Eine gefallene Größe

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Autor: Ludwig Storch
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Titel: Eine gefallene Größe
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 283–284
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Eine gefallene Größe.
Von Ludwig Storch.[1]

Aeltere Leute, die in den Jahren 1826–28 sich als schon Erwachsene in Leipzig aufhielten, werden sich eines Mannes erinnern, wenn sie ihn anders ihrer Aufmerksamkeit für würdig hielten, welcher im erstgenannten Jahre seine Wohnung in dem alten und durch Eleganz und Comfort eben nicht ausgezeichneten Gasthof „zur Säge“ in der Dresdener Straße nahm und über zwei Jahre dort verweilte. Er nannte sich Oberst Gustavson, zeigte in seinem Aeußern aber nichts weniger als Habitus und Ajustement eines Obersten, vielmehr deuteten seine unansehnliche Kleidung, seine zwar nicht kleine aber doch verkümmerte Gestalt und sein scheues unbeholfenes Wesen auf einen beschränkten Kleinbürger aus einer kleinen Stadt; ich würde ihn z. B. für einen Schuhmacher aus Grimma gehalten haben, nach Leipzig gekommen, um sich für wenige Thaler Leder einzukaufen. In der That sah man an diesem „Obersten“ keine weiße Wäsche. Ein abgetragener runder schwarzer Filzhut, ein dunkelbrauner, auch nicht mehr neuer Rock bis unter das Kinn zugeknöpft, ein einfaches schwarzseidenes Halstuch, dunkelgraue lange Beinkleider und Stiefeln machten die Bekleidung desselben aus. Ein schlichter Stock war in seinen von Handschuhen nie bedeckten Händen. So ging er langsamen Schrittes, in gedrückter Haltung, scheu und in sich versunken, gewöhnlich in den spätern Vormittagsstunden in den Anlagen um die Stadt, stets allein, mit Niemand verkehrend. Seine Wohnung in der „Säge“, die ein Gasthof untergeordneten Ranges war, diente auch nicht dazu, die Begriffe von der Vornehmheit dieses Herrn zu steigern. Um so mehr werden die Leser überrascht sein, wenn ich ihnen sage, daß dieser einfache und bescheidene Fremde der ehemalige König von Schweden Gustav IV. Adolf war. Mein Erstaunen war nicht minder groß, als ich ihn in dem beschriebenen Anzuge zum ersten Male sah, und es hat sich nicht verringert, als ich ihn später noch mehrmals gesehen und auch gesprochen habe.

Oberst Gustavson, wie er sich seit ungefähr zehn Jahren nannte, stand damals im achtundvierzigsten Lebensjahre, aber er sah um mehrere Jahre älter aus. Schon seit siebzehn Jahren vom schwedischen Königsthrone entfernt und von seiner Gemahlin und Kindern getrennt, lebte er bald hier bald dort, am längsten in der Schweiz, ohne Plan und Zweck, ohne nützliche Beschäftigung, ein freudloses armseliges Leben. Zwei Jahre vorher hatten die schwedischen Reichsstände der vertriebenen Königsfamilie statt der früheren Rente von fast siebzigtausend Thalern ein Capital von siebenmalhundert tausend Thaler ausgezahlt, aber Herr Gustavson nahm davon für seine Person nicht das Geringste an, wie er auch früher nichts von der Rente bezogen hatte. Er bestritt seine Existenz von den Zinsen eines sehr kleinen Capitals, welches er als sein alleiniges Eigenthum betrachtete. Seine fast ängstlich einfache Lebensweise erforderte allerdings keinen Aufwand, nichtsdestoweniger erging es ihm knapp, wie ich mich einige Jahre später überzeugte. Die eiserne Unbeugsamkeit seines Charakters hatte mehr als einen schönen und ehrenwerthen Zug in seiner kurzen Königsgeschichte geliefert, aber sie hatte, zur trotzigen Hartnäckigkeit und Starrsinnigkeit ausgeartet, ihn auch um Thron, Familienglück und Lebensbequemlichkeit gebracht. Man sah ihm diesen steinernen Trotz an; überhaupt verriethen seine Züge dem aufmerksamen Beobachter einen ungewöhnlichen Menschen. Er glich wirklich einem Steinbild an Farbe und Unbeweglichkeit und die großen verschwommenen Augen mit dem unbestimmten Blick hatten einen seltsam träumerischen, schier unheimlichen Ausdruck. Es war das Auge und der Blick eines religiösen Schwärmers und in die Beschattung seiner innern Welt versunkenen Mystikers. In der That waren Aberglaube und Mysticismus auf ungewöhnliche Weise in ihm mit Starrköpfigkeit und Rauhheit vereinigt. Daß er keiner milden schönen Gefühle fähig war, sondern nur die Treibhaushitze mystischer Schwärmerei seinen Geist bewegte, konnte man schon aus seinem von düster finsterer Braue überschatteten Auge und aus seinem knappen wunderlich gekräuselten Munde herauslesen. Und in der That darf man der Wahrheit gemäß behaupten, daß fast eben so sehr sein geistiges Versenken in die Offenbarung Johannis und in Swedenborgs und Jung-Stillings mystische Schriften den Verlust seines Thrones verschuldet hat, als sein auch nicht zur kleinsten Nachgiebigkeit zu bewegender Starrsinn. Obgleich dieser unglückliche Mann von seinem romantisch ritterlichen Vater nach Jean Jacques Rousseau’s „Emil“ erzogen worden war, so fehlte ihm doch die Klarheit des Verstandes, die ruhige nüchterne Beurtheilungskraft, die wahre moderne Geistesbildung. Wie auch können sich ritterliche Romantik und die Erziehungs- und Lebensgrundsätze des einfachen „Bürgers von Genf“ mit einander vertragen? Die gewaltsame Zusammenmischung eines veralteten im Absterben begriffenen Zeitgeistes mit den Regungen des jungen Genius, der sich zum Weltherrscher zu bilden im Begriff ist, muß durchaus schwache Köpfe verwirren, und Individuen wie Völker sind daran schmählich untergegangen. Gewöhnlich schlägt in kleinen Geistern dieses widernatürliche Mixtum compositum in Mystik, Geisterseherei, Quietismus, Herrnhuterei und Quäkerei aus. Wer keinen Halt in sich findet, greift wankend nach solchen Dingen, um sich daran festzuhalten. Dann hat er aber den allein sichern und festen Haltpunkt in sich aufgegeben und für immer verloren. Welch’ unsägliches Unheil hat nicht dieser Swedenborg [284] durch die von ihm verursachte Verwirrung menschlicher Köpfe angerichtet! Viel mit seiner neuen mystischen Auffassung des Christenthums, das in seiner Darstellung gleichsam zu einer ganz andern Religion wurde, mehr noch mit seiner angeblichen Geisterseherei oder vielmehr vertrautem Umgange mit den Geistern verstorbener Menschen. So oft ich diese seltsamen und befremdlichen Geschichten gelesen, hat sich mir der Gedanke aufgedrängt: der Mann war allerdings kein Betrüger, sondern ein allein nach dieser Richtung hin mit fixen Ideen Behafteter, ein still Wahnsinniger, etwa wie Justinns Kerner’s berühmte Seherin von Prevorst. Und wie viel mögen im frommen Eifer, im Bestreben ihren Meister glänzen zu lassen, seine Jünger und Verehrer ausgeschmückt, nachgeholfen, poetisch ergänzt haben, bis die Wundergeschichte so fertig war, wie sie uns vorliegt! Man lese doch nur Jung-Stilling’s Schriften, besonders seine Theorie der Geisterkunde, und wenn man nicht selbst befangen ist und die Augen absichtlich verschließt, so wird man zur Ueberzeugung kommen müssen, daß dieser sonst so berühmte Mann trotz allem, was Goethe über ihn sagt, ein beschränkter und kindisch leichtgläubiger Kopf war.

Ich weiß nicht, welcher Narr herausgebracht hatte, daß im Namen Napoleon Bonaparte die Zahl 666 stecke; wie sie darin steckt, weiß ich freilich auch nicht. Da dies nun die Zahl des apokalyptischen Thieres ist, so galt der unternehmende und vom Glück begünstigte Corse dem jungen geistesschwachen Könige von Schweden für das siebenköpfige Thier der Offenbarung des Apostels Johannes. Sich selbst aber hielt er für den Helden, der das Thier zu stürzen berufen sei. Von nun an gab er sich dem Studium mystischer und theosophischer Schriften hin, die natürlich seinen ohnedies nicht hellen Geist nur noch mehr umnebelten und verdüsterten. Alle seine unsinnigen Handlungen lassen sich aus seinen chiliastischen Träumereien und der gewonnenen Ueberzeugung erklären, daß er ausersehen sei, im neuen Gottesreiche eine der wichtigsten Rollen zu spielen. Der natürliche Ausgang ist bekannt. Es ist hier auch nicht der Ort, die Geschichte des Königs zu schreiben.

Seine Niederlassung in Leipzig erregte nur kurze Zeit einiges Aufsehen. Man wußte nicht, was er in der aufgeklärten Stadt wollte; Aufklärung gewiß nicht, darüber war man einig. Er wußte es wahrscheinlich selbst nicht. Da er keine Besuche machte und Niemand bei sich sah, so war das flüchtige Interesse an ihm bald erloschen. Nicht so in mir; ich ging ihm oft nach und suchte ihm zu begegnen, um ihn mir recht genau zu betrachten. Ein vom Throne gestoßener König war mir eine sehr merkwürdige Person, und meine Theilnahme an ihm wurde durch seine freiwillige Armuth und einsiedlerische Lebensweise noch bedeutend gesteigert. Mich mit ihm zu unterhalten, oder ihn wenigstens sprechen zu hören, war mein warmer Wunsch. Dazu fand ich denn auch bald eine Gelegenheit.

Einer meiner Umgangsfreunde, welcher zwar Jura studirt, aber doch eine verfehlte Carriére gemacht hatte, geborener Leipziger, talentvoll, aber lasciv und gewissenlos, hatte gehört, der Exkönig von Schweden suche einen Privatsecretair, welcher des Französischen kundig sei. Er machte sich so gut, wie ich, von der ehemaligen Majestät und ihren Mitteln eine falsche Vorstellung. Er entdeckte mir, daß er sich zu der Stelle melden wolle, und er gefiel sich in dem Gedanken, mit dem expatriirten Manne herumzuabenteurern. Von der theosophisch-mystischen Verbissenheit des Obersten wußten wir Beide nichts. Wir faßten also einen Brief an den Exkönig ab, worin sich mein Freund um die Secretairstelle bewarb, und beförderten ihn in die Säge. Nach ungefähr acht Tagen, als wir schon die Hoffnung auf Antwort aufgegeben hatten, erhielt der Bittsteller eine mündliche Einladung, sich den nächsten Vormittag in der Säge einzustellen. Wir gingen Beide. Der fast dürftig gekleidete, in Jahren schon ziemlich vorgeschrittene Kammerdiener machte gar keine Umstände, mich auch zu melden. (Ich gab vor, wenn der eigentliche Bewerber dem Herrn Obersten etwa nicht zusagen sollte, so wollte ich als zweiter Candidat auftreten.) Der Herr Oberst liebe die Studenten, war die Antwort, und er werde uns Beide gern bei sich sehen.

Wir waren doch ziemlich bestürzt, als wir eintraten. Zimmer, Meublement, Hauskleid des Bewohners, Alles war mehr als bescheiden, es war für einen ehemaligen König geradezu dürftig, und stimmte unsere Erwartungen auf Null herab. Unheimlich aber wurde mir, als der Oberst meinen Gefährten mit einer metalllosen, trocknen Stimme mit gemeiner Betonung und unbehülflicher Ausdrucksweise über seinen christlichen Glauben zu examiniren begann. Das hatten wir nicht erwartet. Ich musterte unterdessen die Titel auf den Rückenschildern einiger Bücher, die auf einem Tische aufgestellt waren, vor dem ich stand. Das waren denn die christlich weisen Schriften des Herrn Abt Bengel, der aus der Offenbarung Johannis herausgerechnet hatte, daß das Jahr 1836 der Anfang des tausendjährigen Reichs sei, wo alle frommen und gläubigen Christen in Sammet und Seide einherstolziren, Milch und Honig schlürfen, lobsingen und überhaupt alle Freuden des Lebens, auf den Kubus erhoben, ohne je satt davon zu werden, genießen würden; da waren ferner die Werke des Hofraths Jung-Stilling, der, erst ein talentvoller Schneider, nachher ein schwachköpfiger Professor, im Ernst glaubte, die geistige Welt sei gerade so, wie er sie sich construirt hatte. Die übrigen Bücher waren höchst wahrscheinlich ähnlichen Inhaltes. Wie viel Unsinn stand da wohl beisammen!

Der Herr Oberst erklärte uns endlich, daß er keinen Secretair brauche, und wir waren froh, wieder in frischer Luft auf der Straße zu sein.

Später saß ich mit dem Exkönig einige Mal bei Tafel. Zu dieser Ehre konnte Jeder gelangen, der für sechs gute Groschen in der Säge zu Mittag aß; denn Herr Gustavson verschmähete es nicht, an diesem ordinären Tische zu präsidiren. Er unterhielt sich mit Jedem, der ihn anredete, obgleich nicht eben gesprächig und mittheilsam, doch vermied er es keineswegs, von seinen Königsschicksalen zu sprechen. Auffallend war, daß er die Speiseordnung umkehrte und den Braten zuerst, die Suppe zuletzt aß. Wenn man einige Male mit ihm gesprochen hatte, verlor man alles Interesse an ihm. Er war doch unverkennbar schwach von Begriffen. –

Sieben oder acht Jahre später ging ich an einem Frühlingstage Vormittags zur Post in Gotha, meinem damaligen Wohnorte, um Briefe abzugeben. Zu meinem Erstaunen sah ich an der Thüre des Postgebäudes den Obersten Gustavson ganz allein stehen, und seine äußere Erscheinung noch armseliger als früher. Ich fragte den Postsecretair am Schalter, ob der Fremde an der Thüre auf der Post gewesen sei.

„So eben,“ war die Antwort. „Er hat sich Oberst Gustavson genannt, aber Gott weiß, was für ein Lump und Vagabund er ist; er wollte durchaus eine Extrapost mit einem Pferde nach Erfurt und nicht abstehen, als ich ihm erklärte, die Post gäbe keine Einspänner. Er verlangte so zudringlich und ungestüm die Erfüllung seines Begehrens, daß ich ihn nur mit Grobheit los werden konnte.“

Der junge Postbeamte machte seltsame Augen, als ich ihm versicherte, der Fremde sei der ehemalige König von Schweden.

Als ich heraus trat, stand er noch da, verdrießlich, wie der Ausdruck seiner Züge verrieth, und in Gedanken versunken. Er war sehr gealtert, obgleich damals erst fünf- oder sechsundfünfzig Jahre alt. Ich redete ihn an:

„Herr Oberst, ich habe soeben erfahren, daß Sie einen Einspänner nach Erfurt wünschen. Da nun die Post einen solchen nicht gibt, so erlauben Sie mir, daß ich Sie zu einem Lohnkutscher führe, der Ihrem Wunsche entsprechen wird.“

„Kennen Sie mich?“ fragte er mürrisch.

„Ich habe die Ehre gehabt, Sie in Leipzig, als Sie dort in der Säge wohnten, zu sehen und zu sprechen.“

„Gut, ich nehme Ihr Anerbieten an. Führen Sie mich zu einem Fiacre, der mich einspännig nach Erfurt fährt.“

Da ging er neben mir, immer noch in dem alten braunen Rocke, der nun erschrecklich abgetragen und fadenscheinig aussah, der in seiner Jugend so ritterliche König des Schwedenreichs. Er, der über Tausende der prächtigsten Rosse und Karossen geboten hatte, wollte in einem armseligen Einspänner weiter fahren. Das war ein starkes Memento an den irdischen Wechsel. Er mochte meine Gedanken errathen haben, denn er sagte mit einem trüben Lächeln:

„Es kann schon kommen, daß ein ehemaliger König so wenig Geld hat, daß er nicht mehr zweispännig fahren kann. Doch ist’s nicht so schlimm mit mir. Ich könnte schon die Post nehmen, aber ich will durchaus im Einspänner fahren, und kein grober Mensch soll mich davon abbringen.“

Aus diesen Worten erkannte ich den alten Starrkopf, der lieber die Krone eingebüßt, als in Kleinigkeiten nachgegeben hatte.

Der Einspänner wurde gemiethet und sein kleiner und unscheinbarer Koffer aus einem Gasthofe dritter Classe abgeholt. Er nahm kurz von mir Abschied und fuhr ab. Mich jammerte der Mann in tiefer Seele. Einem gefühlvollen Herzen ist jede gefallene Größe heilig.


  1. „Medaillon“ aus dessen Denkwürdigkeiten.  Die Redaction.