Die Gartenlaube (1881)/Heft 16

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum: 1881
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[257]

No. 16.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Bruderpflicht.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


„Regina“ sagte Graf Gollheim, mühsam an sich haltend und seine Stimme zu einer erzwungenen Milde dämpfend, „Du bist ja heute bewunderungswürdig – offen gegen mich. Doch ich kann ruhig sein; Du bist meine Tochter und wirst nicht die Schwiegertochter eines Republikaners werden wollen, der …“

„Ich kenne ihn nicht – mag er sein, wie er will! Seine Eigenschaften entbinden mich nicht von dem, was ich Aurel Lanken versprochen habe,“ unterbrach ihn Regina mit Festigkeit.

„Versprochen? Du sagst: versprochen?“

„Ja, so sagte ich. Versprochen!“

„Du hast Lanken Deine Hand versprochen?“

„Nicht mit Worten – aber durch mein Benehmen.“

„Benehmen?“ rief Gollheim, den Ton möglichst großer Verachtung in das Wort legend.

„Das ist,“ fiel Regina ein, „für ein ehrliches Mädchen gerade so bindend, wie es klar ausgesprochene Worte sind.“

„Sodaß Du Dich weigerst, das Verhältniß abzubrechen, völlig und gründlich abzubrechen und morgen abzureisen?“

„Ich bin Dir als Deine Tochter Gehorsam schuldig. Wenn Du befiehlst, daß ich reisen soll, so reise ich. Das ist selbstverständlich. Aber über meine Gefühle, meine Neigung, mein Gewissen hast Du zu herrschen und zu schalten kein Recht, und ich erkläre es Dir ohne Hehl. Ich denke, es ist besser so, als wenn ich hinter Deinem Rücken heimlich ein Verhältniß fortsetzte, von dem Du nichts ahnst.“

„Ich soll Dir für Deinen unerhörten Trotz, Deinen bösen Eigensinn wohl noch dankbar sein?“ höhnte Graf Gollheim, indem er sich langsam abwandte, die Arme über die Brust verschlang und nun mit gesenktem Haupte, die Augen auf den Boden heftend, schweigend eine Weile auf und ab ging.

Dann blieb er plötzlich stehen, stampfte zornig mit dem Fuße auf den Boden und sagte laut und herrisch:

„Du reisest also. Morgen schon! Und was das Uebrige betrifft – ‚le Roi avisera‘.“

Damit wandte er seinen Kindern den Rücken und ging mit sehr festem, entschlossenem Schritte davon.

„Was mag er vorhaben?“ flüsterte nach einer Pause Ludwig, der sich mit keinem Worte in die Debatte gemischt hatte. „Er hielt mit seinem Zorne, seiner Wuth beinahe unheimlich an sich. Ich fürchte üble Dinge für Dich und Lanken.“

„Er hielt wohl am meisten an sich,“ entgegnete achselzuckend Regina, „weil das, was ich ihm sagte, ihn vermuthlich weniger unvorbereitet traf als er vorgab.“

Sie ließ sich jetzt in einem unfern der offnen Fensterthür stehenden Sessel nieder und blickte, die Hände im Schooße faltend, in die grüne Laubwelt des kleinen Parkes hinaus. Das letzte Licht des Tages fiel voll auf ihre Züge. Jetzt zeigte sich, wie fein Regina’s Antlitz geschnitten war; die Weihe des Gedankens lag auf ihrer Stirn, und groß und aufrichtig sprach der Ausdruck der Wahrhaftigkeit aus ihren Augen. Aber die volle Frische rosig blühender Jugend war nicht mehr in diesen Zügen; es lebte in ihnen ein Gedankenernst, eine geistige Reife, die, auch wenn die leise gezogenen Fältchen an den Mundwinkeln und den Schläfen nicht gewesen wären, hinreichend verrathen hätten, daß Regina Gollheim über die Mitte der Zwanziger hinaus sei.

„Für’s erste,“ fuhr Regina fort, „wird der Vater nun wohl eine Gelegenheit suchen, offen mit Lanken zu brechen, und bis dahin zu verhindern wissen, daß ich ihn sehe und spreche. Morgen schon soll ich reisen – von Dir geleitet. Da bleibt denn nichts übrig, Ludwig, als daß Du mir brüderlich beistehst. Du mußt noch heute Abend zu Lanken gehen und mit ihm reden, Du mußt ihm ganz offen Alles mittheilen, was vorgefallen ist, und ihm sagen, daß ich nur gehe, weil der Vater befiehlt, daß meine Gefühle … aber was hast Du, Ludwig?“

Ludwig war in heftigster Bewegung aufgesprungen; er machte, wie von irgend einem Gedanken gepeinigt oder geängstigt, einige rasche Schritte in das Zimmer hinein.

„Ich zu Lanken?“ rief er. „O mein Gott, wie kann ich … heute … zu ihm gehen!“

Er sagte das in einem so verzweifelten Tone, als ob er lieber in den Tod gehen wolle als zu Lanken.

„Aber ich bitte Dich – weshalb nicht?“

Ludwig antwortete nicht.

„Du mußt mir in dieser Sache nichts, gar nichts zu thun zumuthen,“ sagte er endlich, „ich – ich darf und kann nicht hinter dem Rücken meines Vaters und wider seinen Willen handeln.“

Regina sah ihn scharf und forschend an.

„Du bist nicht immer ein so gehorsamer Sohn, so gewissenhaft gewesen.“

„Mag sein!“ versetzte er. „Aber ich kann jetzt nicht anders.“

„Als mir vollständig Deine brüderliche Hülfe versagen?“

„Als Dich bitten, mich in dieser Angelegenheit nicht zu quälen.“

„Wunderlich! So bleibt mir nichts übrig als mir selbst zu helfen.“

„Ja, hilf Dir selbst! Ich kann nichts thun als Dich morgen zur Tante zu begleiten und Gott zu danken, wenn ich die Stadt [258] im Rücken habe, die,“ setzte er halblaut hinzu, „mich sobald nicht wiedersehen wird.“

Damit schritt er zum Zimmer hinaus und überließ Regina ihrem Erstaunen und ihrem Nachdenken über das sonderbare Wesen ihres Bruders, der ihr plötzlich ganz fremd geworden. Nach einer Weile erhob sie sich seufzend und begab sich in ihr Zimmer, um an Lanken zu schreiben und ihm brieflich zu sagen, was Ludwig ihm mündlich auszurichten sich so energisch geweigert hatte.




4.


Es war ein malerischer alter Bau mit Giebeln und Thürmen aus der Renaissancezeit in welchem der dirigirende Minister seine Amtswohnung hatte. Einst hatten die Fürsten des Landes dort gewohnt, aber seit diese in einem neueren hellen Rococoschloß am Westende der Stadt ihre Residenz aufgeschlagen, war das alte Schloß mit seinen theilweise noch burgartigen Räumen der Sitz der obersten Landesbehörden geworden. Ein mächtiges wappengekröntes Portal mit gewölbter Durchgangshalle führte hinein, und zunächst auf einen großen länglichen Hof, in dessen Mitte eine Gruppe alter Platanen stand, die einen gewaltigen von kunstreichem Schmiedewerk gekrönten Brunnen beschatteten. Das ganze untere Geschoß zeigte niedrige Rundbogenfenster mit schweren Eisengittern davor; in den zwei obern Stockwerken deutete die Unregelmäßigkeit, mit der die bald hohen, große Spiegelscheiben zeigenden, bald kleineren, mit Blei verglasten Fenster angebracht waren, aus wunderliche Raumvertheilungen im Innern. Thüren, von denen keine der andern glich, bald ganz schwellenlos, bald mit mannshohen Treppen davor, führten in die verschiedenen Flügel; über ihnen war auf Tafeln mit Inschriften zu lesen, welche Abtheilungen der Staatsmaschinerie sich hinter ihnen befänden: die „herzogliche Kammerverwaltung“, die „Hauptstaatscasse“, die „Militärersatzcommission“. Es war ziemlich belebt auf dem Hofe. Leute in Dienstmützen, Boten mit Acten unter dem Arme, Herren, die wie Beame, und andere, die wie Petenten aussahen, kamen und gingen.

Der alte Thierarzt aus Amerika, der am andern Morgen um acht Uhr aus dem Hofe des Schlosses stand, betrachtete dasselbe, betrachtete die Schilder, betrachtete das ganze Bauwerk mit stillem Lächeln und einem Ausdruck von spöttischem Ueberlegenheitsgefühl, das doch in eine gewisse Miene von Wehmuth überging, als sein Auge auf den dicken Eisenstangen vor den Fenstern des Erdgeschosses haften blieb.

„Die verfluchten Stangen!“ murmelte er. „Ueber diese Stangen ist mein ganzes Lebensschicksal gestolpert. Die Noth bricht Eisen, sagt man, aber dieses Eisen war damals stärker als unsere Noth. Gott verdamme es! Damals hatten sie die Waffen des Landwehrdepots dahinter untergebracht. Wir – alle die unerschrockenen Burschen, die mir folgten, wollten uns der Waffen bemächtigen und damit nach dem deutschen Süden ziehen, um die Truppen der Revolution zu verstärken. Hätten wir’s fertig gebracht, wer weiß, wie es heute in Deutschland stände! So aber waren uns diese Stangen zu stark; wir brachen und feilten daran, aber wir kamen nicht damit zu Stande, und die ‚Heulmeier‘ nahmen unterdeß ihren Muth zusammen und rückten uns als Bürgerwehr auf den Leib. So mußten wir’s aufgeben, und ich, der ich am schlimmsten compromittirt war, mußte machen, daß ich fort kam, und Gott danken, daß ich nicht auf der Flucht noch gefaßt wurde. Ja, diese Stangen!“

Der alte Lanken schüttelte über die Stangen, deren Festigkeit eine so bedeutungsvolle Rolle in seinem Leben gespielt, abermals den Kopf, und dann wandte er sich an einen der Vorübergehenden mit der Frage, wohin er sich wenden müsse, um zu dem Minister Lanken zu gelangen. Der Mann wies ihn unter einen zweiten, in einen kleineren Hof führenden Thorweg, und zeigte auf eine große Glasthür, hinter der sich eine breite teppichbelegte Treppe erhob. Der alte Herr stieg die Stufen empor und gelangte an eine Glaswand mit einer Klingel, die er ziemlich gebieterisch ertönen ließ. Ein Diener in dunkler Livrée öffnete ihm.

„Zu Haus, der Herr Minister?“ fragte der alte Herr mit einem Tone, der dieser „Sclavenseele“ klar machen mußte, daß der alte Lanken nicht der Mann sei, sich von galonnirten Bedienten imponiren zu lassen.

Die Sclavenseele faßte, ruhig prüfend, den alten Herrn in’s Auge, nickte dann mit dem Kopfe und antwortete:

„Excellenz haben mir befohlen, Sie sofort zu ihm zu führen. Haben Sie die Güte, mir zu folgen!“

Sie schien doch wenigstens höflich, diese Sclavenseele. Wäre auch schön angekommen, wenn sie dem alten Herrn den Zutritt zu seinem Sohne hätte erschweren wollen. Aber sie war weit entfernt davon. Sie glitt lautlos, wie einer richtigen Sclavenseele zukommt, durch ein paar mit einem bescheidenen Luxus eingerichtete, große, aber niedrige Empfangssäle voran, auf eine Flügelthür zu, an der sie klopfte: dann öffnete sie dieselbe, schob eine im Inneren befindliche Portiere zurück, und Lanken trat in das Arbeitszimmer seines Sohnes. Mit einem moquanten Lächeln schaute er sich darin um. Und dann nickte er, als sei hier Alles just so, wie er sich gedacht, daß es in der Wohnung eines Ministers sein müsse. Das Zimmer hatte eine kostbare alte Gobelintapete, die wohl noch aus den alten Zeiten der fürstlichen Hofhaltung herrührte. Im Uebrigen war Alles einfach; kein Gold, keine schreienden Farben, keine Löwen- und Tigerfelle, keine kostbaren Gemälde mit üppigen Darstellungen oder dergleichen.

„Bist ja ganz hübsch untergebracht, Aurel,“ sagte er, die beiden Hände, welche ihm sein Sohn bewegt entgegengestreckt hatte, nur flüchtig berührend; dann trat er an das nächste Fenster, um zu prüfen wie denn die Aussicht von da sei – sie ging auf einen leidlich hübschen, aber nicht großen Garten hinaus, der von Mauern umgeben war. „Bist ja ganz hübsch untergebracht,“ wiederholte der alte Herr, „obwohl man sieht, wie weit Ihr hier noch im guten Geschmack zurück seid; bei einem Governor drüben in Amerika oder auch nur bei einem Redacteur eines unserer großen Journale sieht es im Empfangszimmer ganz anders aus, als hier bei Dir – na, ich bin nicht der Mann, der sich um so etwas kümmert – nicht einen Pfifferling – sehe mehr auf substantiellere Dinge, zum Beispiel auf ein gutes Frühstück und wenn Du Deiner guillotinirten Levkoie befehlen willst, für eines Sorge zu tragen, so will ich ihm gern Ehre anthun; bei Schallmeyer hat man mir Gerichte aufgetischt, vor denen ich die Flucht ergriffen habe.“

Aurel drückte auf eine Klingel; der eintretende Diener erhielt einen kurzen Befehl und verschwand wieder.

„Nun,“ sagte der alte Herr, indem er auf einem Ecksopha neben dem Fenster Platz nahm, „kann denn der Bursche nicht antworten, ob er thun wird, was Du wünschest oder nicht?“

„Das wäre überflüssig, lieber Vater; zu thun, was ihm befohlen wird – dazu ist er da.“

„Scheut Ihr hier so die überflüssigen Worte? Weshalb denn nicht lieber die überflüssigen Schreibereien?“

„Wie kommst Du darauf?“

„Durch das überflüssige Schreibervolk, das ich unten in den Höfen umherlaufen sah – Eure ganze alte Burg hier ist ja wie eine Fabrik zur Erzeugung unnützen Schreibwerkes.“

„Glaubst Du?“ fragte Aurel lächelnd.

„Nun sicherlich! Eure Bureaukratie kennt man ja. Die reine Tauschlägerei zur Herstellung der Seile und Stricke, welche die freie Entwickelung der öffentlichen Wohlfahrt unterbinden. Wenn Du auf mich hören wolltest, ich würde Dir den Rath geben, alle diese Beamten und Schreiber, die Euch jahraus jahrein ein Heidengeld kosten müssen, fortzujagen und Eure ganze Staatsverwaltung in General-Entreprise zu geben.“

„In was?“

„In General-Entreprise Eure ganze Staatsverwaltung! Was die wirklich dabei nöthige Arbeit ist, setzt für zehn- oder zwanzigtausend Dollars jährlich aus – für ein Zehntel dessen, was sie Euch heute kostet, und es werden sich genug praktische Leute melden, die sie Euch dafür accordmäßig zu liefern bereit sind.“

„Ich werde diesen Vorschlag beim Herzog befürworten“ antwortete scherzend Aurel.

Im Hintergrunde des Zimmers öffnete sich eine Thür; der Diener erschien wieder, warf beide Flügel der Thür auf und trug einen mit dem Frühstück besetzten Tisch herein. Aurel ließ diesen vor das Ecksopha stellen und nahm seinen Vater gegenüber Platz, um, nachdem er den Diener wieder hinausgesandt, jenem zur serviren.

„Das vollständige Tischlein, decke dich,“ sagte der alte Herr, sich zu einem Ei verhelfend, das er mit großer Geschicklichkeit abblätterte. „Du nimmst nichts, Aurel?“

„Ich habe das bereits vor ein paar Stunden abgemacht,“ versetzte dieser, „bevor ich meine Tagesarbeit begann.“

„So früh? Ein Minister? Drängt’s denn so?“

[259] „Mich drängt’s freilich nicht. Aber ich muß die Anderen drängen, damit die Räder unserer Tauschlägerei, wie Du Dich auszudrücken beliebst, in Schwung bleiben.“

„Sodaß Du der allgemeine Bedränger bist,“ lachte der alte Lanken aus.

„Leider trifft Du da ganz das richtige Wort; für die große Menge der im alten Schlendrian halbmüßig durch ihre Tagesarbeit hinflanirenden Beamten bin ich das.“

„Also auch wohl nicht beliebt beim Volke?“

„Beim Volke? Das hoffe ich doch! Meine Widersacher sind anderswo, im Adel, in der Umgebung des Herzogs, unter den Höflingen, in den Bureaus.“

„Nun, und die hassen Dich, weil Du sie drängst, zu arbeiten, mit den Geschäften zu Ende und von der Schreiberei zur That zu kommen?“

„Die Beamten – nun ja, und die Höflinge, weil ich nicht aus ihren Kreisen aus einer der privilegirten Familien, weil ich –“

„Du endest nicht. Willst Du sagen: ‚weil ich der Sohn eines Mannes bin, der sich den Henker um Fürsten, Höflinge und Beamte scheert, sondern ein aufrichtiger Republikaner ist und nie ein Hehl daraus gemacht hat, daß, wenn er könnte, er sie alle zum Teufel jagte, um den Volksstaat statt ihrer einzuführen‘?“

„Mein lieber Papa,“ versetzte Aurel, „Du irrst, wenn Du glaubst, daß man eine solche Anschauung hier im alten Lande noch für gefährlich hält.“

„Nun, was ist es denn, das man mir – oder besser Dir, nicht verzeihen will?“

„Wenn Du es denn wissen willst: daß ich der Sohn eines Mannes bin, der hier einst eine so bescheidene Lebensstellung einnahm …“

„So, das ist’s? Daß ich ein Thierarzt gewesen – ein studirter, geprüfter Thierarzt, der meines Erachtens just so vornehm ist wie ein Doctor, der Recepte für Menschen schreibt, die wahrhaftig oft genug viel weniger werth sind, als eine gute milchgebende Kuh für einen armen Bauern?“

„Und doch ist es so; die Welt hat ihre Vorurtheile, und das, was mir nicht verziehen wird –“

„Ist, daß Du der Sohn eines bloßen Thierarztes bist,“ rief der alte Lanken. „Diese Dummköpfe ! – Aber wahrhaftig, wenn’s so ist – und ich hätt’s ja auch schon mir selber sagen können – dann, sieh, dann könnt’s mich beinah freuen, daß Du ihnen zum Trotz und Aerger Minister geworden bist, dann bleib’ meinethalb, um sie toll zu machen, Dein Lebenslang Minister, dann setz’ ihnen den Fuß auf den Nacken, dann laß Dir vom Herzog Ehren, Würden, Titel, Orden geben, bis Du nicht mehr weißt, wohin damit – Ordensketten von Gold, die drei Pfund schwer sind und wozu rothe Sammetmäntel mit Hermelinfutter gehören! Ihr habt ja dergleichen spaßhaftes Zeug von allerlei Art hier – laß Dich – sind denn nicht diverse Minister gar Cardinäle geworden? – laß Dich zum Cardinal machen mit einer langen brandrothen Schleppe! Und vielleicht etablire ich mich unterdeß hier mit einem kleinen Geschäft in Virginiakanaster und Schnupftabak, und vor die Bude stell’ ich einen großen, schön roth angestrichenen Cardnal, wie er vor die richtige Schnupftabaksbude gehört – wäre ein Capitalspaß das!“

Aurel hatte für alles das nur ein wehmüthiges Lächeln, mit dem er in die erhitzten Züge seines Vaters blickte. Er wandte sich ab, und durch das Fenster schauend, sagte er:

„Es freut mich, daß meine Stellung wenigstens eine Seite hat, von der aus Du sie versöhnt betrachtest, wenn Deine Anschauung dabei auch auf einem sehr persönlichen Gefühle beruht. Willst Du jetzt auch anhören, wie ich ganz naturgemäß, ohne mich ehrgeizig vorzudrängen, auf meinen Posten gelangt bin?“

„Hm, Schallmeyer, das Känguruh, hat mir gestern Abend die Geschichte erzählt. Bist Advocat gewesen – in die Kammer gewählt – hast Reden gehalten – bist Fractionsleiter geworden – Präsident der Kammer – nach 1870 hat der alte Ministerpräsident die Flinte in’s Korn geworfen –“

„Nun ja, so ist’s ungefähr,“ fiel Aurel ein. „Als nach den glorreichsten Schlachten, welche unsere Geschichte kennt, das größte Ereigniß dieses Jahrhunderts, die Wiedererstehung des alten Reichsgedankens, sich vollzog, da fand die große Zeit kleine Menschen, die Söhne der durch frühere Mißregierungen verkrüppelten Generationen. Kleinlicher Hader, kleinliches Treiben überall – nur ein einziger großen Willen da. Diesem großen Willen nun widersetzte sich in unserem Lande Alles, was einst bestimmendes Element gewesen, was dabei in engherzigem Particularismus gediehen und mächtig geworden war. Sagen wir die Conforteria. An ihrer Spitze stand ein hartnäckiger Mann, der frühere Ministerpräsident. Er glaubte sich der neuen Strömung entgegenstemmen, durch Hartnäckigkeit die sogenannten berechtigten Eigenthümlichkeiten unseres kleinen Staates retten zu können und brachte uns durch Widerstand gegen die neuen Einrichtungen, die ihm ein Gräuel waren, in Conflicte, die den Herzog zwangen, ihm die Entlassung, welche er nicht verlangen wollte, zu geben. Und da nun in einem Staat wie dem unsern Alles enge zusammenhängt, so war es dem Herzog unmöglich, unter des Entlassenen Standesgenossen, seiner Vetterschaft und seinem Anhang einen neunen Leiter seiner Regierung zu finden, der aufrichtig und ohne Hintergedanken ihm zur Seite getreten wäre, um das Staatsschiff in die neue Strömung hinüberzulenken. Er mußte sich an den Führer der Partei wenden, die längst zu dieser Strömung hinübergedrängt hatte, der Partei des gesunden Fortschritts und des Kampfes für die Idee der deutschen Einheit und Größe gegen die Sonderinteressen der Kleinstaaterei; er mußte dies um so mehr, als diese Partei außerdem die Majorität der Kammer besaß –“

„Und der Führer dieser Partei warst Du?“

„War ich! Also –“

„Also wurdest Du Minister! Nun ja, wenn ein Schwan keinen See hat, muß er auf einem Teiche schwimmen lernen. Aber ich hatte Dich doch für einen andern Teich aufgezogen, als für das Untertauchen in Eurem kleinen Staatstümpel hier.“

„Mein lieber Papa, wir können nicht alle gleich Dir das Weltmeer befahren – und was das Aufziehen anbetrifft, so mußt Du mir verzeihen, wenn ich Dir gestehe, daß von den Anschauungen, welche Du mir in meinen ersten Lebensjahren beigebracht haben magst, wenig in mir haften geblieben ist. Du schiedest von uns, als ich acht Jahre alt war, und ich muß gestehen, daß ich damals an einer unverzeihlichen Flüchtigkeit der Gedanken und einer beklagenswerthen Unfähigkeit litt, Deinen für die damalige Zeit ebenso berechtigten und selbstlosen, wie edlen und schönen politischen Ideen zu folgen. Ich blieb, als Du nach Amerika gingst, zurück unter dem Einflusse meiner Mutter, welche von der Politik, die ihr den Gatten und ihrem Kinde den Vater gekostet, nicht viel hören mochte. Als sie leider so früh gestorben, war es ihr Bruder, mein Vormund, der mir die politische Richtung gab – der brave Mann war Stadtbaumeister, und als solcher kein Freund des Einreißens, wo nicht ein Neubau folgen konnte. So ist es denn gekommen, daß ich mir ein Ideal gebildet habe, das von dem Deinigen weit abweicht, wie sehr ich auch Deinen politischen Standpunkt achte und schätze: Ich bin zufrieden mit meinem so glücklich erreichten Ideale eines großen, geeinten, unter dem schützendem Kaiserbanner mächtig dastehenden Deutschland, lieber Vater, und als praktischer Mann wünsche ich heute, daß keine wilde Jagd der Parteien durch die Saaten brause, die wir auf dem Felde des Erreichten säen – die wilde Jagd, weißt Du, stürmt einer Beute nach, die aussieht wie ein Edelwild, wie ein Sechszehnender – in der That aber ist dieses Edelwild nur allzuoft – ein Phantom.“

Der alte Thierarzt räusperte sich, trank das Glas Burgunder, das ihm sein Sohn eingeschenkt, aus und sagte dann:

„Ich sehe, reden kannst Du, Aurel – und ich denke, es kommt wenig dabei heraus, wenn wir streiten, wer darin von uns Zweien dem Andern überlegen ist. Laß uns zu persönlichen Dingen übergehen, die uns im Augenblicke viel näher am Herzen liegen!“

„In der That, lieber Vater,“ fiel Aurel ihm in die Rede, „sprechen wir lieber nicht mehr von Politik, sondern von der Art, wie Du nun hier Dein Leben einrichten willst!“ Er nahm einen kleinen silbernen Leuchter vom Schreibtische, zündete das Licht an und reichte es dem Vater, der eben seine Cigarrendose hervorzog.

„Nimm Dir auch eine Cigarre, Excellenz!“ sagte dieser „wenn man sich dabei gemüthlich den blauen Dampf in’s Gesicht bläst, bespricht man so etwas mit mehr Seelenruhe; jede kleine Wolke ist dann ein Dämpfer. Wie ich hier mein Leben einrichten will, fragst Du? Du fürchtest wohl, ich werde mit der Stiftung eines Bundes rother Republikaner beginnen? Müßtest mich dann mit Deinen Polizisten über die Grenze bringen lassen – abschaffen [260] – wär’ nicht übel. Aber beruhige Dich! Liegen mir zunächst andere Dinge am Herzen. Damit Du sie begreifst, muß ich Dir vorher ein wenig mehr von meinem Leben drüben erzählen, als Du davon bis jetzt vernommen hast. Das Schreiben, weißt Du, war niemals meine Sache.“

„Leider – ich hätte so gern öfter von Dir gehört.“

„Was sollt’ ich Dir lange Episteln schreiben – waren ja einander ganz fremd geworden – konntest auch trotz alles Schreibens von dem Leben drüben keine richtige Vorstellung haben; konnte es Dir eben nicht klar machen, wie ich anfangs dort Gärtnerbursche und dann Pastor einer kleinen Gemeinde in Michigan, darauf Schreiber eines Sheriffs ward. Konnte es nicht. Und als Deine Mutter gestorben – ich hatte damals in einem Eier- und Butterhandel etwas verdient – Dein Vormund sandte mir herüber, was mir aus der Erbschaft Deiner Mutter von ihrem Vermögen zukam – kaufte eine wohlgelegene Farm, sehr vortheilhaft – capitaler Handel – war ein gemachter Mann jetzt – hatte aber zur Bewirthschaftung der Farm eine Frau nöthig – Du wirst das einsehen, Aurel –“

„Ah,“ unterbrach ihn Aurel, „Du gabst mir eine Stiefmutter, und davon weiß ich nichts?“

„Hatte die Frau nöthig, aber Eure Einwilligung nicht,“ entgegnete er mit einer Barschheit, die wohl nur eine gewisse Verlegenheit dem Sohne gegenüber maskiren sollte, „braucht’s also nicht herüberzutelegraphiren und später viel Redens darüber zu machen, war ja auch nicht nöthig, kanntet meine Frau ja nicht – konnte sie Euch auch nicht abmalen. Nun ist sie leider todt – zwei Jahre schon her. War eine hübsche Person, größer, schlanker als Deine Mutter – Yankeefamilie – stammte aus Neu-England – Vater Shopkeeper – wollener Strumpfhändler – früher einmal Goldgräber, und was man denn sonst drüben versucht. War ein braves Weib, und hinterließ mir einen Ausbund von Jungen –“

„Ah, einen Sohn? Einen Bruder habe ich, von dem ich nichts ahnte?“ rief Aurel mit wachsendem Erstaunen.

„Ich kann nicht bestimmt sagen, ob Du ihn hast oder hattest – ist fortgelaufen – auf unsere ‚Navy‘ gegangen, denk’ ich, und seit zwei Jahren habe ich nicht das Mindeste von ihm gehört. Nun, wenn’s nicht mein eigen Fleisch und Blut wäre, würde ich sagen, der Schade, wenn er irgendwo den Hals bräche, wäre nicht allzu groß. War keine Zucht in dem Jungen – kein Gehorsam.“

„Kaum zu verlangen!“ sagte mit einem leisen Anfluge von Ironie Aurel. „Ihr stellt ja drüben die Knaben so früh auf ihre eigenen Füße –“

„Sag’ lieber, sie stellen die Füße auf uns, ihre Alten. Hast Recht! Wenn’s noch Füßchen wie die der Grasmücke sind, läßt man sich’s ja gefallen; die Grasmücke, weißt Du –“

„Die Grasmücke? Wer ist das nun, Vater?“

„Bin ja im Zug, Dir’s zu sagen. Die Grasmücke, das ist Lily, Deine Schwester, ein so reizender kleiner Affe, wie Du ihn Dir nur denken kannst –“

„Und nun auch noch eine Schwester!“ rief Aurel aus, halb erschrocken, halb freudig erregt, „wahrhaftig, Du schenkst mir viel an diesem einen Morgen!“

„Denke so! Wenn Du Lily sehen wirst –“

„Sehen? Ist sie denn hier?“

„Nun freilich – bin ich selber doch ganz allein ihretwegen hier –“

„Du ihretwegen? Du willst sie hier ausbilden, ein tüchtiges Institut besuchen lassen?“

„Das weniger. Sie hat, mußt Du wissen, die Kinderschuhe ausgezogen und die Jahre der Ladies’ Academy hinter sich. War dazu in Boston – hab’ mir’s Geld genug kosten lassen, obwohl’s Unsinn ist. Ist eine complete Dame jetzt – meiner Seele, viel zu gut für diesen vermaledeiten Windhund, diesen lächelnden Mars aus einer Mythologie für Töchterschulen –“

„Ich bitte Dich, von wem redest Du denn jetzt, Vater?“


(Fortsetzung folgt.)





Im Kampf des Lenzes.
Ein Osterlied von Emil Rittershaus.
(Mit Abbildung S. 261.)


Nun weht der Wind aus Westen
So weich und wundermild,
Und an der Bäume Aesten
Die braune Knospe schwillt,

5
Und in den kahlen Zweigen,

Da flüstert’s heimlich sacht:
Aus winterlichem Schweigen
Ist jetzt der Wald erwacht.

O horch, mit hellen Klängen

10
Ein Ruf zum Wasserspiel!

Den Winter zu verdrängen,
Macht nun der Lenz mobil.
Fanfaren hat geblasen
Der Lenztrompeter Fink;

15
Da schwingt sich auf vom Rasen

Die muntre Lerche flink.

Sie jauchzt – und durch die Lande
Klingt’s wonneweckend hin –:
„O, komm, im Goldgewande,

20
Du Sonnenkönigin!“

Der Fink mit frohem Muthe,
Er mahnet: „Dran und drauf!“
Da steckt die Haselruthe
Den rothen Helmbusch auf.

25
Es fliegt aus blauen Räumen

Der Strahlen Lichtgeschoß.
Des Stromes Wogen schäumen,
Die lang’ das Eis umschloß.
Da springt von Hügelkronen

30
In’s Thal hinab der Quell;

Da nahen die Schwadronen
Der Wandervögel schnell.

Da macht mit grünen Lanzen
Die junge Saat sich Raum;

35
Aus finstren Felsenschanzen

Wagt sich der Winter kaum.
Vergeblich all sein Ringen!
Es zieht im Sonnenschein
Auf weißen Wolkenschwingen

40
Der stolze Sieger ein.


Mit Primeln und Ranunkeln
Begrüß’ ihn, Wies’ und Feld!
In Schönheit sollst du funkeln,
Du neuverjüngte Welt –

45
Und Sorgen, die dich pressen,

Und alles, alles Leid
Sollst du, o Herz, vergessen
In Frühlingsseligkeit. –

[261]

Ostermorgen. Von R. Beyschlag. Nach einem Kupferstiche im Verlage von J. Aumüller in München.

[262]
Maritime Briefe an eine Dame.
I.
(Schluß.)


Das Haus des Gesandten lag auf festem Lande, aber auch hoch über dem Grunde. Es bestand aus einem nicht sehr breiten Hauptgebäude, das die Wohnzimmer des Grafen, seinen Speisesaal und die Empfangszimmer enthielt und das mit einer hübschen Veranda versehen war. An diesen Haupttheil lehnten sich zwei Flügel, jeder etwa acht Zimmer fassend und (durch ein kleines für die Dienerschaft bestimmtes Hintergebäude geschlossen) mit der Front zusammen einen viereckigen, großen Hof bildend. Auch um diesen herum zog sich eine geräumige Veranda, auf die sich sämmtliche Thüren öffneten. Die Zimmer waren hoch und luftig, da das Dach selber die Decke bildete, wiesen aber weder Tapeten, noch überhaupt eine Bekleidung der Wände auf und entbehrten überhaupt jeder nennenswerthen Bequemlichkeit.

Müde und abgespannt und von der Sonne durchglüht, waren wir nach 4 Uhr an Ort und Stelle angelangt. Um 7 Uhr dinirten wir bei dem Gesandten, dessen liebenswürdiger Humor und seltene Gabe der anregenden Unterhaltung damals in vollster Blüthe stand und selbst unsere erschlafften Lebensgeister so lange galvanisirte, wie wir uns unter dem Zauber seiner Gesellschaft befanden. Kaum aber hatten wir uns von ihm verabschiedet, als der Rückschlag eintrat und Jeder nicht eilig genug sein Lager und die ersehnte Ruhe aufsuchen konnte.

Am nächsten Morgen war jede Müdigkeit bald abgeschüttelt, und wohlgemuth rüstete ich mich gleich nach dem Frühstück, in Begleitung mehrerer Cameraden, den uns zur Verfügung bleibenden Vormittag zu einem Streifzug durch die Residenz zu benutzen.

Ein Spaziergang durch die Straßen Bangkoks ist aber ebenso schwierig, ja fast noch schwieriger zu unternehmen, als in unserem Venedig, da, wie in der alten Lagunenstadt, aller Verkehr sich auf die Wasserstraßen concentrirt. Die Stadt wird durch den Menam, an dessen Ufern sie sich in einer Entfernung von über sechs Kilometern hinzieht, und durch seine Nebenarme und Canäle in zahlreiche Inselchen getheilt, und auf diesen stehen die Pfahlbauten, deren hohe Verandas man nur mittelst einer Treppe, respective einer Hühnersteige erklimmen kann, so dicht an einander gedrängt, daß man sich nur mühsam durch die überengen Gäßchen winden kann und froh ist, sich wieder in’s Boot flüchten zu dürfen. Der Menam selber, in dessen Wogen der Herzschlag des Verkehrs pulsirt, auf dem die Märkte abgehalten werden, jeder Transportweg für Menschen, Vieh und Waaren sich befindet, alle Läden und Werkstätten sich öffnen, kurz, auf dem ganz Bangkok lebt und webt, er bietet ein seltenes, belebtes und hochinteressantes Bild. Nur schwer und ungern reißt man sich von seinem Anblick los.

In der Mitte der Stadt erhebt sich der große, von einer hohen, mit Zinnen geschmückten und von Kanonen armirten Mauer umgebene Palast des ersten Königs. Er soll im Innern, auch in den Räumen, die wir nicht zu sehen bekamen, überaus prächtig sein. Daß seine Staats- und Empfangszimmer es waren, kann ich aus eigener Erfahrung constatiren – davon aber später! Der Palast des zweiten Königs giebt dem ebengenannten an Größe wenig nach und soll ihm auch im Innern annähernd gleichkommen. Außerdem stößt man aber noch auf zahlreiche, in chinesischem Stil außen mit hohen, schmalen, reichornamentirten Fronten und innen mit weiten, luftigen Sälen geschmückte Paläste der Großen des Reichs.

Ganz besonders schön und hervorragend aber sind die Tempel Bangkoks. Obgleich ebenfalls, wie alle buddhistischen Gebäude, in chinesischem Geschmack aufgeführt, überragen sie ihre Vorbilder um ein Bedeutendes an Pracht und Gefälligkeit der Formen. Zu dem erwähnten Baustil gesellt sich bei ihnen der mehr leichte, elegante der spitzen Obelisken, die, jedesmal eine Grabstätte bezeichnend, das Ganze sehr passend und dem Auge wohlgefällig verzieren und ihm ein noch reicheres, phantastischeres Gepräge aufdrücken. Am besten kommen diese Vorzüge bei dem „Wat-schin“, einem wirklich prachtvollen Gebäude, dessen ganzes Mauerwerk außerdem noch bis zu seiner höchsten Spitze, also bis zu einer Höhe von 150 Fuß, mit aus Muscheln und Porcellanstücken geformten Blumen geschmückt ist, zur Geltung. In einem andern Tempel, dem „Wallah-ya“, dessen Giebel, Thüren und Fenster in geschmackvollster Weise eingelegt sind, stießen wir auf einen 50 Fuß hohen, sitzenden Buddha. Der größte und vornehmste Tempel aber ist der „Wat-po“, in dem sich die Gräber der Könige befinden. Sie sind ebenfalls durch Obelisken angedeutet und erheben sich, unten ziemlich breit anfangend und oben ganz schlank sich zuspitzend, in erstaunlichen Mengen. In seinem Innern befindet sich die Kolossalstatue eines liegenden Buddha von 140 Fuß Länge und 40 Fuß Höhe. Außerdem gehört zum Wat-po, neben dieser Hauptgottheit, aber noch eine kleine Untergottheit, und zwar ein respectabler Alligator, welcher sich in einem besondern, sehr hübsch mit künstlichen Felsenpartien und Brücken etc. geschmückten Nebengebäude aufhielt. Gegen Erlegung der landesüblichen Münze, eines Tikal (etwa 2 Mark 50 Pfennig nach unserm Werth) zogen ihn seine Wärter und Priester aus dem Wasser. Es war ein tüchtiger Bursche von über 12 Fuß Länge und mit einem kolossalen Rachen begabt. Die ihm aufoctroyirte Heiligkeit schien übrigens seinen sündigen Gelüsten keinerlei Abbruch zu thun; denn erst am Abend des vorangegangenen Tages hatte er einen Wasser holenden Knaben gefaßt und zermalmt – eine Erzählung, die uns übrigens doch zu einem kleinen Bogensatz um Seine gefräßige Gottheit herum veranlaßte!

Unter diesen Streifereien war uns der Vormittag vergangen – verflogen müßte man sagen – und der große Moment der Audienz nahte. In Eile wurde Toilette gemacht, höchste Gala, und um drei Uhr standen wir bereit, „zu Hofe“ zu gehen. Wir brauchten auch nicht lange auf die Boote, die uns abholen sollten, zu warten. Außer den vielen enorm langen, zur Aufnahme der Gesandtenbegleitung bestimmten, erschienen noch zwei höchst prächtige und ebenso eigenthümliche für den Gesandten selber und – für den Brief unseres Königs Wilhelm an den Beherrscher Siams. Das erste von zwanzig Mann geruderte Fahrzeug, das vorn als Gallion die Panzerfigur eines Kriegers trug und hinten in einem Drachenschweif endigte, hatte in seiner Mitte ein reich vergoldetes Häuschen, in welchem der Gesandte mit seinem Legationsrath und dem Dolmetscher Platz nahm. Das zweite, für den königlichen Brief ausersehene und ebenfalls von zwanzig Mann geruderte Boot führte an Deck einen kleinen, prachtvoll verzierten Thurm, vor und hinter dem drei neunfache Schirme, das Zeichen der höchsten königlichen Würde, gehalten wurden. In diesen Thurm wurde das Schreiben gelegt und zwar in eine goldene Vase. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, voran, in vier Böten, unsere Musik und die Seesoldaten, dann die ganze Begleitung des Gesandten, hierauf der Brief (und zwar ganz allein, ohne jede profanirende Begleitung fahrend) und zuletzt der Gesandte selber. Da unsere Böte sämmtlich königlich siamesische waren, trugen alle Ruderer rothe Hemden und eben solche Mützen und machte sich der Anblick dieser vielen, leuchtenden Böte, zu denen noch von allen Seiten solche der Minister und hohen Würdenträger stießen, mit ihren glühenden Farben und buntem Schmuck höchst malerisch.

Von einundzwanzig Salutschüssen zu Ehren des Briefes begrüßt, landeten wir endlich an einer, übrigens höchst unbequemen, hölzernen Brücke und sahen uns nach Beförderungsmitteln für unser weiteres Fortkommen um. Alles stand indessen schon bereit. Der Gesandte erhielt einen europäischen Sessel, der auf Bambusstöcken stand und von sechs Eingeborenen getragen wurde, auch recht bequem sein mochte, aber so furchtbar wacklig aussah und derart über den Köpfen der braunen Kerle schwankte, daß wir jeder Augenblick erwarteten, den Gesandten herunter und auf die umherwogende Menge fliegen zu sehen. Für die Uebrigen standen zehn Pferde und wohl an dreißig Tragkissen bereit. Da man auf letzteren à la turque sitzen und gleichfalls hoch oben über den armen anderen Sterblichen schweben und schwanken mußte, so entsagte ich, in gewohnter Bescheidenheit, solchem hervorragenden Sitze und wählte mir eins der Pferde aus. Es waren nette, kleine Thiere, mit europäischen Sätteln, aber leider so kurzen Steigbügeln, daß meine Kniee, nachdem ich aufgesessen, beinahe die Brust berührten. Jeden Cavalleristen hätte eine Gänsehaut beim [263] Anblicke dieses „Sitzes“, überhaupt der ganzen Cavalcade, überlaufen, und nur die krampfhaft verzerrten Angstgesichter der „hoch über der Menschheit“ Schwebenden ließen mich die getroffene Wahl nicht bereuen. Unter dem größten Trubel beim Wiehern und Ausschlagen der Pferde, dem Gekreische geängstigter Kinder und dem nicht minder durchdringenden ihrer entsetzten Mütter, dem Gejohle und Gejuble der Menge setzte sich endlich der lange Zug, Seesoldaten und Musik wieder voran, bei den Klängen des Preußenmarsches in Bewegung.

Unser Weg führte uns an den Ställen der königlichen Elephanten vorbei und auf einen Platz, an dessen Ende der Palast gelegen und dessen ganze Länge von einer Abtheilung siamesischer Truppen eingenommen war. Diese Truppen präsentirten sich als das Bettelhafteste, das ich je im Leben gesehen. Sie waren in schlechte, gelbe, einheimische Kleider gehüllt, gingen barfuß und trugen alte, abgeschabte, spitze Hüte. Als Waffen führten sie theils Piken, theils landesübliche Säbel. Am seltsamsten aber erschien ein Trupp von etwa hundert Mann, von denen jeder zwei alte, furchtbar verrostete Cavalleriesäbel führte und zwar ohne Koppel und ohne Scheide, unter jedem Arme je einen tragend. Am Endpunkte dieses seltsamem, barocken Spaliers hielten fünf Kriegselephanten; auf ihren Rücken Siamesen in rothen Anzügen und mit Speeren bewaffnet. Diese Prachtthiere, an deren Anblick sich das Auge erholen konnte, standen dem Eingange des Palastes gegenüber, und in diesen selbst traten wir nunmehr ein.

Der Hof, der uns zuerst aufnahm, war ungewöhnlich geräumig. Eine Compagnie europäisch uniformirter Siamesen befand sich auch dort, uns zu Ehren, aufmarschirt. Ihre Uniformen waren abgetragene und äußerst schmutzige holländische, und in einem seltsamen Contraste zu seinen Untergebenen stand der diese Compagnie befehligende Officier. Der braune „Stabsofficier“ war in eine nagelneue, höchst elegante englische Majorsuniform gezwängt, trug weite weiße Hosen, war aber ohne jede Bewaffnung. Der anfangs meiner Zeilen erwähnten Landesmode gemäß, fehlte auch seinem Glanze das Schuhwerk. Ihre Griffe machte übrigens diese Elitetruppe gar nicht so übel.

Inmitten des Hofes erhob sich ein kleines Gebäude, in das wir aufgefordert wurden einzutreten, und in dem sich der Minister des Auswärtigen, Pack-ram, befand, der uns zuvorkommend, aber formell empfing und uns ersuchte, eine kleine Weile zu verziehen. Da wir schon vorbereitet waren und wußten, daß sich diese „kleine Weile“ auf eine Stunde mindestens, der siamesischen gestrengen Hofsitte gemäß, hinziehen würde, so beschlossen wir, diese Wartezeit dazu zu benutzen, den weißen Elephanten, der ganz nahebei ein eigenes, blauangestrichenes Haus bewohnte, in Augenschein zu nehmen. Wir fanden denn diesen berühmten Weißen wenig heller, als die anderen seines Geschlechts, seine graue Taille spielte nur mehr in’s Röthliche, auch hatte er rothe Augen, wie ein Albino. Uebrigens war er ein schönes Thier und wurde von den frommen Landesbewohnern als besonders heilig verehrt. Aber auch dieser Heilige hatte, ebenso wie der große Buddha im Tempel Wat-po, dicht neben sich einen Concurrenten in der ihm gezollten Anbetung und zwar in der Person eines ebenfalls weißen und ebenfalls heiligen – Affen. Wenn sein großer Nebenmann aber ein schönes, gutmüthig dreinschauendes Geschöpf war, so kann man das weniger von diesem heiligen Pavian behaupten, der, ungeachtet seiner unschuldigen Farbe, ein ganz besonders bösartiges und wenig Zutrauen einflößendes Ansehen hatte.

Wir waren kaum in den ersten Hof zurückgekehrt, als wir einen Höllenlärm vernahmen und erfuhren, daß der König im Begriff sei, sich mit seinem Hofstaat in den großen Audienzsaal zu begeben. Gleich darauf wurden wir denn auch „befohlen“ und führte man uns zunächst in einen zweiten, inneren Hof, in dem abermals eine Compagnie europäisch uniformirter Soldaten und fünf weitere Kriegselephanten Spalier bildeten, durch das hindurch wir, begleitet von über fünfzig einheimischen Trommlern und Pfeifern, die mit Ausübung ihrer Kunst uns beinahe das Trommelfell sprengten, der großen Audienzhalle zuschritten. An ihrer Eingangsthür tobte uns wiederum ein ganzes Corps von rothgekleideten Musikanten einen Willkomm entgegen mit ihren blechernen, messingenen und kupfernen Instrumenten, mit dem verglichen der vorangegangene Lärm als sanftes Säuseln erschien. Halb betäubt, entrannen wir endlich dieser musikalischen Scylla und Charybdis, erstiegen die Stufen der Halle, schritten durch ihre offene Thür und – sahen uns in einen Raum versetzt und einer Scene gegenüber, die uns mit Staunen, ja, daß ich es gestehe, mit Bewunderung erfüllte.

Die ganze mächtige Halle mit ihren zahlreichen schlanken Säulen, die, wie die ganzen Wände ringsumher, reich vergoldet waren, ihrer phantastisch geformten und verzierten Decke, die, gleichfalls auf das Verschwenderischste vergoldet, mächtig in die Höhe strebte und mittelst eines seitwärts durch grüne Scheiben fallenden Lichtes höchst eigenthümlich und wirkungsvoll beleuchtet war – alles das bot einen wirklich prachtvollen, imposanten Anblick dar. Die Halle bildete ein längliches Viereck, dessen schmale Seiten von europäischen Sophas und Tischen eingenommen wurden, während ihre Wände rechts die Bilder des Kaisers und der Kaiserin von Frankreich, links die einiger Engländer trugen. In der Mitte der langen Wand, gerade der Eingangsthür gegenüber, erhob sich in einer Art von Nische unter einem Baldachin und auf einer Erhöhung, zu der von beiden Seiten je eine Treppe führte, der über und über vergoldete Thronsessel. Auf ihm, in seinen goldstoffenen Gewändern vom Hintergrund kaum unterscheidbar, saß König Maha-Mongkut. Erst eine Bewegung seiner, der schon mehrfach erwähnten Etikette gemäß vollkommen nackten, dunklen Beine ließ uns ein lebendes Wesen auf dem Throne erkennen. Ein zweiter Blick zeigte uns einen wohlgebildeten, kräftigen Mann in seinen besten Jahren, gekleidet in ein Gewand, dessen Goldbrocat mit Diamanten und edlen Steinen bedeckt war und dessen Haupt ein schwarzes Sammetbarett mit Diamantenguirlande und Reiherbusch zierte. Um ihn herum, zu den Stufen seines Thrones, lag seine – Amazonengarde, leider aber durch ein goldenes Gitter unseren Augen entzogen. Vergebens richteten wir gerade auf diesen Punkt den geübten Seemannsblick; außer einigen über das Gitter hinüberragenden Lanzenspitzen war nichts zu erspähen, und die Behauptungen einiger windigen Cameraden, so und so viel Reize durch die neidische Schutzmauer hindurch erschaut zu haben, sind entschieden in das Reich der Fabel und der blassen Renommage zu verweisen. Nein, die schönen Amazonen, so vernichtend und verheerend sie sich sonst den armen verlorenen Männern entgegenstürzen mögen, uns schonten sie gnädig und setzten uns nicht einmal dem gefährlichen Feuer ihrer Augen aus.

Zu beiden Seiten des Thronhimmels lagen auf rothsammetnen Kissen, den goldenen Spucknapf und die Beteldose nebst Kohlenbecken von gleichem Metall vor sich, in ihren kostbarsten, mit edlen Steinen geschmückten Gewändern die Prinzen, Minister und Großen des Reichs, wohl gegen dreihundert an der Zahl. Die beiden Wandseiten rechts und links vom Eingang wurden von einer etwa hundertfünfzig Mann starken reichgekleideten und mit Musketen, Pistolen, Lanzen und Säbeln bewaffneten Leibgarde eingenommen.

In der Mitte des großen Raumes, unmittelbar hinter einem ganz niedrigen Tischchen, das in einer goldenen Vase den Brief des Königs trug, lag ein sammetnes Kissen für den Gesandten und neben diesem wieder eine Anzahl ähnlicher für uns bestimmter. Nachdem wir nun, Graf Eulenburg voran, bis zu dieser ominösen Sitzangelegenheit gelangt waren, machten wir Halt und Jeder seine tiefe Verbeugung. Der Gesandte trat vor, entnahm der Vase das Schreiben unseres Königs (nebenbei gesagt, eigentlich nur sein Accreditiv, aber von König Wilhelm eigenhändig an den Beherrscher Siams gerichtet) und verlas dann seine Anrede in englischer Sprache. Während dessen hatte auch der König Maha-Mongkut sein Antwortschreiben aus einer neben ihm stehenden Vase gezogen, und als der Gesandte geendet hatte und ihm entgegentrat, stieg er die Stufen des Thrones herab und der Austausch der Briefe erfolgte. Als der Graf, rückwärts schreitend, wieder bis zu seinem Kissen gelangt war, war auch der große Moment des Niedersitzens gekommen, ein Moment, dem die Meisten unter uns mit einigem Bangen entgegensahen. Erstens nämlich mußte die Procedur, dem siamesischen Hofusus gemäß, von uns Allen genau im nämlichen Moment ausgeführt werden, eine Leistung der Präcision, die an und für sich schon, noch dazu ohne vorhergegangene Generalprobe, nicht zu den leichtesten gehörte. Und dann – wir waren in Gala! Was aber ein schnelles Niedersitzen in Gala-Inexpressibles (Pardon!) besagen will, ach, meine Gnädige, das zu ermessen ist nur den armen Sterblichen vergönnt, die, in sie hineingezwängt, je diesem Mode-Moloch haben opfern müssen. Wie wir glücklich platt auf die Erde und, mit gekreuzten Beinen noch dazu, auf unsere Kissen gelangt sind, kann ich noch heute nicht begreifen, das Factum muß aber constatirt werden! Wir „plumpten“ mit echt [264] preußischer Accuratesse, wie auf Commando, nieder und einige halblaute „Himmel, sie krachen schon“ oder „Herr, legen Sie mir Ihre Beine nicht in den Schooß!“ waren die einzigen Anzeichen, daß diese Art der „Besitzergreifung“ eine uns nicht alltägliche und süßgewohnte war. Daß ewige Schleppsäbelgriffe den Vor-, respective Nebenmännern empfindlich in die Rücken oder Weichen gebohrt und ewige Hüte plattgedrückt wurden, rechne ich natürlich nicht zu den Unglücksfällen. Wir saßen doch!

Und nun verlas der König seine Antwort, leider in siamesischer Sprache, sodaß ich über ihren staatsmännischen Werth kein ganz competentes Urtheil haben kann; ich weiß nur, daß die verlesende Stimme kräftig und wohllautend war. Dann folgten Fragen allgemeinen Inhalts, z. B. ob Preußen im Kriege mit Frankreich sei, was man ja dazumal noch mit einem vernehmlichen „Nein“ beantworten konnte; ferner, wie viel Schiffe die preußische Marine habe, eine schon heiklere Frage, da die Anzahl derselben im gesegneten Jahre 1861 noch keine imposant wirkende war. Der Gesandte nannte deshalb auch – mit jenem richtigen Seherblicke, wie er sich in großen Momenten entschlossenen Männern mitunter aufthut – die Anzahl der Schiffe, die wir etwa jetzt so stolz sind, unser eigen zu nennen. Diese Unterhaltung ging übrigens nicht direct durch den Dolmetscher, sondern der König wandte sich zuerst an einen seiner Großwürdenträger, den sogenannten „Sprecher“, Dieser wiederholte das Gesagte dem Dolmetscher und durch Jenen erst gelangte es an den Gesandten, während dessen Antwort denselben Weg zurückging. Nach einigen Hin- und Herreden griff der König zum Säbel und erhob sich, worauf auch wir natürlich sämmtlich aufsprangen.

Die ganze Zeit über war die Haltung des Königs eine durchaus stattliche und angemessene gewesen, wie überhaupt die ganze Versammlung nur den Eindruck bestärkte, den wir gleich beim Betreten der Halle empfangen. Die fast majestätische Würde des Königs ließ uns seine freundlich entlassende Handbewegung mit wirklich ehrerbietigen Verbeugungen beantworten.

In den Hof zurückgetreten, wurden wir zu einem kleinen Nebengebäude und in ihm wieder eine enge, schmale Treppe hinauf in ein nicht sehr großes, europäisch eingerichtetes Zimmer geführt. Hier stand eine lange, gedeckte Tafel mit vielen silbernen Schüsseln besetzt. Es wurde uns ein europäisches Diner servirt, bei dem der Minister des Auswärtigen die Honneurs machte. Beim Champagner brachte Graf Eulenburg das Wohl des Königs von Siam aus, in das wir mit donnerndem Hoch einstimmten.

Nach dem Diner wurden wir zu einem anderen, eleganteren Gebäude geleitet, und dort, in seinen Wohnzimmern, empfing uns nun König Maha-Mongkut „in Privataudienz“. Bei unserm Eintritte stand er unweit der Thür in seinem gewöhnlichen, bequemen Hausanzuge. Eine blaue Jacke, seidener Sarong, eine kleine schottische Mütze und – tadellose Schuhe und Strümpfe bildeten diese Negligétoilette. Von dem Gesandten ihm namentlich vorgestellt, wurde Jeder von uns mit einem Händedrucke beehrt. Dann führte er uns zu einem Tischchen, auf dem schon eingeschenkte kleine Sherrygläser standen, und reichte sie uns einem Jeden höchst eigenhändig. Er trank auf das Wohl unseres Königs, und als wir in drei urkräftigen Hurrahs Bescheid thaten, strengten wir unsere Lungen absonderlich an, da uns durch den Minister (dolmetschlicher Weise) verrathen worden war, Seine Majestät habe unser vorheriges Hochrufen zu seinen Ehren gehört und nachdem sein Glaube, wir hätten aus – Hunger so geschrieen, berichtigt worden war, ein ungemeines Wohlgefallen an dieser europäischen Sitte gefunden. Er lächelte auch jetzt höchst befriedigt und händigte dann Jedem Allerhöchstselbst eine Cigarre ein.

Ob des Königs Nachfolger, Somdetsch-Tschanfa, mit unter den vier der neunundvierzig Kinder war, die an jenem Tage den Vater umgaben und – nebenbei gesagt – das Netteste und Artigste waren, was man sich nur denken kann, vermag ich nicht zu sagen. Unsere wirklich ganz belebte, gemüthliche Unterhaltung mit dem Herrscher währte eine geraume Zeit. Zuletzt wurde er gefragt, ob unsere Musik sich hören lassen dürfe, was er eifrigst bejahte. Kaum erklangen die ersten Töne, als er auch schleunigst hinabging und, hart an den Instrumenten stehend, ein Stück nach dem andern sich vorspielen ließ. Endlich verabschiedete er uns ungemein gnädig.

Und während ich diese Zeilen schreibe, fällt mir ein, daß die mir damals gespendete Cigarre noch immer in meinem Besitze ist; ich hole sie hervor und betrachte das braune Röllchen mit nachdenksamem Blicke. Dieses elende Ding besteht noch, und ihr freundlicher Geber, König Maha-Mongkut, der kräftige, einsichtsvolle Herrscher, der Mann, der redlich bestrebt war, seinem Volke möglichst zu nützen, indem er dem Uebermuthe der Großen thunlichst steuerte und dem Handel und Wandel die Thore öffnete, der unumschränkte Gebieter über so Vieler Leben und Sterben – ist längst zu Asche geworden. Memento mori!

Sieben Uhr Abends erreichten wir die Gesandtschaft wieder.

So wäre ich denn am Schluß des ersten Capitels meines kleinen Reisebuches, des Capitels „Bangkok“, angelangt und könnte mich, unter den üblichen und in meinem besonderen Fall auch ganz wohlangebrachten Entschuldigungen der ungewandten Feder verabschieden. Oder sollte ich Sie, meine gütige Freundin, deren Nachsicht ich ohnehin schon gemißbraucht, etwa noch mit statistischen Tabellen über Größe und Einwohnerzahl des Landes und seiner einzelnen Provinzen, oder mit detaillirten Marktberichten über seine Naturproducte und Industrie-Erzeugnisse langweilen? Fürchten Sie nichts! Nur von meinem kleinen Standpunkt aus sollten Sie das Land überblicken, nur mit meinen Augen es sehen, und ich bin für diese Dinge ziemlich – blind gewesen. Von Ausfuhrartikeln sind mir nur das prachtvolle Teakholz, das unsere Werften viel zu Schiffsbauten verwenden, der Reis und die Gewürze aufgefallen und diese auch wohl nur, weil sie mein, des eifrigen Seemanns und passionirten Reisessers, specielles Interesse erregten. Im Gebiete der Statistik aber ist mir die einzige Thatsache im Gedächtniß geblieben, daß Siam auf einem Flächengebiet von über 900,000 Quadrat-Kilometer etwa 6 Millionen Einwohner aufzuweisen hat. Das meine ganze Gelehrsamkeit in diesem Punkte!

Vielleicht führe ich Sie, meine Gnädige, das nächste Mal wieder nach dem glühenden Asien, vielleicht aber auch in kühlere Regionen. Weiß ich es doch selbst noch nicht! Wohin es aber auch sei, folgen müssen Sie mir nun blindlings und ohne Murren; haben Sie sich doch selber in meinen Erzählungen Plan und System von vornherein verbeten. Auch in diesem Befehl, wie immer, ganz – Dame!

O weh! das frevle Wort ist unaufhaltsam der Feder entschlüpft, fußfällig aber bitte ich deshalb um Vergebung und, mich selber strafend, verbanne ich mich für heute von Ihrem Angesicht.

Wollten Sie solcher Reue und Buße gegenüber ungerührt bleiben? Sie vermögen es nicht. Ich kenne Ihr nachsichtiges Herz. Ich sehe Ihr schönes Auge mir in Gnaden leuchten; ich höre Ihr vergebendes „Absolvo te!“, und freudig dankbar die Friedensbotschaft entgegennehmend, durchfliege ich, entlasteten Gemüthes, weiter die fernen Meere, als meiner gnädigen Freundin

allezeit getreuester Verehrer     
J. v. A.          ³




Friedrich Hecker.

Nun ist der alte Volkstribun von Achtundvierzig, den das Volk in unzähligen Liedern verherrlichte, im fernen Amerika gestorben. Der unerbittliche Tod hat das schwache Fähnlein deutscher Republikaner in diesem Jahre stark gelichtet; dem Ruge, dem Heinzen ist am 24. März auch Friedrich Hecker zu der großen Armee gefolgt. Nicht in Amt und Würden, wie seine früheren Gesinnungsgenossen, die sich mit der neuen Ordnung der Dinge versöhnt hatten, hat er auf heimischem Boden sein mühevolles Leben beschlossen; er starb in freiwilliger Verbannung als schlichter Privatmann, weil er an den Principien der radicalen Freiheit treu festhielt und den alten Groll gegen das monarchische Wesen beharrlich im Herzen trug. Aber auch alle diejenigen, welche mit uns in dem constitutionellen Kaiserreich das Heil unseres Volkes erblicken, werden ihm schwerlich aus diesem Republikanismus einen Vorwurf machen können; denn das ideale Ziel, welches als ein leitender Stern der Entwickelung der Völker voranleuchtet, muß stets höher dastehen,

[265] als das wirklich Erreichbare; denn stets erreichen wir weniger, als wir erstreben, und um unsere Freiheit wäre es heute ohne Zweifel schlimm bestellt, wenn nicht einst der donnernde Ruf der republikanischen Kämpfer unser Vaterland durchhallt hätte. Von diesem Standpunkte aus würdigen wir heute den ehemalige Liebling des deutschen Volkes, und scheuen uns nicht, wiewohl unser altkluges Geschlecht in der Zeit der Denkmalswuth dem Vertreter des „naiven Republikanismus“ keine Standsäule errichten wird, einen Immortellenkranz dankbarer Erinnerung auf Hecker's frisches Grab niederzulegen.

Friedrich Hecker wurde am 28. September 1811 zu Eichtersheim in Baden geboren, in dem Lande, welches lange Zeit hindurch für die Wiege deutscher Freiheitsbestrebungen galt. Auf der Hochschule zu Heidelberg bildete er sich zur juristischen Laufbahn heran und wurde schon im Jahre 1842 in die badische Kammer gewählt. Hier verdiente er sich die ersten Sporen, indem er das reactionäre Ministerium Blittersdorff stürzen half; in derselben Kammer protestirte er auch zuerst gegen Dänemarks Uebergriffe in der schleswig-holsteinischen Frage, und – wohlgemerkt! – war diese seine Rede die erste öffentliche Stimme in Deutschland, die sich für die Wiedervereinigung der Herzogthümer vernehmen ließ. In Süddeutschland hatte schon damals sein Name einen guten Klang; populär in ganz Deutschand wurde er aber erst im Jahre 1845, als er während seines vorübergehenden Aufenthaltes in Berlin durch die preußische Regierung aus Preußen ausgewiesen wurde, welche bureaukratische Maßregel allgemeines Staunen und allgemeine Entrüstung hervorrief. Bald aber sollte er auch von seinen näheren Gesinnungsgenossen Spott und Hohn genug ernten. Als im Jahre 1846 die letzte große Hungersnoth in Deutschland hereingebrochen war, stellte er in der badischen Kammer den Antrag, jeder wohlhabende Mann solle einige arme Arbeiter an seinen Tisch nehmen. Dieser menschenfreundliche, aber unausführbare Vorschlag charakterisirte ihn als einen Anhänger der socialistischen Partei, und bis auf unsere Tage ist Hecker hauptsächlich in Folge dessen als Socialdemokrat verspottet und verschrieen worden. Wahr ist es, daß seine Jugendpläne ein wenig von socialistischen Ideen angehaucht waren, aber von diesem feinem Socialismus bis zur wirklichen Socialdemokratie ist ein weiter Weg, den er niemals zurückgelegt hat. Als echter Demokrat bekämpfte er vielmehr im spätere Alter die Hirngespinnste der von Lassalle begründeten anarchischen Partei.

Friedrich Hecker.
Nach einer photogr. Aufnahme gelegentlich seines letzten Aufenthalt in Deutschland

In erster Linie war Hecker ein reiner Republikaner, und als solcher handelte er auch in der politischen Sturm- und Drangperiode. So stellte er in dem Vorparlament den ultraradicalen Antrag. „Das Vorparlament möge sich in Permanenz erklären“, dessen Annahme allerdings der deutschen Erhebung einen entschiedeneren Charakter verliehen hätte. Als man aber seinen Antrag zurückwies, und als er sogar bei der Wahl in den Fünfziger-Ausschuß durchfiel, zog er sich scheinbar von der ganzen Bewegung zurück. Jedoch schon am 12. April 1848 tauchte er in Konstanz wieder auf und proclamirte die bewaffnete Volkserhebung für eine Freistaatsverfassung. Gustav Struve, sammelte er sofort die Freischaaren, und damals entstand auch das bekannte Hecker-Lied:

„Maikäfer flieg’
Der Hecker zieht in Krieg.
Der Struve zieht in's Oberland
Und macht die Republik bekannt.“

Aber die Erhebung war verfrüht. Am 20. April stießen die Freischaaren auf die badischen Regierungstruppen. Zunächst erfolgte auf der Brücke von Kandern eine Unterredung der beiden Führer, Hecker’s und des Generallieutenants Friedrich von Gagern, nach welcher bekanntlich Gagern durch einige Schüsse aus dem nahegelegenen Walde getödtet wurde. Hecker hatte zwar keinen Antheil an diesem Frevel, aber die ganze Schwere der Strafe für die Indisciplin seiner Freischaaren traf ihn vor Allem. Nach einem kurzen Gefecht wurde sein Freicorps gesprengt, und Hecker flüchtete sich nach der Schweiz, während sowohl die badische Landeskammer wie das Parlament ihn für einen Hochverräther erklärten. Aber die Sympathie des Volkes blieb ihm erhalten, und nun sang man herausfordernd ein anderes Hecker-Lied:

„Wenn man euch thut fragen,
was macht Hecker doch?
Könnt ihr ihnen sagen. Hecker hänget hoch!
Aber nicht am Galgen, nicht an einem Strick
Sondern an der Spitze uns’rer Republik.“

Inzwischen wurde Muttenz in der Schweiz, wo Hecker nunmehr verweilte und seinen „Volksfreund“ redigirte, ein wahrer Wallfahrtsort für die deutschen Republikaner; auch sein Wahlbezirk Thiengen blieb ihm treu und wählte ihn wieder, die Wahl des Hochverräthers wurde aber als ungültig cassirt, und Hecker, an der Sache der Freiheit verzweifelnd, wanderte nach Amerika aus. Noch einmal rief ihn die badische Erhebung im Jahre 1849 in die alte Heimath zurück. In Begleitung einiger amerikanischer Officiere kam er jedoch zu spät auf den Kriegsschauplatz und beobachtete von Straßburg aus nur noch das Todeszucken der deutschen Revolution. Als er sich zum zweiten Male in Havre nach Amerika einschiffte, schrieb er an einen Freund in Deutschland:

„Mit bitterem Gefühle nehme ich den umgekehrten Griffel und wische zwölf Jahre des redlichen rastlosen Wirkens und Kämpfens aus den Tafeln meines Lebens, um mit achtunddreißig Jahren von vornen zu beginnen und in dem kleinen Kreise eines westlichen Bauern zu wirken und zu schaffen. Das Scheiden wird mir aber leichter, wenn ich das, was ich seit meiner Ankunft auf dem Continent erfahren habe, zusammen nehme. Ich selbst von der Polizei als Vagabund behandelt und fortgejagt, und so lange ich geduldet wurde, nichts hörend, als lediglich Anklagen des Einen gegen den Andern, bin dieses widrig wüsten Treibens, dieser vollkommenen Polizeistaaten so entsetzlich müde, daß ich den Tag glücklich preise, an welchem ich wieder meine Art nehmen und das Waldland klären kann.“

In Deutschland war er inzwischen noch lange der Abgott des Volkes; zwar konnte die Väter nicht mehr ihre Sohne auf den Händen in die Höhe heben und, auf den redenden Tribunen hinweisend, [266] zu den Knaben sagen. „Das ist der Hecker!“, zwar fahndete die Polizei auf den breiten Heckerhut mit der rothen Gocklerfeder und ließ die Heckerbärte rasiren, aber lange noch erhielt sich im Volke der Spottruf gegen die Polizei „Der Hecker soll leben!“ Und ein humoristischer Sagenkreis bildete sich in der düsteren Reaktionszeit um diesen verpönten Ruf. So erzählt man, daß einmal ein Handwerksbursche bei Constanz in den Bodensee gefallen war, während zwei Gensd’armen am Ufer auf- und abgingen. Auf die Hülferufe des Ertrinkenden achteten die Biedermänner nicht. Da griff der Handwerksbursche zu einem Radicalmittel und rief aus Leibeskräften. „Der Hecker soll leben!“ Flugs sprangen die Polizisten in’s Wasser und retteten den Hochverräther, um ihn zu verhaften.

In der neuen freien Heimath erfüllte Hecker mit Ruhe seine Bürgerpflicht, und wie er dort das Waldland klärte und auf seiner Farm in der Nähe von Summerfield in dem Staate Illinois fleißig hinter dem Pfluge ging, das Alles hat schon früher die „Gartenlaube“ ausführlich ihren Lesern berichtet. (Vergl. Jahrg. 1872, Nr. 24) Als aber in dem Secessionskriege die Sache der Freiheit bedroht wurde, da griff auch Hecker zum Schwert, und mit seinem alten Kampfgenossen Sigel führte er dem General Fremont ein Regiment zu.

Er wußte würdig seine Stellung in diesem Freiheitskriege zu behaupten, und schwere Wunden trug er in der Schlacht bei Chancellorsville davon. In den Jahren des Friedens war er dagegen ein eifersüchtiger Hüter der inneren Freiheit der Union; er stand vor Allem auf den Schanzen, wo es galt, die andrängende Fluth der Römlinge zurückzudämmen, und ein Abschnitt aus dem letzten Briefe Hecker’s an den unvergeßlichen Begründer unseres Blattes, seinen treuen persönlichen Freund, wird ohne Zweifel für unsere Leser diesseits und jenseits „des großen Teiches“ von Interesse sein:

„Sie haben wohl gelesen lieber Freund,“ schreibt er an Ernst Keil, „wie die Schwarzen unseren Freischulen den Krieg erklärt haben, und welchen Kampf wir gegen dieselben zu kämpfen hatten und noch kämpfen. Anfangs herrschte hier in der Nation eine bodenlose Gleichgültigkeit. Die Amerikaner sind eben wie die Franzosen, was außer Amerika liegt, ist ihnen total fremd. Von der Organisation, Einheit, Macht und dem Einfluß des Vaticans haben sie der weitaus größten Mehrzahl nach auch nicht den blassesten Begriff, besonders da in ihrer Geschichte keine Kämpfe mit Rom, wie in der alten Welt, verzeichnet sind. Endlich ist das Volk aus seiner Indifferenz aufgerüttelt worden, hat die Gefahr wenigstens theilweise begriffen und ist zu seinem Freischulsystem gestanden. Im Staate New-Jersey haben trotz allen Anstrengungen von der Kanzel herab, im Beichtstuhle und in den Familien die Schwarzen es doch zu nicht mehr als 2000 Stimmen bei einem katholischen Votum von über 20,000 gebracht, sind also ferm gehauen worden. Es ist auch das Kriegsgeschrei gegen die ‚gottlosen confessionslosen Freischulen‘ im Augenblicke schon mehr verstummt, und scheint die Losung: „eifrige stille Wühlerei“ ausgegeben zu sein. Daß die schwarze Wühlerei sich auf Seite der demokratischen Geldverwässerer geschlagen hat, ist nicht zu verwundern. Sie wissen recht gut, diese Pfaffen, daß ihr Weizen nie besser blüht und trägt, als in Zeiten allgemeiner Calamität, Zusammenbruchs und Bankerotts; darum sind sie für Nationalbankerott, besonders da sie hier gewaltiges Vermögen sturmsicher angelegt haben.

Seit Jahr und Tag habe ich gegen diese finstere Bande auf der Bresche gestanden und fast ohne Beistand gekämpft und habe nun die Befriedigung, nicht erfolglos mein canonisches kirchenrechtliches und kirchengeschichtliches, altes und nettes Rüstzeug hervorgeholt zu haben.

Glauben Sie mir, lieber Freund, hier ist die Gefahr größer als drüben, da man hier die republikanische Freiheit für finstere Zwecke gebraucht und zur Erwürgung der Freiheit mißbraucht.

Bald haben wir hier mehr Klöster, Congregationen und Vereine, als Italien und Frankreich zusammen und das steuerfreie Vermogen der Vaticanler wächst in mächtigen Proportionen; Geld aber ist Macht. Wenn Sie Sadlide’s ‚Catholic Directory, New York 1875‘ durchgehen würden Sie erstaunen, welche Macht Rom hier bereits besitzt, und das Buch des Redemptoristen-Vater Michael Müller, ‚Public school education, New York 1875‘, würde Ihnen einen Begriff geben, mit welcher maßlosen Frechheit und verlogener Unverschämtheit die Schwarzen bereits hier auftreten.“

Aber in der neuen Welt, in der er Glück und Ruhe fand, wurde er keineswegs seiner alten Heimath untreu. Für die deutsche Sache schlug stets sein Herz. Er vertrat mit Nachdruck die Interessen des Deutschthums in den Vereinigten Staaten, und mit Freuden begrüßte er 1871 in seiner zu St. Louis gehaltenen großen und glanzvollen Rede das neuerstandene Reich; wenn er aber mit der inneren Gestaltung desselben sich nicht zufrieden gab, wenn sich sein Freiheitsdrang in dem Rahmen unserer Gesetze zu stark beengt fühlte, wer konnte gerade ihm das verargen; war er denn nicht ein „naiver Republikaner“?

Selbst der Besuch, den Hecker seiner alten Heimath im Jahre 1873 (vergl. „Gartenlaube“ Jahrg. 1873, S. 17, 382, 526 u. 659) abstattete, konnte ihn nicht versöhnen. Ja, er ging wieder über das Meer, nachdem er mit der Polizei, seiner alten Feindin, in einen leichten Conflict gerathen war. Als Hecker nämlich in Frankfurt am Main im „Brüsseler Hofe“ abgestiegen, beabsichtigte die „Deutsche Volkspartei“ ihm einen Fackelzug zu bringen. Schon wurden die Fackeln hergeschafft – aber ebenso schnell von der Polizei confiscirt, Da zog die Menge ohne Lampions vor den „Brüsseler Hof“, doch Hecker, der nichts Gutes ahnte, zeigte sich nicht. Endlich trat er, durch eine Deputation bewogen, vor das Portal. Aber in demselben Augenblicke rief ein Polizeicommissar mit heiserer Stimme: „Hier darf keine Volksversammlung abgehalten werden; im Namen des Gesetzes fordere ich alle Anwesenden auf, aus einander zu gehen.“ Ohne ein Wort gesprochen zu haben, zog sich der alte Achtundvierziger zurück; Deutschland war kein Boden mehr für seine Bestrebungen. Aber drüben nahm er regen Antheil an der weiteren Entwickelung des Reichs und vor Allem an den Fortschritten der deutschen Wissenschaft und den Werken deutscher Kunst. Nun bringt der elektrische Funke die Nachricht von seinem Tode, die Nachricht, die ihn, den Halbvergessenen, noch einmal lebhafter in die Erinnerung unseres Volkes zurückruft.

So schroff er auch unserem heutigen Streben, da wir uns in anderen Bahnen bewegen gegenüberstand, eines müssen wir wiederholen: im Herzen des deutschen Volkes verdient er ein dankbares Andenken; denn sein Streben war auf die Größe und Freiheit des Vaterlandes gerichtet, und sein Streben war edel und gut!




Die Selbstverwaltung Berlins.

Ein Wort der Abwehr gegen ministerielle Angriffe.
Von Franz Duncker.

Eine genauere Darlegung der Selbstverwaltung Berlins ist gewiß jeder Zeit von allgemeinstem Interesse. Wie viel mehr in einem Augenblicke, wo der höchste Beamte des deutschen Reiches, Fürst Bismarck, die Anklage gegen dieses Gemeinwesen geschleudert hat: die mit dem Einschätzungswesen betrauten Bürger der Stadt ließen sich durch politische Abneigungen zu falsch gegriffenen Abschätzungen hinreißen, das Finanzsystem Berlins sei im höchsten Maße reformbedürftig und entspreche den Aufgaben, die einer so großen Verwaltung gestellt werden müssen, in keiner Weise.

Ich hoffe durch die Schilderung, welche ich hier von dem Wesen der Berliner Communalverwaltung in großen Zügen zu geben versuche, die Leser der „Gartenlaube“ freilich für eine der Auffassung des mächtigen Reichskanzlers direct entgegenstehende Ueberzeugung zu gewinnen. Ich folge bei derselben dem trefflichen, in alle Details eingehenden Verwaltungsbericht des Berliner Magistrats über die Gemeindeverwaltung in den Jahren 1861 bis 1876, der in zwei stattlichen Bänden vor mir liegt; denn gerade in dieser Zeit hat die Entwickelung Berlins den höchsten Aufschwung genommen und haben zugleich in der Gemeindeverwaltung selbst die bahnbrechendsten Reformen stattgefunden. Ueberall aber, wo es erforderlich scheint und mir Material vorliegt, werde ich die Darstellung bis zur Gegenwart herabführen und dieselbe ebenso für die Vergangenheit hier und da aus meinen Erinnerungen als Berliner Kind ergänzen.

Berlin ist das größte Gemeinwesen des deutschen Reiches, welches im Wesentlichen seine Angelegenheiten durch die freie Thätigkeit seiner Bürger, und nur insoweit diese nicht ausreicht, durch besoldete Beamte verwaltet, diese aber werden durch die eigenen Organe der Bürgerschaft gewählt und für die eigentlich regierenden Stellungen im Magistrat nur auf sechs- bis zwölfjährige [267] Amtsperioden berufen. Dabei übertrifft Berlin durch seine Einwohnerzahl so manchen Kleinstaat, der sich den weitläufigen Apparat eines Fürstenhofes, eines Ministeriums und einer Volksvertretung, manchmal auch diese noch zweigeteilt, gestatten kann, aber mit den Zahlen seines Budgets von ungefähr 42 Millionen Mark in der Einnahme und Ausgabe übertrifft Berlin heutzutage bereits dasjenige der schweizerischen Eidgenossenschaft.

Die einer Stadtverwaltung gestellte „ideale Aufgabe auch nur annähernd zu erreichen, ist um so schwieriger, je plötzlicher die Entwickelung zur Großstadt ein Gemeinwesen überrascht“.

Diese in dem Vorworte des Berliner Magistratsberichtes enthaltene Bemerkung ist, wenn irgendwo, gerade für Berlin selbst zutreffend; denn das Wachsen Berlins in den letzten fünfzig Jahren ist ein geradezu gewaltiges.[1]

Aber noch andere Hindernisse, als das rapide Wachsen, standen der raschen und allseitigen Entfaltung der 1808 unter dem Freiherrn von Stein in’s Leben gerufenen Städte-Ordnung entgegen.

Der lebendige und trotzige Bürgersinn unserer Vorfahren, welcher einst selbst den Hohenzollern Widerstand geleistet, bis diese durch die Gründung der Burg zu Köln an der Spree im Jahre 1442, des heutigen königlichen Schlosses, denselben niedergeworfen, war in dem Sturm und Elend des Dreißigjährigen Krieges bis auf die letzten Spuren verschwunden. Als der große Kurfürst zweihundert Jahre später sein Regiment antrat und Berlin mit den Festungswerken umgab, deren letzter Rest, der Königsgraben, jetzt durch den Bau der Stadtbahn beseitigt wird, da war die Stadt zum elenden Nest mit 6000 Einwohnern herabgesunken. Von da ab bis abermals zweihundert Jahre später, bis in die Zeit Friedrich Wilhelm’s des Vierten, war Berlin wesentlich nur die Residenz der preußischen Könige, und alles, was Großes und Bedeutendes in derselben geschaffen, ist das Werk der Fürsten. Diese lebendige Initiative, die bedeutenden Aufwendungen, welche die Herrscher zur Verschönerung und zum Nutzen ihrer Residenz spendeten, enthob die Bürger alles Nachdenkens und aller Sorge, ihrerseits für die gemeinsamen Interessen der Stadt einzutreten, und als nun mitten in den Drangsalen der französischen Occupation, nach der Katastrophe von Jena, die Städte-Ordnung ein Selbstregiment der Bürger einzuführen versuchte, „da wurden“ – so sagt der Magistratsbericht – „zunächst nicht sowohl die neuen Rechte freudig, als die neuen Lasten schmerzlich empfunden“. Erst als nach dem Befreiungskampfe im Jahre 1819 die Differenzen zwischen Staats- und Stadtbehörden beendet waren, fingen die Communalbehörden an, „die Stadt nicht blos als die Residenz des Königs, sondern zugleich als die Stadt der Bürger aufzufassen. Und doch, wie Vieles blieb in Berlin noch der Selbstverwaltung vorenthalten, was ihr in anderen Städten mit der Städte-Ordnung zugefallen, was zum Theil erst in der allerjüngsten Zeit in unsere Verwaltung übergegangen ist, zum Theil für dieselbe – jetzt als ein wünschenswerthes Gut betrachtet – noch zu erstreben bleibt“.

Das ist ein Punkt, der bei der Klage, daß Berlin in so manchen großstädtischen Einrichtungen gegen andere Weltstädte zurückgeblieben ist, nie genug in Anschlag gebracht werden kann; denn für Berlin gilt nicht das Wort: „der Kaiser ist weit“, nein, der Vorzug, Landes- und Reichshauptstadt zu sein, hat neben seinen Licht- doch auch seine Schattenseiten. Die Centralbehörden sind natürlich wenig geneigt, auf dasjenige, was sie unmittelbar unter ihren Augen haben, ihren Einfluß aufzugeben, und daher kommt es, daß für viele Dinge, namentlich für Bau-Angelegenheiten, nirgends ein mehr complicirter Instanzenzug existirt, als gerade in Berlin, und daß z. B. noch heute, um eine Pferdebahnlinie endgültig festzustellen, vier bis fünf Instanzen, oft selbst bis zum Kaiser hinauf, angerufen werden müssen.

Erst mit dem Jahre 1840 trat eine neue Epoche Berlins ein, nicht nur, weil das neu erwachte politische Leben nicht ohne Einfluß blieb auf das Interesse an den öffentlichen städtischen Angelegenheiten – ward doch erst im Jahre 1844 die Öffentlichkeit der Sitzungen der Stadtverordneten vom Könige zugestanden – sondern auch, weil mit dem erst seit dem Anfang der vierziger Jahre in schneller Progression wachsenden Bau der Eisenbahnen, mit der Gründung und dem raschen Erblühen der Berliner Maschinenbau-Anstalten, mit der wachsenden Bedeutung der Börse Berlin anfing, eine Centrälstätte für die Industrie und den Handel zu werden.

Von ähnlichem, äußerlich noch bedeutsamerem Einfluß waren die politischen Ereignisse, welche sich an die Thronbesteigung König Wilhelm’s im Jahre 1861 knüpften. Die neue Aera mit ihren Hoffnungen, das in den Conflictsjahren sich stärkende Selbstbewußtsein der Bürger, sodann die glücklichen Kriege mit Dänemark, Oesterreich, Frankreich, die Stiftung des norddeutschen Bundes, die Gründung des deutschen Reiches waren nicht nur auf die städtische Verwaltung von bedeutendem unmittelbarem Einfluß, sondern mußten auch mittelbar der Entwickelung des ganzen Gemeinwesens Berlins, das nun die Hauptstadt des deutschen Reiches, der Sitz des deutschen Reichstages und der meisten Reichsbehörden wurde, eine neue Signatur geben. Dazu kam in Beziehung auf die materiellen Existenzbedingungen das allmählich vorbereitete, nunmehr durch das Eindringen der französischen Milliarden rasch bis zu einem völlig unerwarteten Grade geförderte allgemeine Sinken des Geldwerthes. Doch auf die Zeit der Wohnungsnoth und der Gründerepoche, Uebel, welche sich aus diesen Verhältnissen ergaben, sind rasch genug die Tage der Noth der Hausbesitzer, der Subhastationen und der Verarmung weiter Volksschichten gefolgt. Gegenwärtig ist es daher die Aufgabe der städtischen Verwaltung, gegenüber der geminderten Leistungsfähigkeit der Bürger doch die Leistungen der Commune, an die immer neue Anforderungen herantreten, mindestens auf der schon erreichten Höhe zu erhalten; denn nur dann kann sich allmählich auch die Einwohnerschaft wieder zu neuem Wohlstand emporschwingen.

Um nun aber einen Blick in den Mechanismus, der das Getriebe dieser großen Verwaltung im Gange erhält, zu thun, wenden wir uns zunächst zu dem Centralsitze derselben, dem Berliner Rathhause.

Wenn man das Brandenburger Thor durchschreitet und die „Linden“ betritt, sieht man über der grauen Steinmasse des königlichen Schlosses den rothen Backsteinbau des Rathhausthurmes kühn sich in die Luft erheben, ein steinernes Monument, das den Berlinern zuzurufen scheint: den „Bürgerstolz vor Königsthronen“ nicht zu vergessen. An Stelle des alten, engen, winkligen Rathhauses, das kaum einer kleinen Provinzialstadt würdig war, ist der jetzige 1871 vollendete Prachtbau getreten. Neben dem alten Rathhause mußte noch ein ganzes Straßenquarré von Privathäusern mit dem Aufwande von einer Million Thalern niedergelegt werden, um dem Neubau Platz zu schaffen.

Der Grundstein zu dem neuen Rathhause, dessen die „Gartenlaube“ bereits früher (vergl. Jahrgang 1870, Nr. 9) in einem Artikel vorübergehend gedachte, ward am 11. Juni 1861 gelegt und schon am 30. Juni 1865 konnte der Magistrat dort seine erste Sitzung halten, während die Stadtverordneten, welche bis dahin im Kölnischen Rathhause getagt hatten, ihren neuen Sitzungssaal erst am 6. Januar 1870 betreten konnten. Die gesammten Festräume des Rathhauses aber fanden ihre würdigste Einweihung durch das großartige Fest, welches die Stadt Berlin in denselben dem damals zum ersten Mal zusammentretenden deutschen Reichstage gab. Die Gesammtkosten zur Herstellung des Hauses, die fast ausschließlich aus den laufenden Einnahmen, also im Wesentlichen aus den Steuern der Bürger, gedeckt wurden, haben, inclusive des Grunderwerbes, Mark 9,724,800 betragen.

In dem großen Sitzungssaale des Rathhauses hält der Magistrat regelmäßig an jedem Freitagvormittag seine ordentlichen Plenarsitzungen ab. Um einen elliptischen Tisch, der in der Mitte einen freien Raum einschließt, sind die vierunddreißig Sessel der Stadtväter geordnet; denn der Magistrat besteht aus dem Oberbürgermeister, dem Bürgermeister, zwei Stadtsyndicis, dem Stadtkämmerer, zwei Stadtschulräthen, zwei Stadtbauräthen, acht andern besoldeten Stadträthen, zusammen aus siebenzehn besoldeten und ebenso viel unbesoldeten im Ehrendienst der Stadt stehenden Bürgern, [268] die aber ebenfalls den Titel Stadtrath führen, zusammen aus vierunddreißig Mitgliedern.

Während in dem Collegium des Magistrats sich die gesammte Verwaltung concentrirt und er dieselbe nach außen hin und der Stadtverordnetenversammlung gegenüber zu vertreten hat, greift doch insofern eine Decentralisation Platz, als in Berlin in sehr ausgedehntem Maße von der Bestimmung der Städte-Ordnung (§ 59) Gebrauch gemacht wird, nach welcher zur dauernden Verwaltung oder Beaufsichtigung einzelner Geschäftszweige besondere Deputationen entweder blos aus Mitgliedern des Magistrates oder aus solchen beider Gemeindebehörden oder aus letzteren und aus stimmfähigen Bürgern gewählt werden können. Man hat sich in Berlin mit Recht für die letztere Zusammensetzung entschieden, und gegenwärtig bestehen achtzehn solcher gemischten Deputationen, in gewissem Sinne die Ministerien der Stadtverwaltung, wie z. B. die Steuer- und Einquartierungsdeputation, die Armendirection, die Baudeputation.

In der localen Verwaltung – abgesehen von der für die Veranlagung der Staats- und Communalsteuern eintretenden Mitwirkung zahlreicher Bürger – werden der Magistrat und seine Deputationen unterstützt:
1) durch die Bezirksvorsteher (Ende 1866: 122, Ende 1879: bereits 210);
2) durch die Armencommissionen, gegenwärtig 223 an der Zahl mit gegen 1800 Mitgliedern;
3) durch die Schulcommissionen, in welchen Ende 1876 bereits 1024 Bürger arbeiteten;
4) durch die Waisenräthe, in denen 1876: 315 Bürger thätig waren, die von 249 Waisenpflegerinnen unterstützt wurden.

Dem Magistrate zur Seite oder gegenüber stehen, als für die Stadt gesetzgebende, geldbewilligende und controllirende Vertretung der Bürgerschaft, die Stadtverordneten. Das Wahlsystem ist ein sehr unglückliches, auf dem Dreiclassenprincip beruhendes, das Bismarck einst im norddeutschen Reichstage ebenso scharf wie gegenwärtig die Miethssteuer gebrandmarkt hat und das trotzdem noch heute besteht. Die Städte-Ordnung von 1808 hatte das Bürgerrecht an einen hohen Census und an sonstige erschwerende Bedingungen geknüpft – das Einzugsgeld kostete für Berlin 20 Thaler und die Erwerbung des Bürgerrechtes außerdem noch 30 Thaler; Bürger wurde daher nur, wer gesetzlich dazu verpflichtet war, wie die Gewerbtreibenden und Hausbesitzer, die übrigen Einwohner der Stadt blieben ohne Stimmrecht und hießen: Schutzverwandte. Die Bürger selbst aber waren vollkommen gleichgestellt, sie wählten in mäßig großen, localabgegrenzten Bezirken, in geheimer Wahl und in feierlicher Weise in den Kirchen den Stadtverordneten ihres Bezirks, mit dem sie daher durch nachbarliches Interesse eng verbunden waren und der seinerseits in allen besonderen Fragen seines Bezirks der Stadtverwaltung die genaueste Auskunft in sachlicher wie personeller Beziehung ertheilen konnte. Die der Reactionszeit entsprungene Städte-Ordnung von 1853 hat an Stelle dieser Einrichtung das Dreiclassensystem mit öffentlicher Abstimmung gesetzt. Die Dreitheilung nach den gezahlten Steuern erfolgt durch die ganze Stadt, da nun aber trotzdem die Wahl in localabgegrenzten Bezirken erfolgen soll, so ergiebt sich daraus, da die Wähler erster und zweiter Abtheilung sehr zerstreut unter der übrigen Menge wohnen, daß die Wahlbezirke vergrößert wurden, immer eine ganze Reihe von Stadtbezirken umfassen müssen und so das nachbarliche Interesse und der persönliche Zusammenhang unter den Wählern ganz verloren geht.

Dazu kommt noch ein anderer Uebelstand. Da alljährlich nur ein Drittel der Stadtverordneten neu gewählt wird, so muß die ursprüngliche Wahlbezirkseintheilung in der alten Stadt stets beibehalten werden; sie kann nur durch die Anfügung neuer Bezirke an der Peripherie mit dem steigenden Wachsthum der Stadt ergänzt werden. Dies und, da außerdem auch die Zahl der Stadtverordneten fixirt war (bis zum vorigen Jahr 108) hat dann zur Folge gehabt, daß sich in den Wahlbezirken die größte Ungleichheit der Wählerzahl ergeben. Diesem Uebelstand hat man nun im vorigen Jahre einigermaßen dadurch abzuhelfen gesucht, daß man die Zahl der Stadtverordneten auf 126 erhöht und die 18 neuen den Bezirken und Abtheilungen zugetheilt hat, welche die meisten Wähler enthalten. Trotzdem sind sehr erhebliche Ungleichheiten ungetilgt geblieben.

Die Complicirtheit und Unpopularilät dieses Wahlsystems ist offenbar mit schuld daran, daß die Betheiligung an den städtischen eine weit geringere als an den politischen Wahlen ist.

Die Stadtverordneten-Versammlung selbst tagt regelmäßig Donnerstags in ihrem Sitzungssaal. Sie ordnet ihre Geschäfte nach einer im Jahre 1875 neu festgestellten Geschäftsordnung, welche den früheren Grundsatz verlassen, daß ein für alle Mal alle wichtigen Vorlagen durch ein und dieselbe Deputation, die sogenannte Geldbewilligungsdeputation, vorberathen und für die andern Vorlagen Referenten vom Vorsitzenden der Versammlung ernannt würden, Einrichtungen, die allerdings dem Vorsteher und einer kleinen Zahl von Mitgliedern einen überwiegenden Einfluß verschafften. Jetzt findet die Berathung einer jeden Vorlage in erster Lesung sofort im Plenum statt, und nur diesem selbst steht es zu, die Verweisung an einen Ausschuß oder die Ernennung von Berichterstattern zu beschließen.

Wenden wir uns nun zu der gegenwärtig jedenfalls im Vordergrunde des Interesses stehenden Frage: welche Steuern hat die Selbstverwaltung Berlins ihren Bürgern auferlegt oder bestehen lassen? Wie ist ihr Finanzzustand? Wie groß ihre Schuldenlast und welche Vortheile gewährt sie dagegen den Einwohnern?

Seit der königlichen Verordnung vom 25. Januar 1815 über die Serviseinrichtung der Haupt- und Residenzstadt Berlin, beziehungsweise seit der Neugestaltung des Staatssteuersystems zu Anfang der zwanziger Jahre, flossen die Einnahmen, welche die Stadtgemeinde aus Steuern bezog:
1) aus der Haussteuer, dem sogenannten hergebrachten Hausservis, welche nach der ged. Verordnung mit 4 Procent des Miethsertrages gesetzlich genehmigt wurde;
2) aus der Wohnungs- oder Miethssteuer , welche nach derselben Verordnung mit 8 1/3 Procent des Miethsbetrages von den Miethern erhoben werden dürfen;
3) aus einem Zuschlage von 25 Procent zu der vom Staat erhobenen Mahl- und Schlachtsteuer;
4) aus einem Zuschlage von 25 Procent zu der Braumalzsteuer des Staates.

Hierzu waren später noch als dauernde Steuern getreten:
1) die Hundesteuer 1829;
2) die Wildpretsteuer 1847;
3) ein Drittel des Steuerertrages der Mahlsteuer, auf welches der Staat durch die Verordnung vom 4. April 1848 und durch das Gesetz vom 1. Mai 1851 zu Gunsten der mahl- und schlachtsteuerpftichtigen Städte verzichtete.

Von diesen Steuern ward in der Periode von 1861 bis 1876 die Haussteuer slatt mit 4 Procent bis zum Jahre 1864 einschtießlich nur mit 3 1/5, seit dem Jahre 1865 nur mit 2 2/9 Procent, die Miethssteuer, mit Ausnahme dreier Quartale des Jahres 1868, aber nur mit 6 2/3 Procent des Miethsertrages erhoben. Diese Steuern reichten aus bis gegen Ende der sechsziger Jahre, wo sich der Einfluß der großen Weichbilderweiterung des Jahres 1861 fühlbar machte, welche zunächst der Stadt große Opfer auferlegte, ohne daß man aus den neuen nur unvollständig bebauten Gebieten entsprechende Einnahmen an Steuern ziehen konnte. Bei der Aufstellung des Etats für 1868 ergab sich ein Deficit von Einer Million Thaler. Dies und die schon damals in Aussicht stehende und allgemein gewünschte Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer wies auf eine durchaus notwendige Vermehrung der Einnahmequellen hin, und nach langen Verhandlungen zwischen dem Magistrat und den Stadtverordneten gelangte man zu einer Einigung dahin, daß
1) vom Jahre 1868 ab die Gewinnüberschüsse der städtischen Gasanstalt, welche bis dahin zu Erweiterungsbauten verwendet worden waren, in die Stadtcasse fließen sollten;
2) daß vom 1. Januar 1869 ab eine Gemeinde-Einkommensteuer erhoben werden sollte.

Der wesentliche Grundsatz, der für diese Steuer schon damals angenommen und seitdem festgehalten worden, ist der, daß dieselbe eine Supplementarsteuer bildet, welche in ihrer Höhe wandelbar ist und nur nach dem bei Feststellung des Jahresetat sich herausstellenden Bedürfnisse zur Ausschreibung gelangt. Durch dieses rechtzeitige Vorgehen der Stadtbehörden in Vermehrung der Einnahmequellen war es allein möglich, daß die Stadt den sehr erheblichen Ausfall, welcher durch das unter dem Ministerium Bismarck's am 25. Mai 1873 erlassene Gesetz wegen Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer eintrat, ohne jede Schwierigkeit überwinden

[269]

Der entweihte Stammtisch.
Nach einem Oelgemälde Hugo Rötschenreiter’s.

[270] und ihrerseits auch auf die durch jenes Gesetz noch zugelassene Beibehaltung der Schlachtsteuer verzichten konnte.

In Folge des Ausfalles dieser beiden Steuern seit dem 1. Januar 1876 in der Höhe von 3,379,293 Mark und der von Jahr zu Jahr immer mehr wachsenden Bedürfnisse der städtischen Verwaltung, ist dann allerdings bereits im Jahre 1875 80 Procent Zuschlag zur Staatseinkommensteuer erhoben worden, ein Satz, der bekanntlich seitdem mit den steigenden Ansprüchen sich auf 100 Procent erhöht hat. Aber jetzt erhält er sich schon jahrelang auf dieser Höhe, und die überaus gewissenhafte Art der Etatsaufstellung, wie solche sich seit Einführung dieser Steuer bei Magistrat und Stadtverordneten-Versammlung herausgebildet hat, stellt einen Hauptvorzug der direkten Besteuerung klar vor Augen.

Jetzt erhebt nun Fürst Bismarck den Vorwurf gegen die Stadtbehörden, daß sie damals den Verzicht auf die Schlachtsteuer ausgesprochen und nicht statt dessen lieber die Miethssteuer aufgehoben, und bewundert die Geduld der ärmeren Bevölkerung, die diese Steuer so lange ertragen. Er übersieht dabei vollständig, daß die Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer als Staatssteuer von einer Regierung durchgeführt wurde, in welcher er selbst den Vorsitz führte, und daß somit die Stadtbehörden, wenn sie geirrt, in seiner Gemeinschaft geirrt haben, indem sie annahmen, daß dieselben volkswirthschaftlichen Gründe, die gegen diese Steuer als Staatssteuer, auch gegen die Fortdauer derselben als Gemeindesteuer sprechen. Fürst Bismarck beachtet dabei noch einen Punkt nicht: über 50 Procent des Gesammtertrages dieser Steuer erforderte der Controll-Apparat für ihre Erhebung; den Consumenten ward also 50 Procent mehr Steuer abgenommen, als wirklich in die Staats- und Stadtcasse floß. Diesen ganzen Apparat hätte die Stadt auf ihre Kosten lediglich zur Erhebung der Schlachtsteuer übernehmen müssen, wobei sich der Procentsatz wahrscheinlich noch ungünstiger gestellt hätte, da jetzt nur eine einzige Steuer und in weit geringeren Beträgen zur Erhebung gekommen wäre als früher; außerdem hätte übrigens der entsittlichende Schmuggelhandel mit unversteuertem Fleisch jedenfalls fortbestanden, während jetzt die gesammten Erhebungskosten der direkten Steuern noch nicht ganz 0,8 Procent vom Brutto-Ertrag der Steuern betragen und Defraudationen kaum vorkommen können.

Was aber speciell die Miethssteuer betrifft, so ist ihre Erhebung so einfach wie möglich, da ihr Betrag sich nach der Höhe der wirklich gezahlten Miethe richtet; nur für die Wohnungen der Hauswirthe und die Dienstwohnungen muß natürlich eine Einschätzung eintreten, welche die im Ehrendienst der Stadt stehenden Servisverordneten vornehmen. Bismarck’s Vorwürfe, daß diese bei der Einschätzung der Dienstwohnung des Kanzlers zu hoch gegriffen, haben die Stadtbehörden in ihrer Petition an den Reichstag siegreich zurückgewiesen. Was aber die Bürgerschaft angeht, so hat diese die Miethssteuer stets willig getragen; eine Opposition hat sich nur dagegen geltend gemacht, daß der Steuersatz für alle Wohnungen ein gleicher ist und daher allerdings diejenigen, die zu ihrem Geschäft oder Gewerbe größere Räume bedürfen, im Verhältniß zu ihren nur von Renten- oder Börsengeschäften lebenden Mitbürgern stärker betroffen werden. Im Uebrigen aber hat, obschon die Nationalökonomen darüber streiten, die Miethssteuer für Berlin entschieden den Charakter einer Einkommensteuer, da doch so ziemlich jeder Miether eine seinem Einkommen entsprechende Wohnung wählt.

Aber auch der weitere Vorwurf des Reichskanzlers, daß, wenn die Miethssteuer diesen Charakter trägt, Berlin seine Einwohner mit zu hohen Sätzen, mit mehr als 200 Procent Zuschlägen zur Staatseinkommensteuer treffe, erweist sich bei näherer Betrachtung als unbegründet; denn nach genauen Berechnungen ergeben Miethssteuer und städtische Einkommensteuer zusammengerechnet höchstens 150 bis 160 Procent Zuschlag zur Staatseinkommensteuer, während viele Städte Preußens, namentlich im Westen, die keine Miethssteuer haben, 200, 300, ja bis 600 Procent Zuschlag zur Staatseinkommensteuer erheben müssen, ein Beweis dafür, daß das so hart verurtheilte Finanzsystem Berlins seinen Bürgern weniger Lasten auferlegt, als das vieler anderer Städte. Das ist um so mehr anzuerkennen, als Berlin nicht, wie manche ältere Städte, einen erheblichen Antheil der Ausgaben aus dem eigenen Vermögen, aus Gütern, Wäldern etc., dem sogenannten Kämmereivermögen, ziehen kann.

Die Gesammtnetto-Einnahme aus der Kämmereicasse war in Berlin 1876 nur 394,100 Mark = 1 ½ Procent der Gesammteinnahme, dagegen fließen aus einem Unternehmen gesammtwirthschaftlichen Charakters der Stadt, aus den städtischen Gaswerken, sehr erhebliche Gewinnüberschüsse dem Etat zu; dieselben betrugen 1876 bereits 2,526,460 Mark, 1880 bis 1881 schon 3,648,462 Mark, obgleich den Privatconsumenten das Gas zu einem billigeren Preise als in irgend einer Hauptstadt abgelassen wird, nämlich zu 16 Pfennig für den Cubikmeter; die englische Gesellschaft berechnete dagegen, als sie bis 1846 noch im Besitze des ihr von dem Polizeipräsidium 1825 einseitig verliehenen Monopols war, 35 Reichspfennig für das gleiche Quantum Gas.

Den letzten Betrag der städtischen Einnahmen bilden Dotationen und Renten, welche ihren Ursprung wesentlich den früher hier in Berlin vorzugsweise in einander verzwickten Verpflichtungen des Staates und der Commune verdanken. Theils wurden derartige Verpflichtungen des Staates schon früher durch Vergleiche in Geldrenten verwandelt, theils trat dies im Jahre 1873 in Folge des Gesetzes über die Dotationen der Provinzialverbände ein, theils erst durch den Vertrag vom December des Jahres 1875. Kraft desselben, der erst nach jahrelangen und mühevollen Verhandlungen zu Stande kam, übernahm die Stadt für ihre Rechnung die bis dahin noch dem Fiscus obliegende Straßen- und Brückenbaulast, während der Staat das Eigenthum der Stadt an ihren Straßen ausdrücklich anerkannte und derselben zugleich die örtliche Straßenbaupolizei, letztere allerdings nur widerruflich, in Gemäßheit des Paragraph 62 der Städte-Ordnung, übertrug. Die Communalbehörden waren sich bei Abschluß dieses Vertrages dessen vollkommen bewußt, daß die Rente von 556,431 Mark, welche der Staat für die Befreiung von der ihm bis dahin obliegenden Baulast übernahm, nicht entfernt ausreichen werde, um die Unterhaltung der Straßen und Brücken in einer den heutigen Verkehrsverhältnissen entsprechenden Weise zu bewirken. Aber sie wollten auch um den Preis bedeutender Opfer auf ein so wesentliches Stück der Selbstverwaltung nicht verzichten; sie wollten die Beschaffenheit ihrer Verkehrsmittel nicht ferner von den Bewilligungen des Finanzministers abhängig machen.

Je mehr aber die Stadt allmählich Herrin ihres Eigenthums wurde, desto mehr hat sie es auch verstanden, aus Befugnissen, welche vordem die Staatsbehörden einseitig vergaben, sich neue Einnahmequellen zu schaffen. Wir gedachten bereits des Umstandes, daß das Polizeipräsidium 1825 einer englischen Gesellschaft das Monopol für den Gasverkauf einräumte; jetzt, da die Stadt selbst die Herstellung übernommen und jenes Monopol längst erloschen, fließen aus dieser Einnahmequelle über drei Millionen in den Stadtsäckel. Der Polizeipräsident Hinckeldey verfügte 1852 über die Wasserversorgung der Stadt zu Gunsten einer englischen Gesellschaft, sodaß die Gemeinde genöthigt war, um dieses Privilegium, mittelst dessen nur ein Theil der Stadt mit Wasser versorgt wurde, zu beseitigen, die Wasserwerke der Engländer zu Ende des Jahres 1873 für über 25 Millionen Mark anzukaufen. Da sich sofort die Nothwendigkeit großer Erweiterungsbauten ergab, so liefert dies Unternehmen einen Ueberschuß bisher nicht. Dagegen fließt der Stadt jetzt ein Pachtgeld für die sogenannten Litfaß- oder Anschlagesäulen zu, welche Hinckeldey ebenfalls in der willkürlichsten Weise an einen einzelnen Unternehmer, den verstorbenen Buchdrucker Litfaß, fast ohne jede Gegenleistung vergeben hatte.

Zu einer sehr erheblichen Einnahmequelle aber versprechen nunmehr die gegenwärtig in immer größerer Ausdehnung die Stadt durchziehenden Pferdebahnen für den Stadtsäckel zu werden. Bei ihrer ersten Einführung hatte die Stadt nur in letzter Stelle ein Wort mitzusprechen, doch schloß sie bereits im Jahre 1871 mit den Gründern der Großen Berliner Pferdebahn einen Vertrag ab, welcher dieser Gesellschaft die Ringbahn und eine Zahl von Bahnen nach den Vororten bis zum Jahre 1901 zusicherte. Da nun die Stadt inzwischen in den wirklichen Besitz ihrer Straßen gelangt war und jene Gesellschaft eine Verlängerung ihrer Concession bis zum Jahre 1910 wünschte, so kam es im vorigen Jahre nach langen und schwierigen Verhandlungen zu einem Vertrage, der diese Verlängerung aussprach, zugleich aber die Gesellschaft zur Zahlung einer steigenden Rente aus dem Brutto-Ertrage ihrer Einnahmen verpflichtete, welche bereits für das verflossene Jahr circa 400,000 Mark betragen hat. Neuerdings hat die Stadt auch mit den beiden anderen Berliner Pferdebahngesellschaften Verträge geschlossen, und hieraus wird vielleicht schon im laufenden Jahre eine Einnahme von etwa einer Million Mark erwachsen. [271] Ebenso erfreulich ist die Wahrnehmung, daß an der Spitze des Ausgabe-Etats das Schulwesen steht, welches die höchste Quote der Einnahmen, nämlich 25,82 Procent, d. h. für das Jahr 1876 7,374,000 Mark, in Anspruch nahm.

Früher führten die von der Stadtgemeinde unterhaltenen Elementarschulen den Namen „Communal-Armenschulen“; später nannte man sie nur Communalschulen. Aber auch als im Jahre 1863 die Erinnerung an den ursprünglichen Namen durch die Bezeichnung „Gemeindeschule“ ausgelöscht wurde, trug das städtische Volksschulwesen noch die Merkmale des Armenschulwesens. Im Anfang des Jahres 1861 sorgten nur zwanzig Communalschulen und fünfunddreißig Privatschulen, in denen Kinder auf Kosten der Stadt unterrichtet wurden, für das Schulbedürfniß solcher Kinder, für die von den Eltern ein volles Schulgeld nicht entrichtet werden konnte. Die genannten Privatschulen waren gegen Zahlung des vollen Schulgeldes allgemein zugänglich, aber die Communalschulcn selbst wurden nur von den Armenkindern besucht, und die Einschulung erfolgte ausschließlich durch die Freischulexpedition, während die Festsetzung der Schulgeldbeiträge sowie die Bewilligung ganzer Freischule den Armencommissionen vorbehalten war.

Dem Wunsche, die Gemeindeschulen von aller Verbindung mit der Armenverwaltung zu lösen, lag von Anfang an die Ansicht zu Grunde, daß die Vereinigung der Armen mit den günstiger Gestellten auch das beste Mittel zur sittlichen Hebung der Verlassenen sein und eine wohlthätige Annäherung der verschiedenen Volksclassen unter einander bewirken werde. Alle diese Bemühungen erhielten einen Abschluß durch die „Instruction für die Schulcommissionen hiesiger Residenz“, welche unterm 17. December 1868 mit Zustimmung der Stadtverordneten erlassen wurde. Hiernach wurde die Stadt in vierzig Schulcommissionsbezirke getheilt, die wieder in zehn Schulinspectionen gefaßt waren.

Diese Organisation trat mit dem 1. April 1869 in’s Leben, aber der letzte entscheidende Schritt, der dem Berliner Gemeindeschulwesen sein gegenwärtiges Gepräge aufdrückte, erfolgte noch in demselben Jahre: Die Aufhebung der Schulgelder wurde von den Stadtverordneten beschlossen, und schon vom 1. Januar 1870 ab war der Besuch der Gemeindeschule unentgeltlich.

„Selten ist in der Stadtverwaltung ein heilsamerer Beschluß von kaum übersehbarer Tragweite mit gleicher Kühnheit gefaßt, mit gleich ausdauernder Opferbereitschaft bis in seine letzten Consequenzen durchgeführt.“

Zwar das augenblickliche Geldopfer schien nur gering. Der Aufwand für das Volksschulwesen betrug im Jahre 1868 circa 1,469,000 Mark, an Schulgeld aber waren nur 138,000 Mark eingekommen, davon beinahe 17,000 Mark erst durch den Executor beigetrieben. Die Folge des Beschlusses aber war zunächst die Verpflichtung, allen Zutritt begehrenden Kindern Raum zu schaffen. Daher die außerordentliche Vermehrung der Schulen und Classen; denn heute sorgen, statt jener 20 des Jahres 1861, 114 Gemeindeschulen und außerdem noch zahlreiche Privatschulen sowie 23 städtische höhere Schulanstalten für das Bildungsbedürfnis der auf 95,576 Gemeinde- und 22,245 höhere Schüler angewachsenen Schulbevölkerung Berlins. An den Gemeindeschulen allein aber wirkten ultimo März 1880: 106 Rectoren, 1029 Lehrer, 461 Lehrerinnen in 1546 Classen nach einem einheitlichen, den Erfordernissen neuerer Pädagogik entsprechenden Lehrplane unter der Inspection von 6 weltlichen, pädagogisch gebildeten, von der Stadt gewählten, vom Staate anerkannten Schulinspectoren. Die sämmtlichen Schulen sind, mit Ausnahme von vier evangelischen und sechs katholischen, die diesen Charakter stiftungsgemäß bewahren müssen, paritätisch und Schülern wie Lehrern aller Confessionen zugängig. Für die weit überwiegende Zahl der Schulen sind mit allen Erfordernissen der Neuzeit ausgerüstete, geschmackvolle Schulgebäude errichtet, diejenigen für die höheren Schulen fast Schulpaläste zu nennen. Dazu kommen Fortbildungsschulen, in denen ebenfalls der Unterricht unentgeltlich ertheilt wird, eine Taubstummenschule und in neuester Zeit die Handwerkerschule zur besseren technischen Ausbildung der Lehrlinge. Das sind die Leistungen einer nach dem Ausspruche des Reichskanzlers „ihren großen Aufgaben in keiner Weise entsprechenden städtischen Finanzverwaltung“.

Nicht minder überraschend sind diese Leistungen auf fast allen anderen Gebieten, aber um sie schildern zu können, dazu müßten wir mindestens das Zehnfache des Raumes beanspruchen, den uns bis hierher die Geduld der Leser gewährt hat.

Wo viel Licht, da ist auch viel Schatten. Wer wird leugnen wollen, daß nicht auch die Organe der Berliner Selbstverwaltung einmal Mißgriffe machen, verfehlte Experimente, wie z. B. die Tegler Tiefbrunnen bei den Wasserwerken, die viel Geld kosten? Wer wird ferner leugnen wollen, daß mancher in einem bürgerlichen Ehrenamte nicht nur die allgemeinen Interessen, sondern auch die eigenen zu fördern unternimmt? Ist es endlich zu verwundern, wenn unter den circa 16,000 im Dienste der Stadt arbeitenden Bürgern auch einmal einer sich findet, der das ihm anvertraute Geld ehrlos unterschlägt? Berechtigt dies gewisse Blätter, die ganze städtische Verwaltung, in der mit so viel Opferfreudigkeit, Intelligenz und Hingebung gearbeitet wird, und an deren Spitze Ehrenmänner im strengsten Sinne des Wortes stehen, maßlos zu schmähen und zu verdächtigen?

Wie aber steht es mit dem sogenannten „Fortschrittsring“? Mit Stolz dürfen wir sagen: es ist nicht ein Ring, nein, eine Kette des Fortschrittes, die sich seit zwanzig Jahren durch alle Bestrebungen der städtischen Behörden Berlins hindurchzieht und die allerdings zum Theil zusammenfällt mit dem Eindringen und allmählichen Anwachsen des Einflusses von hochgeachteten Männern der Fortschrittspartei innerhalb der städtischen Verwaltung, aber noch an keiner Stelle hat sich ein einseitiges Vordrängen des Partei-Interesses gezeigt; auch mit conservativen Elementen ist treu zusammengearbeitet worden, und lange Jahre hindurch, bis an seinen Tod, nahm ein Mitglied der conservativen Partei, der verstorbene Vollgold, den zweiten Ehrensitz in der Stadtverordnetenversammlung ein. In der Stadtverordnetenversammlung wie im Magistrat Berlins ist an Stelle des früheren oft gespannten, selbst bis zu Conflicten gesteigerten Verhältnisses zwischen beiden Körperschaften ein harmonisches Zusammenwirken getreten, ein reger Wetteifer in der Lösung der einen Aufgabe, welche keine andere ist, als diese: unter Anerkennung der gegenseitigen Rechte, das Beste der Stadt und die Wohlfahrt aller ihrer Bürger nach Kräften zu schützen und zu fördern.

Mit Stolz kann die Berliner Selbstverwaltung allen Anfeindungen zum Trotz heute auf das Wort verweisen:

„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“




Blätter und Blüthen

Noch einmal der „deutsche Schulverein“ in Oesterreich. Wir haben vor Monaten (in Nr. 45 des vorigen Jahrganges) die Errichtung eines deutschen Schulvereins in Oesterreich als Beweis für das Erwachen des Nationalgefühls unter unseren dortigen Stammesgenossen freudig begrüßt und schon damals auf die außerordentliche Bedeutung, die dem Vereine innewohnt, hingewiesen; heute sind wir in der angenehmen Lage, auf Grund des Ergebnisses der am 13. Februar dieses Jahres abgehaltenen ersten Generalversammlung bereits nicht unbedeutende Erfolge dieses volksthümlichen Unternehmens verzeichnen zu können.

Während des ersten Halbjahres seines Bestandes (2. Juli bis 31. December 1880) hatte dieser Verein bereits eine Ausbreitung erhalten, wie selten ein anderer. In 814 Orten Oesterreichs, 25 Orten Ungarns, 67 Orten des deutschen Reiches und 20 Orten des übrigen Europas, sowie am Cap der guten Hoffnung befinden sich Vereinsmitglieder. Ihre Zahl beläuft sich auf etwa 27,000, von denen allein 6000 in Wien ansässig sind, während aus dem deutschen Reiche bereits über 400 Mitglieder gewonnen wurden. Unter den gesammten Mitgliedern befinden sich 666 Körperschaften, und auch 1084 Frauen sind dem Vereine beigetreten. 1074 Mitglieder haben einmalige Beiträge von mindestens 20 Gulden österreichisch (40 Mark), im Gesammtbetrage von 30,411 Gulden 71 Kreuzer, beigesteuert, während von den Mitgliedern an Jahresbeiträgen von mindestens 1 Gulden (2 Mark) zusammen 24,699 Gulden 27 Kreuzer entrichtet wurden. Die Gesammteinnahme des Vereins betrug 58,704 Gulden 75 Kreuzer, und am Jahresschlusse verblieb ein unantastbarer Gründungsfonds von 30,597 Gulden 37 Kreuzer, sowie ein verfügbarer Betrag von 20,874 Gulden 19 Kreuzer.

So bedeutend auch diese Summen für den halbjährigen Bestand des Vereines scheinen mögen, so bedarf derselbe doch zur Erreichung seiner Ziele noch mancher Opfer seitens des deutschen Volkes.

Der Ausschuß war bestrebt gewesen, mit den vorläufig zur Verfügung stehenden Mitteln nach Kräften zur Ausführung seiner Ausgabe beizutragen, indem er an folgenden Grundsätzen festhielt:
1) An jenen Orten ist zuerst Hülfe zu bringen, wo ein längeres Zuwarten Gefahren für den nationalen Bestand der Stammesgenossen nach sich ziehen könnte.
2) Die schwächsten und daher am leichtesten fremdartigen Einflüssen ausgesetzten Reste deutschen Culturlebens sind zuerst zu stützen.
[272] 3) Ohne Scheu und Selbsttäuschung an der Thatsache der allseitig vorhandenen Gefahr festzuhalten; demnach die zur Abwehr angewiesenen Mittel von vornherein als unzulänglich zu betrachten und daher bei jedem Falle den strengsten Maßstab bezüglich des Zutreffens einer der beiden ersten Bedingungen anzulegen.

Die Berichterstattung über Schul- und Sprachverhältnisse an den bedrohten Punkten des Reiches geschah von etwa vierhundert über alle Theile der deutschen Provinzen zerstreuten Vertrauensmännern, und ihre gewissenhaften und fachkundigen Mittheilungen bürgten für eine gründliche Vorberathung der zu ergreifenden Maßregeln.

Das Feld der Vereinsthätigkeit scheidet sich einerseits in eine nördliche Zone, die Böhmen, Mähren sowie Schlesien umfaßt und wenig über die galizische Landesgrenze hinausgreift, andererseits in eine südliche, die in Tirol anhebt und bis an die südungarische Grenze reicht. In der Mitte dieser beiden liegt eine compacte deutsche Landmasse, doppelt werthvoll für das Vereinsleben, weil sie großmüthig spendet, ohne für sich etwas in Anspruch zu nehmen. Während des abgelaufenen Halbjahres hat nun der Verein an jenen bedrohten Punkten folgende Resultate erzielt: In Böhmen wurden zehn Schulen mit Lehrmitteln und Schulbibliotheken versehen, eine Fabrikschule zu Iserthal mit Unterstützung des dortigen Fabrikherrn neu errichtet, sowie die Eröffnung zweier deutscher Kindergärten zu Prag und Pilsen vorbereitet. Die Eröffnung einer deutschen Schule in der Festung Josefstadt dürfte zunächst den dortigen Militärkindern zugute kommen, und eines freundlichen Entgegenkommens Seitens der Heeresverwaltung ist der Verein bereits sicher.

In Mähren konnte die von der Regierung vorgenommene Schließung der deutschen Parallelclassen am Gymnasium zu Walachisch-Meseritsch paralysirt werden, indem durch die Unterstützung des Vereins in der Höhe von 2000 Gulden die Stadtgemeinde in die Lage gesetzt wurde, auf ihre Kosten die Classen fortzuerhalten. In demselben Kronlande wurde auch zu Lettowitz eine Fabrikschule errichtet, die Eröffnung eines Kindergartens und einer Volksschule zu Trebitsch, sowie einer Volksschule zu Butschowitz in Angriff genommen und an fünf Schulen Lehrmittel und Unterstützungen gewährt. Ebenso wurden in Schlesien und Galizien zehn Schulen dotirt und zu Oderberg eine vierte Volksschulclasse errichtet.

Im südlichen Gebiete erstreckte sich die Vereinsthätigkeit auf jene den Alpenbesuchern so bekannten herrlichen Thäler der Etsch und Eisack, so wie auf die deutschen Sprachinseln in Wälsch-Tirol. Auch hier erhielten viele Gemeinden Schülerbibliotheken, Lehrbücher und Schulrequisiten, während in Proveis die Erbauung eines Schulhauses ermöglicht wurde.

In jenen Thälern, „wo germanische Völker der Väter Sitte und Sprache treu und unverfälscht erhalten haben“, wird es Aufgabe des Vereins sein, den Riegel bei Salurn fest zuzuschieben, um es dem Nachbar fortan in's Gedächtniß zu rufen, wessen Gutes König Laurin's Rosengarten sei.

An nahezu siebenzig bedrohten Punkten war demnach der Verein bemüht, zum Besten der deutschen Schule zu wirken, und das emsige Streben des Ausschusses und die Kräftigung des Stammesbewußtseins unter den Deutschen Oesterreichs haben eine immer mehr wachsende Theilnahme für ihn hervorgerufen. Die im abgelaufenen Jahre abgehaltenen deutschen Parteitage in Oesterreich stellen die Förderung des Schulvereins als Pflicht jedes Deutsch-Oesterreichers hin, und den begeisterten Worten des Reichstagsabgeordneten Freiherrn von Walterskirchen auf dem Wiener allgemeinen deutsch-österreichischen Parteitage am 14. November vorigen Jahres folgte stürmischer Beifall der dreitausend Theilnehmer aus allen Theilen des Reiches. Und so konnte der Ausschuß in der Generalversammlung unter allgemeiner Zustimmung aussprechen: „Keine Liebesgabe mehr, für den man Dankesworte ernten darf, der Pflichtgulden ist es, den wir von allen deutschen Stammesgenossen einfordern.“

Es regt sich auch in den weiten Gauen des deutschen Reiches warme Theilnahme für den Verein. In den größeren Städten haben sich Agitationscomités gebildet, welche Aufrufe erließen und in den letzten Wochen bereits einige tausend Mark an die Vereinsleitung absandten. Auch die deutsche Presse leiht dem volkstümlichen Unternehmen ihre Unterstützung.

Und doch bedarf es noch reichlicher Theilnahme.

„Es wäre eine Schande für uns Deutsche, wenn wir für die deutsche Schule nicht freiwillig aufzubringen vermöchten, was die Delegationen für sechs Küstengeschütze votiren mußten,“ hatte Freiherr von Walterskirchen gesagt - und doch haben wir für die so wichtige Sache bisher nicht die Kosten auch nur eines einzigen Küstengeschützes zusammengebracht.

Darum - weil die deutsche Schule eine Waffe für die Erhaltung der Nationalität ist - darum müssen die Bestrebungen des deutschen Schul-Vereins in Oesterreich allseitig unterstützt werden. Und so konnte denn der Redner am 14. November seinen Appell mit den Worten schließen: „Was unsere Väter waren, sollen auch unsere Kinder bleiben: deutsch! Deutsch im Sinne Anastasius Grün's:

Deutsch sein, heißt: off’ne Freundesarme
Für alle Menschheit ausgespannt,
Im Herzen doch die ewig warme,
Die einz'ge Liebe: Vaterland!
Deutsch sein, heißt: sinnen, ringen, schaffen,
Gedanken sä’n, nach Sternen späh’n,
Und Blumen zieh’n – doch stets in Waffen
Für das bedrohte Eigen steh’n.“




Der entweihte Stammtisch. (Abbildung S. 269.) Dieses ausdrucksvolle Bild des wackeren Kötschenreiter hat im Leben schon Vielen vor Augen gestanden, aber immer wieder wird es gefunden werden; denn nichts ist conservativer, als der Rangdünkel und die Standeseitelkeit in abseits gelegenen, beschränkteren Lebenskreisen, wo das Triebrad des großen Verkehrs sie nicht abreibt. „Herrenstübchen“ und Stammtische der „Honoratioren“ sind die beliebten Brutkästen des Sicherheitsbehagens vor der geselligen Vermengung mit dem, was man ehedem „Volk“ nannte. Dieses Behagen verlangt, daß man in der bestimmten Stube nicht nur seinen bestimmten Tisch, sondern an diesem auch seinen bestimmten Stuhl habe, dem das Subordinationsgefühl für jeden Stammgast von selbst die rechte Stelle anweist; denn der Stadtschreiber kann unmöglich neben dem Herrn Amtmann oder der Organist gleich neben dem Herrn Superintendenten sitzen. Wo aber die Ordnung einmal feststeht, da ist jede Störung derselben ein Gräuel.

Wann und wie der biderbe Bauer oder Viehhändler an diesen Tisch kam, wissen wir nicht. Jedenfalls grüßte er die Gesellschaft, als er nach dem Stuhl griff, und da ihm – offenbar vor Staunen ob der unerhörten Frechheit – Niemand dankte, so nahm er seinen Sitz in der brutalen Weise ein, welche seinen Wunsch für seine Nachbarschaft deutlich ausdrückt. Unser Bild stellt uns vor den kritischen Augenblick, wo der Herr Hofrath, der Höchste im Orte, zum Tische tritt, er, dessen Stuhl der Fremde mit so breitem Beschlag belegt hat. Jetzt bricht’s los – ob aber zuerst über, ob unter dem Tische, ist noch die einzige Frage; denn wie der Explosion des Zorns über dem Tische die anbohrenden Blicke voraufleuchten, so weckt unten demselben das Gebell des „vornehmeren“ Kläffers das verächtliche Grollen des Fleischerhundes. Drohend hängen die Wolken des Sturmes hernieder, während der einzige Engel des Friedens in diesem Raume, die Kellnerin, mit dem leeren Seidel davongeht. Wer Zeit hat, muß eben abwarten, was aus der Scene noch werden wird: wir wissen’s selber nicht.




Zur Todtenliste der „Gartenlaube“. Abermals haben wir den Verlust eines unserer Mitarbeiter zu beklagen: In Oldenburg starb am 5. März der Bankdirector Ludwig Strackerjan. Er hing mit warmer Liebe an seinem Heimathlande, war ein gründlicher Kenner von Land und Leuten in Oldenburg und stets ein Förderer des Wohls von beiden, besonders durch seine nationalökonomische Thätigkeit. Als wahren Volksfreund lernt man ihn in seinen Schriften kennen, in den „Heimischen Kinderreimen“, in „Aberglauben und Sagen aus dem Herzogthum Oldenburg“ und in den „Oldenburger Spaziergängen und Ausflügen“. Auch die von ihm der „Gartenlaube“ gewidmeten Artikel behandelten oldenburgische Sehenswürdigkeiten. Hätte jedes deutsche Land solche treue Pfleger der Heimathkunde, so wäre damit zur Vervollständigung des Gesammtbildes unseres Vaterlandes viel gewonnen.




Den Schluß des Carus Sterne’schen Artikels „Charles Darwins neue Beobachtungen über das Bewegungsvermögen der Pflanzen' (vergl. Nr. 14) können wir wegen mangelnden Raumes in dieser Nummer leider nicht zum Abdrucke bringen. Wir gedenken dieses Versäumniß in Nr. 17 nachzuholen.




Kleiner Briefkasten.


Ed. St. in L. Bitte sehr! Einen eingehenden Artikel über die Boers und ihr Land haben wir unseren Lesern bereits in Nr. 11 des Jahrgangs 1880 geboten. Derselbe orientirt über die gesammten Verhältnisse unserer südafrikanischen Stammverwandten.

Consul H. in L. Sie hatten die Güte, uns Nr. 70 und 71 des Berner „Bund“ zu übermitteln. Ein Anonymus polemisirt daselbst in dem Artikel. „Wider deutsche Ueberhebung“ mit großem Feuereifer gegen unsern Aufsatz „Die frommen Landsknechte“ (vergl. Nr. 7 und 8). Wir verstehen nicht, wie der eidgenössische Nationalstolz sich durch diese historische Studie beleidigt fühlen konnte. Jedem aufmerksamen Leser der „frommen Landsknechte“ wird es einleuchten, daß jene Abhandlung nichts weniger beabsichtigt, als aus „deutscher Ueberhebung“ den Ruhm der eidgenössischen Waffentüchtigkeit zu schmälern; sie gedenkt nur mit Entrüstung des verkauften tapferen deutschen Blutes, um unseren Lesern auf Grund eines Vergleiches zwischen Sonst und Jetzt die Errungenschaften des heutigen politischen Fortschritts zu veranschaulichen. Was wir bei dieser Gelegenheit in kurzen Worten und nur nebenbei über die schweizerischen Söldner gesagt haben, ist nicht, wie der „Bund“ glauben machen möchte, eine willkürliche Geschichtsfälschung, auch nicht die Stimme eines Einzelnen, sondern vielmehr die Meinung hervorragender Historiker, wie Ranke und Berthold. Im Uebrigen können wir Ihnen versichern, daß wir für das schweizerische Volk und seine ruhmreiche Vergangenheit von den wärmsten Sympathien durchdrungen sind und uns zu unmotivirten Angriffen gegen die Schweiz niemals hergeben würden. Diese unsere Antwort gilt jedoch nur Ihnen, Herr Consul. Angriffe des Berner „Bund“ lassen wir unerwidert, da diese Zeitung uns jüngsthin in einer Weise angegriffen hat, die jede anständige Polemik ein für alle Mal unmöglich macht. Wir haben dabei jenen sehr ungenirten Reclame-Artikel des Berner Blattes im Auge, welcher bei Anpreisung eines politisch völlig farblosen belletristischen Journals die „Gartenlaube“ der Gesinnungslosigkeit bezichtigt, um jenem Blatte, dem wir jedoch mit diesen Zeilen keineswegs unfreundlich begegnen wollen, dadurch ein größeres Relief zu geben - ein Vorgang, der uns um so mehr jeder Auseinandersetzung mit dem Berner anonymen Scribenten überhebt.

C. S. in W. Die Zinsen des zu sammelnden Fonds der Martini-Stiftung in Hamburg (zu Ehren des dort vor Jahresfrist verstorbenen genialen Arztes Dr. Erich Martini) sollen in Form von Stipendien für Studirende, in Preisen für die beste wissenschaftliche Verwerthung der in Hamburger Krankenanstalten gemachten Beobachtungen und in Unterstützungen junger tüchtiger Aerzte bei ihrer Niederlassung in Hamburg verwendet werden, und nimmt die dortige Reichsbank- Hauptstelle für die Martini-Stiftung Beiträge gern entgegen, deren recht zahlreichen Eingang wir im Interesse der guten Sache nur wünschen können. Ein Dr. Martini-Monument hat auf dem Grabe des Verstorbenen als ein Ehrendank der Bürgerschaft Hamburgs seinen Platz gefunden.


  1. Berlin hatte im Jahre 1829 eine Bevölkerung von 242,000 Seelen aufzuweisen; zu Anfang des Jahres 1876 war dieselbe auf 979,860 angewachsen, hatte also in 47 Jahren eine Steigerung um 304,9 Procent zu verzeichnen, am Schlusse des Jahres 1880 aber betrug dieselbe 1,122,385, war somit in 5 Jahren um 14,5 Procent, in 50 Jahren aber um 363,8 Procent gestiegen. – Die Ausgaben der gesammten Communalverwaltung beliefen sich im Jahre 1829 auf nur 2,317,656 Mark; für 1881/1882 sind dieselben auf 42 Millionen Mark veranschlagt. Das ergiebt also in 52 Jahren eine Steigerung von 1712 Procent. Schon hieraus ist zu ersehen, daß die Ausgaben in stärkerem Maße als die Bevölkerung gewachsen sind. Noch anschaulicher ergiebt sich dies, wenn man die Ausgaben auf den Kopf der Bevölkerung vertheilt; dann betragen dieselben im Jahre 1829 circa 9,6 Mark pro Kopf, 1881 aber circa 37,4 Mark, ein schlagender Beweis, wie sehr die Leistungen der Commune gestiegen sind.