Die Gartenlaube (1887)/Heft 19

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 19.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Götzendienst.
Roman von Alexander Baron v. Roberts.
(Fortsetzung.)
9. Verstaucht.

Man konnte nicht länger warten. Ein energisches Ultimatum des Küchenchefs, durch Friedrich’s diplomatische Form gedämpft, stellte das Fiasko eines verpfuschten Soupers in sichere Aussicht. Man brach eben auf, und die Herren durchkreuzten nach ihren Damen suchend die Salons; da kam ein Brief an.

Frau Belzig fiel es wie ein Alp vom Herzen. Sie war ganz glücklich. Gottlob, der Graf war wirklich auf dem Glatteis verunglückt! Gottlob, nichts Anderes! Hatte denn ihres Gatten Hinweis auf den Budapester Skandalfall sie so alarmirt?

Allgemein war der Ausdruck des Bedauerns; man umdrängte die Belzigs und die verlassene Braut. Aber das Bedauern ward zu einer Verwunderung über Frau Belzig’s freudestrahlende Miene, die sie nicht zu bemeistern vermochte. Gottlob, so hielt sie noch einmal diese Grafenkrone! – Hatte sie sich doch zuletzt der Angst nicht mehr zu erwehren vermocht, daß das kostbare Ding ihr dennoch entschlüpfen könnte.

„Nur eine leichte Verstauchung!“ sprach sie, ihre räthselhafte Glücksmiene erläuternd. Der Graf hätte immer noch kommen wollen, aber es wäre ihm nicht möglich gewesen, ein Schuhwerk anzulegen. Man beglückwünschte sie, daß es nichts Schlimmmeres war, und dachte mit Schrecken an den eigenen Nachhauseweg.

Auch Lolo fühlte sich wie erleichtert, als wenn auch sie vorhin eine schwere Ahnung bedrückt. Der Budapester Skandal lag wie ein gespenstischer Schatten über dem Fest. Der Hauptmann prüfte das Schreiben mit gerunzelten Brauen, als wäre es irgend eine schwierige taktische Aufgabe. War denn das nicht glaubwürdig?

„Ich weiß nicht,“ murmelte er vor sich hin, als Perkisch ihm das Papier aus der Hand nahm, „ich weiß nicht, eine Verstauchung … ich würde mich doch hierher haben tragen lassen, ehe ich ihnen Allen das Fest verdorben hätte!“

Perkisch war am wenigsten beruhigt. Er traute durchaus nicht, stand in einer Fensternische und studirte den Brief. Mehr ein Wisch, in einem Restaurant mit schlechter Feder hingekritzelt, nicht einmal von des Grafen Hand, ein unleserlicher, aber sehr pompöser Namenszug darunter. „Ein unerhörtes

Der kleine Doktor.0 Nach dem Oelgemälde von L. v. Gelder.

[306] Pech“ – das unfashionable Wort stand dort, in der Hast entschlüpft. Man möchte sich seine, des Grafen, „fabelhafte Verlegenheit“ vorstellen u. s. w.

Es ist nicht wahr! Das Schreiben ist eine Lüge! Und Perkisch’ brennende Augen forschten in dem Gekritzel der Zeilen, als müßten sie den wahren Grund des Fortbleibens herausstöbern. Irgend etwas Anderes, jedenfalls nichts Gutes! Irgend eine Dummheit, die ungeheure Blamage einer moralischen Verstauchung! O seine wundervolle Provision! Aber er würde sich künftig auf eine schlauere Weise sicher stellen! Fast mit einer Gebärde der Drohung zerknitterte er den Brief.

„Herr Perkisch …“ Es war die dicke Frau Voltz, die hinter ihm stand und mit einem scherzhaften Kinderknix in die steife Seide ihrer Robe hineinraschelte. „Ich habe die Ehre, von Ihnen zu Tisch geführt zu werden, Herr Perkisch.“

„Ah, Pardon, gnädige Frau!“

Der Saal war schon leer; hinten am Ende der Zimmerflucht sah man die Rücken der letzten Paare, die im Speisesaal verschwanden. Eilig bugsirte Perkisch die starke Dame durch die Portièren.

Aber man kam noch früh genug. Das Ausbleiben des Grafen hatte eine kleine Umänderung in der Sitzordnung der Gäste nöthig gemacht. Man wollte den Platz des Bräutigams doch nicht wie den für einen etwa zu erwartenden Geist leer lassen. Auf einen rathlosen Wink des Herrn Belzig griff Mühüller zu und löste die entstandene Verwirrung, indem er mit der findigen Schnelligkeit, mit der er wohl eine Truppe zum Dienst abtheilte, die Gäste auf ihre Plätze mehr kommandirte als hinwies. In der Eile gab es verschiedene kleine Mißgriffe – aber was that es? Man saß doch endlich. So war der berühmte Dichter Kunde zwischen die taube Tante Mala und einen von Gesundheit strotzenden Boxer gerathen, der ausschließlich von Jagd und Jägerei zu sprechen pflegte und jedem, der es hören wollte, am liebsten solchen Milchsuppengesichtern gegenüber, sich gern brüstete, daß er seit der Kriegsschule kein Buch mehr angerührt. Es bedurfte der fortwährenden beschwichtigenden Blicke von Seiten seines Engels von Gemahlin, um den empörten Dichter zu beruhigen.

Bald erhob sich der Herr General und hielt mit steifer Würde den ersten Toast; das Herkömmliche, aber mit schneidiger Befehlsstimme vorgebracht. Und das Klingen und Schallen der Gläser schien endlich den Schatten verscheuchen zu wollen. Man wollte lustig sein! Man wollte sich amüsiren! So wurde an dem Filialtisch der jungen Herrschaften dekretirt. Mühüller und Olga, die hier das Präsidium der Fröhlichkeit übernommen, gaben diese Losung aus. Beide fanden sich gern zusammen, seine drastische Komik und ihre aus dem Herzen sprudelnde Heiterkeit ergänzten sich. Ja, wäre Olga nicht die mittellose Tochter eines Pensionärs gewesen und hätte Mühüller nicht bei jeder Gelegenheit geschworen, sich lieber todtzuschießen als eine Kommißheirath zu machen, so hätte man bei ihm fast eine tiefere Neigung für das niedliche Freifräulein vermuthen können.

Man meinte, Hauptmann Eff, der zwischen den beiden Sternen saß, hätte an einer Braut genug und man müßte das „Strohbräutchen“ (es klingt zwar nicht gut, ist aber doch „echt“!) aus der officiellen Langeweile des Haupttisches absondern und hier an der lustigeren Unterhaltung theilnehmen lassen. Nach dem dritten Toast zwang man Lolo, den Platz zu wechseln. Das arme Kind! Es that wohl, sie nun an dem anderen Tische mit den jungen Leuten lachen zu hören und die Wolke, die sie vergeblich von ihrer Stirn zu scheuchen versuchte, im Sonnenschein der Fröhlichkeit verschwinden zu sehen.

Die Toaste folgten sich nun in kürzeren Pausen. „Natürlich wird doch der berühmte – Kunde auch seine Rede vom Stapel lassen,“ meinte einer der Lieutenants. „Wozu ist er Dichter?“

„Er redet nie – schweigt aber sehr wirkungsvoll,“ erwiederte Mühüller und meinte, er hätte die Wendung selbst erdacht.

Die ästhetische Generalstochter warf ihm aus ihren wassergrauen Augen einen spitzen Blick zu.

„Na, wenn Sie das Schweigen nennen –“ Und der halbe Tisch horchte hinüber. Wolfgang Kunde schimpfte in Tante Mala’s Guttapertscha-Apparat hinein mit lauter, fast drohender Stimme über Hülsen und die empörend miserablen deutschen Theaterzustände. Es sah aus, als bliese er mit wüthender Anstrengung irgend ein schwieriges Instrument. Tante Mala war ganz verblüfft vor Staunen. Vergebens flehten die Blicke von Frau Kunde, daß er sich mäßigen möchte.

Perkisch’s knochige Finger spielten mit Brotkügelchen und mit grinsendem Lächeln horchte er auf Frau Voltz’ unaufhörlich tröpfelnde Unterhaltung. Er machte gar keine Anstalten zum Reden und schien die Blicke von Frau Belzig, die ihn gleichsam in allen Tonarten und mit steigendem Unwillen aufmunterten, nicht zu beachten. Sein Effekt war dahin. Er hatte den schwungvollsten und herrlichsten Toast gedichtet, der je über eines Mannes Lippen geflossen. Nun machte ihm dieser – einen so schändlichen Strich durch die Rechnung! Er gedachte ein Meisterstück der Toastkunst aufzustellen, und er wollte sich selbst übertreffen. Nun paßte nichts mehr, und er mußte einen ganz elenden Lückenbüßer einschieben. Ein wahrer Hohn, von Glück und Seligkeit zu sprechen, während seine Siebentausend Provision jeden Augenblick auf dem Glatteis ausrutschen können!

Aber sein Ruf als Tischredner stand auf dem Spiel. Er würde sich doch nicht verblüffen lassen! Er hatte schon Schwierigeres improvisirt. Ein wilder Humor befiel ihn plötzlich, hastig stürzte er den Inhalt eines Römers hinab: meinetwegen – wenn sie denn ihren Toast haben müssen, so will er sie mit Glück und Seligkeit und rosigem Himmelssegen überschütten, so viel sie dessen begehren; bis an den Hals will er sie damit vollstopfen, diese Idealitätsnarren!

Er tippte ans Glas, als erstes Signal, das Gespräch ringsum versickerte, aber der General überhörte das Signal und fuhr fort, sich über den Tisch hinüber in ausgesuchtester Galanterie mit der berauschend schönen Sängerin zu unterhalten. Ein zweites stärkeres Tippen – aber Adolf Eff’s Stimme hob sich erst recht deutlich aus dem allgemeinen Schweigen; der Erfinder war gerade dabei, die kalte Luft seines Aspirators durch ein verwickeltes System von Röhren und Ventilen, das er mit Zickzacklinien in den leeren Raum konstruirte, hindurchströmen zu lassen. Endlich brach auch er ab. Perkisch erhob sich, stand dort mit emporgezogenen eckigen Schultern, die Augen halb geschlossen wie ein affektirter Prediger, die Hände mit den leicht gespreizten Fingern lose wie zum Klavierspiel auf die Tischplatte gesetzt.

Er holte weit aus vom Frühling, von den zärtlich erweckenden Sonnenküssen und der Sehnsucht aufknospender Blüthen. Dann setzte er mit einem kühnen Sprung mitten in die Liebe hinein. Sein Kopf hob sich aus den Schultern, seine Augenschlitze öffneten sich und über das ungewisse, wie in einer bestimmten Charakteristik ausgeprägte Gesicht huschte ein Glanz wie von wirklicher Begeisterung. Es war ein feuriger Dithyrambus der wahren, der echten, der uneigennützigen Liebe. Er ließ einen Perlenregen zuckersüßer Gefühle herniederträufeln, er badete in Himmelsharfenklängen und beleuchtete die Seligkeit der Liebe mit den herrlichsten bengalischen Flammen.

„Das ist ja, um schwindlig zu werden,“ flüsterte einer der Herren am Filialtisch.

„Passen Sie nur auf, es kommt noch besser,“ schien Mühüller’s Wink zu antworten.

Die Damen saßen mit verzücktem Lächeln da; in den effektvollen Pausen, die der Redner sich für die Wirkung seiner Worte gönnte, hörte man fast den Schaum des Champagners prickeln, der von den behutsam umherschleichenden Dienern eingeschenkt wurde.

Und es kam noch besser, packender, ergreifender – Thränen wollte Perkisch sehen, Thränen sollten fließen! Er war so voll Zorn und Aerger über die Siebentausend, die ihm sicher davon rutschen würden, daß er sich Luft machen mußte, ja daß er sich selbst betäuben wollte mit seinen schallenden Worten.

Da zog er das Register der Rührung auf. Wie sinnig, wie innig, wie hold und lieblich wußte er das kreuzweise Neigen und Sehnen der beiden Herzenspaare zu schildern – wie ließ er den Jubel der endlichen Erfüllung dahinbrausen!

„Der Gauner! Der Kuppler!“ entfuhr es Mühüller.

Und dann die Bilder der Zukunft, die er vor den Augen der Gäste in rosiger Theaterbeleuchtung auftauchen ließ! Die meisten der Damen vermochten sich der Rührung nicht zu erwehren; Frau Belzig kämpfte längst mit den Thränen. Auch Melitta’s Augen glänzten feucht, Walther hielt offen vor aller Welt ihre Hand auf dem Tisch umfangen.

Natürlich mußte auch des Unglücks gedacht werden, der Schlußeffekt sollte dann mit dem allgemeinen Toast in einer [307] Huldigung für Lolo gipfeln. Eben, nach einer Pause, während welcher die Finger ein paar großartige Oktaven auf dem Tischtuche griffen, schickte sich der Redner an, seinen Zorn über die ungeheuerliche Tücke des Schicksals auszugießen, die den „erlauchten Bräutigam“ (wie schön das klingt!) aus dem Kreise der Glücklichen bannte und ihn auf dem Schmerzenslager in Ungeduld und Sehnsucht sich winden ließ – da hallten Stimmen vom Ende der Zimmerflucht her. Friedrich huschte, die Champagnerflasche in der Hand, in die Thüröffnung, um nachzusehen, wer hier in solch weihevollem Momente zu stören wagte – gleich darauf aber wich er mit einer plötzlichen sehr bedeutenden Verkleinerung seines linken Auges zur Seite. Dumpfe Tritte näherten sich auf dem Teppich – eine Faust, die einen verzogenen und verpreßten weißen Handschuh umfaßt hielt, schob den herabgebauschten Hang der Portière zur Seite und – da war er!

Wer denn? – Nun, natürlich er – der auf dem Glatteis Verunglückte, der durch die ungeheuerliche Tücke des Schicksals aus dem Kreise der Glücklichen Ausgeschlossene – erstanden von seinem Schmerzenslager! Jedenfalls hatte ihm die Sehnsucht keine Ruhe gelassen …

Mit der harmlosesten Miene seines flaumbedeckten Kugelkopfes stand er da, verwunderter denn je mit seinen runden gewölbten Augen in die Scene hineinguckend. Ein paar Mal blinzelten die Wimpern wie die eines Kindes, das man eben aus dem Schlafe gerissen. Auch die starke Rosaröthe, die das Antlitz bedeckte, konnte von solchem gewaltsam aufgestörtem Schlafe herrühren; der sonst so elegant geschwungene und zugespitzte Schnurrbart war an seinen Enden besenartig zerzaust. Das brünette Habichtsgesicht eines langen Herrn tauchte hinter dem Kugelkopfe auf.

Er –! Allgemeine Erstarrung – sie hatten ihn eben noch in Sehnsucht und Unruhe sich winden sehen, den Aermsten! Da stand er, hergezaubert wie eine Erscheinung, wie heraufbeschworen durch Perkisch’ Redegewalt.

„Famos!“ – Ein sehr ausdrucksvolles, vieldeutiges „Famos“ von dem Filialtische her fuhr in die Stille hinein.

Und der Ausruf löste die Erstarrung. Nun, was ist denn? Er hat sich aufgerafft und den Schmerz verbissen – das, was der Hauptmann von ihm verlangt hatte. Warum saß dieser wie versteinert, das flammenrothe Antlitz mit zornigen Augen auf den Ankömmling gerichtet?

Es ist mehr als die Verstauchung! Er ist, er ist … wir Officiere haben einen Blick für dergleichen – Menschlichkeiten! Die schlaftrunkenen blinzelnden Augen, die Rosaröthe, der struppige Schnurrbart, die ganze widerliche Naivetät der Erscheinung – Teufel, er hätte für diesen Fall doch wegbleiben sollen, er hätte die Verstauchung, wenn überhaupt eine solche stattgefunden, aufrecht erhalten sollen! – Aber keine Moral! Er ist da – die Ehre des Hauses steht in Gefahr – man darf kein Wesen davon machen – man muß die Sache durch Harmlosigkeit zu vertuschen suchen!

Und Walther erhob sich.

„N’Tag, ah, da sind Sie ja, mein lieber Schwager!“ rief er laut. „Sie kommen gerade zum Toast zurecht!“

Perkisch hielt den Kopf in der affektirten Pose des Redners noch immer nach hinten geneigt und seine geöffneten Lippen wiesen die häßlichen, lückenhaften Zähne; die klavierspielenden Finger hielten inne. Jetzt erst wußte er, daß Alles vorbei sei, daß seine Siebentausend wirklich davongerutscht. – Was? Der Mann stolpert ja – aber es ist nicht der verstauchte Fuß – jetzt, wie er die Hand von Frau Belzig fassen will, um sie zu küssen, greift er daneben in die Luft. Verdammt – der Kerl ist ja betrunken! Das war zu viel!

Mit der Betrunkenheit war es doch nicht so schlimm, wie der Hauptmann und Perkisch glaubten. Es kam dazu nur ein hochgradiger Anfall von Verwirrung, die ihn hier in dem lichtdurchflutheten Saale, im Feuer all der Augen und neugierigen Mienen ergriffen.

Frau Belzig klammerte sich ganz verzweifelt an die Grafenkrone. Auch das wird man noch verwinden und vertuschen können! Mit ihrem Spitzenbattisttuche die Spur der Rührungsthränen von vorhin von den hochroth erhitzten Wangen tupfend, erheuchelte sie große Freude: „Welch eine freudige Ueberraschung, daß Sie dennoch gekommen, Herr Graf! Gott sei Dank, daß es doch nicht so schlimm gewesen …“

„Es geht, es geht – danke, danke –“

Er hätte zwei Stunden gebraucht – zwei Stunden hätte er gebraucht – stammelte er. Wozu denn? Es kam nicht heraus.

„Gestatten Sie mir, daß ich Ihnen meinen Freund – Herrn M… vorstelle.“ Ein ausbrummendes M., weiter verstand man nichts.

Man hatte sich erhoben, die Schadenfrohen jauchzten innerlich vor Freude: welch ein herrlicher Skandal!

Herr Belzig stellte den Freund des Grafen vor. „Herr M…“ und das unverständliche Gebrumm.

„Mein Gott! nicht einmal ein von!“ jammerte Frau Belzig in sich hinein. „Ein simpler M!“

Und Lo? Und Lo?

Auch an dem Tisch der jungen Leute hatte man sich erhoben. Nur sie allein war sitzen geblieben. Sie war blaß wie Marmor und marmorn der Ausdruck ihrer Miene. Nur unter dem Schatten ihrer halbgesenkten Wimpern hervor lohte es mit zornigen Flammen. So, gerade aufrecht sitzend, das Gesicht ins Leere gerichtet, als ginge sie das Alles nichts an, erwartete sie ihn.

Und nun, da er dicht vor ihr stand und im Begriffe war, ihre Hand zu fassen, ward der starre Ausdruck plötzlich wie mit einem Ruck in ein Lächeln, ein äußerliches Pflicht- und Scheinlächeln, das der Kodex der guten Gesellschaft vorschrieb, umgewandelt, fortan den ganzen Abend über verließ es ihr Antlitz nicht mehr, dies Lächeln, es schien ebenfalls aus Marmor gemeißelt.

Sie fühlte ihre Hand zittern zwischen seinen Fingerspitzen. Das Zittern theilte sich ihr nur von seinen Fingern mit, ein so häßliches Zittern, das ganz irgendwo anders herzurühren schien, als von der Erregung dieses Augenblicks, sie fühlte es.

„Lo …“

Nicht ihren Namen! Nicht das! Nicht aus seinem Munde!

Sie zuckte zusammen. Langsam entzog sie ihm ihre Hand. Und ganz wie es der Kodex der Gastlichkeit gebot, begann sie sich mit ihm in kühler Gleichgültigkeit zu unterhalten. Man hörte sogar das nervöse Staccato ihres Lachens, aber sie zwang ihn dabei, den verschwommenen Blick seiner Augen fortwährend gesenkt zu halten – nieder mit dem Blick! nieder vor der unverwandten Beharrlichkeit ihres großen, weiten, richtenden Auges!




10.0 Ein guter Rath.

Er hatte ja auch Alles aufgegeben: den Goldfisch, die Heirath, Alles. Er war ja auch nicht gekommen, um noch einmal die erbärmliche Schwäche dieser Menschen, die den Namensgötzen anbeteten, auf die Probe zu stellen, sie noch einmal mit dem Glitzern seiner Grafenkrone zu hypnotisiren.

Er hatte sich selbst aufgegeben, nach dem was geschehen. Nicht der Rausch, nicht das Zuspätkommen, bagatelle Vergehen gegen die Spießbürgerlichkeit der Lebensart, sondern viel Schlimmeres. Eine dämonische Lust zur Selbstbuße hatte ihn erfaßt, und er hatte der Katzenjammeridee nachgegeben und war erschienen. Vielleicht ein Rest von Anstand, der auch noch unter diesem Wust von Leichtsinn und Verwerflichkeit sich regte und der ihm gebot, hinzugehen und ein Wort der Entschuldigung zu stammeln für das, was geschehen, und das, was noch kommen mußte. Dann wollte er zur Seite schleichen – wohin? Ah, er hätte auf seinem Vorwerke bleiben, er hätte seine gar nicht so üble Wirthschafterin heirathen und sein Leben lang Gänse mästen sollen! Die Berliner Luft hatte ihn überwältigt; er war nicht zu retten, es war das Ende!

Es war eine sehr fragliche Rolle, die er den Rest des Abends über spielte. Aber er fühlte das Alles nur wie durch eine Dämmerung. Viele dieser Leute redeten mit ihm, aber es geschah mit so erzwungener Höflichkeit. Die meisten mieden ihn und gingen um ihn herum, wie man in Castan’s Panoptikum die tätowirte Sehenswürdigkeit eines ausgestellten Wilden, der von seinem Podium unter das Publikum herabgetreten ist, umschleicht. Ein paar Mal gerieth er unter die Officiere, diese hieltet ihn jedenfalls zum Besten mit dem vieldeutigen Jargon ihrer Anzüglichkeiten. War er denn betrunken oder war er

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Pferdemarkt in Thüringen.
Originalzeichnung von Hans W. Schmidt.

[309] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [310] es nicht? All’ sein Denken fühlte er wie mit zähen Spinnweben umsponnen.

Der Hauptmann hatte ihn anfangs nicht aus seiner Obhut gelassen. Mit der Aufbietung alles Humors, dessen er fähig war, suchte er zu vertuschen und einzulenken und der Sache ihren harmlosen Charakter zu wahren. Er rettete ihn vor den Officieren die ihn mit verbrecherischem Uebermuth von Neuem zum Trinken zwingen wollten. Er erinnerte ihn alle Augenblicke an seinen verstauchten Fuß, damit diese Heuchelei wenigstens aufrecht erhalten bliebe, und nöthigte ihn zum Sitzen. Aber Nachewski entschlüpfte ihm immer wieder, als fühlte er dessen sorgende Nähe wie eine Qual. Einmal hatte er Eff’s Hand ergriffen und stotterte etwas wie: „Wollen Sie mir verzeihen, Schwager?“

„Aber was denn? Aber ich bitte Sie! Ich weiß wirklich nicht!“ lachte der liebenswürdige Eff, den Verbrecher um fassend und ihn in einen Winkel des Tanzsalons geleitend.

Von all’ den Augen, die er auf sich gerichtet fühlte, die ihn verfolgten und immer wieder aufstöberten, die ihn aus den Nischen und Winkeln, in die er sich verkroch, immer wieder heraus holten – fragende, verwunderte, neugierige Augen, einige mitleidig, andere, die ihn verhöhnten, und solche, die ihn erbarmunglos an die Wand drückten: von all’ diesen Augen waren ihm keine quälender, als die Perkisch’, das sonst so ausdruckslose Etwas von Perkisch’ zwinkernden blassen Augen.

Dieser hatte es bis jetzt vermieden, mit ihm zu sprechen – aber der Graf wußte, er würde sich einstellen – seine Blicke waren schon Pein genug! Sie hefteten sich an ihn und schrieen ihm wüthend zu: „Wo sind meine Siebentausend?“ Sie begehrten Rechenschaft über das – gebrochene Wort. Perkisch hatte ihm vor wenigen Tagen noch das feierliche Versprechen abgenommen, daß er nicht mehr spielen wollte – binnen jetzt und sechs Monaten. Es mochte auf Seiten Perkisch’ durchaus kein edles, menschenfreundliches Motiv gewesen sein, was ihn dazu veranlaßte, solches Versprechen abzunehmen, sondern nur die erbärmliche Angst um die Siebentausend, aber er, der Graf hatte es nun einmal gegeben. Nun war er eine Erklärung darüber schuldig, welche unerhörte Gewaltsamkeit einen Kavalier verleiten konnte, sein Wort zu brechen …

Anfangs war er, leicht hinkend, als Simulant umhergeschlichen. Nun vergaß er auch das. Es war die Wirkung des Champagners, die verbrecherischen Lieutenants hatten ihm so massenhaft zugetrunken. Es war auch nun Alles gleichgültig! Nebenan im Tanzsaal würde er auch wohl nicht vermißt werden – ein Glück, daß die Verstauchung ihn vom Tanzen dispensirte – seine Braut tanzte mit einer staunenswerthen Emsigkeit alle Tänze durch.

Nun hatte er sich vor der spürenden Schwatzhaftigkeit einiger alten Damen, die ihn fast eine halbe Stunde lang umlagert, in die Ecke eines kleinen Boudoirs geflüchtet, das mit feuchtduftenden Treibhauspflanzen ausgeschmückt war. Auch verbreitete die rosa Ampel nicht so viel Licht, wie die brutale Helle der Gaskronen in den übrigen Räumen. Er saß halb versteckt unter dem graciös geschwungenen Blatt einer Fächerpalme; der ausgezackte Schatten des Blattes fiel über seinen flaumbedeckten Schädel und es sah aus, als hielten diesen Schädel die langen dunklen Finger einer Gespensterhand umkrallt. Von nebenan kam das vieltönige Geräusch des Ballsaales, das eigensinnige Pochen des Klaviers und die schrillen, taktscharfen Töne der Geige, das Schleifen und Schwingen der tanzenden Füße, einzelne lauter aus dem allgemeinen Summen aufhüpfende Gesprächsstücke, hier und da ein feines Auflachen. Er sah durch die Spinnweben seiner Gedanken die flimmernden Gestalten im magischen gelben Lichte schweben und im Kreise dahinwirbeln. Wie ein phantastisches Puppenspiel kam ihm das Alles vor.

Plötzlich tauchte Mühüller’s heller Blondkopf neben ihm auf, frisch, glänzend, voll strotzenden Lebens. Er hatte immer eine geheime Scheu vor des Lieutenants Spürsinn und seiner unverhüllten Redeweise, die stets auf ihr Ziel losging, empfunden. Aber dessen Augen, trotz ihrer winzigen stechenden Pupillen, waren nicht, gleich den andern, da, um ihn zu quälen. Seltsam, er fuhlte etwas wie die vertrauenerweckende Nähe eines Arztes, und er brachte es sogar zum Schimmer eines wehmüthigen Lächelns, mit dem er das vertrauliche Nicken Mühüller’s beantwortete.

Mühüller hatte die stumme, höfliche Aechtung, mit der die Gesellschaft diesen Verbrecher behaftete, geärgert. Welche Entsetzlichkeit hat er denn begangen? Er hat sich berauscht, das geschieht auch dem wackersten Biedermann – freilich war es wohl nicht der passende Tag für diesen Rausch. In dem Rausch hat er die Zeit verschlafen – warum haben die Uhren auch solch’ rasende Eile? Er hätte seine Meldung aufrecht erhalten sollen – nichts Bequemeres als dies Glatteis! Nun, er ist doch wohl noch werth, daß man ihm einmal den Puls fühlt und sich nach seinem Befinden erkundigt!

(Fortsetzung folgt.)




Ueber chronische Katarrhe der Athmungswege.

Von Dr. M. A. Fritsche, Specialarzt in Berlin.
I.0 Der chronische Schnupfen und seine Folgezustände.

„Aber das ist ja nichts, das ist so nur ein Bischen veralteter Schnupfen, der geht im Frühjahr von selber weg,“ lautet die Antwort mancher Leute, wenn man ihnen im Winter mit ganz geschwollener, rother Nase und offenem Munde, nach Athem ringend, begegnet und sich über ihr Aussehen wundert. Und das Frühjahr kommt und geht wieder, mit ihm aber nicht, wie gehofft, der Schnupfen, denn der ist chronisch geworden und hat viel zu viel Anhänglichkeit an seinen Herrn und Besitzer, um ihn so mir nichts, dir nichts zu verlassen, wenn man ihm nicht gründlich die Wege weist. Das ist aber meist keine so ganz leichte Sache, denn der chronische Schnupfen, der im Wesentlichen auf einer bedeutenden Verdickung der Schleimhäute der Nase beruht, gehört auch zur Klasse der Dickhäuter, denen man energisch zu Leibe gehen muß. Um aber zu verstehen, in welcher Weise dies am besten zu geschehen hat, wollen wir uns doch einmal die Nase und ihren Bau etwas näher ansehen.

Die Nase ist nämlich nicht nur ein die Symmetrie beider Gesichtshälften mehr oder minder angenehm unterbrechender Gesichtsvorsprung, sondern sie hat auch, und wir müssen dies unter Hinweis auf die Mundathmung besonders betonen, den physiologischen Zweck, daß durch sie geathmet wird, und sie kann diesen Zweck nicht erfüllen, so lange ihre Kanäle auf irgend eine Weise verstopft sind. Die eingeathmete Luft soll eben, indem sie über die Schleimhaut dieser Kanäle streicht, von ihren schädlichen Beimischungen, als Staub, Rauch, Ruß gereinigt und gleichzeitig genügend erwärmt werden, bevor sie in den Kehlkopf und die tieferen Athemwege gelangt. Die Nase hat also gewissermaßen eine Art Gesundheitsamt auf dem Gebiet des Respirationswesens, und man kann dem Warnungsworte der Engländer. „Shut your mouth and save your life“ (Schließe deinen Mund und du wirst gesund bleiben!) nur beipflichten. Nur bei vollkommen frei durchgängiger Nasenpassage bleiben die entfernter gelegenen Schleimhäute der Athmungsorgane, wie die des Kehlkopfs, der Luftröhre und der Bronchien mit ihren zahlreichen feinen Verzweigungen in der Lunge selbst, vor Reizungszuständen durch die in großer Menge durch die Mundöffnung eindringende, nicht filtrirte kalte Luft bewahrt.

Wie nun immer ihre Form auch sein mag, ob krumm, ob gerade, Stumpfnäschen oder Habichtsnase: sie erscheint stets auf den nämlichen knorpligen und knöchernen Grundlagen aufgebaut, die von außen mit Haut, von innen mit Schleimhaut überzogen sind. Eine in der Mitte senkrecht sich erhebende Scheidewand (e, Fig. 1 und 2), im vorderen Theil knorplig, nach hinten knöchern, theilt sie in zwei, meist vollkommen symmetrische Hälften, deren jede drei sich von oben nach unten verbreiternde, nach ihrer Form „Muscheln“ zubenannte Knochenvorsprünge, die obere (aa), mittlere (bb) und untere (cc) Muschel, enthält. Während die hier nicht in Frage kommende obere Muschel sehr versteckt liegt, ragen die mittlere und untere Muschel, oben und seitlich angeheftet, frei in den Hohlraum jeder [311] Nasenhälfte hinein, denselben in den mittlern (ff) und untern (gg) Nasengang abtheilend, und zwingen so gewissermaßen die Athmungsluft ihre ganze muschelartig gekrümmte Oberfläche zu bestreichen. Alle diese Theile sind von einer blutgefäß- und drüsenreichen Schleimhaut überzogen, die an der Scheidewand am dünnsten ist, dagegen an der untern, weniger an der mittlern Muschel eine bedeutende Mächtigkeit durch die Einschaltung gewisser mit Blut erfüllter Hohlräume erreicht. Man hat dieselben mit dem wissenschaftlichen Namen der „Schwellkörper“ (ss) belegt, weil sie die Fähigkeit haben, unter dem Einfluß der verschiedensten Reize durch vermehrte Blutfüllung stark anzuschwellen, wodurch die Schleimhäute alsdann aufgetrieben und die Nasengänge verengt oder ganz verschlossen werden.

Derartige „Schwellreize“ bilden z. B. sehr warme Luft, starke Gerüche, nervöse Einflüsse, endlich, und zwar am häufigsten, der Entzündungsreiz. Trifft ein solcher in Folge von Erkältung oder örtlicher chemischer oder mechanischer Einflüsse die Schleimhaut, so entzündet sich dieselbe; die Schwellkörper erweitern sich, die Drüsen sondern eine wässerige Flüssigkeit ab, und wir haben das, was man im gewöhnlichen Leben Schnupfen nennt, einen sogenannten akuten Nasenkatarrh. Derselbe gelangt meist auf natürlichem Wege in acht bis vierzehn Tagen unter allmählichem Nachlaß der entzündlichen Erscheinungen, unter Verminderung des Sekrets und Abschwellung der Schleimhaut, zur Heilung, falls nicht neue Erkältungen eingewirkt haben. Häufen sich aber die Erkältungen, treten immer neue Schnupfenanfälle auf, während die früheren noch nicht abgelaufen sind, so bildet sich nicht nur ein bleibender Auftreibungszustand der Schwellnetze, sondern auch eine dauernde Verdickung der Nasenschleimhaut, insbesondere der Muschelüberzüge aus, und wir haben es alsdann mit dem Zustand zu thun, den man als chronischen Schnupfen, Stockschnupfen oder chronischen Nasenkatarrh bezeichnet.

Senkrechte Querschnitte der Nase.
mit normaler (Fig. 1) und krankhaft gewucherter Schleimhaut (Fig. 2).
aa obere, bb mittlere, cc untere Muschel (knöchern), von der Schleimhaut überzogen, die bei ss die (in Fig. 2 stark gewucherten) Schwellkörper einschließt): dd harter Gaumen; e Scheidewand; ff mittlerer, gg unterer Nasengang, in Fig. 2 auf der linken Seite durch die hochgradige Schwellung verlegt; hh Backzähne.

Nebenstehender schematicher Querschnitt durch die Nase möge einigermaßen zur Erläuterung der Verhältnisse dienen. Wir sehen auf demselben die obere (aa), mittlere (bb) und untere (cc) Muschel mit ihren Schleimhautüberzügen, die bei den beiden letzteren den Schwellkörper (ss) in sich einschließen, und dazwischen die entsprechend benannten Nasengänge. Fig. 1 zeigt normale Verhältnisse der Schwellkörper und normal weite Nasengänge (ff, gg), während Fig. 2 links einen sehr bedeutenden, rechts einen geringeren Grad von chronischem Schnupfen mit entsprechender Schleimhautverdickung und Verlegung der Nasengänge (hauptsächlich links) vorstellt.

Man unterscheidet bei dem chronischen Nasenkatarrh zwei Formen, den hypertrophischen (wuchernden) feuchten Katarrh, welcher mit mehr oder minder reichlicher Absonderung einhergeht, und den atrophischen (mit Schwund der Schleimhaut verbundenen) oder trockenen Katarrh, der sich in einzelnen Fällen unter besonderen Verhältnissen aus ersterem entwickelt und den wir später besprechen werden.

Zuvörderst beschäftigt uns der hypertrophische Katarrh, bei dem je nach kürzerem oder längerem Bestande sehr verschiedene Grade der Schwellung auftreten. Dieselbe bildet im Anfangsstadium eine mäßige sammetartige Schwellung, kann sich aber bei eingewurzelten, alten, chronischen Schnupfenzuständen bis zu polypenähnlichen Wucherungen, namentlich an den vorderen und hinteren Muschelenden, ja bis zur wirklichen Polypenbildung erstrecken.

Anfangs ist es noch zeitweilig möglich, durch das eine oder andere Nasenloch zu athmen; die Verstopfung der Nase wechselt häufig, bald ist das rechte, bald das linke frei, allmählich aber nimmt die Verdickung der Schleimhaut und die Blutstauung in den Schwellnetzen immer mehr überhand. die Patienten vermögen endlich gar nicht mehr durch die Nase zu athmen, sondern müssen beständig die Luft durch den offen stehenden Mund einziehen, wodurch, besonders im Schlaf, die Rachen- und Kehlkopfschleimhäute ausgetrocknet und unangenehmer pappiger Geschmack und Belegtheit der Zunge hervorgerufen werden.

Als nervöse Symptome sind häufig Kribbeln und Jucken in der Nase, Reiz zum Niesen, Thränen der Augen vorhanden, ja mitunter können sich förmliche Nieskrämpfe einstellen, die in täglichen Anfällen wiederkehren und allen Riechmitteln trotzen. Ferner muß das fast in allen schwereren Formen des chronischen Schnupfens vorhandene Asthma hier Erwähnung finden, welches durch den Reflex des Stauungsreizes in den Schwellkörpern auf die entfernt gelegenen Bronchialnerven hervorgerufen wird. Die Auffindung dieser nervösen Reflexvorgänge ist erst der Wissenschaft der letzten Jahre vorbehalten gewesen, und man ist jetzt vielfach im Stande, durch Beseitigung der Nasenwucherung asthmatische Beschwerden mit einem Schlage zu beheben, gegen die sich die gesammte innere Therapie mit ihren Pillen, Mixturen und Tropfen bisher nutzlos erwiesen hatte.

Als weitere nervöse Folgezustände, die theils auf dem Wege des Reflexes auf die Kopfnerven und das Gehirn, theils in Folge der Blutstauungen in der Nase entstehen, sind zu erwähnen: nervöser Kopfschmerz, der mitunter einseitig als Migräne, oft aber auch doppelseitig als Stirn- oder Hinterkopfschmerz auftritt, ferner Benommenheit des Kopfes, Drücken und Stechen in den Augen, Schmerz bei Bewegungen derselben, Schwindelzustände, endlich in manchen Fällen direkte Abnahme der geistigen Intelligenz, Schwäche des Gedächtnisses und des Denkvermögens mit Unfähigkeit zu produktiver geistiger Arbeit verbunden, dabei erhöhte Nervosität, sehr reizbare Stimmung, endlich merkliche Abnahme der persönlichen Energie und Willensthätigkeit. Diese geistige Einbuße macht sich besonders bei Kindern, die an chronischen Schnupfenzuständen leiden, bemerklich; nicht genug, daß ihr Gesicht in Folge des steten Offenstehens des Mundes einen wenig intelligenten Ausdruck erhält, sie begreifen und behalten auch viel schwerer als ihre gesunden Altersgenossen und bleiben hinter denselben weit zurück.

Störungen des Geruchsvermögens, Abnahme desselben bis zum gänzlichen Verschwinden kommen beim chronischen Schnupfen häufig zur Geltung, meist in Folge der Verlegung der Riechspalte durch Schwellung, mehr noch aber durch Entartung der Riechschleimhaut bei der später zu betrachtenden atrophische Form desselben.

Eine ganz allbekannte Erscheinung des chronischen Nasenkatarrhs bildet das nasale Timbre der Stimme, die sogenannte Stockschnupfensprache als Folge der Verstopfung der als Schallraum wirkenden Nasenhöhle.

Das Gehör erscheint namentlich beim Uebergreifen des Katarrhs auf den Nasenrachenraum[1] in hohem Grade beeinträchtigt, und zwar können sich alle Uebergänge von leichtem Ohrensausen bis zu hochgradiger Schwerhörigkeit, ja völliger Taubheit, entwickeln, wozu auch unter Umständen die verkehrte [312] Anwendung der Nasendouche, wie wir weiter unten sehen werden, Veranlassung geben kann.

Nasenbluten tritt in der ersten Zeit des chronischen Schnupfens bei manchen Personen häufig auf und kann mitunter zu recht erheblichen, durch ihre Dauer schwächenden Blutungen führen, die allmählich einen Bleichsuchtszustand hervorrufen; ja wir haben Fälle gesehen, bei denen alle inneren und äußeren blutstillenden Mittel vergebens versucht wurden und wo erst nach operativer Beseitigung der eigentlichen Quelle der Blutung, der Wucherung der Schwellkörper, dieselbe, aber dann wie mit einem Zauberschlage, stand.

Ehe wir uns nun der Behandlung selbst zuwenden, erübrigt es noch, ein Wörtchen über die rothen Nasen und ihre unglücklichen Besitzer zu verlieren. Wie viele Personen kommen wegen ihres dicken, wulstigem rothen Riechorgans in den schlimmen Verdacht geheimer Alkoholfreuden, während sie im Grunde die nüchternsten, enthaltsamsten Menschen sind! Und wodurch entsteht die verdächtige Röthe? Einfach dadurch, daß durch den Druck der angestauten Schwellkörper auf die abführenden Venen der Blutabfluß auch in der Haut gehemmt wird; jede vergebliche Schnaubanstrengung vermehrt diese Stauung, die kleinen Hautvenen erweitern sich und bedingen so die anatomische Grundlage der sogenannten „Burgundernase“. Der Proceß geht natürlich ganz allmählich vor sich. Anfangs zeigt sich nur ein verschämtes Erröthen der Nasenspitze, wenn die holde Besitzerin sie etwas zu tief in den heißen Suppenteller oder die Kaffeetasse taucht, allmählich aber verlernt das Näschen das Erblassen; die Röthe breitet sich mehr und mehr aus, und schließlich sieht man die ganze Nase in allen Schattirungen des Purpurs leuchtend prangen. Der beste Beweis für die Entstehung der meisten rothen Nasen durch chronischen Katarrh ist übrigens der Umstand, daß mit der Beseitigung dieses Katarrhs durch eine zweckentsprechende Behandlung und unter leichter Nachhilfe von außen her die Röthung der Nase vollständig verschwindet. Wir haben diese für den Besitzer höchst angenehme Zugabe der Heilung in allen Fällen, wo die Röthung auf Katarrh basirte, eintreten sehen.

Was nun die Behandlung selbst anbelangt, so werden bei den leichteren Formen des chronischen Nasenkatarrhs Einblasungen von Pulvern und Touchirungen mit den verschiedensten chemischen Flüssigkeiten, bei allen schwereren Aetzungen der Schleimhaut angewendet, unter denen die mit galvanokaustischer Glühhitze ausgeführten wegen ihrer Wirksamkeit und Zuverlässigkeit weitaus obenan stehen. Wir wollen hier nicht die verschiedenen empfohlenen galvanokaustischen Methoden zur Behandlung der Nase einer kritischen Besprechung unterziehen, sondern nur bemerken, daß sie im Princip darauf beruhen, durch Narbenbildung in den Schwellkörpern eine Zusammenziehung derselben und damit der gewucherten Schleimhaut hervorzurufen. Die Operation selbst ist völlig schmerzlos, wenn man, wozu wir bei einiger Empfindlichkeit immer rathen, die Nasenschleimhaut an allen zu operirenden Stellen wiederholt mit concentrirter Cocaïnlösung bestreicht, es wird dann von dem energischsten Ausbrennen nichts als ein leichtes Wärmegefühl empfunden, da das Cocaïn die Temperaturempfindung nicht vollkommen, wohl aber die Schmerzempfindung vollständig aufhebt. Polypenähnliche Wucherungen werden auf die nämliche Weise mittelst der galvanisch erhitzten Drahtschlinge abgetragen. Eine sorgfältige Durchführung der Nachbehandlung bis zur völligen Ausheilung sichert natürlich, wie bei allen Operationen, auch hier einen nachhaltigen und durchgreifenden Erfolg. –

Wir wenden uns nun zu dem sogenannten atrophischen oder trockenen Nasenkatarrh, der seines hervorstechendsten Symptoms, der übelriechenden Absonderung, wegen auch den Namen Ozaena (zu deutsch Stinknase) führt. Derselbe entwickelt sich bei besonders dazu veranlagten Personen, zumeist auf skrophulösem Boden oder bei gleichzeitig vorhandener Blutarmuth aus dem hypertrophischen Katarrh und bildet gewissermaßen das Endstadium desselben. Man beobachtet ihn am häufigsten beim weiblichen Geschlecht, insbesondere bei jungen Mädchen von zwölf bis achtzehn Jahren, die überdies bleichsüchtig sind oder in der Kindheit an Drüsen, Augen- und Ohrenentzündungen und anderen skrophulösen Zuständen gelitten haben. Wir finden beim atrophischen Katarrh einen Verkümmerungszustand der gesammen Schleimhaut, insbesondere der Drüsenelemente. Die in Folge dessen festhaftende und sich zersetzende Absonderung erzeugt einen penetranten Geruch, den man meist schon auf einige Schritt Entfernung von der betreffenden Person wahrnimmt, ohne daß sie ihn selbst zu bemerken pflegt. In der Regel geht nämlich bei diesem Leiden das Geruchsvermögen durch Entartung der Riechschleimhaut gänzlich zu Grunde, auch das Gehör leidet erheblich, weil fast stets der Nasenrachenraum gleichzeitig ergriffen ist, und es sind aus demselben Grunde häufig Schlingbeschwerden zugegen. Das Bewußtsein, ihrer Umgebung durch ihre Annäherung lästig zu fallen, wirkt auf die unglücklichen Opfer dieses Katarrhs oft sehr verstimmend und macht sie mitunter ganz menschenscheu und melancholisch, ja wir haben in einzelnen Fällen vollständigen Lebensüberdruß beobachtet.

Fragen wir nun nach den Aussichten für die Heilung einer so häßlichen Krankheit, so lauten die Aussprüche der Lehrbücher darüber wenig trostbringend. Wir können uns indessen nach unseren Erfahrungen dieser dogmatischen Ansicht nicht anschließen, sondern müssen den Hauptgrund der Mißerfolge bei dieser Erkrankung entweder im Mangel an konsequenter Durchführung einer rationellen Methode oder in Fehlern dieser Methode selbst suchen. Natürlich geben die seit Jahrzehnten eingewurzelten, oft seit der Kindheit bestehenden Fälle wenig Hoffnung auf eine endgültige Heilung. Bei allen anderen, nicht so vorgeschrittenen Zuständen kann man aber bei geeignetem Vorgehen erhebliche Besserung, mitunter sogar völlige Beseitigung des Leidens erzielen. Allerdings stellt die Behandlung die weitestgehenden Anforderungen an die Geduld und Ausdauer sowohl des Arztes wie des Patienten; es können Monate und Monate, ja Jahre vergehen, ehe es gelingt, die zu einer abnormen Absonderung neigende Nasenschleimhaut allmählich wieder zu einer normaleren Sekretion zurückzuführen, und man erreicht dies Ziel auch nur, wenn alle dazu erforderlichen Maßnahmen in gehöriger Zeit- und Reihenfolge vom Arzt wie vom Patienten immer und immer wieder ausgeführt werden.

Allerdings darf man sich nicht einbilden, einen derartigen Katarrh dadurch zur Heilung zu bringen, daß man „Salzwasser durch die Nase zieht“! Im Gegentheil, wir müssen aufs Energischste vor dem Gebrauch der Kochsalzlösung zum Ausspülen der Nase warnen, die nur reizend und austrocknend auf die Schleimhäute wirkt und dadurch indirekt den Katarrh verschlimmert, und können die leider Gottes nur zu verbreitete Anwendung derselben ebenso, wie die vielfach unzweckmäßige Handhabung der Weber’schen Nasendouche nur als einen therapeutischen alten Schlendrian bezeichnen, der bedauerlicher Weise hier wie auf anderen Gebieten noch eine große Rolle spielt. Viele Menschen glauben nämlich, es sei ausreichend, sich eine Nasendouche gekauft zu haben, um mit der Anwendung derselben vertraut zu sein, und halten eine genaue ärztliche Anweisung für überflüssig. So ereignet es sich denn gelegentlich, daß sie sich während einer Schluckbewegung den Strahl in die sich dabei öffnende Ohrtrompete treiben und damit die schönste Ohrenentzündung hervorrufen. Andere klagen stets über heftigen Kopfschmerz nach dem Douchen, weil sie dem Strahl eine falsche Richtung geben, noch Andere verschlucken sich dabei in der unangenehmsten Weise, weil sie das Wasser nicht zum andern Nasenloch wieder abfließen, sondern in den Hals kommen lassen. Kurz, es wird beinahe eben so oft falsch gedoucht, wie fehlerhaft inhalirt wird.

Wir können nicht schließen, ohne mit ein paar Worten der Schutzmaßregeln gegen chronische Nasenkatarrhe zu gedenken. Man festige seinen Körper gegen Erkältung durch systematische Abhärtung vermittelst kalter Waschungen, kalter Abreibungen und Douchen, im Sommer durch kalte Fluß- und Seebäder, Aufenthalt im Höhenklima und am Meere. Bei besonders empfindlicher Haut nehme man temperirte Schwammüberrieselungen mit absteigender Temperatur vor und schütze sich durch das Tragen wollenen Unterzeuges. Den Aufenthalt in staubiger, schlechter, übelriechender Luft beschränke man möglichst und vermeide den Gebrauch des Schnupftabaks und ähnlicher reizender Substanzen. Vor Allem aber lasse man den Schnupfen nicht einwurzeln und chronisch werden, sondern beseitige ihn, sobald er Neigung zeigt, sich festzusetzen.

Mögen unsere freundlichen Leser diese Andeutungen beherzigen und in Zukunft nicht mehr so gering von einem „bloßen Schnupfen“ denken!




[313]

Das Scherenrecht.

Erzählung von Otto Sigl. 0 Mit Illustrationen von J. Watter.
(Schluß.)

Benigna sowie die Aebtissin waren sehr im Irrthum befangen, als sie meinten, der romantische Verbrecher sei der Justiz des Stiftes verfallen und mit Hilfe des ergebenen Kanzleidirektors würde sich seine Befreiung ermöglichen lassen. Bald stellte sich heraus, daß Werner außer der Gerichtsbarkeit des gefürsteten Stiftes stand. Der Garten, in dem der Raubanfall vorgefallen, war zwar durch Kauf Privateigenthum des Klosters geworden, aber unter der Territorialhoheit der Reichsstadt verblieben. Je unbedeutender damals ein Gebiet war, desto eifersüchtiger wachte es über die Ausübung seiner Hoheitsrechte, als deren vornehmstes das Malefizrecht galt. So beeilte sich denn die Obrigkeit der Stadt, beim Kanzleidirektor Dominikus Fernhaber den im Stiftsgefängniß verwahrten Uebelthäter zu reklamiren. Herr Dominikus mußte, so ungern er auch den denkwürdigen Fall aus den Händen ließ, ohne Weiteres dem berechtigten Ansinnen Folge geben. Noch am Abend des Unglückstages wurde Franz Werner der Reichsstadt ausgeliefert.

Da am andern Morgen ohnehin das hochnothpeinliche Gericht zusammentrat, um ein paar Strauchdiebe zu richten, so kam Franz Werner auch gleich mit zur Aburtheilung. Die Verhandlung nahm einen außergewöhnlich raschen Verlauf. Der junge Mann verschwieg zwar hartnäckig Namen und Herkunft, gestand aber die That, deren er beschuldigt war, unumwunden zu. Er gab an, daß er in Folge einer Bittschrift, worin er sich, um williger Gehör zu finden, für einen Landsmann der Aebtissin ausgegeben, Audienz erhalten habe. Da nun die begleitende Stiftsdame sich etwas entfernt und Niemand sonst in der Nähe war, so sei plötzlich die Versuchung übermächtig an ihn getreten, das kostbare Kleinod, welches ihm aus aller Noth helfen konnte, zu rauben.

Nach kurzer Berathung fällten die Richter das Verdikt, daß fraglicher Ungenannter nach Ablauf der gesetzlichen Gnadenfrist von drei Tagen durch den Strick vom Leben zum Tod gebracht werden solle.

In dumpfem Hinbrüten, das Haupt in beide Hände gestützt, saß Werner, als er nach dem Wahrspruch ins Gefängniß zurückgebracht worden war, in seiner Zelle. Wie himmelweit verschieden war die heroische Stimmung, welche den Jüngling zu der aufopfernden That hingerissen, von der Niedergeschlagenheit, die sich jetzt seiner bemächtigte! Nicht als ob er sein Thun bereut oder gar daran gedacht hätte, durch Preisgeben der Wahrheit sein Leben zu retten – aber eine Wandlung vollzog sich in dem Gefangenen, die er selbst vor vierundzwanzig Stunden nicht für möglich gehalten hätte. Die Leidenschaft zu der schönen Aebtissin begann in der schauerigen Kerkerluft sich merklich abzukühlen. Sie nahm also ohne Weiteres sein Opfer an und that keinen Schritt zu seiner Befreiung, die Grausame konnte es wirklich mit ansehen, daß er um ihretwillen Leben und Ehre verlor, wo sie mit einem Wort ihn retten konnte! Was hatte sie dagegen zu verlieren, wenn sie die Wahrheit offenbarte? War ja doch alle Schuld auf seiner Seite und die junge Aebtissin hatte höchstens boshafte Nachrede, die sich an die Geschichte knüpfen mochte, zu befürchten. Und darum sollte er in der Blüthe seiner Jahre den Henkertod erleiden, wie der gemeinste Missethäter? Der Gedanke an den entehrenden Strick um den Hals war ein zu beklemmender, als daß nicht in dem jungen Blut die Liebe zum Leben mit Allgewalt sich regte. „Dulce et decorum erst pro – amore mori“[2] sprach Franz in bitterer Parodie vor sich hin. Er hatte es ganz überhört, daß der Schließer in seinen Kerker getreten war, bis er vor ihn hintrat, mit einem großen Deckelkorb am Arm.

Der alte Gefangenwärter Zacharias war einer der originellsten Käuze, welche je dieses düsteren Amtes gewaltet, und bei aller anscheinenden Rauhheit ein gutmüthiger Geselle. Er versuchte nicht selten, die armen Schelme, welche auf der fatalen Grenze zwischen Sein und Nichtsein schwebten, durch humoristischen Zuspruch aufzuheitern. Darin fand er freilich meistens wenig Anklang; Zacharias war aber schon zufrieden, wenn es ihm gelang, ein Lächeln auf dem Gesicht eines armen Sünders hervorzurufen. Seine gutgemeinten Späße hatten gewöhnlich einen etwas schauerlichen Beigeschmack.

Heute aber schien er besonders gut gelaunt zu sein. „Rathet einmal, was da drinnen ist?“ fragte er schmunzelnd und lüftete den Deckel des Korbes, daraus ein köstlicher Duft von Gebratenem das Gefängniß erfüllte und ein paar Flaschenhälse lockend hervorguckten. „Nichts Geringeres, als ein vollständiges Mahl von der eigenen Tafel der Frau Aebtissin! Das gute alte Fräulein von Elmenau hat’s hierher geschickt; Ihr mögt Euch den Gnadenschmaus munden lassen, richtete der Klosterdiener aus, und besonders sollt Ihr dem weißen Wecken zusprechen. Es sei Mohn darin, der Euch vielleicht hilft, in Eurer schweren Kümmerniß Schlaf zu finden.“

Bei Erwähnung des Fräulein von Elmenau zog eine frohe Bewegung in das Antlitz des Gefangenen. So kurze Zeit er auch Benigna ins Auge gefaßt, hatte ihn doch die Herzensgüte, die aus ihren Zügen sprach, für sie eingenommen. Zugleich überkam ihn wie ein lichter Hoffnungsschimmer die Vorstellung: sie denken also doch meiner im Stift; die Elmenau ist Frau Mathildens Vertraute; sie weiß jetzt längst Alles und wird gewiß mit der Prinzessin auf Hilfe sinnen.

[314] „Mögt Ihr nicht auch mithalten, Herr Zacharias?“ wandte sich Werner an den Schließer, welcher den Korb auf den steinernen Tisch gestellt hatte und dessen Inhalt mit lüsternen Blicken musterte.

„Habe jetzt keine Zeit, muß meine anderen Pflegekinder versorgen, aber später, wenn ich wieder komme, finde ich vielleicht noch einen Becher Wein übrig und ein Stück von der prächtigen Wildpastete.“

,O, Ihr sollt von Allem haben,“ erwiederte Werner, und der alte Zacharias verließ, in Erwartung der seltenen Tafelfreuden, fröhlich mit dem Schlüsselbund klappernd, die Zelle.

Kaum war Werner allein, so entleerte er hastig den Korb seines Inhaltes. Vor Allem griff er nach dem Mohnwecken.

„Am Ende hat es eine besondere Bewandtniß damit, weil mir derselbe so auffallend bezeichnet wurde,“ schoß es ihm plötzlich durch den Kopf, und rasch brach er ihn aus einander. Siehe – da war mitten in die Krume ein dünnes Röckchen Pergament eingesteckt. Mit fiebernder Hast entrollte Werner das Blatt und las die zugleich beglückenden und räthselhaften Worte: „Nur getrost, Sie Aermster, im rechten Moment wird das Scherenrecht Sie retten!“

Ein Seufzer unsäglicher Erleichterung entrang sich der Brust des Gefangenen, als er die Heilsbotschaft gelesen. Wenn er sich auch vergebens abquälte, was das Scherenrecht besagen wollte, so galt ihm nun doch als unumstößliche Gewißheit, daß seine Befreiung bevorstände!




Das unerhörte Vorkommniß, welches den Frieden des Damenstiftes gestört, bewegte alle Gemüther im höchsten Grade. Wie ein Schwarm aufgescheuchter Tauben, in welchen der Habicht eingefallen, flatterten in den Stunden nach dem Raubanfall die Fräulein, aller Würde ihrer sechzehn Ahnen vergessend, mit fliegenden Schleppen in den Korridors des Klosters umher. Endlich fanden sich Alle, wie auf Verabredung, im Konversationssaal zusammen und lauschten mit nimmersatter Neugierde auf die Berichte der zwei Hauptzeuginnen des grausen Verbrechens. Die Gräfin wollte es sich jetzt wieder doch nicht nehmen lassen, daß die Stellung, in der sie den Räuber zuerst erblickt, aufs Haar der eines stürmischen Galans geglichen. „Und welch’ wunderschöner Jüngling der schreckliche Bösewicht gewesen!“ setzte ihre jüngere Gefährtin mit schwärmerischem Augenaufschlag hinzu.

Benigna von Elmenau hatte Mühe, allen romantischen Auslegungen der peinlichen Geschichte zu steuern. Mit Sorge malte sie sich aus, welchen Umfang erst Klatsch und Verleumdung nehmen würden, falls die Wahrheit zu Tage kommen müßte. Wehe dann dem Ruf ihrer geliebten schuldlosen Prinzessin!

Mit mütterlicher Theilnahme suchte Benigna von Zeit zu Zeit die Fürstin auf, um sich zu überzeugen, daß in deren Pflege Nichts versäumt würde. Frau Mathilde lag noch immer im Fieber und phantasirte in beängstigender Weise; erst bei Tagesanbruch verfiel sie in einen tiefen Schlummer.

Die gute Benigna verbrachte ebenfalls in Sorgen eine schlaflose Nacht. Ihre Bestürzung war grenzenlos, als sie am späten Abend erfuhr, daß Franz Werner der Gerichtsbarkeit des Stifts entzogen und ins Gefängniß der Stadt gebracht worden sei. Der böse Fall war nun erst recht schlimm geworden. Sollte der verblendete Jüngling für sein allzuheißes Blut mit dem Leben büßen – unmöglich! So schien nichts Anderes übrig zu bleiben, als daß Benigna, wenn die Aebtissin nicht bald zum Bewußtsein zurückkehrte, selbst die leidige Wahrheit an den Tag brächte, um den Aermsten zu retten.

In früher Morgenstunde begab sich Fräulein von Elmenau wieder zur Aebtissin, um nach deren Befinden zu fragen. Wie groß war aber ihre freudige Ueberraschung, als sie die geliebte Fürstin völlig bei Besinnung und sogar in ihrem Bette aufsitzend und mit Schreiben beschäftigt fand.

„Dem Himmel sei Dank, daß ich Sie wieder so hergestellt sehe, erlauchte Frau, aber schreiben dürfen Sie um alle Welt noch nicht,“ mahnte Benigna.

„Auch nicht, wenn es sich um ein Menschenleben handelt?“ entgegnete die Prinzessin aufgeregt. „Als ich erwachte, war meine erste Frage, was mit dem Gefangenen geschehen? Stellen Sie sich mein Entsetzen vor, als ich erfuhr, daß der Unglückliche der Justiz der Stadt verfallen ist und schon diesen Morgen abgeurtheilt – zum grauenvollen Henkertode verurtheilt wird! Es ist keine Minute mehr zu verlieren, ich habe hier die volle Wahrheit niedergelegt, und Fernhaber soll sogleich damit zum Bürgermeister.“

,O, das macht Ihrem Herzen alle Ehre,“ erwiederte das Fräulein bewegt, „doch warum jetzt schon zum äußersten Mittel greifen, das erst recht dem Uebelwollen Thür und Thor öffnen würde? Warten wir wenigstens so lange damit, bis ich den Kanzleidirektor aufgesucht. Vielleicht findet unser treuer kluger Fernhaber einen Ausweg, Werner zu retten, ohne daß Sie, wenn auch ohne Verschulden, in Mitleidenschaft gezogen werden!“

Lange wollte die Prinzessin Nichts von diesem Aufschub hören. Nur zögernd gab sie endlich dem Drängen Benigna’s nach, weniger aus Ueberzeugung als aus körperlicher Schwäche. Sie fühlte sich durch das Fieber und die Anstrengung, welche ihr das Schreiben gekostet, so erschöpft, daß sie vorerst nicht mehr im Stande war, Benigna’s Gründe zu bekämpfen. Binnen Kurzem verfiel Frau Mathilde aufs Neue in wohlthätigen Schlummer und der hinzugekommene Medikus gab alle Hoffnung, daß die baldige Genesung der Fürstin bevorstehe.

Benigna suchte nunmehr den Kanzleidirektor auf, um in dem seltsamen Kriminalfall seinen Rath und Beistand zu erbitten. Auf Fräulein von Elmenau’s ängstliche Frage bestätigte ihr der [315] Kanzleidirektor, daß der Verbrecher ohne Zweifel zum Tode durch den Strang verurtheilt werde.

„So ist der unglückliche junge Mann wirklich unrettbar verloren?“ rief Benigna erschüttert aus.

„Der Unglückliche – geruhen gnädiges Fräulein zu sagen?“ fragte Fernhaber verdutzt. „Der ruchlose Verbrecher, der es gewagt, an unserer über Alles geliebten Fürstin ein so unerhörtes crimen zu verüben? Verloren ist er allerdings, sofern die Justificirung eines so gefährlichen Subjekts ein Verlust für die Menschheit sein sollte. Der Galgen ist ihm in der Reichsstadt so sicher, wie er ihm bei uns geblüht hätte.“

„Er kann und darf aber nicht hingerichtet werden!“ rief Benigna voll Bestürzung entgegen.

Fernhaber schaute mit großen Augen auf das Fräulein, ob er nicht recht gehört hätte. „Kann nicht – darf nicht, meine Gnädige?“

„Ach, wenn Sie wüßten, bester Fernhaber,“ fuhr Benigna fort, „wie das weiche Herz unserer Fürstin unter der Vorstellung leidet, daß der unselige Mensch wegen des an ihr begangenen Raubes zum Tode geführt werden soll! Der peinliche Gedanke an seine Hinrichtung hat sichtlich ihren Zustand verschlimmert. Ich bin fest überzeugt, daß die Kunde von seiner Begnadigung die allerbeste Arznei für sie wäre. Ich weiß ja, mein lieber Kanzleidirektor, wie hoch Sie unsere geliebte Furstin schätzen. Glauben Sie mir, die erlauchte Frau wird es Ihnen innig danken, wenn Sie die Last von ihrer Seele nehmen und es ermöglichen würden, den unglücklichen vom Henkertode zu retten!“

Herr Dominikus schüttelte bedenklich das gewichtige Haupt. Als Mann des Gesetzes fand er es unerhört, daß der Verbrecher der wohlverdienten Strafe entgehen sollte. Dagegen wieder mochte der alte Junggeselle mit Freuden jeden Wunsch seiner liebreizenden Gebieterin erfüllen. In tiefem Nachsinnen sah der Kanzleidirektor vor sich hin und spielte mechanisch mit einer riesigen Papierschere, die auf seinem Schreibtisch gelegen.

Mit einem Male sprang er vom Stuhl auf und betrachtete mit freudigem Ausruf die Schere, als ob ihm aus dem blanken Stahl ein Gedanke aufleuchte.

„Heureka – ich hab’s gefunden, meine verehrte Gnädige!“ begann Fernhaber, indem er wie im fröhlichen Spiel die Schere auf- und zuklappte.

Benigna beobachtete betroffen das seltsame Gebahren des sonst so gemessenen Kanzleidirektors.

„Was haben Sie denn? Man sollte meinen, Sie gedächten die Schere als Rettungsinstrument zu brauchen.“

„Ist auch der Fall, gnädiges Fräulein, das Scherenrecht wird den Delinquenten salviren; wo hatte ich nur meinen Kopf, daß ich nicht gleich darauf verfiel!“

Darauf begann Herr Dominikus, sichtlich erfreut, mit seiner Rechtsgelahrtheit prunken zu können, dem überrascht aufhorchenden Fräulein des Langen und Breiten aus einander zu setzen, was es mit diesem sonderbaren Gnadenrecht für eine Bewandtniß habe.




Der verhängnißvolle Morgen war angebrochen, da Franz Werner den Tod durch Henkershand erleiden sollte. Um die bestimmte Stunde begann das Armesünderglöcklein zu läuten, und der Zug mit dem Verurtheilten setzte sich nach der Richtstätte in Bewegung. An der Spitze schritten zwei Trabanten; dann folgten eine Abtheilung des städtischen Kontingents, die Vertreter der hohen Justiz und endlich der Verurtheilte mit einem Strick um den Hals, dessen Ende der Henker hielt. Zu beiden Seiten sowie am Schluß ward der Zug wieder von Stadtsoldaten geleitet, welche alle Mühe hatten, die andrängenden Neugierigen fern zu halten.

Es war ein wundervoller Sommertag; erfrischender Morgenwind kräuselte die blaue Fläche des Sees, leuchtend ragten die Schneehäupter der Berge über die grünen Ufer und fröhlich sangen die Vöglein in den Zweigen. Wohl Wenige aus der stumpfen Menge, welche gaffend und schwatzend an dem grausigen Schauspiel theilnahm, mochten daran denken, welch erschütternder Gegensatz in der friedlichen Pracht der Natur zu dem Schreckensende eines blühenden Lebens lag. Und doch – wie ergreifend war die Erscheinung des bemitleidenswerthen Helden des Schaustückes! Todtenbleich und mit gesenktem Haupte, wenn auch in fester Haltung, schritt der Aermste einher; der Ausdruck seines Gesichtes war ein tiefernster. In seiner Seele hatte in den letzten Tagen eine völlige Umkehr stattgefunden. Alle Phantastereien und Luftschlösser waren zerstoben vor dem furchtbaren Sturm seines Geschickes. Als Werner die tröstliche Botschaft Benigna’s empfangen, da hatte er sich heilig gelobt, seinem neugeschenkten Dasein fortan einen würdigeren Inhalt zu verleihen. Wohin haltlose Leidenschaft führen konnte, hatte er in entsetzlicher Weise an sich erlebt. Aber war es jetzt nicht zu spät zur Umkehr? Seit den räthselhaften Zeilen, welche Benigna im Einverständniß mit der Aebtissin ihm in den Kerker zugestellt, hatte sich nicht der geringste Hoffnungsschimmer mehr aufgethan. Nur wenige hundert Schritte trennten ihn noch von der schauerlichen Stätte des Gerichts – und noch immer kein Anzeichen, daß das Schreckliche von ihm abgewendet werden würde. Dennoch klammerte sich Franz Werner mit aller Kraft jugendlicher Lebenslust an das erhaltene Versprechen; er vermochte es nimmer zu fassen, daß die edle Prinzessin ihn so jammervoll zu Grunde gehen lassen konnte. Hatte er denn noch nicht genug gebüßt mit jedem Schritte auf dem Dornenpfad der Schmach? Als gemeiner Bösewicht der tausendköpfigen Menge zur Schau gestellt zu werden: das war eine Pein, die den Jüngling so ubermächtig ergriff, daß ihm fast die Sinne vergingen.

Der Malefikantenzug hatte sich nunmehr dem adeligen Stift genähert, an dem er auf dem Wege zum Hochgerichte vorüber mußte.

Da öffnete sich mit einem Male das Portal der Stiftskirche und heraus trat ein Zug ganz anderer Art, gar feierlich anzusehen. An der Spitze schritt Aebtissin Mathilde in schwarzer Sammtkleidung, mit den Insignien ihrer Wurde geschmückt. Ein schwarzer Florschleier umrahmte ihr Antlitz, dessen sonst so rosige Färbung einer tiefen Blässe gewichen war. Zu ihrer Rechten befand sich der Stiftsvikar, zur Linken der Kanzleidirektor in voller Amtstracht. Hinter der Aebtissin ging ein Stiftsdiener, welcher auf silberner Schale eine große scharfgeschliffene Schere trug, dann folgten, paarweise geordnet, die zwölf Stiftsfräulein, in dunkler Gewandung gemessen einherschreitend gleich dem Chor in der Tragödie.

Auf einen Wink Frau Mathildens hielt der Zug mit dem Verurtheilten still; Herr Dominikus Fernhaber schritt auf den städtischen Syndikus zu und that ihm im Namen seiner erlauchten Gebieterin kund, daß dieselbe von dem ihr zustehenden Scherenrechte dem Delinquenten gegenüber Gebrauch machen wolle.

Ungemessenes Staunen über diesen verblüffenden Zwischenfall bemächtigte sich aller Anwesenden.

„Das Scherenrecht?“

„Was mag das sein?“

„Was soll’s damit?“ so lief es von den nächststehenden Ohrenzeugen ausgehend blitzschnell durch die Menge. Die Wenigsten hatten von diesem Akt auch nur je erzählen gehört, war er doch seit fast hundert Jahren nicht mehr ausgeübt worden. Den Gerichtspersonen freilich war das Bestehen dieses Rechtes wohl bekannt.

Wer vermöchte zu schildern, was in Franz Werners Seele vorging, als die geliebte Prinzessin so überraschend gleich einem heilspendenden Engel des Lichts dem fast Verzweifelnden erschien!

Wie im Traume nur hörte er, was nun folgte und ihn doch so nahe betraf. Der Kanzleidirektor wandte sich abermals an den obersten Vertreter der städtischen Justiz mit dem Ersuchen, die von Kaiser Friedrich dem Dritten dem adeligen Stifte verliehene Gnadenurkunde vor versammeltem Volk verlesen zu dürfen. Vergebens jedoch geboten die Amtspersonen Stille, es war unmöglich, sich der aufgeregten Menge verständlich zu machen. Da verfiel der Lieutenant des städtischen Kontingents auf den Gedanken, die Trommeln einen langen Wirbel schlagen zu lassen. Das so überraschend gegebene Signal führte in der That sofort erwartungsvolle Stille herbei.

Herr Dominikus Fernhaber, welcher sich nicht wenig gehoben fühlte, in dem so seltenen Rechtsvorgang eine Hauptrolle zu spielen, entfaltete ein Pergament und begann mit weithin tönender Stimme den Gnadenbrief zu verlesen, dessen kurzer Sinn also lautete:

„Da der reichsstädtische Galgen im Einvernehmen mit dem gefürsteten Stifte auf einem Grundstück desselben errichtet wurde und desgleichen die MalefikantenzÜge dicht am Kloster vorbei mußten, so wurde vom Kaiser zum Entgelt dem Stifte das Losschneidungsrecht verliehen. Dasselbe bestand darin, daß die Aebtissin einen von der Stadt zum Galgen verurtheilten Verbrecher [316] nicht nur vom Tode, sondern auch von aller anderweitiger Strafe erlösen konnte. Eine jede Aebtissin durfte jedoch dieses nach genau festgestelltem Ceremoniell auszuübende Scherenrecht nur einmal vollziehen.“

Ein Gemurmel der Verwunderung erhob sich, als Herr Dominikus Fernhaber zu Ende gelesen hatte, und Aller Augen richteten sich gespannt auf die Hauptpersonen des Schaustückes, die schöne Aebtissin und den jugendlichen Verbrecher.

Mit einem unsäglichen Gefühl der Erlösung blickte Franz Werner tief aufathmend zum blauen Himmel empor. Wer mochte es dem lebenskräftigen Jüngling verdenken, daß seine erste Empfindung Freude über das wiedergeschenkte Dasein war? Nur zu rasch jedoch reihte sich der niederschmetternde Gedanke daran: „Was für ein Leben ist mir denn geschenkt; bleibe ich nicht als gemeiner Verbrecher gebrandmarkt all meine Tage?“

Aber Werner hatte keine Zeit, sich in solche Gedanken zu vertiefen. Als der Kanzleidirektor seine Vorlesung geendet hatte, erklärte der Syndikus, der Ausübung des Gnadenrechtes nichts in den Weg legen zu können, und gebot sodann dem Verbrecher, sich vor der erlauchten Frau Aebtissin auf die Kniee niederzulassen.

Ein fieberhafter Schauer überlief die Gestalt der jungen Fürstin, als sie den Unglücklichen in dieser schimpflichen Lage zu ihren Füßen erblickte. Sie hatte es sich in jugendlich romantischer Auffassung vorgestellt, welch entzückenden Eindruck es auf den verliebten Jüngling machen mußte, wenn sie in der letzten Minute plötzlich wie die wunderthätige Fee im Märchen hervortrat – wenn gerade sie die Retterin seines Lebens wurde. Wo blieb jetzt im entscheidenden Augenblick diese poetische Genugthuung? Wie so ganz anders als in jener unseligen Stunde der Verirrung sah der Jüngling nunmehr zu der Aebtissin auf! Als diese in das gramvolle Antlitz des einstigen Jugendgespielen schaute, dem die Qual über alle überkommene Schmach so erschütternd aufgeprägt war, da kostete es sie fast übermenschliche Anstrengung, ihre würdevolle Fassung zu behaupten. Mit Schrecken gelangte sie jetzt völlig zur Erkenntniß, was sie durch ihr Schweigen verschuldet. Bittere Reue erfaßte sie, daß sie auf Benigna’s Drängen sich hatte bewegen lassen, den leidigen Ausweg des Gnadenrechtes zu ergreifen und in kleinlicher Rücksicht auf ihren Ruf den Unglücklichen solcher Schmach zu überantworten. In diesem Moment aber reifte der Entschluß, dem um ihrer Ehre willen so Geprüften das Einzige wiederzuschenken, was ihn entschädigen konnte – seine eigene Ehre. Doch vorerst mußte sie ihres Amtes walten. Mit zitternder Hand ergriff die Prinzessin die Schere und schnitt den Strick, welchen der Henker immer noch hielt, entzwei.

„Anmit löse ich Dich, kraft des dem gefürsteten Stifte von Kaisers Majestät verliehenen Rechtes, von Tod und Gericht,“ sagte sie mit bebender Stimme.

Bis dahin war der Gnadenakt nach dem alten Herkommen verlaufen; nun trat aber eine überraschende Wendung ein. Die Aebtissin wandte sich an die städtischen Amtspersonen und lud diese ein, ihr ins Kloster zu folgen, da sie ihnen eine wichtige Mittheilung zu machen habe. Darauf bewegte sich der Stiftszug, gefolgt von den erstaunten Richtern und von Franz Werner, wieder dem Kloster zu.

Auch der städtische Zug trat den Heimweg an, umdrängt von der Menge, welche sich in lärmendem Gespräch dem Nachgenuß des so unerwartet und so seltsam abgeschlossenen Schauspiels überließ.

Inzwischen hatte sich die Aebtissin mit ihrem Gefolge in den Kapitelsaal des Stiftes begeben. Franz Werner ließ sich abermals aufs Knie vor der Fürstin nieder. Er mußte ja das Opfer vollenden und nach den Satzungen des Scherenrechts seine Armesünderrolle zu Ende spielen. Mit tonloser Stimme begann er der Aebtissin für seine Begnadigung die vorgeschriebene Dankesformel auszusprechen.

„Stehen Sie auf, Unglücklicher,“ unterbrach ihn dieselbe. „Sie haben unsäglich mehr gebüßt, als Sie verschuldet. Ich kann nicht wieder gut machen, was Sie unschuldig erduldet; aber ich darf auch Ihr Opfer nicht länger annehmen!“

Ein Gemurmel der Ueberraschung über diese räthselhaften Worte durchlief die Versammlung.

Nun begann die Fürstin mit anfangs zagender Stimme, welche aber stets mehr Festigkeit und Wohlklang gewann, die volle Wahrheit über die unselige Raubgeschichte zu offenbaren.

Sie klagte sich auch offen der Schuld an, aus Beweggründen, deren Nichtigkeit sie leider zu spät erkannt, so lange mit der Enthüllung des Geheimnisses gezögert zu haben.

„Daß Alles buchstäblich so vorgegangen, wie ich eben erzählt, verbürge ich mit meinem fürstlichen Worte. Ich bin bereit, an berufener Stelle jede Auskunft zu ertheilen, welche nöthig ist, um den Schein gemeiner Missethat völlig von dem jungen Manne zu tilgen.“

Mit diesen Worten schloß die Fürstin ihre Erklärung. Wohl war ihr anzusehen, welche Ueberwindung die für ein zartes Frauengemüth so peinliche Offenbarung ihr gekostet haben mochte; aber nun sie ihr Gewissen beruhigt, hatte sie auch ihre Würde und stolze Haltung wieder gewonnen.

Wahrhaft erschütternd wirkte es jetzt, als der überglückliche Jüngling in ergreifenden Worten der Aebtissin dankte, daß sie die bittere Schande von ihm genommen, die er Zeit Lebens tragen zu müssen geglaubt. Diese wehrte bewegt allen Dank ab und wandte sich an Herrn Dominikus Fernhaber: „Anmit beauftrage ich meinen getreuen Kanzleidirektor, sogleich ins Einvernehmen mit der hohen Obrigkeit der Stadt zu treten, damit die Unschuld des Franz Werner an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen in aller Form festgestellt werde. Einstweilen lade ich Herrn Werner ein, in der Gastfreundschaft des Stiftes auf unserem Klostergute Seehof den Verlauf abzuwarten.“

Darauf forderte die Aebtissin ihr Gefolge und Werner auf, sich in die Stiftskirche zu begeben, wo nach altem Herkommen das Scherenrecht seinen Abschluß finden sollte. Erschien auch die völlige Durchführung desselben nunmehr gegenstandslos, so war es der jungen Fürstin doch hochwillkommen, im Frieden des Gotteshauses den aufregenden Vorgang ausklingen zu lassen. Nachdem sich die Aebtissin von den Herren des Gerichts verabschiedet hatte, schritt sie an der Spitze der Edelfräulein, welche noch keine Zeit gefunden, sich von dem verblüffenden Ereigniß zu erholen, in Ehrfurcht gebietender Haltung der Kirche zu.

Wahrhaft glücklich über den großherzigen Entschluß der Prinzessin war die gute Benigna. Der Anblick Franz Werner’s hatte sie aufs Tiefste erschüttert, und das Bewußtsein ihrer Schuld an dem langen Schweigen der Aebtissin war ihr als schwere Last auf dem Gewissen gelegen.

Nun hatte die geliebte Fürstin das erlösende Wort gefunden, und frei durfte sie das schöne Haupt erheben – jetzt erst wieder das sorgenloseste aller regierenden Häupter im Reich.




Das erste Jahr im neuen Haushalt.

Eine Geschichte in Briefen.0 Von R. Artaria.


V. 0 2.

Nun, jetzt hieß es also, sich für die Bescherung rüsten. Ich hatte, im festen Glauben, nach S. zu kommen, noch gar nicht ordentlich vorgesorgt. Für meine Schwiegermutter allerdings ließ ich mir von Mama eine sehr hübsche Cuivrepoli-Platte schicken zur Wanddekoration, weißt Du, von denen, die genau aussehen wie getriebene Arbeit und für das, was sie vorstellen, fabelhaft billig sind. Das war also besorgt, aber Hugo? Was schenkt man einem Manne, der nicht raucht, keinen eleganten Schreibtisch will, nicht einmal Pantoffeln trägt?

Einen Wunsch von ihm wußte ich allerdings, aber der war mir unsympathisch. Er hatte schon oft im Scherz gesagt: „Es ist ein großer Mangel an Deiner Aussteuer, daß Du nicht einen guten Atlas mitgebracht hast!“ Denn er selbst hat nur einen „sehr schönen und kostbaren großen Stieler“ aus den vierziger Jahren, den seine Mutter wie ein Heiligthum hielt, wo man durch drei Viertel von Afrika auf einem großen weißen Fleck spazieren gehen kann und wo an dem Nil unten ein Fragezeichen ist. Bei den Donaufürstenthümern steht: Kleine und große Walachei. Aber war schadet das? Sofia und Bukarest stehen doch darauf; das Uebrige kann man sich dazu denken, und über kurz oder lang wird dort Alles doch wieder anders!

Du begreifst also, warum ich mich mit dem Gedanken des Atlas nicht befreunden kann; es steckte mir auch bereits ein anderer im Kopfe. Wie nothwendig wären ein Paar hübsche Klavierlampen! Nicht für Hugo direkt, das gebe ich zu, aber es gehört doch zur Einrichtung; er hat Freude an der Einrichtung, auch an meinem Klavierspiel, also wäre es

[317]

Illustration zu der Erzählung: „Das Scherenrecht“ von Otto Sigl.
Nach einer Originalzeichnung von J. Watter.

[318] doch auch für ihn! Mit diesen Gedanken und Zweifeln trug ich mich am Tage nach dem schwiegermütterlichen Besuche, mußte mich aber bald entscheiden; denn es war hohe Zeit, nur noch ein paar Tage bis zum Bescherabend.

Einstweilen begab ich mich ans Backen. „Willst Du nicht Stollen backen, Emmy?“ hatte Hugo gefragt. „Die Mutter bäckt sie immer zu Weihnacht.“

„Ach, Hugo,“ erwiederte ich ihm, „dazu muß man einen norddeutschen Magen von Kindesbeinen an haben; uns im Süden schmecken diese wochenlang aufgehobenen trockenen Stollen nicht. Du bekommst etwas Besseres!“

Ich wollte ihm einen guten englischen Kuchen machen, von Mandeln, Zucker, Rosinen, Citronat und Gewürz, der anders schmeckt als so ein bleichsüchtiger Stollen mit seinen sparsamen Rosinen; ich stellte mich also mit Rike in die Küche, wog ab, klopfte, stieß, zerrieb, theilte die vielen Ingredienzien ab, schlug einen gewaltigen Schnee und füllte die Geschichte endlich in die große Form. Rike wollte immer dazwischen fahren:

„Aber, Frau Assessor –“

Ich erwiederte ihr aber: „schweigen Sie, Rike, das verstehe ich einmal besser, thun sie nur, wie ich Sie heiße!“

Nun sollte der Kuchen eine Stunde backen. Das that er auch und wurde schön braun, ich schürte langsam und wissenschaftlich, um den gleichen Hitzegrad zu behalten, es ging Alles vortrefflich. Endlich kam er aus dem Ofen und sollte nun gestürzt werden. Ich überließ das Umschwingen Rike, als der Geübteren; sie machte es auch ganz schön, aber – als sie die Form emporhob, da rieselte und bröckelte es, und der ganze Inhalt thürmte sich vor meinen Augen in einen lockeren Berg auf die Platte. Von einem Kuchen keine Spur! Ich stand starr vor Entsetzen.

„Das hab’ ich mir gleich gedacht!“ sagte endlich Rike mit kaum verhehlter Schadenfreude, „gnädige Frau haben ja kein Mehl hinein gethan. Aber ich hab’ ja nichts sagen dürfen.“

Das Mehl! Richtig, da stand es noch, und ich in meiner Hast mit den vielen andern Sachen hatte es ganz übersehen. Ach, es war abscheulich, ich hätte beinahe weinen mögen, aber ich bezwang mich wegen Rike. „Nun, einen ganz guten Auflauf für heute stellt es doch noch vor,“ tröstete diese, „und die andere Hälfte giebt morgen die Mehlspeise. Der Herr Assessor merkt nichts!“ Wie solche Leute gleich den schwachen Punkt loshaben!

Nun, daß ich jetzt lief und die Bestellung wegen des Atlasses an den Buchhändler schrieb, kannst Du Dir denken. Es kam mir auf einmal vor, als ob Hugo sich doch nicht so sehr über die Lampen freuen würde; der Unglückskuchen hatte mich ganz deprimirt. Dann vergingen drei, vier Tage, und es blieb ganz still. Der Buchhändler schickte wohl den Atlas, aber keine Kiste von zu Hause kam, ich konnte mir mohl denken, daß Mama, die stets mit der Post in Fehde lebt, ihre Sendung wegen Rippenbruchs einer alten Pappschachtel retournirt bekam und sie dann nicht mehr rechtzeitig fortbrachte. Aber auch an Hugo kam kein geheimnißvolles Packet – am Ende wollte er mir Geld schenken! Von seiner Mutter erwartete ich mir überhaupt nichts Anderes, als den „Justus Möser“, für den sie so schwärmt, oder Jean Paul’s „Levana“.

Ach, wie dunkel und frostig war der Abend, als wir zur Bescherung hingingen, wie kämpfte ich mit meinen Heimwehthränen! Aber Hugo sollte nichts merken: er freute sich wie ein Kind auf die Bescherung. Oben war es hell und warm, der Theetisch stand im kleinen Entréezimmer, der unvermeidliche Notar saß bereits daran: Hugo’s Mutter ging ab und zu, viel lebhafter als gewöhnlich, auch merkwürdig freundlich, mit glänzenden Augen, und dabei fiel mir zum ersten Male ein, daß sie vermuthlich in ihrer Jugend sehr schön gewesen sein muß. Man denkt doch bei alten Leuten nie, daß sie auch einmal jung waren!

Im großen Zimmer erklang das Glöckchen, und als wir eintraten, glänzte uns der Christbaum entgegen. Die alte Köchin Lene, die natürlich auch dabei sein muß, zog das Tuch von unserer Bescherung und nun: ein Rufen, ein Umarmen! „Mein alter Junge, welche Herzensfreude!“ es war Hugo’s Kabinettsphotographie. „Emmy, Kind, wie schön!“ Damit meinte sie die Schüssel. Hugo fuhr auf seinen Atlas los, aber ich selbst stand starr! Zwei prächtige Klavierlampen mit Reflektoren und daneben – das Hütchen, das Müffchen, dem ich um so viel Schmerz entsagt hatte! „Hugo –“ da kam er schon, mich mit Küssen zu überfallen, und lachte mit strahlenden Augen. „Nun, Schatz, hab ich’s recht gemacht?“

„Hugo, Du – und wie ist es denn moglich – es kostet ja so viel Geld,“ stammelte ich durch einander, „ach und die Lampen!“

„Die sind von mir,“ sagte die alte Frau. „Ich sah neulich, daß sie Dir fehlen, als Ihr so hübsch spieltet.“

Das war Alles. Ich hatte schon vorher gemerkt, daß sie Hugo gar nichts von jenem Abend gesagt. Marie, mir ging ein Stich durchs Herz!

Und gleich darauf noch einer. Der alte Reutter ließ die Messingschüssel auf seinem Finger tanzen und sagte: „Was zum Kuckuck haben wir denn da? Wozu ist so ein Ding gut?“

Ich sah mich um – ja, wozu sollte das gut sein in dem altmodischen Zimmer, dessen Wände bedeckt sind mit verblaßten Daguerreotypen, Pastellportraits und bescheidenen kleinen Landschaften in Wasserfarben? Keine Möglichkeit, das glänzende, aufdringliche Ding dazwischen zu hängen; es wäre rein lächerlich gewesen. Daß mir das früher nicht einfiel! Ich hatte freilich auch gar nicht darüber nachgedacht.

Als nun Alles betrachtet und bewundert war, auch eine sehr schöne Fensterdecke, die Hugo von der Mutter erhielt, weil es in seinem Zimmer zieht, als auch der Notar mit seinen weitläufigen Dankesbezeugungen zu Ende war, setzten wir uns zu Tisch und es wurde merkwürdig gemüthlich. Zuletzt kam Punsch in einer alten bauchigen Suppenterrine (mit Stollen natürlich), und ich war bereits so lustig gestimmt, daß ich die Geschichte mit dem englischen Kuchen zum Besten gab. Es wurde tüchtig gelacht; Hugo meldete feierlich seine Ansprüche auf eine zweite, verbesserte Auflage an, seine Mutter aber sagte: Tröste Dich, Emmy! Dergleichen kann vorkommen, selbst alten, erfahrenen Hausfrauen. Ich erinnere mich einer schöngebratenen Weihnachtsgans, bei welcher meinen Gästen beim ersten Bissen Gabeln und Hände sanken: die Füllung war, statt mit Majoran, mit Wermuth gewürzt, aus der verwechselten Tüte! Das war noch ärger, als Dein Kuchen!“

Wir saßen noch ziemlich lange beisammen. Die Mutter sah ihren Sohn mit glückseligen Blicken an, wobei auch einige Strahlen auf mich fielen, dann holte Hugo eine alte Ledermappe herbei, worin sich alle möglichen Andenken früherer Jahre, Kinderbildchen von ihm mit einem blonden Lockenkopf, erste Briefe und ähnliche Dinge befanden; dazu erzählte der alte Reutter eine vermuthlich alle Jahre wiederkehrende Geschichte, wie er dem kleinen Hugo einmal beinahe eine Tracht Prügel aufgemessen hätte, wegen frevelhaftem aus dem Fenster Hängen. Dann brachte der große Hugo wieder den Atlas und die Männer vertieften sich in den Kongolauf und disputirten eifrig über die Kolonialfrage. Seine Mutter saß unbequem; ich holte ihr den Schemel, und dabei sah ich, daß er alt und abgeschabt war, und später betrachtete ich ihr Schlüsselkörbchen mit dem verblichenen Perlenrand, in dem die meisten Perlen fehlten. Warum war mir das Alles nicht früher aufgefallen!

Soll ich Dir sagen, was ich an jenem Abend fühlte? Daß ich anders bin als Diese, daß mir vielleicht etwas fehlt, was sie haben; aber ich kann nicht herausbringen, was es ist. Wenn ich an unser Haus zurückdenke, an Mama’s lebhafte Beweglichkeit, wie es stets um sie strudelte, und wie wir Alle sie plagten und mit ihr disputirten, daß sie nervös wurde und weinte, und dann doch wieder die Vergnügungslustigste von Allen war, wenn ich das vergleiche mit der stillen, gleichmäßigen Ruhe der alten Frau und Hugo’s tiefer Ehrfurcht für sie, dann weiß ich nicht, was ich denken soll. Ist es nur der Unterschied der großen und der kleinen Stadt, oder sind das andere Menschen?

Vom Whist war an jenem Abend keine Rede, und die Zeit ging merkwürdig schnell herum. Sonst hatte ich die Minuten gezählt, um von der alten Frau fortzukommen, heute wäre ich ganz gerne noch geblieben, als Hugo zum Aufbruch trieb. So gingen wir den ziemlich weiten Weg unter dem klargewordenen Sternenhimmel langsam, wie ein richtiges Liebespaar. Aber plötzlich, an der Ecke, wo unser Haus sichtbar wurde, erschrak ich fürchterlich: alle Fenster waren hell erleuchtet! „Hugo, es brennt!“ schrie ich und eilte voraus, die Treppe hinauf und riß die Salonthür auf.

Ach! da stand noch ein Christbaum, größer, schöner, als der eben verlassene mit vielen Lichtern, und darunter lag – die ganze Bescherung von zu Hause, ein Berg von herrlichen Dingen, und Briefe und Photographien, und alle die fernen Lieben waren wie leibhaft gegenwärtig, auch Du, meine liebe, liebe Marie! Mich überwältigte es im Moment so, daß ich mich hinsetzte und in Thränen ausbrach, aber ich war selig dabei, und Hugo war es auch, der Gute, der dies Alles bedacht und heimlich ins Werk gesetzt hatte.

O, welche schöne, glückliche Weihnacht war das! Wie hätten wir in unserm kleinen Nest nicht mit den Größten und Herrlichsten der Erde getauscht! „Sieh,“ sagte Hugo später, als wir am Fenster standen und noch einen Blick in die schneeglänzende Nacht hinaus warfen, „der Mond steht hoch über den Dächern, aber ein volleres Glück, als das unserige, deckt doch keines von allen.“
Emmy. 




Blätter und Blüthen.

Gesellschaftliche Unsitte. Es ist in neuester Zeit Mode geworden, daß auch unsere Gelehrten und Schriftsteller Gesellschaften in großem Stil geben, ja man spricht von einer Residenzstadt, in welcher hierin ein Wetteifer unter den namhaften Autoren herrscht, so daß manche Kreise geneigt sind, die Bedeutung des Schriftstellers nach der Größe seiner Salons, der Zahl der eingeladenen Gäste, dem Rang derselben, je nachdem besternte Diplomaten und Aristokraten und mit Millionen ausgestattete Geheimräthe sich in denselben bewegen, und nach der Qualität der aufgetischten Speisen und Getränke zu messen. Diese Gerüchte mögen übertrieben sein, aber es ist gewiß ein Körnchen Wahrheit darin. Der Aufwand unseres gesellschaftlichen Lebens ist viel größer geworden als früher, und in gleichem Verhältniß ist die Freudlosigkeit unserer Gesellschaften gestiegen. Unsere großen Dichter kannten solchen Ehrgeiz nicht und waren nicht in der Lage, ihm zu huldigen; selbst die Symposien im Goethe-Hause waren bescheidener Art; auch die Berliner Salons eines Varnhagen von Ense, einer Gräfin Ahlefeld öffneten sich nur wenigen Auserwählten.

In seiner Selbstbiographie spricht sich Gustav Freytag, ein Schriftsteller, dessen Ruf gewiß keine gesellschaftliche Folie brauchte, dessen Vermögenslage überdies stets eine sehr günstige war, über sein geselliges Leben in Leipzig aus. Er macht dabei sehr beachtenswerthe Bemerkungen, deren Nutzanwendung sich das nach fashionabeln Lorbeern strebende Schriftstellerthum der Gegenwart nicht entgehen lassen sollte:

„Zu Leipzig fühlte ich mich fest in den Herzen alter Freunde verankert und ich denke oft mit Sehnsucht der lieben Kameradschaft. Einem jüngeren Geschlechte aber möchte ich das einfache, häusliche und ehrbare Leben des Kreises, der mich dort umgab, gern empfehlen. Jedem war selbstverständlich, daß die Abendstunden, in denen der Mann von seiner Tagesarbeit ausruht, vor allem andern der Hausfrau und der Familie gehörten. Es ist ein übler Brauch, wenn der Mann den Abend im [319] Klub oder in Restaurationen verlebt, und wer einen neuen Haushalt einrichtet, sei er reichlich oder bescheiden, der möge sich vor dem schweren Unrecht wahren, das er dadurch seinen Liebsten zufügt. Da ein Mann aber auch den frohen Verkehr mit andern und den Austausch kluger Worte nicht entbehren kann, so war unter uns nach dem Arbeitstage eine Stunde festgesetzt, in der wir uns in einer Tafelrunde zusammenfanden: es war nur eine Stunde, aber sie bot zur Genüge die Anregung und Erfrischung, welche wohlthaten. Und wenn wir uns des Abends gegenseitig in unsern Haushalt luden, mit den Frauen oder auch für Männergespräch, so war festgesetzt, daß nicht mehr als ein, höchstens zwei Gerichte aufgesetzt werden durften, und kein theurer Wein. Bei solcher Ordnung schwirrten wir vergnügt wie die Heimchen. Seitdem ist der gesellschaftliche Verkehr viel anspruchsvoller, umständlicher und üppiger geworden, auch in den Kreisen, welchen vor Allen obliegt, das Leben der Deutschen gesund zu erhalten. Sogar unsere Gelehrten ergeben sich verschwenderischen Mahlzeiten zu später Abendstunde; wohl Jeder empfindet, wie ihm den andern Morgen das Haupt beschwert, die Nerven abgespannt sind; viele beklagen die Unsitte, aber sie fügen sich dem unholden Brauch und laden auch wohl ihre Studenten dazu ein, damit diese für ihr späteres Leben Sehnsucht und Bedürfniß nach ähnlicher Erschwerung des Daseins erhalten. Dies abgeschmackte Auftischen soll man doch solchen überlassen, welche kein besseres Selbstgefühl haben, als ihren Wohlstand durch Bärenschinken und eingeführte Kostbarkeiten zu zeigen. Gegenüber dieser Verschlemmung, welche in unser Tagesleben eindringt, ist es Zeit, daran zu mahnen, daß alle diese reichlichen Zuthaten zu dem äußern Leben, nicht allein bei der Tafel, auch in der gesammten Einrichtung des Hauses, ein unnützer Ballast sind, der da, wo er zur Herrschaft kommt, den Menschen nicht heraufhebt, sondern hinabdrückt.“

Das sind beherzigenswerthe Worte. Unsere Schriftsteller und Dichter mögen viellecht das Bestreben haben, der Welt zu zeigen, daß sie nicht mehr in Dachstübchen zu wohnen brauchen, wie Kotzebue’s „Armer Poet“, und daß ihnen mehr offen steht als der Himmel des Zeus; doch auch die profane Welt weiß, daß die Bedeutung der Dichter zu ihren Einnahmen meist nicht im geraden, sondern im umgekehrten Verhältniß steht. Das Genie im Dachstübchen ist noch immer kein Anachronismus, wenn auch die luxuriös eingerichtete Mittelmäßigkeit, die sich breit in den Vordergrund schiebt, darüber zu täuschen sucht.

Pferdemarkt in Thüringen. (Mit Illustration S. 308 und 309.) Schon seit den ältesten Zeiten haben die Bewohner Thüringens eine große Vorliebe für das edle Roß gezeigt. Hat doch selbst Thüringens letzter König Hermanfried als bestes Brautgeschenk dem mächtigen Ostgothenherrscher Dietrich silberweiße Rosse zugesandt. Diese Neigung zu dem schönsten unserer Hausthiere hat sich ungeschwächt im Thüringer Stamme fortgeerbt, und noch heutigen Tages bildet die Aufzucht von Pferden eine gute Einnahmequelle für die Landwirthe. Stolz zieht der reiche Gutsherr mit seiner Koppel überzähliger Pferde zu Markt, und auch der einfache Bauersmann treibt seinen wohlgenährten Gaul dorthin zum Verkaufe; denn der „Roßmarkt“ übt einen mächtigen Reiz auf Städter und Landbevölkerung aus; er ist ein Fest, wo Jedermann Vergnügen findet.

In langen Reihen sind sie aufgestellt, die Rosse, denen das Hausrecht gekündigt wurde. Buntscheckig und vielgestaltig ist die Schar „lebendiger Waare“, und manche Rasse ist dabei vertreten. Der junge Hengst hebt muthig seinen Kopf und begrüßt mit lautem Wiehern seine Genossen; träge steht der alte Gaul und träumt oder zupft Grashälmchen, die am Platze wachsen, und unruhig zerrt das Füllen an der ungewohnten „Halfter“.

Dazwischen stehen Gruppen neugieriger Beschauer, welche schönen Thieren ihre Bewunderung zollen und über arme Klepper spotten. Hier handelt laut, mit vielen Worten der „Roßkamm“ mit dem reichen Grundbesitzer; dort schachert ein anderer mit einem Bäuerlein, und zehn und zwanzig Mal beschauen sie das begehrte Roß. Mit Peitschenknall wird es zu raschem Lauf getrieben, um seine Haltung und Geschicklichkeit zu zeigen. Trotz alledem geschieht es doch, daß mancher Händler sich „verkauft“, zumal wenn das Geschäft in einer der geschmückten Trinkbuden abgeschlossen wurde. Besieht er dann zu Hause seinen Kauf, so kraut er sich mißmuthig hinter den Ohren und denkt und spricht: „Ich wollt’, ich hätt’ das Pferd erst an den Mann gebracht; beim Pferdekauf muß man die Augen offen halten.“[3]

Der Segen des Telephons kommt Niemand so sehr zu Statten, wie der Frau Regierungsräthin Müller in Berlin. Die ältliche Dame ist Wittwe, sie besaß drei Töchter, die sich nach einander verheirathet haben. Leider fügte es der Zufall, daß die drei jungen Paare in die Provinz verschlagen wurden. Mariechen hat einen Hauptmann geheirathet, der ein Jahr nach der Hochzeit nach Spandau versetzt wurde; Mathildens Mann hat nach dem plötzlichen Tod seines Bruders dessen Geschäft in Magdeburg übernehmen müssen, und Grete heirathete nach Stettin; sie hatte einem Schiffsbau-Ingenieur die Hand gereicht. Nun ist die alte Dame ganz allein, und das ist oft gar traurig, zumal an den langen Winterabenden. Ja wenn das Telephon nicht wäre, o, das ist eine prächtige Einrichtung! Die Frau Regierungsräthin war eine der ersten, die sich anschließen ließ, seit die Verbindung mit den drei genannten Städten hergestellt worden ist, und obwohl sie den Anblick ihrer geliebten Kinder entbehren muß, steht sie doch, dank dieser wunderbaren Erfindung, in fortdauerndem lebhaften Verkehr mit ihnen. Schon am frühen Morgen bimmelt die Signalglocke. Mathilde in Magdeburg spricht: „Guten Morgen, Mamachen, bitte, sag ’mal, wie viel Eier nahmen wir doch immer zur Mayonnaise?“ – und der zwischen Berlin und Magdeburg gespannte Draht vermittelt das Mayonnaisenrecept. Nach einer Weile meldet sich Grete: „Ich habe die Schneiderin im Haus, räthst Du mir, daß ich mein weißes Cachemirkleid zertrennen lassen soll?“ – Und nun entspinnt sich zwischen der deutschen Kapitale und Stettin ein angelegentliches Gespräch über das Geschick des weißen Cachemirkleides. Die Frau Regierungsräthin kann sich’s nicht versagen, Grete der Verschwendungssucht zu zeihen; die Unterredung wird mit steigender Leidenschaftlichkeit geführt; zuletzt mischt auch noch die Stettiner Schneiderin ihre Stimme hinein, indem sie der Frau Regierungsräthin ihre Ansichten über das weiße Cachemirkleid unumwunden darlegt.

Mariechen in Spandau legt weniger Gewicht auf so praktische Dinge, und wenn sie ihre zärtlich geliebte Mama an den Apparat ruft, sind es nur Spandauer Weltbetrachtungen, die sie von sich giebt, z. B.: „In Spandau regnet es seit gestern, bei Euch auch? Man wird hier ganz schwermüthig“ etc. Der unbezahlbare Nutzen des Telephons erweist sich aber erst am Abend, wenn die Tagesfragen schweigen und die Stunden der geselligen Unterhaltung anbrechen. Da wird der Frau Regierungsräthin die Zeit nicht lang; sie rückt ihren behaglichen Lehnstuhl an den Kamin, in dessen Nähe sich der Apparat befindet, und unterhält sich bei ihrem einsamen Thee, als säße sie im plaudernden Kreise ihrer Kinder. Besonders wenn Grete, Mariechen oder Mathilde oder gar alle drei melden, daß die Männer ausgegangen sind, dann setzen sich die vier Damen im Geiste zusammen, und durch die mütterliche Vermittelung spricht die Schwester in Magdeburg zur Schwester in Stettin, und Spandau ist auch dabei; ja, oft giebt’s zwischen den entfernten Schwestern einen ganz erregten Disput, und der Mama kommt es zu, telephonisch das Vermittleramt zu übernehmen. Daß bei dieser Gelegenheit auch der abwesenden Männer gedacht wird, ist selbstverständlich, und da die Frau Regierungsräthin von den jungen Ehemännern, wenn auch nicht gefürchtet, so doch als strenge und gerechte Schwiegermutter respektirt wird, genügt oft die verkappte Drohung: „Ich werde, während Du ins Kasino gehst, mit Mama in Berlin sprechen,“ um die Pflichtvergessenen an das Haus zu fesseln, und das ist ein Nutzen des Telephons, an den kaum noch Jemand gedacht hat. Paul v. Schönthan.

Eine merkwürdige Lichterscheinung um die Sonne und den Mond. Am 7. Januar dieses Jahres herrschte in dem Orte Crisman in Colorado ungewöhnliche Kälte, selbst zur Mittagsstunde stand das Thermometer noch 12 Grad unter dem Gefrierpunkte. Dennoch eilte damals Nachmittags Alles vor die Thüren und schaute gegen den Himmel, denn die Sonne bot einen wunderbaren Anblick. Von einem in den Regenbogenfarben leuchtenden Ringe umgeben, strahlte die Sonnenscheibe auf die beschneite Erde. Ein glänzender Streifen Licht zog sich fast parallel dem Horizont durch die Sonne, und wo er den farbigen Kreis durchschnitt, glänzten zwei Nebensonnen. Endlich zog sich noch ein großer, farbiger Bogen, ähnlich einem leuchtenden Horn, um den Scheitelpunkt. So stand die Erscheinung leuchtend am Himmel, bis die Sonne sank. Als dann Abends der Mond emporstieg, wiederholte sich das wunderbare Schauspiel, wenn gleich weniger intensiv und einfacher. Unsere Abbildung zeigt die Lichterscheinung um den Mond.

Diese Erscheinung, welche an mehreren Orten in Colorado gesehen wurde und die seltsamsten Deutungen erfuhr, ist auch früher schon beobachtet worden, so am 15. September in der Nähe von Genf, wo die Landleute in Schrecken geriethen, weil sie glaubten, die Sonne habe sich vervielfältigt und werde die Erde in Flammen setzen. Die Physiker und Meteorologen haben die Ursache dieses Phänomens längst ergründet und gezeigt, daß alle diese Erscheinungen durch die Brechung des Lichtes in kleinen Eiskrystallen, welche in den hohen Regionen der Luft schweben, entstehen. Daß wirklich auf diese Weise das ganze prachtvolle Phänomen zu Stande kommt, hat schließlich der Naturforscher Brewster auch durch das Experiment nachgewiesen. Er ließ nämlich auf einer Glasplatte eine dünne Schicht Alaunlösung krystallisiren und hielt diese Tafel zwischen das Auge und die Sonne. In der That sah er nun farbige Kreise um die letztere, welche große Aehnlichkeit mit den Sonnenhöfen zeigten.

Im Schloß der Piccolomini. Eine der blutigsten Schlachten, die je in den Pässen des nördlichen Böhmens geschlagen wurden, fand im Jahre 1866 bei Nachod statt. Hoch über der Stadt liegen die Tapfern begraben, welche diesem ersten entscheidungsvollen Kampfe des großen Kriegs zum Opfer fielen. Da schlummern sie auf stillumgrenztem Friedhof unter Fliederbüschen und Lindenbäumen, und die Herrin des altersgrauen Schlosses, das nicht weit vom Bergesrand mit seinen stolzen Thürmen hinabschaut in das blühende Thal, hütet ihre Ruhe und schmückt ihre Gräber mit Blüthen des Friedens.

In diesem Schlosse residirte einst Oktavio Piccolomini. Da ist er in zahlreichen Bildern noch heute zu schauen, in vielgestaltigen, bald imposanten, bald lächerlichen Situationen, bald hier auf wandumspannendem Oelbild als Präsident des Friedensbanketts zu Osnabrück, bald dort oben im Stuckplafond, wo Sankt Peter dem gefürchteten Mann höchstselbst submissest die Himmelsthür öffnet und allerlei Englein die Schleppe seines Purpurmantels und die sonstigen Insignien seines Ranges ihm voran- oder nachtragen. Im großen Empfangssaal des Schlosses sind viele andere Glieder des alten Hauses versammelt in lebensgroßen, von Meisterhand gemalten Bildern. Hier fesselt den Blick des Beschauers jene hohe [320] schlanke Jünglingsgestalt mit dunkeln, schwermuthsvoll umflorten Augen und melancholisch träumerischen Zügen, das dichte schwarze Haar lockig herabfallend um das blasse Oval des edlen Gesichts. Das ist Max, der vielbekrittelte und trotz allem vielgeliebte Held der Schiller’schen Dramen. Thekla Wallenstein bleibt eine apokryphe Figur, aber die Gestalt Max Piccolomini’s trat aus historischem Grabe in den Rahmen der Schiller’schen Poesie. Zwar war der historische Max nicht Oktavio’s Sohn, wohl aber sein Neffe und prädestinirter Erbe. Auch der Reitertod des kaiserlichen Obersten ist historisch: freilich nicht im Sinn der Schiller’schen Dichtung. Max Piccolomini fiel im Reitergefecht bei Jankau am 6. März 1645 gegen die Schweden. Er war mit dem Rosse gestürzt, gefangen und wieder befreit worden, als die Schweden ihn bei seiner erneuerten Attacke zum zweiten Male fingen und nun grausam ermordeten. Am 12. März wurde er in Nachod bestattet.

Der letzte Träger des stolzen Adelsgeschlechtes starb früh in Neapel. Seine Züge schauen weichlich, fade, lüstern, entnervt aus dem Bilde, welches die Reihe seiner Ahnen schließt.

Es war nach der Ermordung Terzky’s zu Eger, im Jahre 1634, als dessen Herrschaft Nachod an Oktavio fiel, ein Geschenk seines dankbaren Kaisers. In der Schlacht von Jankau zahlte der Schloßherr von Nachod für das Blut des Fürsten von Friedland (dessen Wiege, wie sie sagen, in demselben Schlosse gestanden hatte) die Buße mit dem Blute seines Erben – und heut blüht über den Gräbern der Piccolomini ein norddeutsches Fürstengeschlecht. Wie gewonnen, so zerronnen!

„Gedichte eines Optimisten.“ In unseren Gedichtsammlungen herrscht in der Regel ein nach berühmten Mustern arrangirter Pessimismus und die Welt liegt im tiefsten Schatten. Um so erfreulicher ist es, daß ein Poet einmal auf dem Titelblatte verkündet, er gehöre nicht zur Gemeinde der unheimlichen Schwarzseher, sondern sehe in der Welt noch Sonnenschein und frohe Menschen. Der Redakteur der „Deutschen Jugend“, Julius Lohmeyer, hat eine Sammlung mit solchem Titel herausgegeben (Leipzig, Liebeskind), und man erfreut sich an anmuthenden Liedern und stimmungsvollen Bildern aus dem Naturleben und sinnigen Sprüchen; denn gedankenreich kann auch eine Muse sein, welche nicht immer über den Abgründen des Daseins brütet. Ein paar kleine Liederblüthen aus dem Strauß der Lohmeyer’schen Dichtung wollen wir unsern Lesern nicht vorenthalten:

Ein Thautropfen.

Nichts weiter als ein Tröpflein Thau
Auf weiter sonnbeglänzter Au;
Und doch, ein Blümchen hat’s erquickt,
Ein Wand’rerauge hat’s entzückt;
Durchleuchtet einen Augenblick
Ward’s von der Sonne Glanz und Glück.
Ein Tropfen Thau! Doch kannst du mehr
Auf Gottes Weltflur sein als er?

Dennoch.

Kein Hüttchen ist so arm und klein,
Ein freundlich Gärtchen nennt es sein,
Und ist’s kein Gärtchen schmuckumhegt,
Von sorglich treuer Hand gepflegt,
So ist es doch ein Nelkenbeet,
Von Farbenglanz und Duft umweht,
Und ist’s kein Beet, so blüht ihm doch
Ein Rosenstock am Fenster noch,
Und wenn ihm selbst kein Röslein blüht,
Um das sich seine Hand bemüht,
Auch ohne Mühen,
Ohne Lohn,
Am Zaun noch blühen
Wind’ und Mohn.

Ein Panzerschiff aus dem Jahre 1530. Man nimmt für gewöhnlich an, daß die Panzerschiffe eine ganz moderne Erfindung seien, und wird darum nicht ohne Interesse von einem Schiffe vernehmen, das die Johanniter im Jahre 1530 zu Nizza hatten erbauen und mit einem Bleipanzer umgeben lassen. Es führte eine Menge Kanonen, hatte dreihundert Mann Besatzung und war prachtvoll eingerichtet; so enthielt es eine Betkapelle, ein Empfangszimmer und eine Bäckerei. Die „Santa Anna“, so hieß es, gehörte zu dem Geschwader, das von Kaiser Karl V. gegen Tunis gesandt wurde. Der berühmte Andreas Doria kommandirte die Expedition, welche mit der Eroberung von Tunis endigte. Die „Santa Anna“ trug nicht wenig zu diesem glücklichen Erfolge bei; sie bewährte sich sehr, ihr Panzer machte sie für alle Kugeln undurchdringlich.

Bei den Morse-Telegraphenlinien in den Vereinigten Staaten sind nicht weniger als 30 000 lokale Läuter im täglichen Gebrauche. Der Gesammtverbrauch an Kupfer in den lokalen Batterien beläuft sich im Jahre auf etwa 375 000 Kilogramm und von Zink werden 50 000 Kilogramm verbraucht.

Die Astronomen von Pittsburg (Pennsylvanien) sagen, daß das Naturalgas für ihre teleskopischen Beobachtungen störender ist, als es der Rauch jemals war. Das Licht und die Hitze in Folge der Gasverbrennung in den zahlreichen Auslaßröhren in der Stadt stören und bewegen die Atmosphäre in solchem Grade, daß teleskopische Beobachtungen zu Zeiten ganz unmöglich sind.

Allerlei Kurzweil.

Bilder-Räthsel.

Problem: „Der Druidenfuß“.
Magische Kugel-Pyramide von Erin.

Man wähle für die oberste einzelne Kugel einen Vokal und füge bei jeder Kugelreihe, unter Beibehaltung der einmal gewählten Buchstaben, deren Verschiebung jedoch erlaubt ist, einen neuen Buchstaben hinzu. Als Resultat ergiebt sich dann in der Reihenfolge der Schichten von oben nach unten: 1) ein Vokal, 2) ein Säugethier, 3) ein Monat, 4) eine Stadt in Südamerika, 5) ein europäischer König, 6) eine asiatische Insel, 7) eine Stadt in Italien.


Kleiner Briefkasten.
(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

Sch. in München. Der Gebrauch, ein blankes Silberstück mit verdächtigen Substanzen zu kochen, ist bekannt. Das Mittel wird nicht nur beim Zubereiten von Muscheln, sondern auch von Schwämmen benutzt. Es beruht auf der Eigenschaft des Silbers, durch Schwefelwasserstoff in schwarzes Schwefelsilber umgewandelt zu werden. Bekanntlich werden ja auch in Schwefelbädern alle silbernen Objekte schwarz. Da nun die meisten thierischen Stoffe, besonders aber Meerthiere, bei der Zersetzung und Fäulniß Schwefelwasserstoff entwickeln, dient das Mittel vortrefflich zur Anzeige von in Zersetzung begriffenen Nahrungsmitteln dieser Art. Dagegen kann das Mittel kein Gift anzeigen, an dessen Zusammensetzung der Schwefel nicht Antheil hat. Es ist durchaus nicht im Stande, Infektionsgifte anzuzeigen und läßt auch bei den meisten Schwammgiften vollkommen im Stiche. Das Gift, welches sich unter besonderen Bedingungen in der lebenden Miesmuschel entwickelt, kann auf diese Weise nicht angezeigt werden. Aus diesem Grunde hat auch der Verfasser des Artikels „Allerlei Nahrung“, auf S. 233 der „Gartenlaube“, das Mittel nicht erwähnt, und er möchte Jedermann warnen, blindes Vertrauen auf ein Muschelgericht zu setzen, auch wenn es mit einem blanken Fünffrankenstück gekocht wäre.

C. S. in Antwerpen. Besten Dank für Ihre Mittheilung. Wenn man in Antwerpen Miesmuscheln roh ißt, so wird es auch wohl in anderen Städten Belgiens und Hollands geschehen. Es war ja gerade auffallend, daß es gewöhnlich nicht geschieht.

P. C. in Rudolstadt. Sie fragen uns nach dem Alter mehrerer Schriftsteller, ja sogar nach demjenigen mehrerer Schriftstellerinnen, was immerhin eine etwas indiskrete Frage ist. Gleichwohl finden Sie auch diese beantwortet in Kürschner’s „Litteraturkalender“, von welchem jetzt der Jahrgang 1887 erschienen ist. Dort ist das Geburtsjahr der meisten Autoren neben ihrer Lebensstellung und ihren Schriften angegeben. Die Zahl der dort angeführten Schriftsteller ist eine so große, daß man um die Zukunft des deutschen Schriftthums nicht besorgt zu sein braucht.

Stud. P. N. in Jena. Sie bewerben sich am liebsten um Preise, die für Aufsätze ausgesetzt sind, welche Ihre eigenen Lebenskreise berühren. Die „Allgemeine deutsche Universitätszeitung“ hat einen Preis von 200 Mark für die beste Bearbeitung des folgenden Themas: „Zweck und Mittel einer einheitlichen Organisation der deutschen Studentenschaft“ ausgesetzt und einen Preis, der in einem schön ausgestatteten Humpen besteht, für die beste Humoreske aus dem studentischen Leben.

K. R. in Halle. Bei dem Spruch, mit welchem Paul Heyse den Leipziger Mendebrunnen geschmückt, hat sich allerdings in die vorletzte Zeile ein Druckfehler eingeschlichen. Die beiden letzten Zeilen müssen heißen:

In laut’rer Helle
Lehrt es die Welle![WS 1]

B. K. in Hamburg. Ein Verzeichniß der im Laufe dieses Sommers stattfindenden Regatten vermögen wir Ihnen wegen Raummangels nicht zu geben. Sie finden jedoch dasselbe in Nr. 13 der Zeitschrift „Ahoi!“ Es werden laut demselben nicht weniger als 19 Ruder-, 33 Segelregatten und 1 Kanoeregatta in 21 deutschen Städten stattfinden. Berlin steht obenan mit 16 Regatten; dann folgen Hamburg mit 11, Bremen mit 3, Frankfurt a. M., Kiel, Lübeck, Schwerin mit je 2 Regatten, während in Dresden, Hameln, Wien, Heilbronn, Breslau, Uerdingen, Magdeburg, Mainz, Deggendorf, Mannheim, Stettin, Königsberg, Rostock, Ziegenort und Travemünde je eine Regatta stattfinden soll. Fast alle Sonntage in den Monaten Mai, Juni, Juli, August und September sind schon mit Regatten belegt; frei sind augenblicklich nur noch der erste Pfingstfeiertag und der Sonntag vom 22. Mai.

H. W. in Finsterwalde. Beides ist richtig, da es sich um zwei Reisen handelt.


Inhalt: Götzendienst. Roman von Alexander Baron v. Roberts (Fortsetzung). S. 305. – Der kleine Doktor. Illustration. S. 305. – Ueber chronische Katarrhe der Athmungswege. Von Dr. M. A. Fritsche, Specialarzt in Berlin. I. Der chronische Schnupfen und seine Folgezustände. S. 310. Mit Abbildungen S. 311. – Das Scherenrecht. Erzählung von Otto Sigl (Schluß). S. 313. Mit Illustrationen S. 313, 314 u. 317. – Das erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. V. 2. S. 316. – Blätter und Blüthen: Gesellschaftliche Unsitte. S. 318. – Pferdemarkt in Thüringen. S. 319. Mit Illustration S. 308 und 309. – Der Segen des Telephons. Von Paul v. Schönthan. S. 319. – Eine merkwürdige Lichterscheinung um die Sonne und den Mond. Mit Abbildung. S. 319. – Im Schloß der Piccolomini. S. 319. – „Gedichte eines Optimisten“. S. 320. – Ein Panzerschiff aus dem Jahre 1530. S. 320. – Bei den Morse-Telegraphenlinien in den Vereinigten Staaten. S. 320. – Die Astronomen von Pittsburg. S. 320. – Allerlei Kurzweil: Bilder-Räthsel. S. 320. – Problem: „Der Druidenfuß“. S. 320. – Magische Kugel-Pyramide. Von Erin. S. 320. – Kleiner Briefkasten. S. 320.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Der Nasenrachenraum ist derjenige oberhalb des Zäpfchens und weichen Gaumens belegene Hohlraum, in den die Nasengänge mit ihren hinteren Oeffnungen und die beiderseits ins innere Ohr führenden Ohrtrompeten (tubae Eustachii) münden und welcher den Uebergang von der Nase zum Rachen bildet.
  2. Süß ist es und ehrenvoll, für – die Liebe zu sterben.
  3. Sprichwörtl. Redensart.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe den Artikel Deutscher Bürgersinn in Heft 14.