Ein neues Künstler-Denkmal

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Autor: Johann Christian Lobe
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Titel: Ein neues Künstler-Denkmal
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aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 457–460
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein neues Künstler-Denkmal.

Im Jahre 1790 trat eines Tages ein Fremder bei Mozart ein und überreichte demselben einige Empfehlungsschreiben, in denen der Vorgestellte als ein sehr talentvoller Clavierspieler und Componist bezeichnet war, der blos nach Wien gereist sei, um den großen Meister zu hören. Das vernachlässigte Aeußere und linkische Benehmen des jungen Mannes erregten keine großen Erwartungen bei Mozart, die auch nicht erhöht wurden, als jener am Clavier improvisirte, denn der Meister glaubte ein auswendig gelerntes Stück zu hören. Gereizt durch die kühle Aufnahme, erbat sich der Fremde ein Originalthema. „Na warte,“ murmelte Mozart, „Dich will ich schon erwischen!“ Er schrieb ein Fugenmotiv auf, in welchem sehr künstliche, nur dem Eingeweihten entdeckbare Combinationen versteckt lagen. Als aber der junge Mann über diese äußerst verfängliche Aufgabe beinahe drei Viertelstunden lang mit immer steigender Kunst und Genialität phantasirte, schlich Mozart auf den Zehen in das offene Nebenzimmer zu seinen dort versammelten Freunden und flüsterte ihnen mit funkelnden Augen zu: „Auf diesen hier gebt Acht! der wird Euch einmal etwas erzählen!“ – Dieser junge Musiker war – Beethoven.

Die vollständige Ausgabe seiner Werke, die soeben begonnen, ein Unternehmen, dem wir an Interesse und Wichtigkeit für die ganze musikalische Welt gegenwärtig kein zweites an die Seite zu stellen wüßten, veranlaßt uns, bevor wir Näheres darüber berichten, einige Notizen über das Leben und die Schöpfungen dieses großen Tondichters hier mitzutheilen, zumal uns eine lange Erfahrung gelehrt hat, daß vom großen Publicum nur wenige den seltenen und seltsamen Menschen Beethoven kennen, über seine Werke aber manche noch bis heute umlaufende falsche Meinung zu berichtigen sein möchte.

Ludwig van Beethoven wurde den 17. December 1770 zu Bonn geboren. Schon vom fünften Jahre an gab ihm sein Vater, der als Tenorsänger in der kurfürstlichen Capelle angestellt war, Unterricht auf dem Clavier. Elf Jahre alt spielte er mit Erstaunen erregender Fertigkeit Bach’s „wohltemperirtes Clavier“, – achtundvierzig der allerschwersten Fugen mit eben so viel Präludien dazu! Auch im Generalbaß erhielt der Knabe später von dem dortigen Musikdirektor Neefe einigen Unterricht und fing bald an zu componiren. Im Jahre 1792 siedelte Beethoven ganz nach Wien über. Dort begann er die Regeln seiner Kunst ernstlicher zu studiren, zuerst bei Haydn, dann bei Albrechtsberger und Salieri. Aber schon zeigte sich ein störrisches Wesen an ihm; er hatte wenig Respect vor Autoritäten und wurde seinen Lehrern oft unbequem durch verfängliche Fragen, Zweifel und Einwürfe. Freilich, während er bei jenen Männern noch als Schüler erschien, arbeitete er insgeheim bereits an einem Meisterwerke, seinen drei ersten Claviertrios. Sie erschienen 1795 und wurden mit außerordentlicher Theilnahme aufgenommen. Der Fall ist selten, daß das Erstlingswerk eines Componisten einen so glänzenden Erfolg gewinnt, noch seltener aber mag es sein, daß der schnell gewonnene Ruhm aushält, ja fort und fort sich steigert. Dies war im Ganzen bei Beethoven der Fall. In einem Zeitraume von 32 Jahren, von 1795 bis zu seinem 1827 erfolgten Tode, erschienen nicht weniger als 255 Compositionen von ihm im Druck. Es offenbarte sich in diesem Geiste eine unerschöpfliche, originelle Erfindungskraft, ein alle Herzen ergreifender Gefühlsausdruck, ein unversiechlicher Quell der schönsten und edelsten Melodien, ein bezaubernder Wohlklang und Farbenreichthum. Jedes folgende Werk bot eine neue Ueberraschung an Charakter, Inhalt und Form.

Denkt man an die schweren Hindernisse, die sich dem beginnenden Componisten entgegenstellen, an die Dunkelheit seiner Objecte, die so geheimnißvoll in der Menschenbrust leben und weben, an das schwankende Wesen der Töne, an das Vorurtheil des Publicums gegen noch unbekannte Namen, an den Neid oder die Dummheit der musikalischen Kritik, an die Sorge und Noth, die so viele zu erdulden haben, wodurch oft die schönsten Kräfte paralysirt oder ganz aufgerieben werden, – so muß man Beethoven einen der glücklichsten Künstler nennen. Denn ihn empfingen am Anfang seiner Laufbahn Anerkennung, Ruhm und pecuniärer Gewinn, und sie blieben ihm treu im Ganzen bis an’s Ende seines Lebens. Was man über seine Geldbedrängnisse erzählt, ist Fabel. Die Verleger stritten sich um seine Manuscripte, er hatte immer Bestellungen auf Jahre hinaus, seine Honorarforderungen waren nicht gering, wurden aber bereitwillig gewährt. Wenn ihm momentan einmal das Geld ausgegangen war, so lag die Schuld nur an ihm selbst, weil er es in früherer Zeit nicht einzutheilen verstand. Später lernte er wohl damit haushalten. Der Vorwurf, daß die Welt ihre großen Geister darben lasse, ist wenigstens in Bezug auf Beethoven ein ungerechter. Erzherzog Rudolph, die Fürsten Lobkowitz und Kintsky setzten dem Tondichter eine jährliche Rente von 4000 Gulden W. W. aus, unter der einzigen Bedingung, daß er sie innerhalb der Erbstaaten Oesterreichs verzehre. Das Beschreiben um Unterstützung an die philharmonische Gesellschaft in London erließ er nicht aus Noth, denn er besaß damals schon ein Capital von 10,000 Gulden, das er seinem Neffen erhalten wollte und auch hinterlassen hat.

Leider in dem Maße, fast, in welchem Beethoven’s Ruhm und Glück als Künstler immer glänzender emporstieg, sank und verfinsterte sich sein Geschick als Mensch. In seinem 27. Jahre schon empfand er mit unbeschreiblicher Angst die Annäherung eines Uebels, das dem Musiker als das schrecklichste erscheinen mußte – Schwerhörigkeit! Da schon zog er sich von der Gesellschaft zurück, um ihr sein Leiden zu verbergen, „wie eine Schande oder einen Schimpf“. Zuweilen zwar hoffte er, und hatte dann wohl noch heitere Stunden, aber das Uebel nahm zu und ging endlich in unheilbare Taubheit über.

Das Unabänderliche mit philosophischer Resignation zu tragen, vermochte Beethoven’s überaus reizbare Natur nicht. Es schlummerten einige üble Eigenschaften in ihm, die sein Unglück weckte und zu hohen Graden steigerte. Seine treuesten Freunde, Ries, Brenning, Wegeler, Schindler, stimmen darin überein, daß der Umgang mit ihm eine penible Aufgabe gewesen, daß er ein sonderbarer, eigensinniger, jähzorniger, heftiger, oft unleidlicher Mensch gewesen sei. Dadurch, sowie durch seine brutale Sprache und plumpen Manieren, wurden viele seiner eifrigsten Verehrer von ihm zurückgeschreckt. Er sah überall Feinde und Verräther, selbst in denen, die ihm am aufrichtigsten ergeben waren; er witterte Fallstricke in den unschuldigsten, ja auf seinen Vortheil berechneten Schritten seiner Freunde. So beschuldigte er einst Schindler, seinen allergeduldigsten Anhänger, die Einnahme eines Concertes unterschlagen zu haben. Der Tiefgekränkte wollte Beethoven nie wieder sehen, kam aber doch zurück, als jener ihm später sein Unrecht abbat. Nicht Alle übten diese Nachsicht, und so vereinsamte Beethoven mehr und mehr. Nicht weniger unleidlich war sein Künstlerstolz, der die erlaubten Grenzen des Selbstbewußtseins weit überschritt. Als er einst in Karlsbad mit Goethe spazieren ging, begegnete ihnen die Kaiserin von Oesterreich mit zahlreichem Gefolge. Goethe trat bei Seite und verneigte sich tief mit entblößtem Haupte. Beethoven lachte über den großen Dichter, knöpfte seinen Ueberrock bis an’s Kinn zu, ging mitten durch die hohe Gesellschaft und nahm seinen Hut erst ab, als ihn die Kaiserin gegrüßt hatte. – Die Wiener nannten ihn auch nur den „Großmogul“. – Viele Ursachen seiner Leiden und Verdüsterungen lagen nur in seiner Einbildung. Er wird in Bezug auf das praktische Leben als ein Kind geschildert, dem alle Menschenkenntniß abging. Seine besten Freunde hielt er oft für Verräther; die wenigen Individuen dagegen, welche sein Mißtrauen und seine Verachtung wirklich verdienten, die sich ihm aufdrängten, um ihn zu bevortheilen, zwei Brüder nämlich und einen total mißrathenen Neffen, schonte er und ließ sich mit unbegreiflicher Geduld die plumpeste und niederträchtigste Behandlung von denselben gefallen. Um den Neffen, den er adoptirt hatte, bei sich zu behalten, processirte er vier Jahre mit der Mutter desselben, die ihren Sohn zurückverlangte. Und weil das Adelsgericht bei dieser Gelegenheit die Beweise seiner adeligen Abkunft verlangte, da bekanntlich das holländische van den Adel nicht involvirt, sah er dies für eine unerhörte Beleidigung an und wollte das Land verlassen.

Andere Schwächen waren mehr belustigender Art. In seinem Haushalte z. B. herrschte eine gräuliche Unordnung. Bücher und Musikalien lagen in allen Ecken zerstreut umher. Die Partitur seiner großen Messe fand er einstmals – in der Küche, wo die Haushälterin Feuer damit anmachen wollte etc.! Es wäre traurig, wenn die bisher geschilderten Züge allein den menschlichen Charakter [458] Beethoven’s darstellten. Dies ist glücklicherweise nicht der Fall. Unter der rauhen Hülle schlug ein edles, liebebedürftiges Herz. Dies geht zunächst aus dem hinterlassenen Testament an seine Brüder hervor. Wir theilen wenigstens den Anfang desselben mit. „O ihr Menschen“ – beginnt er – „die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet, wie unrecht thut ihr mir! ihr wißt nicht die geheime Ursache von dem, was euch so scheinet; mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten, dazu war ich immer aufgelegt; aber bedenket nur, daß seit sechs Jahren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige Aerzte verschlimmert von Jahr zu Jahr. In der Hoffnung, gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem Ueberblick eines dauernden Uebels (dessen Heilung vielleicht Jahre dauert oder gar unmöglich ist) gezwungen, mit einem feurigen, lebhaften Temperament geboren, selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft, mußte ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen. Wollte ich auch zuweilen mich einmal über Alles das hinaussetzen, o wie hart wurde ich durch die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehörs dann zurückgestoßen! und doch war’s mir noch nicht möglich, den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub; ach, wie wäre es möglich, daß ich die Schwäche eines Sinnes angeben sollte, der bei mir in einem vollkommeneren Grade als bei Andern sein sollte, eines Sinnes, den ich einst in der größten Vollkommenheit, wie ihn Wenige von meinem Fache gewiß haben, noch gehabt habe – o ich kann es nicht, darum verzeiht, wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gern unter euch mischte. Doppelt wehe thut mir mein Unglück, indem ich dabei verkannt werden muß; für mich darf Erholung in menschlicher Gesellschaft, feineren Unterredungen, wechselseitigen Ergießungen nicht statt haben; ganz allein fast, und soviel als es die höchste Nothwendigkeit erfordert, darf ich mich in Gesellschaft einlassen, wie ein Verbannter muß ich leben.“

So wird man wohl den Worten Seyfried’s glauben müssen, der den Meister lange gekannt, keineswegs blind für seine Schwächen war, und ihm doch Rechtlichkeit, strenge Moralität, sittliches Gefühl, Wohlthätigkeit und frommen Sinn zuschreibt.

Die Abfassung seines Testaments zeigt, daß Beethoven mit der Feder nicht sehr gewandt gewesen. Aber seine Bildung war demohngeachtet nicht gering. Er verstand lateinisch, französisch und italienisch. Er hatte für Poesie einen tiefen Sinn, und las und kannte die besten in- und ausländischen Dichter. Unter den deutschen war Goethe sein Liebling. Die Universalhistorie war ein Lieblingsstudium von ihm. Auch in andern schönen Wissenschaften und Künsten besaß er nicht gewöhnliche Kenntnisse.

Beethoven war nie verheirathet, aber sehr oft verliebt, und immer in Personen aus den höchsten Kreisen. Obwohl nun seine äußere Persönlichkeit nichts Anziehendes hatte, so ist doch eine seiner Neigungen ernstlich erwidert worden, wie übrig gebliebene Briefe beweisen. Doch wird allgemein behauptet, daß alle diese Verhältnisse nur platonischer Art gewesen seien.

Er starb am 26. März 1827 Abends gegen 6 Uhr an den Folgen der Wassersucht, im 57. Jahre seines Alters. Sein Leichenbegängniß fand am 29. März um 3 Uhr Nachmittags in feierlichster Weise statt. Er ruht auf dem Währinger Friedhofe nächst Wien, unter einem Denkmale, das ihm seine Freunde und Verehrer haben setzen lassen.

Die Poesie hat den unübertrefflichen Meister in zahlreichen Gedichten gefeiert. Bilder sind unzählige von ihm erschienen; Medaillen hat man auf ihn geprägt, Ehrendiplome hat er erhalten, Monumente sind ihm errichtet worden. Eines der allerinteressantesten Denkmale für die ganze Musikwelt ist jetzt ihm zu errichten begonnen worden, die „vollständige, kritisch durchgesehene, mit Genehmigung aller Originalverleger überall berechtigte Ausgabe aller Beethoven’schen Werke, zunächst aller derjenigen gedruckten Werke, deren Echtheit unzweifelhaft erschien.“ Auch viele bisher noch ungedruckte sollen in diese Aufgabe aufgenommen und, je ihrer Gattung nach, den einzelnen Serien angeschlossen werden. Der Preis ist verhältnißmäßig, bei der eleganten Ausstattung, äußerst billig und wird im Verhältniß zu dem Inhalte nur ungefähr die Hälfte der üblichen Musikalienpreise betragen.

Es wird Wenige geben, die seine sämmtlichen Werke besitzen oder auch nur alle kennen. Aber es giebt aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Einzigen, der von jedem Werke eine sichere, correcte Ausgabe besäße. Beethoven’s Werke wurden nicht allein vielfältig und oft sehr liederlich nachgedruckt, es sind auch manche Compositionen von Andern unter seinem Namen in die Welt geschmuggelt worden. Die Härtel’sche Ausgabe liefert zum ersten Male alle echten Beethoven’schen Werke und in der sorgfältigsten Correctur. Ein sehr erfreulicher Umstand ist es auch, daß die sämmtlichen Schöpfungen des Meisters in drei Jahren, bis 1864, im Besitz der Musikfreunde sein sollen. Unschätzbare Vortheile bietet dieses opfermuthige Unternehmen der Herren Verleger.

Aus der Betrachtung und Vergleichung aller seiner Werke, wie sie der Zeit nach auf einander folgen, lassen sich Lehren abstrahlen, die das genießende Publicum wie die studirenden Kunstjünger sicherer führen möchten, als jene tief philosophischen und ästhetischen Raisonnements, welche oft von Gesichtspunkten ausgehen, an die der Meister nicht gedacht hat, an die überhaupt kein Meister denkt. Wir sind nicht gesonnen, diese Raisonnements zu vermehren. Nur einige unserer Ansicht nach falsche Meinungen über sein Wesen als Künstler, die bis heute noch cursiren, wollen wir zu berichtigen versuchen.

Man theilt die Beethoven’schen Werke in drei verschiedene Stylperioden ein: in der ersten sei er den Spuren Mozart’s nachgezogen, in der zweiten trete er ganz selbstständig und eigenthümlich auf, in der dritten habe er die Grenzen der Tonkunst überschritten. Die zwei ersten Punkte mögen zugegeben werden. Ueber den dritten wird bis heute gestritten, aber in’s Klare darüber ist man noch nicht gekommen. Zwei Parteien stehen sich hier schroff gegenüber. Die eine erklärt die dritte Stylart für die vollkommenste, ja für den Ausgangspunkt zu einer neuen Aera der Musik. Die andere verwirft diese Richtung in Bausch und Bogen als eine absolute Überschreitung der echt musikalischen Kunstgesetze. Beide Parteien gehen zu weit. Von wirklichen Sünden gegen die musikalische Aesthetik kann bei einem Beethoven die Rede nicht sein. Wohl aber hat er manche gute Kunstmaxime zuweilen zu kühn, künstlich und subtil ausgeprägt. Einige der spätern Quartette, etwa vom 13. bis zum letzten, 17., bringen den reinen, durchaus ungetrübten Kunstgenuß nicht mehr hervor, der uns bei der Mehrzahl seiner andern Werke entzückt. Aber außer dem 16. Quartett, Opus 133, mit der scurrilen Fuge, sind es in anderen immer nur einzelne Stellen, welche uns nicht anmuthen wollen, keineswegs, wie manche behaupten, ganze Sätze oder Stücke. In allen, außer dem genannten Opus, tauchen zwischen düstern, räthselhaften Gedanken viele von der höchsten Schönheit hervor. Der größte Irrthum aber, der noch immer von Vielen festgehalten wird, liegt in den Ursachen, welche man der dritten Stylart unterlegt. Es sind deren hauptsächlich drei.

Erstens sollen seine düsterern, unverständlicheren und unwirksameren Werke durch seine traurigen und peinlichen Lebensumstäude hervorgerufen worden sein. Sie hätten sein Gemüth verbittert, seine Phantasie verdüstert. Man braucht nur den Styl seiner neun Symphonien, wie sie der Zeit nach auf einander folgen, mit dem Schicksalsgang seines Lebens zu vergleichen, um sogleich zu erkennen, daß der Geist dieser Compositionen mit seinen realen Lebenszuständen nicht Schritt hält. Wann hat er seine sechste, die Pastoralsymphonie, geschrieben? In einer bereits sehr traurigen Lebensperiode. Und der künstlerische Vorwurf dieser Symphonie? 1) Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande; 2) Scene am Bach; 3) Lustiges Beisammensein der Landleute; Gewittersturm; Hirtengesang; frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm. – Wie heiter, lieblich, zum Theil humoristisch sind diese Empfindungen musikalisch gemalt! Noch später, in Beethoven’s trübster Zeit, erschien die kleine, knappe, achte Symphonie in F dur, mit dem wunderlieblichen, klaren Andante-Scherzo und der ganz in Haydn’s und Mozart’s Zeit zurückgreifenden Menuett. Auf diese achte aber folgte die an Form, Umfang und Inhalt riesenhafte und tiefsinnigste neunte Symphonie über Schiller’s „Lied an die Freude“. Dieselben unerwarteten Uebersprünge von einer Stylart in die andere sind in Beethoven’s Sonaten, Trios, Quartetts u. s. w. zu bemerken.

Die zweite Ursache seiner dritten Stylart soll in dem Einfluß liegen, welchen die gewaltigen Zeitereignisse und die dadurch gebildete düstere Weltanschauung auf den Geist seiner Tondichtungen ausgeübt hätten. Hiernach müßte eine ruhige Zeit heitere, eine wild bewegte stürmische, düstere Tonwerke hervorrufen. Gerade das Gegentheil zeigt sich im Ganzen in den Beethoven’schen Compositionen. [459] In den neunziger Jahren und im Anfang unsers Jahrhunderts, wo Beethoven zumeist der heiter Schaffende war, tobten die scheußlichsten, blutigsten Revolutionsgräuel und wütheten die verheerendsten, namentlich Oesterreich länderberaubenden Kriegsstürme. Als aber unser Meister seine relativ aufgeregtesten, düstersten Werke der dritten Stylart schuf, lag die Welt, friedlich, erschöpft, ja geistig paralysirt da. Und wie verhalten sich seine Werke mit Gesang zu seinen Lebensverhältnissen und dem politischen Geiste der Zeit? Die allermeisten erinnern bei aller Eigenthümlichkeit und Gefühlstiefe doch an Mozart’s Zeit. „Adelaide“ ist ganz in dieses Meisters Weise gearbeitet. „Fidelio“, die herrlichste Oper mit, die je geschrieben worden, hält sich doch in Geist und Formen in der Mozart’schen, mehr noch in der Cherubini’schen Sphäre. Die große D dur-Messe kann der dritten Stylart zugeschrieben werden, aber sie ist aus einer andern Ursache, als den beiden angegebenen, geflossen, wie sich bald zeigen wird.

Der Künstler im gewöhnlichen Leben und der Künstler in der Zeit des Schaffens sind zwei ganz verschiedene Wesen. So war Raimund, der berühmte Schauspieler und Volksdichter, im gewöhnlichen Leben der unglücklichste Melancholiker. Sobald er aber auf der Bühne erschien, sah man nur den vollendeten, von Humor übersprudelnden Komiker. Schiller hat viel sorgenvolle und körperlich schmerzenreiche Tage verlebt. Haben die etwa mit an seinen poetischen Werken gearbeitet? Die Wahrheit ist, wenn der Künstler in das Reich seiner Träume tritt, läßt er das gewöhnliche Leben mit allem, was ihn darin beschäftigte und bewegte, zurück. Dann schaut er nur den Gegenstand, den er schöpferisch nachbilden will. Drängen sich die Erinnerungen und Stimmungen des Tages mit ein, so ist er ein schwacher Künstler, und nur schwankende, zerrissene, keine echten Totalbilder wird er schaffen können. Wer aber besaß die Kraft, sich ganz nur in sein künstlerisches Ideal zu versenken, in mächtigerem Grade, als Beethoven mit seiner glühenden Phantasie und wunderbaren Gemüthstiefe?

Sonderbar! Dieselben Leute nicht selten, welche Beethoven’s Werke aus seinen realen Lebensereignissen oder den Zeitströmungen erklären wollen, erzählen wieder ganz naiv, daß er in den Momenten des Schaffens die ganze Welt um sich her vergessen und gar nicht gesehen habe! „Unmittelbar nach dem Mittagsessen,“ heißt es, „wurde, falls er keinen weiteren Ausflug vorhatte, die gewöhnliche Promenade angetreten, d. h. er lief im Duplirschritt ein paar Mal rund um die Stadt. Ob es nun regnete, schneite, hagelte, ob der Thermometer 16 Kältegrade anzeigte, oder ein eisiger Sturmwind ihm entgegenblies, ob der Donner brüllte, Blitze die Lüfte durchzuckten, die Windsbraut heulte oder eine libysche Gluthhitze den Scheitel versengte – das kümmerte ihn Alles nicht, das empfand er nicht, denn in ihm waltete der schaffende Gott, und vielleicht hat er unter dem Aufruhr der Elemente gerade ein paradiesisch mildes Liebes- und Frühlingsbild in seinem Kopfe geschaffen.“

Drittens soll Beethoven in seiner letzten Stylperiode Ideen, abstrakte Gedanken haben ausdrücken, nach Oulibicheff, „ein neues Organ gleichsam schaffen wollen, das die Tonkunst zur Würde einer Lehrerin der Moral, Philosophie und Geschichte oder selbst bis zur Höhe einer Offenbarung erheben sollte.“ Dies ist von allen abgeschmackten Meinungen die abgeschmackteste! So verkennen konnte Beethoven das Wesen seiner Kunst nicht, um ihr Dinge zuzumuthen, die sie schlechthin nicht auszuführen vermag. Auch hat man nirgends vermocht, auch nur eine solche Idee in seinen Werken aufzufinden und nachzuweisen.

Die Ursachen zu den theilweise düsterern und räthselhafteren Gestaltungen, seiner dritten Stylperiode sind viel natürlicher aus dem Wesen seines Künstlergeistes zu erklären. Die Unbestimmtheit der Instrumentalmusik, die verschiedene Auslegungsfähigkeit der Tonbilder, welche Fenelon schon durch die Frage: sonate, que me veux-tu? bespöttelte, war Beethoven im höchsten Grade zuwider. Er wollte die Sprache der Töne so deutlich, verständlich und eindringlich machen, als nur irgend möglich. Als das sicherste Mittel dazu erkannte er die Vornahme eines Objects. So rief er zunächst für jede Composition einen bestimmten Gegenstand vor seine Einbildungskraft, der, hinabschlagend in das Gemüth, die entsprechenden Gefühlsregungen wach rief. Dies ist außer allen Zweifel gesetzt durch eine Aeußerung gegen Schindler über das Adagio in der D dur-Sonate, Op. 10. „Jedermann“ – sagte Beethoven – „fühlt den geschilderten Zustand eines Melancholischen heraus, mit allen den verschiedenen Nüancen von Licht und Schatten im Bilde der Melancholie und ihrer Phasen.“ – Er hat Andeutungen der Art einigen seiner Werke beigegeben, der Sinfonia eroica, der Pastoralsymphonie, dem Quartett. „Muß es sein? Ja, es muß sein“ u. s. w., bei den meisten hat er es leider unterlassen; aber auch hier ist es durch seine eigene Aeußerung erwiesen, daß er bei jeder Composition seiner Hauptmaxime treu geblieben. Er wollte nämlich diese Aufschlüsse, das Object für jedes seiner Werke, bei einer Gesammtausgabe derselben hinzufügen. Leider ist dieser Plan nicht zur Ausführung gekommen, und die Auflösungen so mancher Räthsel sind mit ihm begraben worden!

Dies ist das Mittel, durch welches er seine beiden Hauptzwecke, energischen, ergreifenden Ausdruck und immer neue, immer verschiedene Bildungen, erreichte. Und hiermit ist auch zugleich der wahre Grund des Vor- und Zurückgreifend seiner verschiedenen Style auf’s Natürlichste erklärt. Nicht die Stimmungen seines durch das reale Leben ergriffenen Gemüths, sondern die helleren und düsterern Objecte, welche er sich vorstellte, haben seine verschiedenen Stylarten hervorgerufen.

Aber wie diese Maxime ihn zu den schönsten und wirkungsvollsten Schöpfungen befähigte, so verleitete sie ihn zuweilen auch zu vorübergehenden barocken Gestaltungen. Wenn man in einigen seiner Sätze einen klaren Seelenzustand, eine vernehmliche Gefühlseinheit nicht mehr heraushören und nachempfinden kann, wenn man zuweilen mehr ein willkürliches Spiel, ein „tel est notre plaisir“ oder nur eine zerrissene Empfindung darin zu vernehmen glaubt, so hat das Beethoven sicherlich nicht gewollt, keine abstracte Idee vor der Seele gehabt, wohl aber mag der gewählte Gegenstand ein zu künstliches, psychologisch verwickeltes Problem gewesen sein, das er noch dazu nicht nur in seinen großen Zügen und vernehmlichen Nüancen, sondern bis in die kleinsten Subtilitäten hinein verfolgen und mit seinen Tönen versinnlichen wollte, wie z. B. daraus nur die öfteren Takt- und Tempowechsel in einigen seiner Quartettsätze zu erklären sind, die ihm ganz natürlich und psychologisch treu erschienen sein mögen, dem Hörer aber eine unangenehme Empfindung bereiten, weil er den Grund davon nicht zu erkennen vermag.

Dazu ergab er sich nun auch dem polyphonen Styl, weil er ihn zum Ausdruck tieferer und ungewöhnlicherer psychologischer Zustände für tauglicher hielt. Jede Stimme sollte eine eigene Seite des Gefühls ausdrücken. Nicht zu leugnen ist, daß er auch hierin Außerordentliches geleistet hat. Hingegen kann auch nur der vollständig Eingenommene behaupten, daß er dabei überall in den Schranken klarer und anmuthender Gedankenformen geblieben sei. Beethoven war in der polyphonen Setzweise nicht so von Jugend auf geübt und sicher, wie z. B. Mozart, und es ist daher kein Wunder, daß durch die Mühe und Aufmerksamkeit, welche er auf die technische Gestaltung des Gedankens verwenden mußte, die ästhetische Schönheit zuweilen beeinträchtigt wurde. Dies aber zu erkennen, sich einzugestehen und solche Gedanken dann zu verwerfen und umzubilden, wie er in früheren Jahren gethan, war er später nicht mehr gewillt, daran hinderte ihn sein gewonnenes Selbstvertrauen, sein Stolz und – Eigensinn. Es kann nicht Wunder nehmen, daß seine außerordentlichen Erfolge, eine so lange Reihe von Jahren hindurch, den Glauben an seine Unfehlbarkeit in ihm erweckt hatten. Er glaubte zuletzt, er könne nichts Falsches und Unechtes, nur Schönes und Vollendetes offenbaren; habe er in den Schranken der bekannten ästhetischen Gesetze das Schönste geleistet, so könne er wohl auch neue ästhetische Gesetze erkennen und ausüben, denn wer solle sie geben, wenn nicht das Genie? Er übersah nur, daß die ästhetischen Gesetze ihren Kreis und ihre Grenze haben, wie alles Menschliche und Irdische, und daß gerade die größten Genies in allen Künsten ihre vollendetsten Werke eben nur innerhalb dieses bestimmten Kreises von Gesetzen geschaffen haben. Dazu kam, daß er sich vor nichts mehr fürchtete, als vor der Wiederholung seiner eigenen Werke, einer Schwäche, die er mit Verachtung an so vielen Künstlern bemerkte. Und das ist ihm auch auf bewundernswürdige Weise gelungen. Nicht zwei seiner Werke sind sich ähnlich. Ist es aber zu verwundern, wenn dieses consequentest festgehaltene Streben nach stets neuen, stets verschiedenen Bildungen auch einmal, selten genug, eine weniger ansprechende zu Tage gebracht hat? – Und noch eine Bemerkung zur Erklärung jener weniger anmuthenden Stellen. Wenn dem Menschen die natürlichen Reizmittel, zu häufig genossen, nicht mehr genügen, nimmt er endlich zu unnatürlichen seine Zuflucht. So lassen die [460] Gourmands, vom frischen Wildpret übersättigt, um ihren Gaumen zu kitzeln, das Fleisch in stinkende Fäulniß übergehen, und nennen das „haut goût“! Wie mit dem sinnlichen, ist es mit dem geistigen Geschmack. Die Staël hat diese Erscheinung mit wenigen Worten treffend erklärt: „C’est la satiété, qui fait recourir à la bizarrerie.“ So vergaß auch Beethoven zuweilen den zweiten Theil der Maxime, welche Goethe dem Director im Vorspiel zum Faust in den Mund legt:

„Wie machen wir’s, daß Alles frisch und neu,
Und mit Bedeutung auch gefällig sei?“

Die Werke der ersten und zweiten Stylart sind mit Bedeutung auch gefällig, d. h. anmuthig in Form und Inhalt. In der dritten Periode gewinnt das Bedeutende die Oberhand, während das Gefällige mehr zurücktritt und zuweilen ganz verschwindet. Wenn aber ein Theil der Kritiker wegen solcher Einzelheiten alle Werke seiner dritten Stylperiode verwirft, so begeht er dasselbe Unrecht wie diejenigen, welche diese Werke für die besten erklären.

Wie man diese Bemerkungen aufnehmen möge, so viel ist gewiß, Beethoven ist bis heute nicht erreicht, noch weniger übertroffen worden. In seinen Werken liegt die echte Aesthetik praktisch ausgeprägt, auch mit einigen negativen Warnungen für Alle, welche sie aufsuchen wollen. Wie nützlich also ist für die ganze Musikwelt das Unternehmen der Herren Verleger, sämmtliche Werke des bis jetzt größten Componisten der Welt in einer vollständigen und richtigen Ausgabe vorzulegen! Die erste Lieferung bringt von der ersten Serie, Nr. 1. Erste Symphonie C dur, Op. 21. Partitur. Serie sechs: Quartette 1–3 F G D dur, Op. 18. Partitur und Stimmen. Serie neun. Erstes Concert für Pianoforte mit Orchester, Op. 15. C dur. Serie sechzehn: Drei Sonaten, Op. 2, Nr. 1–3. Fm. A. C. Alle diese Werke gehören im Ganzen der ersten Stylart an, sind in den letzten Jahren des vorigen und den ersten des jetzigen Jahrhunderts componirt. Nun suche man doch darin die gerade in diesen Jahren am gräulichsten wüthenden Revolutions- und Kriegsstürme und die fieberischen Aufregungen der Völker Europas!

J. C. Lobe.