s unterbrochen. Ich trat an’s Fenster und wartete. Bald kam Frau Kinkel wieder zu mir, nahm meine Hand und sagte mit feierlichem Ernste: „Lieber Freund, ich nehme Ihre Hand darauf, daß Sie Kinkel nicht nachreisen wollen, und nun versprechen Sie mir, daß Sie noch heute, gleich diese Stunde, wieder zurückreisen und Ihrem Berufe still weiter leben werden. Es nutzt zu Nichts. Adieu!“ Und damit hatte sie mich halb wider meinen Willen zur Treppe geleitet. „Sie werden vielleicht noch von mir hören,“ sagte sie, als wir schieden, „denn ich habe Sie sehr lieb.“

Ich ging. –

Später in meine trauliche Einsamkeit zurückgekehrt, wieder vor mir die lebendigen Wellen und die Bergrücken und die spärlichen Trümmer des Mittelalters, zu meiner Seite Bücher und angefangene Arbeiten, dahinter Glas und Flasche, mit gutem Sechsundvierziger gefüllt, – saß ich oft genug trauernd, grübelnd da; ich konnte mich nicht mehr, wie früher, mit Arbeitsgedanken umspinnen und abschließen, aber die Zeitungen mit ihren elenden Spiegelfechtereien waren mir ein Gräuel, und so nahm ich die Geschichte der französischen Revolution zur Hand und suchte dort nach Anhaltspunkten zur Erläuterung der Zustände und Vorgänge um mich herum.

Aus meinem Tagebuche flechte ich hier mit wörtlicher Treue das Nachfolgende ein, da es die Verhältnisse, in denen auch Johanna Kinkel lebte, die Anschauungen und Empfindungen der Freunde ihres Kreises in helles Licht setzt:

10. September. Wie oft hat mich neuerer Zeit tiefer Kummer gedrückt, mit welchem unsäglichen Weh habe ich namentlich der vielen Freunde gedenken müssen, welche durch die Revolution dem Tode oder dem Elend zugeführt wurden! Was habe ich gelitten, besonders um Dich, mein Kinkel, Du bester Mensch!

Vor 8–12 Tagen folterte mich die Sorge um Kinkel ganz besonders, und ich dachte daran, ob ich ihm nicht persönlich durch eine Reise nach Rastatt behülflich werden könnte. Schon vorher hatte ich einen Brief an den König von Preußen abgeschickt, den ich um Lebens und um Sterbens willen jetzt hier abschreiben will:

„ Allerdurchlauchtigster etc. etc.
Das Schicksal des Prof. Gottfried Kinkel veranlaßt mich, der ich ihm seit Jahren befreundet bin, aber bereits lange isolirt lebe, mit dem Versuche der Fürsprache Ew. Majestät Throne zu nahen. Von einer entschuldigenden Vertheidigung der Handlungen des Mannes kann nicht gesprochen werden, da dieselbe mit einer rechtfertigenden Beurtheilung der diesen Handlungen zum Grunde liegenden Ansichten beginnen und enden müßte. Es läßt sich aber eine Erklärung dieser Handlungen aus der unbefangenen Betrachtung des Lebensganges und der Charakterentwickelung Kinkel’s schöpfen. Was er war, hatte er selbst aus sich gemacht, meist nach Bekämpfung großer Hindernisse, und so waren alle Lebensgüter Kinkel’s sein selbst- und wohlerworbenes Eigenthum. Darum bebte er, je weiter er wuchs, vor keiner Gefahr zurück und legte gegen jeden zu erringenden Preis seine Existenz auf die andere Schale der Wage. Wie es ihm gelungen war, in privaten Verhältnissen seinen Ideen und Idealen die Wirklichkeit anzupassen und aus jedem Kampfe gerettet und mit Ehren hervorzugehen, so wurde er durch einen mißverstandenen Begriff von Consequenz auch dahin geführt, im Streben für die Menschheit, das kaum in viel Menschen edler glüht, mit aller Energie und unbegrenztem Opfermuthe einen Weg einzuhalten, auf den er durch nicht gewollle Verhältnisse und nicht gesuchte Menschen gedrängt war. Der Wahn, seine Ehre auch in den Augen als incompetent anerkannter Ehrenrichter aufrecht erhalten zu müssen, fesselte ihn an seine Fahne, an die Fahne der philosophisch-freien Menschheit, aber er hatte diese Fahne in andere Hände gegeben.
War er anfänglich nur zur Beantwortung der Handwerkerfrage in ernster Weise thätig und blieb klar und seineigen, so riß den Poeten, den Herrn der Phantasie und ihren Knecht, hernach der Taumel im Chaos fort, und es offenbarte sich an ihm, was er mir vordem bestritten hatte, daß die Ereignisse stärker sind, als die Menschen.
Ob Kinkel’s Einfluß und Wirksamkeit erheblich waren, ist nicht zu erörtern, da er ohne politische Befähigung und ohne einen andern Namen, als den des geistreichen Kunstkritikers, des liebenswürdigen Dichters und Gesellschafters, nur oratorisches Talent und den Zauber eines begeisterten und unmittelbaren Mannes in die insurgirten Lande brachte. Wie er dort verwendet wurde und im Strudel der sich überstürzenden Vorgänge wirkte, ist ihm kaum zuzurechnen, da er Glied in der Kette geworden war.
Sein Fehltritt war, daß er überhaupt nach der Pfalz ging. Aber er ging nur, weil er sich durch Preßvergehen für zu compromittirt wähnte, um im[WS 1] Lande als der fortzubestehen, der er gewesen, und weil es ihm unmöglich schien, zuzugeben, daß der Mensch besser sein könne, als sein Ruf.
Es wäre traurig, wenn um diesen Irrthum und um hervorragendes Talent und um die Fähigkeit, sich für das Höchste nicht nur zu begeistern, sondern auch aufopfern zu können, ein Mann, dem das Leben sich erst eröffnete, dem Leben, seinen zahlreichen auf ihn rechnenden Kindern, einer hochherzigen Frau, einer Reihe von Freunden, die ihn gern zurückgehalten hätten, der Kunst und Wissenschaft, die ihm schon Anerkennenswerthes verdanken, der Gesellschaft, deren Zierde er war, der Menschheit, für die er mehr lebte, als für sich und Einzelne, wenn er dem neu aufgebauten Staate entrissen werden sollte, der solcher Bürger am ersten bedarf, um nicht in Einseitigkeit zu verfallen.
Majestät! Die Todeskugel ist nicht zurückzurufen und ein Wort von Ihnen vermag Alles!“ – – – – – – –

20. September. Ich habe noch einige Notizen und Documente, die meinen unglücklichen Freund Kinkel betreffen, nachzutragen, da ich mit Bestimmtheit voraussetzen darf, daß dieselben dereinst als historisch werthvoll aufgesucht werden.

Zunächst aus Baden-Baden vom 11. August 1849 einen anonymen Brief, dessen Verfasserin ich sofort an der Handschrift auf der Adresse erkannte.

„Lieber Freund! Da ich nicht weiß, wie bald auch ich nicht mehr im Stande sein werde, Ihnen Aufschluß über das Schicksal unseres Freundes zu geben, so schreibe ich Ihnen hier einige unzusammenhängende Notizen, sage Ihnen aber ausdrücklich, daß Sie dieselben jetzt nicht publiciren dürfen, um nicht etwa durch voreiliges Geräusch die Lawine zum Sturz zu bringen, die über unsern Häuptern hängt. Es ist aber gut, daß einige wenige Freunde wissen, wie es steht, damit, wenn ich stürbe oder meiner Freiheit beraubt würde, Licht in ein Gewebe gebracht werden kann, das mich jetzt ohne Hülfe umschnürt. Aus bester Quelle weiß ich, daß das Kriegsgericht nicht auf Tod, sondern auf Gefängniß erkannt hat. Das Urtheil wird aber officiell

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nicht bestätigt. Warum? Wer kann es durchschauen? Von Berlin aus sind mir folgende Bedingungen gestern zugekommen; wenn mein Mann diese erfüllt, so soll ihm Begnadigung werden. An mich ergeht die Aufforderung, ihn dazu zu bereden.
Ein lebenrettendes Mittel ist vorhanden; es besteht in einer eigenhändig an den König gerichteten und bestimmten Erklärung aus folgenden drei Sätzen:
1) Er bekennt feierlich und öffentlich sein Verbrechen, daß er seine geschworenen Eide, seine Unterthanentreue, seine Staatspflichten und seine Ehre gebrochen und nach menschlichen und göttlichen Gesetzen den Tod verdient!
2) Er bekennt feierlich und öffentlich, daß er dies Alles nicht blos erkenne, sondern daß er es wahrhaftig und aufrichtig bereue!
3) Er bittet seine Majestät den König, um dieses Bekenntnisses und um seiner Reue willen, ihm das Leben zu schenken.
Ein rasch nachgesandter Brief benachrichtigt mich, daß, wenn es meinem Manne zu hart fallen solle, selbst zu schreiben, daß er seine Ehre gebrochen, so habe der König selbst geschrieben, daß er ihm diesen Satz erlassen wolle. Von den andern dürfe er aber weder Etwas auslassen noch zusetzen. Diese Bedingungen sind vom 3. August datirt; am 4. folgte das kriegsrechtliche Urtheil. – Ohne nun meinerseits ein Urtheil über diese Bedingungen zu äußern, noch zu verrathen, ob ich an – –’s Stelle sie eingehen würde, mache ich Ihnen nur noch als Geheimniß kund, daß dieses Gnadenmittel existirt, aber mir jede Möglichkeit versperrt ist durchzudringen. Die Geistlichkeit hat freien Zutritt bei ihm, aber für seine Frau ist sein Kerker hermetisch verschlossen. Meine unermüdlichen Bittgesuche, ihn zu sprechen, haben nirgends Eingang gefunden. Einer schickte mich zum Andern. Alle meine Baarschaft habe ich auf Eisenbahnen kreuz und quer im Lande, in Gasthöfen etc. verbraucht und endlich werde ich mein Theuerstes auf Erden seinem Schicksale trostlos überlassen und heimreisen müssen. Daran ist zunächst schuld eine fälschliche Denunciation, ich hätte meinen Mann zu seinen Schritten angetrieben. Dies ist nicht wahr. Ich theile seine Gesinnungen, aber ich habe seinem Willen den meinen zum Opfer gebracht, weil er mich überzeugte, daß sonst seine Ehre auf dem Spiele stehe. Andere Verleumdungen haben die Würde unseres so schönen und heiligen ehelichen Verhältnisses angetastet. Urheberin dieser Verleumdungen – – – ; Folge derselben: der Commandant von Carlsruhe erklärte mir in Gegenwart mehrerer Zeugen, daß eine solche Mißstimmung gegen mich herrsche, daß, wenn man hier etwas gegen mich unternähme, so könne und wolle er mich nicht schützen. Zweck der ganzen Intrigue: Ich soll von meinem Manne entfernt werden, um einen Lieblingsplan meiner – – ausführbar zu machen. Pfarrer K – – hat expreß die Reise hierher gemacht und meinem Manne einreden zu wollen, unsere Ehe sei eine unrechtmäßige. Andere Präliminarien lassen mich das Entsetzliche fürchten, daß diese Clique einen Eingriff in meine mütterlichen Erziehungsrechte beabsichtigt.
Meinen Seelenzustand mögen Sie nach allem diesem begreifen. Ich halte mich jetzt nur an den Bibelspruch: „Wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren.“
Ich habe mich auf Gnade und Ungnade meinem Gotte zu Füßen geworfen, dem Gotte, an den ich glaube und den Jene verleugnen: dem Gotte der Wahrheit und der Liebe.“

Es wäre überflüssig, heißt es in meinem Tagebuche weiter, hier viel anmerken zu wollen. Man scheint diese Frau und Bettina, mit der jene Correspondenz vermuthlich gepflogen ist, haben mystificiren zu wollen. Denn die Absicht, Kinkel selbst sich ehrlos erklären zu lassen, um hernach doch freies Spiel zu behalten, wahrlich ich kann sie nur der – Manteufel-Stahl-Gerlach’schen Partei zutrauen.

Im Laufe der Zeit haben wir erfahren, wie sehr entgegengesetzte Ansichten über die Begnadigung oder Erschießung Gottfried Kinkel’s sich in den höchsten Kreisen geltend gemacht haben. Sogar ihre Entlassung sollen hohe Beamte einzureichen gewillt gewesen sein, falls man mit dem frühern Bonner Professor eine Ausnahme mache und ihn nicht auch kurzweg füsilire. –

Ach, dies Füsiliren! –

Allen, denen die genaueren Umstände bekannt geworden sind, unter denen Kinkel in Naugardt in Haft gehalten worden ist, wird das nachfolgende Antwortschreiben von besonderem Interesse sein, das ich auf meinen Brief an den König vom Grafen von Brandenburg, als Präsidenten des Staatsministeriums, erhielt.

„Ew. Wohlgeboren benachrichtige ich mit Bezug auf Ihre Immediat-Eingabe vom 25. v. Mts., welche dem Staatsministerium zur Bescheidung zugefertigt worden ist, daß des Königs Majestät die Bestätigung des gegen den bisherigen Professor Kinkel aus Bonn ergangenen kriegsrechtlichen Erkenntnisses, durch welches derselbe zu lebenslänglicher Festungsstrafe verurtheilt worden ist, obwohl das königliche General-Auditoriat es in seiner rechtlichen Begründung angefochten hat, indem nach den Gesetzen hätte auf Tod erkannt werden müssen, zu genehmigen geruht haben.
Berlin, 14. September 1849.
Gez. Graf von Brandenburg.“ 

Ich übergebe dieses Document ohne irgend welche erläuternde Betrachtung, zu der hier außerdem nicht der Ort wäre, der Öffentlichkeit.


Oeffentliche Blätter haben uns in letzter Zeit die Nachricht gebracht, daß Gottfried Kinkel in Fräulein Minna Werner eine neue Lebensgefährtin, eine zweite Mutter für Johanna’s Kinder gefunden habe. Wir hören außerdem, daß „er jetzt mit ruhigerer Erwägung der Umstände des äußeren Lebens sein inneres in befriedigender Weise zu gestalten anfange.“ Ueber solche Tagesgespräche will und mag ich in keine Erörterungen eingehen, sondern schließe meine Mittheilungen mit dem herzlichen Wunsche, daß aus den schweren Kämpfen und Bedrängnissen, die Kinkel in tiefaufgewühlter Zeit durchlebt hat, für ihn das Bewußtsein erwachsen sei, daß, wie sehr er sich auch oft in den Mitteln vergriffen, er doch stets das Rechte und Edle gewollt und daß ihm in Johanna ein Wesen zur Seite gestanden, die mit ihm die riesige Aufgabe wohl erkannte, der sie gewachsen zu sein glaubten, und die, wo sie geirrt, schwer dafür gebüßt, aber mit der Freudigkeit eines Märtyrers jede Buße über sich genommen. Nicht am Strande des schönen Rheines, den sie so sehr geliebt, in fremder Erde ruht ihr Leib. Er ruhe in Frieden, und Ehre und Liebe mögen ihr Gedächtniß durch die Jahrhunderte begleiten, in welchen man die Namen des edlen Paares noch nennen wird.
E.


Zooplastik.

Angeregt durch die Beschauung einer Abtheilung des zooplastischen Cabinets des Herrn Leven in Frankfurt a. M., die zur Zeit in Dresden aufgestellt ist, kann ich mir nicht versagen, eine der gelungensten Gruppen im Bilde wiederzugeben, und von meinem Standpunkte aus einige Bemerkungen über diese interessante Ausstellung beizufügen. Gleich beim Eintritte glaubt man sich in Wald und Gebirge versetzt. Felsen, Schluchten, düstere Tannen, Büsche, Schilf, Moos und Gräser umgeben uns, und dieser aus natürlichen Stoffen künstlich geschaffenen örtlichen und vegetabilischen Verschiedenheit entsprechen die mannichfachsten Gruppen von Thieren, welche mit so anatomisch wie künstlerisch feinem Verständniß ausgestopft sind, daß sie zu leben scheinen. Hier balzt der liebebrünstige Auerhahn im dürren Wipfel, dort schleicht der Biederschurke Reinecke an Schilf oder Busch umher, einmal mit Erfolg, eine Ente erwischend, ein andermal mit giftig lüsternem Blicke einem aufstehenden Fasan nachsehend, von dem er in zu kurzem Sprunge nur ein paar Schwanzfedern erobert hat. Aus düsterem Waldesdunkel äugt das alte Reh hervor, von seinen zwei Kälbchen vertraulich umspielt. Wieder anderswo ist „Lampe“ von Wiesel und Raubvögeln oder sonstigem Jagdgesindel, welches Geschmack an ihm findet, angegriffen, und habsüchtig schlägt sich das Raubzeug um das unglückliche Opfer.

Ferner gibt es vorstehende Hühnerhunde, bei denen man nicht einmal die fehlende wirkliche Bewegung vermißt, weil in solchen

[316]

Ein Keiler von Wölfen angefallen. Zooplastische Gruppe von Leven.

[317] Momenten ohnehin der lebende wie angewurzelt erscheint. Man glaubt in dem wunderbar gelungenen künstlichen Auge die Gier und Lust zu lesen, mit welcher der Hund den Wind in die schnüffelnde Nase bekommt, und es bedarf eben keiner lebhaften Einbildungskraft, um die Ruthenspitze des jagdgewohnten Thieres sich leise regen zu sehen. Alle Momente sind dabei aufgefaßt; den einen reißt es ordentlich herum, als bekäme er eben den Wind von seitwärts; dort geht Nimrod oder Castor, oder wie er sonst im Leben geheißen haben mag, höchst vorsichtig vor, wie den Befehl seines Herrn zum Einspringen erwartend. Und wie duckt sich Huhn oder Fasan vor dem vierbeinigen Jäger, wenn es nicht eben im Begriff ist, aufzustehen und herauszustieben!

Doch gehen wir weiter und betrachten die am meisten in die Augen springende Partie, nämlich die mit den Gemsen. Sie stehen zerstreut, etwas zu zerstreut, ohne recht eine Gruppe zu bilden, auf einem etwa 20–30 Fuß hohen, aus Gebirgsblöcken künstlich aufgethürmten Felsen, auf dem sich noch anderes Alpengethier, wie Schnee- und Haselhühner, Alpenhasen, Adler etc. befinden. Wie schon angedeutet, ist diese umfangreichste Zusammenstellung vom künstlerischen Standpunkte aus die am wenigsten gelungene; auch in der Charakteristik der Gemsen ist Manches verfehlt, z. B. daß sie zu dünn- und langhälsig, wie überhaupt zu langgestreckt erscheinen. Unten, am Fuße des Felsens, finden wir die Fischotter, den Fuchs mit Raub, der überhaupt immer vortrefflich charakterisirt vertreten ist. Ebenso charakteristisch ist auch die Welt der Vögel, namentlich das Volk der Raubvögel im Streite um den Fraß dargestellt. Den Preis aber verdient, was künstlerische Anordnung und Lebendigkeit anbetrifft, entschieden die den Mittelpunkt des Cabinets bildende Gruppe: ein Keiler, der von Wölfen angefallen worden ist und von dem einen gedeckt[3] wird, während der andere geschlagen[4] unter ihm liegt, aber nichtsdestoweniger von hinten den borstigen Recken in die Hessen[5] packt. Das Schwein ist ein kostbares Exemplar und in seiner Situation meisterhaft zur Geltung gebracht.

Mit weitgeöffnetem Gebreche und zornfunkelndem Blicke ist es von seinen heißhungrigen Gegnern zum Stehen gebracht, denen es jedenfalls noch unterliegen wird; dennoch liegt noch der Ausdruck all des todesmuthigen Trotzes in dieser urkräftigen Thiergestalt. Ein echter Streiter, der sich selbst im letzten Augenblicke nicht ergibt! Wilder Grimm und befriedigte Beutegier spricht sich in den vortrefflich gehaltenen Köpfen der Wölfe aus, sodaß sich das volle Leben des harten Kampfes vergegenwärtigt. Ob es thatsächlich ist, daß der Wolf, wie hier, gleich einem gut dressirten Hatzhunde das Schwein gekreuzt am Gehöre packt, und nicht, wie fast alle Raubthiere, das Opfer beim Genicke zu fassen sucht, um es möglichst schnell für sich unschädlich zu machen, muß ich dahingestellt sein lassen, da ich nie Gelegenheit hatte, Wölfe in dieser Action zu beobachten.

Schließlich wenden wir uns zu einem Cyklus humoristisch dargestellter Gruppen. Hier sind die Thiere vermenschlicht aufgefaßt und in solcher Art mit Kleidungsstücken angethan, sodaß eigentlich nur die Köpfe in ihrer ursprünglichen Gestalt zu sehen sind. Diese zeichnen sich durch komische Physiognomie und drollige Charakteristik aus, sodaß sie nicht verfehlen, das Publicum höchlichst zu unterhalten. So sieht man z. B. den Heuchler Fuchs dem ehrbaren, aber bornirten Hühnervolke gegenüber, oder die giftige, falsche Katze als kartenschlagende Zigeunerin einem Paar backfischiger, junger Häschenmädchen Unglück prophezeiend, in derselben Weise Kakadu, Affe, Hase, Hund und andere Thiere auf das Ergötzlichste zu komischen Gestalten und Situationen benutzt. Aus dem Gesagten geht hervor, daß die Ausstellung nicht eine rein wissenschaftlich angeordnete Reihenfolge bestimmter Thiergattungen bietet, sondern daß ihr Hauptzweck ist, das Leben und Treiben eines Theils der Thierwelt mit lebendiger Anschaulichkeit vor das Auge zu führen. Menagerien und zoologische Gärten gewähren zwar oft willkommene Gelegenheit, alle diese Thiere – und noch mehr – lebend zu sehen, dennoch hat diese Sammlung lebloser, aber künstlerisch belebter Gebilde den großen Vortheil vor jenen voraus, daß sie die geheimsten, sowie die leidenschaftlichsten Scenen aus der organischen Natur kennen zu lernen gestattet, während das wirklich lebende Thier sich im gefangenen Zustande selten in seiner ganzen Eigenthümlichkeit zeigt.

Knüpfen wir hieran den Wunsch, daß möglichst alle zoologischen Museen in dieser Art reformirt werden möchten, wenn es sich vorläufig auch nur auf das Neuhinzukommende erstrecken sollte. Dann erst würden die Museen als wirkliche Bildungsanstalten zu betrachten sein, die nicht nur das systematisch Wissenschaftliche zu fördern, sondern in’s volle Leben eingreifend zugleich den Schönheitssinn zu erwecken im Stande wären. Wie oft hat man früher Löwen und Tiger ausgestopft gesehen, die eher langgestreckten Sophas mit einer Art von Gesicht vorn und einem Schwanz hinten glichen, als edeln Thierkörpern; oder Bäre, die man befugt war, für Fußsäcke zu nehmen! Habe ich doch selbst einmal von dem Conservator eines Museums, als er gerade einen Hirsch ausstopfte, dessen Haut er zu einer nudelartigen Länge ausgedehnt hatte, die Versicherung erhalten, daß er von dem Princip ausgehe, in ein Fell so viel, als es zu fassen vermöge, hineinzustopfen, was bei einer präparirten, angefeuchteten und deshalb dehnbaren Haut allerdings etwas sagen will.

Mögen mir meine geneigten Leser diesen Excurs in das scheinbar Lebendige zu Gute halten. Später treffen wir schon wieder unter dem wirklich Lebenden am Waldsee zusammen.

Guido Hammer.




Die deutschen Demagogen-Untersuchungen.
I.

Der deutsche Bundestag hat nie den Vorwurf gehört, nach außen hin irgend welche Kraft gezeigt zu haben. Er hat die holländischen Beeinträchtigungen der Rheinschifffahrt mit demselben philosophischen Gleichmuth ertragen, den er später den dänischen Eingriffen in die urkundlichen Rechte deutscher Herzogthümer Jahre lang entgegen gesetzt hat. Dem deutschen Handel und den deutschen Kaufleuten im Auslande Schutz zu gewähren, ist ihm nie in den Sinn gekommen. Ebenso wenig läßt sich behaupten, daß diese angeblich nationale Behörde den nationalen Bedürfnissen der inneren Politik einige Aufmerksamkeit geschenkt habe. Alle die Fortschritte der neuesten Zeit, zu denen der Bundestag hätte die Anregung geben sollen, der Zollverein wie der Post- und Telegraphen-Verein, die immer noch nicht ganz erreichte Einheit der Münzen und des Gewichts wie die deutsche Wechselordnung, sind ohne den Bundestag, im Wege der freien Vereinbarung zu Stande gekommen. Mit dieser Thatenlosigkeit bei großen und nützlichen Dingen steht die rege Thätigkeit, die man in Frankfurt auf dem polizeilichen Gebiet entwickelt hat, im schlagendsten Gegensatze. So oft es sich um wahre deutsche Interessen handelte, ein abgelebter Greis mit völlig abgestumpften Sinnen, hat sich der Bundestag, sowie ihm die Interessen der Reaction an’s Herz gelegt wurden, jedes Mal in einen feurigen Jüngling verwandelt, der im Thatendrange über das Ziel hinausschießt. Würde eine Geschichte der höchsten deutschen Behörde in der Eschenheimer Gasse zu Frankfurt geschrieben, so müßte sie ihre Seiten fast ganz mit Maßregeln der Reaction füllen, und einen ganz besonders breiten Raum hätte sie den Einschreitungen gegen die Hochschulen und ihre sogenannten Demagogen zu widmen.

Daß gleich die erste politische Thätigkeit des deutschen Bundes in Verfolgungen berechtigter Aeußerungen des Volksgeistes bestand, und daß die Anregung, um nicht zu sagen Nöthigung, dazu von außen, von Rußland kam, ist nach zwei Seiten hin sehr bezeichnend. War es würdig, daß der einzige noch übrige Mittelpunkt der Nation sich von vorn herein zum Polizeiinstitute machte, und war es deutsch, daß er Winke des Auslandes dienstbeflissen befolgte? Wie man weiß, gab eine Denkschrift, die ein russischer Diplomat, der Moldauer Stourdza, an seinen Herrn richtete, das Zeichen zu jenem Hagelwetter von Gesetzen des Bundes und der einzelnen Regierungen, von Verordnungen und Maßregeln jeder Art, das aus heiterm Himmel auf die Hochschulen niederschmetterte. [318] Die studirende Jugend nahm die Verleumdungen, mit denen sie überschüttet wurde, nicht ruhig hin. Sie antwortete nach der Weise der Jugend hitzig und etwas grob, es kam sogar ein vereinzelten Verbrechen vor, und sofort setzte der Bund die erste der beiden großen Demagogenhetzen in’s Werk.

Was die Studenten und ihre Lehrer verbrochen hatten, war sehr, sehr wenig. Aus den Freiheitskriegen zurückgekehrt, hatten die Freiwilligen von 1813, 1814 und 1815 von dem schalen und prahlerischen Treiben der alten Studentenwelt sich angewidert gefühlt. Es war ihnen als eine Pflicht erschienen, dem Leben auf den Hochschulen einen tiefern Gehalt zu geben und es so zu gestalten, daß es ein Bild im Kleinen des deutschen Volkslebens sei. Die Trennung nach Landsmannschaften sollte verschwinden und ein einziger Bund, der deshalb die allgemeine Burschenschaft genannt wurde, alle Studenten vereinigen. Jeder Student hatte bei seiner Aufnahme zu geloben, sich sittlich, wissenschaftlich und volksthümlich ausbilden zu wollen. Jeder unsaubere Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht wurde bei Strafe der Ehrlosigkeit verboten und kein Zweikampf erlaubt, bevor ein Ehrengericht ihn genehmigt hatte. Als Abzeichen wählte man die Reichsfarben schwarz, roth und gold. Das waren auch die Farben der Lützower gewesen, und kein geringerer Mann als König Friedrich Wilhelm III. hatte sie für die todesmuthige Freischaar gewählt.

Der Geist dieser ersten Burschenschaft war weit vorwiegend ein nationaler mit stark christlicher Färbung. Das „welsche“ Wesen ganz abzustreifen, auch in den Wörtern und in der Kleidung, deutsch zu denken und deutsch zu fühlen, durch Turnen die Körperkraft der alten Ritter wieder zu erreichen und vorläufig wenigstens in die Ausdrucksweise altdeutsche Markigkeit zu legen, dahin ging das Streben besonders. Um die fromme, häufig mystische Stimmung der Gründer der Burschenschaft zu erkennen, braucht man nur eines der von ihnen geschriebenen Bücher, z. B. Haupt’s „Burschenschaft und Landsmannschaft“, zur Hand zu nehmen. Ob Juden in die Burschenschaft aufgenommen werden dürften, war eine Streitfrage, die nicht überall im Sinne der Duldung und der Menschenliebe beantwortet wurde. Viele Jahre später hat Heubner, der streng kirchliche Lenker des Predigerseminars zu Wittenberg, der verfolgten Verbindung das Zeugniß ausgestellt, „daß Viele durch sie auf Christum hingelenkt worden seien“. Mit der Freisinnigkeit der Burschenschafter war es nicht zum Besten beschaffen. Ihrem ganzen Wesen nach konnten sie mit den modernen Ideen nicht besonders befreundet sein, und überdies versichert Witt von Döring ausdrücklich, manche Landsmannschaft sei viel liberaler gewesen als die Burschenschaft derselben Hochschule. Da er zu den Anklägern, wenn nicht Angebern der Demagogen gehört, so darf man ihm vollen Glauben schenken, wenn er einmal günstig für sie aussagt. Von Geheimbündnerei war die Burschenschaft am weitesten entfernt. Sie hielt ihre Versammlungen öffentlich und trat mit Allem, was sie sagte, schrieb und that, an das vollste Licht heraus.

Am 18. October 1817 veranstalteten die Studenten von Jena und andern Hochschulen auf der Wartburg eine gemeinschaftliche Feier der Leipziger Schlacht und der Reformation. Etwa achthundert Studenten und vier Professoren, Fries, Kiefer, Oken und Schweizer, waren anwesend. Von Jena kam unter andern Heinrich Leo, heute der Liebling der Kreuzzeitung und des Kladderadatsch, damals ein solcher Schwärmer, daß er die Fahne der Jenaer Burschenschaft von Jena bis Eisenach mit entblößtem Haupte trug. Auf der Wartburg wechselten mit Reden Gesänge von Kirchenliedern, und in der Stadt unten wurde ein feierlicher Gottesdienst gehalten. Am Abend zündete man auf dem nahen Wartenberge ein Freudenfeuer an, in das die aufgeregte Jugend einen hessischen Zopf, einen österreichischen Corporalstock, eine Schnürbrust und andere Herrlichkeiten mehr warf. Gegen diesen Studentenspaß richteten sich die wüthendsten Anklagen, und schon jetzt hatte die Reaction den Stab über die Burschenschaft gebrochen. Dann kam Kotzebue’s Ermordung durch Sand. Der Mörder war ein Burschenschafter, und nur dieses Eine sah man. Für uns kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die Motive der Unthat mit der liberalen Zeitrichtung keinen Zusammenhang hatten, sondern ganz wo anders lagen. Sand war in erster Linie ein Religionsschwärmer, in zweiter ein Deutschthümler, und er wollte in Kotzebue nicht den Reactionair treffen, sondern den Verleumder des deutschen Volks und den frivolen Dichter, von dem er in den Verhören sagte: „seine Lustspiele hätten ihm das Leben so verbittert, daß er durch sie mehr als einmal geistig getödtet worden sei.“

Die Reaction beeilte sich, Sand’s Verbrechen auszubeuten. Kurze Zeit darauf wurden in Karlsbad Ministerconferenzen abgehalten, welche die Preßfreiheit beschränkten, Maßregeln wider die „Gebrechen“ der Hochschulen, Gymnasien und Schulen trafen, und die Niedersetzung einer Centralcommission zu Mainz für Untersuchung demagogischer Umtriebe und revolutionairer Verbindungen beschlossen. Die Bundesversammlung genehmigte am 20. September 1819 alle Karlsbader Verabredungen, aber nicht alle Regierungen, sondern blos Oesterreich, Preußen, Hannover, Baden, Hessen-Darmstadt und Nassau wählten die Mitglieder der Untersuchungs-Commission. Die Befugnisse derselben wurden weit gesteckt, weiter, als sich mit der Selbstständigkeit der einzelnen Regierungen vertrug. Nicht genug, daß die Regierungen verpflichtet wurden, der Mainzer Commission alle Acten der einschlagenden Untersuchungen schleunigst einzusenden, allen an sie gelangenden Requisitionen vollständigst zu willfahren und mit Verhaftung der Inculpaten vorzuschreiten, wurde der Commission das Recht beigelegt, Verdächtige selbst verhaften und unter sicherer Bedeckung nach Mainz abführen zu lassen.

Es gab nun eine Bundesbehörde, die nicht unter, sondern neben dem Bundestage bestand, und auf deren Mitglieder blos die Regierungen Einfluß übten, welche die Commission gebildet hatten. In einem jüngst erschienenen Werke des Marburger Professors Ilse, Geschichte der politischen Untersuchungen etc., dessen Verfasser Zutritt zu den geheimen Acten hatte, wird der Nachweis geführt, daß mehrere Regierungen das unabhängige, selbst rücksichtslose Auftreten der Commission rügten. Die letztere kümmerte sich nämlich um den Bundestag gar nicht und ließ über ein Jahr verstreichen, ohne daß sie es der Mühe werth hielt, über ihre Thätigkeit zu berichten. Als eine directe Aufforderung ebenfalls nicht die Wirkung, hatte, einen Bericht zu Tage zu fördern, entstand eine Verstimmung, die sich sogar über zwei der bei der Commission betheiligten Regierungen erstreckte und einen energischen Antrag auf die Auflösung der Commission hervorrief (14. März 1822). Für diesen Antrag stimmten die Gesandten von Würtemberg, Baden, Kurhessen, Hessen-Darmstadt, Luxemburg, der großherzoglich und herzoglich sächsischen Häuser und beider Mecklenburg. Jetzt schickte die Commission ihren Bericht an den Bundestag ein (1. Mai 1822).

Eine größere Beleidigung, als in diesem Aktenstücke, ist einem Volke nie geboten worden. Alles, was von 1806 bis 1813 zur Hebung des deutschen Geistes geschah, Alles, was von da an bis 1819 unternommen wurde, um das durch die Freiheitskriege geweckte Leben nicht wieder versumpfen zu lassen, wird von dem Bericht der Commission für Demagogie erklärt. Der Tugendbund, den Friedrich Wilhelm III. persönlich ermunterte, erscheint hier als ein revolutionairer Geheimbund gefährlichster Art, und Schill hat 1809 dasselbe Beispiel eigenmächtiger Schilderhebung der bewaffneten Macht gegeben, das die spanischen, neapolitanischen und piemontesischen Soldaten bei ihren Revolutionen von 1820 und 1821 wiederholt haben. Fichte’s Reden an die deutsche Nation, in denen der glühendste Zorn über die Erniedrigung Deutschlands schäumt, verrathen Hinneigung zur Republik; Schleiermacher und Reimer, Gruner, Jahn und Arndt haben Alle zur Weckung des bösen Geistes beigetragen, der, in Lützow’s schwarzer Schaar bedenklich fortgebildet, auf den Hochschulen fortwucherte und eine allgemeine Unzufriedenheit hervorzurufen beflissen war. Auch Stein wurde, wenn auch nicht im Berichte, wohl aber in vertraulichen Eröffnungen mit der „Revolution“ in Verbindung gebracht. Er schreibt darüber an Gagern, er staune „über eine solche viehische Dummheit, oder eine solche teufelische Bosheit, oder einen solchen nichtswürdigen und aus einem durchaus verfaulten Herzen entstehenden Leichtsinn.“ (Pertz, Leben Steins, V. 424).

Wie konnte ein preußischer Staatsmann seinen Namen unter einen Bericht setzen, in dem fast alle die Triebfedern, welche die große Erhebung von 1813 herbeigeführt hatten, als staatsgefährliche und verbrecherische Motive aufgefaßt wurden? Um das zu begreifen, müssen wir uns erinnern, daß die Reaction in Berlin damals den vollständigsten Sieg errungen hatte. Die Wittgenstein und Schuckmann, die Kamptz und Nagler hatten die Macht in den Händen, und in ihren Augen hatten die Kämpfer von der Katzbach und von Großbeeren nicht mehr gethan, „als eine Spritzenmannschaft thut, die zum Feuerlöschen befehligt wird“. [319] Was der Bericht weiter über die liberalen Regungen nach 1813 sagte, hatte den vollständigsten Beifall dieser preußischen Partei.

Gerade in die Zeit unmittelbar nach der Berichterstattung der Untersuchung-Commission fallen die Bemühungen, Preußen für ein Einschreiten des Bundes gegen die süddeutschen Verfassungen zu gewinnen. Baiern und Baden hatten darum angesucht, Metternich war der eifrige Förderer des Plans, wie denn Oesterreich überhaupt auch hier das ewig drängende und treibende Reactionsprincip abgab, und Friedrich Wilhelm III. sollte nun mit der Entdeckung schrecklicher Verschwörungen geängstigt werden. Darum stellte der Bericht Alles zusammen, was sich über den Briefwechsel von Liberalen, über Besprechungen und Pläne von Gleichgesinnten, vorzüglich über Adressen und Bittschriften um landständische Verfassungen ermitteln ließ, und gruppirte das Material so, daß der Anschein entstehen konnte, als seien jene vereinzelten Thatsachen auf einen der Carbonaria nahe verwandten, wahrscheinlich mit ihr in Verbindung stehenden Geheimbund zurückzuführen.

Welche Beweise hatte die Commission für ihre Behauptungen, die eben so viele Verdächtigungen waren? Wie sie selbst gestand, gar keine. Sie urtheilte, wie sie sagt, nach einigen tausend Papieren, die in zum Theil nicht ganz verlässigen Abschriften vorhanden, in ihrer Folge durch Lücken unterbrochen, ihrem wahren Sinne nach größtenteils nicht hinlänglich erklärt waren; sie urtheilte ferner nach einigen Hundert zum Theil noch unvollständigen Vernehmungen, denen nur in den wenigsten Fällen mit Aufrichtigkeit und ohne Rückhalt entsprochen wurde, und gewann durch diese nach ihrem eigenen Geständniß werthlosen Grundlagen das Bild eines politischen Treibens, das sich weniger in bestimmten Thathandlungen, als in Vorbereitungen, Einleitungen und Versuchen ausgesprochen hatte. So lauten die eigenen Worte des Berichts.

Um aus diesen Vorlagen allgemeine Verdächtigungen ableiten zu können, sah sich die Commission genöthigt – wir brauchen abermals ihre eigenen Worte – „den Grad der Gewißheit, der höhern oder geringern Wahrscheinlichkeit der einzelnen Thatsachen nicht nach den in dieser oder jener besondern Gesetzgebung vorgeschriebenen Normen, sondern nach den Grundsätzen des historischen Glaubens, nach ihrer eigenen subjektiven Ueberzeugung zu bemessen. Deutlicher konnte nicht gesagt werden, daß die Commission keine juristischen Beweise bringe, sondern Phantasieen, die in ihrer subjectiven Ueberzeugung den Charakter von mehr oder minder wahrscheinlichen Thatsachen annähmen. Wahrlich, eine Behörde, die ein solches Machwerk von Bericht vorlegte, verdiente auf der Stelle aufgelöst zu werden. Statt diesen Beschluß zu fassen, erkannte der Bundestag an, daß die Commission ihrem Auftrage genügt habe, und einer seiner Redner hob lobend hervor, daß ihr Bericht „ein treues, bis in die kleinsten Züge ausgeführten Gemälde von dem innern Zustande Deutschlands enthalte.“

Die Mainzer Commission würde bald durch Mangel an Stoff genöthigt worden sein, ihre Thätigkeit von selbst einzustellen, wenn ihr nicht ein besonderer Glücksfall die Entdeckung einer wirklichen Verschwörung zugeführt hätte. Das war nun freilich eine Verschwörung, bei der wiederum Alles auf „Vorbereitungen, Einleitungen und Versuche“ hinauslief, doch für eine Behörde, die aus dem Tugendbunde, aus Fichte’s Reden und aus den Abendgesellschaften beim Buchhändler Reimer Anzeichen eines im Dunkeln durch Jahre fortkriechenden hochverräterischen Bundes geschmiedet hatte, war das vollauf genug. Wenn es sich um Stoff zu Verdächtigungen handelt, begnügt sich die Reaction mit Wenigem. Jene Verschwörung war in der That ein winziges Ding. Ein Burschenschafter, v. Sprewitz, hatte auf einer Schweizerreise von einem deutschen Männerbunde gehört, der an die Carbonari der romanischen Länder sich anschließe. Mit dieser Nachricht war er nach Deutschland zurückgekehrt und hatte zur Bildung eines Jünglingsbundes aufgefordert. Die wieder erstandenen Burschenschaften waren in Folge der Aufmerksamkeit der Regierungen, die sich fast ausschließlich auf sie richtete, zu sehr vom Gefühl ihrer Wichtigkeit durchdrungen und zugleich zu unzufrieden geworden, als daß der Sprewitz’sche Bericht hie und da nicht Glauben gefunden hätte. Für den Jünglingsbund fanden sich nach und nach 139 Theilnehmer. Die Geschichte dieses Bundes ist in zwei Worten erzählt. Man suchte den Männerbund, man fand ihn nicht, und Alles war in völliger Auflösung begriffen, als die Gerichte das Spiel, denn weiter war es nichts, nachträglich entdeckten.

Nachdem der Jünglingsbund so lange den Männerbund gesucht hatte, begab sich die Mainzer Commission an dasselbe Geschäft. Sie fand diesen geheimnißvollen, für seine Gesinnungsgenossen unerreichbaren Männerbund, wenigstens behauptete sie es. Was sie wirklich nachwies, bestand in gelegentlichen, immer auf Reisen eingetretenen Berührungen von Burschenschaftern mit älteren Männern. In den letzteren, unter denen ein Müller und ein Artillerieofficier, Beide in Erfurt wohnhaft, besonders hervortreten, wollte die Commission Mitglieder des Männerbundes erkennen. Mit welchem Recht, möge man danach beurtheilen, daß bei einer der Unterredungen, die zwischen angeblichen Abgeordneten des Männerbundes und des Jünglingsbundes stattgefunden hatten, von weiter nichts die Rede gewesen war, als daß man darauf hinwirken müsse, eine Verfassung, Verantwortlichkeit der Minister, öffentliche Rechtspflege, öffentliche Rechnungsablage über Staatseinnahmen und Ausgaben, Gleichheit vor dem Gesetz und Preßfreiheit zu erlangen. Welche Begriffe von dem öffentlichen Rechtszustande in Deutschland mußte die Commission haben, daß sie in Besprechungen über Staatseinrichtungen, die theils urkundlich verbrieft (z. B. durch Artikel 13 der Bundesacte), theils feierlich zugesagt worden waren, ein Anzeichen von Hochverrath erblickte!

Was die Sprewitz’schen Enthüllungen, die einzige Grundlage der Geschichte vom Männerbunde, betrifft, so hatte die Justizkanzlei zu Güstrow von ihnen eine ganz andere Ansicht, als die Mainzer Commission. In einem Urtheil, das über einen Betheiligten gefällt wurde, erklärte dieses mecklenburgische Gericht, „die Aussagen des v. Sprewitz und seiner Genossen hätten überall keinen Werth, einmal wegen Mängel in der Form (Unvollständigkeit der Protokolle), zweitens weil alle diese Aussagen zu wenig auf reine Thatsachen beschränkt seien, vielmehr ein bloßes Urtheil, veranlaßt durch die mit den Betheiligten bei den polizeilichen Verhören angestellten Betrachtungen und Deduktionen, enthielten.“

Der Jünglingsbund, der allerdings existirt hatte, war zur Zeit seiner Entdeckung von seinen wilden Träumen einer gewaltsamen Erhebung längst zurückgekommen. Seine Mitglieder waren zuletzt darüber einig gewesen, „daß sie sich die Ausbildung liberaler Ideen über öffentliche Angelegenheiten unter den Studirenden zum einzigen Ziele setzen müßten,“ oder, wie ein anderer Angeklagter sich ausdrückte, daß der Bund seine Zwecke erfülle, „wenn er seine Ideen auf dem ruhigen Wege der Ueberzeugung verbreite und durch eine Art von Nationalerziehung dahin zu wirken suche, daß die Wünsche für die politische Einheit Deutschlands vorbereitet würden.“ Es war schon schlimm genug, daß Jünglinge, und noch dazu Studenten, die dem realen Leben, dem Philisterthum, wie sie es nennen, ihre Ideale entgegen zu setzen lieben, für Gedanken über politische Neugestaltungen, die nie und nirgends zur That, oder auch nur zu einem festen Plan gereift waren, mit mehrjähriger Haft bestraft wurden. In Frankreich hätte das in der schlimmsten Zeit der Bourbonenherrschaft nun und nimmermehr geschehen können. Noch weit schlimmer aber war, daß die Regierungen die „Umtriebe“ jener wahrlich ungefährlichen „Demagogen“ zum Vorwand brauchten, weshalb sie fortfuhren, ein System despotischen Zwanges auszuüben, die heißesten Volkswünsche und ihre eigenen Versprechungen unerfüllt zu lassen und Alle, die als Lehrer oder als Schriftsteller zur Bildung des Volks beitrugen, kleinlichen Beaufsichtigungen und Beschränkungen zu unterwerfen.

Selbst in die Untersuchung wurden Lehrer verflochten, deren ganzes Leben und Wirken zeigte, daß sie weder Revolutionairs noch Verschwörer sein konnten. Welcker, Arndt und Jahn waren unter ihnen. Welcker war damals schon der gelehrte Doctrinair, der er sein Leben lang geblieben ist, ein Professor der Rechtswissenschaft, der mit Leib und Seele an das Gesetz gekettet und überdies seinem ganzen Wesen nach nicht geeignet war, aufzuregen oder gar zu wühlen. Sein Schicksal gestaltete sich im Vergleich zu Arndt und Jahn noch so ziemlich günstig, da er in Folge einer Berufung an eine fremde Hochschule den Verfolgungen in Preußen sich entziehen konnte. Arndt und Jahn hatten sich um das Vaterland, dessen Leiter plötzlich Landesverräther in ihnen sahen, unvergeßliche Verdienste erworben, Jahn als Begründer der Turnkunst und als der thätigste Werber für die Freiwilligenschaaren von 1813, Arndt als eifriger und begabter Gehülfe der Stein, Hardenberg, Scharnhorst und Gneisenau. Was Jahn allein zur Last fiel, waren gewisse derbe Aeußerungen, während gegen Arndt nicht der Schatten eines Vorwurfs erhoben werden konnte. Man verfolgte in Beiden nichts als die rettenden Ideen von 1813, denen [320] man nach der Rettung ja nicht mehr bedurfte. Jahn wurde in dem Augenblick verhaftet, als er einem Ruf nach Greifswald folgen wollte, Man schleppte ihn von Kerker zu Kerker, erst nach Spandau, dann nah Küstrin, wo man ihn mit Ketten belastete, und endlich in die Stadtvoigtei. Als sich bereits ermittelt hatte, daß ihm kein Staatsverbrechen zur Last falle und daß er höchstens wegen pommerscher Kraftausdrücke gegen die „Schmalzgesellen“, d. h. gegen die Demagogenriecher Schmalz und Genossen, zur Verantwortung gezogen werden könne, wurde er noch Jahre lang in Colberg als Festungsgefangener behandelt. Nach sechsjähriger Haft erhielt er sein Urtheil und wurde völlig freigesprochen. Er war ein gebrochener Mann, aber die Lust, ihn zu martern, hatte sich noch nicht gesättigt. Man verwies ihn nach Freiburg und von da nach Cölleda und unterwarf ihn einer peinlichen Polizeiaufsicht. Jahn zählte zweiundsechszig Jahre, als die Gnade des Königs ihm, dem Unschuldigen, seine Unbescholtenheit zurückgab.

Die Frivolität der Beschuldigungen, die gegen Arndt erhoben wurden, hat in dieser Welt ihres Gleichen nicht. Man ereifert sich gegenwärtig gegen die neapolitanische Polizei, die auf unbestimmten Verdacht hin Männer aus den ersten Familien des Landes über die Grenze schafft. Gegen Arndt wurde Schlimmeres begangen. Er hatte sein Leben von 1806 bis 1813 für König und Vaterland unaufhörlich auf's Spiel gesetzt, sein Antheil am Werk der Befreiung vom fremden Joch war ein hervorragender gewesen, und man dankte ihm damit, daß man ihn ohne alle rechtliche Grundlage des Hochverraths verdächtigte. In seinen weggenommenen Papieren suchte man nach Rechtfertigungen jener Anschuldigungen. Da fand man Briefe – unter andern von Gneisenau und von Eichhorn, dem spätern Cultusminister – in denen von der Nothwendigkeit einer Verfassung für Preußen gesprochen wurde – und folgerte daraus, daß Arndt „Träumen von republikanischer Aufbauung und Wiederherstellung des Vaterlandes“ Vorschub geleistet habe. Da fand man Randbemerkungen des Königs zu dem Entwurf einer Landwehrordnung und wollte darin den Plan einer allgemeinen Volkserhebung gegen den König sehen. Wie bei Jahn, kam das Jahr 1840 heran, ehe die freche Verleumdung genöthigt wurde, ihr Opfer frei zu geben. Da war auch Arndt gebrochen. „Man sieht dem Thurm,“ schreibt er, „so lange er steht, nicht an, wie Sturm, Schnee und Regen seine Fugen und Bänder allmählich gelockert und gelöst haben. Ich habe aber die langsame Zerreibung und Zermürbung meiner besten Kräfte bis in’s Mark hinein zu tief gefühlt.“

Gegen alle die, welche ein wirklicher Verdacht traf, glaubte man jeder Rücksicht enthoben zu sein. Als Beleg diene das Verfahren gegen die Darmstädter Rühl und Hofmann. Sie sollten Mitglieder des Jünglingsbundes gewesen sein und befanden sich in ihrer Heimath in Untersuchung. Da erbat sich das preußische Gericht zu Köpenick Beide, um sie andern Angeklagten gegenüberstellen zu können. Man willfahrte dem Verlangen ohne Arg, aber wie staunte man in Darmstadt, als von Köpenick plötzlich die Erklärung einlief, daß man Rühl und Hofmann dort in Untersuchung nehmen und bestrafen werde. Ausnahmsweise nahm sich ihre Regierung der Verhafteten an, und ihren längern Verwendungen verdankten es Beide, daß sie nach zwei Jahren zurückgeliefert wurden. Noch fünf Jahre verstrichen, und Rühl und Hofmann erhielten ihr Urtheil. Natürlich enthielt es eine strenge Verurtheilung dieser beiden Hauptverbrecher, an denen die preußische Regierung so viel Abscheuliches gefunden hatte, daß sie dieselben mit Verletzung des Bundesrechts behufs nachdrücklicher Bestrafung zurückbehielt? Im Gegentheil; Rühl und Hofmann wurden als unschuldig erkannt und demgemäß völlig freigesprochen. Daß man sie in Preußen schuldig befunden haben würde, lehrt das Schicksal ihrer auf gleicher Stufe stehenden Mitangeklagten, des Müllers Salomo und des Majors Ferentheil aus Erfurt. Gegen diese wurden lange Freiheitsstrafen – in erster Instanz der Tod durch das Beil! – ausgesprochen. Beide entkamen, Ferentheil aus der Citadelle von Magdeburg, Salomo aus einer andern Festung in einem leeren Mehlkasten, in den er unbemerkt gelangte und mit dem er in’s Freie gefahren wurde, wo er den Deckel aufstieß und das Weite suchte.

Es fehlte nicht viel, so wäre die Centralbehörde in Mainz, von der diese und viele, viele andere Dinge ausgingen, ein stehendes Bundesinstitut geworden. Dem österreichischen Staatskanzler war die Entdeckung des Jugendbundes sehr willkommen gewesen. Er wollte sie dazu benutzen, die Mainzer Commission, wenn nicht in Permanenz zu erhalten, doch als ausgiebigstes Werkzeug seiner Politik zu gebrauchen. Er ging so weit, zu klagen, daß sie in ihrer bundesgesetzmäßigen Verpflichtung zurückgeblieben sei, und auf einen Verweis gegen ihren Vorsitzenden, den Preußen v. Kaisersberg, anzutragen. Dieser Verweis wurde von Berlin aus wirklich ertheilt, aber das war auch der letzte Erfolg Metternich’s. Preußen vor Allem und nach ihm die meisten übrigen Staaten waren zu der Einsicht gelangt, daß die Demagogenriecherei ihnen eben so sehr schade, als sie der österreichischen Politik nütze. Selbst daß Metternich die Mitglieder der Commission auf den Johannisberg berief und alle Ueberredungskünste spielen ließ, wollte nicht mehr verfangen. Die Herren mußten sich selbst gestehen, daß ihnen der Stoff ausgegangen sei, und schlossen ihre Thätigkeit mit ihrem Hauptberichte vom 14. December 1827.


Blätter und Blüthen.

Zum Landkartenwesen. Ich möchte mir heute noch eine Rüge über unser deutsches Kartenwesen erlauben, die mir schon lange am Herzen liegt und eben auch nichts weiter ist, als ein Stück unserer deutschen Zerfahrenheit: ich meine die verschiedene Gradeintheilung der Landkarten, nicht allein für den Gebrauch der Schulen, sondern auch für den des Publicums.

In dieser Gradeintheilung herrscht eine heillose Verwirrung, die in früheren Zeiten vielleicht nicht so empfunden wurde, sich jetzt aber, wo wir fortwährend von fremden Ländern Kunde bekommen, nur um so mehr fühlbar macht. Wenn wir zwölf verschiedene Landkarten in die Hand nehmen, so können wir uns auch darauf verlassen, daß drei davon ihre Grade nach Paris, drei nach Greenwich und sechs nach Ferro rechnen, und die nach Ferro sind sogar noch dann und wann im Stande, gar keine östliche und westliche Länge anzuerkennen, sondern, wie man das vor siebzig und achtzig Jahren that, ihre 360 Grad rund um die Erde herum abzuzählen. Die Folge davon ist, daß, wenn man zwei Karten mit einander vergleichen will, die Lage eines Orts herauszufinden, vor allen Dingen eine höchst umständliche Berechnung nöthig ist, die verschiedenen Längen nach einander zu bestimmen – was von Hunderten kaum zwei im Stande sind.

Unsere deutschen Seeleute rechnen nur nach Greenwich und führen nicht allein meist lauter englische Karten, sondern auch englische nautische Handbücher, die ausgezeichnet praktisch eingerichtet sind. Wir Deutschen sind überhaupt keine solche seefahrende Nation, für unsere eigenen Schiffe die ungeheueren Herstellungskosten solcher Bücher in deutscher Sprache auszuführen. Die besten Karten, die wir von fremden Ländern haben, kommen überdies von England und sind alle nach der Eintheilung der Grade von Greenwich ausgerechnet. Es würde deshalb ein ungeheurer Vortheil für uns sein, wenn wir uns auch in Deutschland mit dem Kartenwesen[WS 2] dahin vereinigten, die längst veraltete Berechnung nach Ferro aufzugeben, die nicht den geringsten praktischen Nutzen mehr hat, und einzig und allein nach Greenwich rechneten.

Lesen wir jetzt einen Zeitungsbericht oder eine Reisebeschreibung, wo die Lage eines Ortes nach Graden, und dann jedesmal nach Greenwich angegeben ist, und nehmen wir dann unsere Karten vor, den Platz darauf zu finden, so mögen wir sie nur gleich wieder ruhig weglegen, denn es läßt sich zehn gegen eins wetten, der Ort, den wir suchen wollen, liegt bei uns unter demselben Grade irgendwo im Ocean, oder die Insel trocken auf dem festen Lande.

Ein Nationalgefühl kann uns dabei nicht abhalten, denn Ferro gehört ebensowenig zu Deutschland wie Greenwich, und das Vernünftigste ist also, uns die Berechnung geläufig zu machen und sie überhaupt festzuhalten, welche die allgemeinste praktische Geltung in der Welt hat, und nach der unsere deutschen Seeleute schon überhaupt gezwungen rechnen müssen.

Allen Verlagshandlungen geographischer Werke möchte ich deshalb die Bitte dringend an’s Herz legen, von jetzt an wenigstens die verzweifelte Berechnung nach Ferro aufzugeben und ihre Gradeintheilung durchgängig nach Greenwich anzulegen. Ich brauche wahrlich keinem der Herren den Nutzen noch klarer zu machen, den es nicht allein für alle Schulzwecke, nein, hauptsächlich für das große Publicum haben würde, und um dieser Bitte weitere Verbreitung zu geben, wäre ich jeder Zeitungsredaction dankbar, die diese Aufforderung an alle Verleger geographischer Werke in ihre Spalten aufnehmen wollte.

Friedrich Gerstäcker.[6]



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die Landmilizen waren eine schon unter dem großen Kurfürsten vorkommende Art Landwehr.
  2. Siehe Gartenlaube 1859, Nr. 1.
  3. Gedeckt: so gehalten, daß das Schwein zum Stehen gebracht wird.
  4. Geschlagen: verwundet.
  5. Hessen: Fersensehnen.
  6. Unser verehrter Mitarbeiter tritt nächste Woche seine große und, wie er uns schreibt, wahrscheinlich seine letzte weitere Reise an. Er wird Nord-, Süd- und Mittelamerika besuchen und gedenkt dies in 1 ½ Jahren auszuführen. Noch einmal will er, ehe er zwischen seinen vier Pfählen in Deutschland bleibt, seine alten Jagdgründe und Jagdkumpane aufsuchen und Stoff für sein ganzes Leben sammeln, namentlich aber die deutschen Ansiedelungen besichtigen, über deren Zustände er im Interesse der Auswanderung und des Handels die genauesten Studien machen wird. Wir werden die ersten Berichte über diese Reise in verschiedenen Zeitungen und später auch in geschlossenen Büchern lesen, auch der Gartenlaube hat Gerstäcker regelmäßige Berichte mit Abbildungen zugesagt, deren Veröffentlichung schon nächstens beginnen werden. Wir dürfen unsern Lesern interessante Mittheilungen versprechen.
    Die Redaction.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: in
  2. Vorlage: Knotenwesen