Einsam

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Autor: Cilla Fechner
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Titel: Einsam
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aus: Die Gartenlaube, Heft 31–53, S. 517–524, 533–539, 549–555, 565–570, 581–584, 597–602, 613–619, 629–635, 645–650, 661–666, 677–682, 693–696, 709–712, 725–728, 741–746, 757–762, 773–779, 789–792, 805–810, 822–826, 841–846, 857–860, 878–883
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[517]
Einsam.
Roman von O. Verbeck.
1.

Heinrich Günther horchte an seiner Stimmgabel; er ließ sie dann wieder sinken und schaute über die Brüstung der Orgelempore in die mattbeleuchtete Kirche hinunter. Sie war nur mäßig besucht, immerhin aber viel stärker als vor Beginn der musikalischen Verbrämung des Abendgottesdienstes. Pastor Erdmann hatte recht gehabt. – „Singt sie mir herein, Güntherchen“, hatte er gesagt, „singt sie mir in die Stimmung. Haben sie den Nachklang von so etwas Feinem, Edlem im Ohr, dann hören sie mir nachher besser zu. So eine Motette nach dem Muster der alten Thomasschule in Leipzig, das war schon lange mein Traum. Studiert habt ihr ja genug im stillen. Nun heraus mit dem gesungenen Gebet!“

Da waren sie denn auch heute wieder, nur ihrer zwanzig, ein kleiner, bescheidener Sängerchor, aber lauter gute, feingeschulte Stimmen, lauter musikalisch andächtige Herzen. Und drunten am Altar stand der Pastor, noch den Rücken hergewandt und blätterte in seinem Buch.

Jetzt breitete er es auseinander und drehte sich langsam um.

Günther schlug sacht mit der Stimmgabel an die Säule, neben der er stand, und stieg dann auf den hohen, breiten Schemel, seinen Dirigentenplatz – zu einem regelrechten Pult hatten sie es noch nicht gebracht.

„Mmmmm!“ summte er leise, etwas vorgebeugt, seiner aufmerksam lauschenden kleinen Schar den Grundton zu. Wie ein Hauch kam es vierstimmig mit dem Anfangsaccord zurück.

Günther nickte zufrieden und hob den Taktstock.

„Kommet! Kommet! Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid – ich will euch erquicken!“

Wie ein leuchtender Strom von Schönheit schwammen die Töne in die stumm lauschende Kirche hinein. Eine leise Bewegung, wie von tiefern Atemzügen, ging drunten durch die Zuhörer. So kräuselt der linde Hauch des Frühlingsabendwindes die ruhsame Wasserfläche. Gleichgültige Augen öffneten sich weit, schwermütig blickende füllten sich mit Thränen; streng geschlossene Lippen wurden weich, müd’ hängende Schultern richteten sich auf.

„Kommet! Kommet! Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid – ich will euch erquicken!“

Der letzte Hauch des trostvollen Rufes war verklungen, zart und fein, mit den sanftesten Registern nahm der Organist den Schlußaccord auf, um von ihm zu dem allgemeinen Gesangbuchslied hinüberzuleiten.

[518] Günther war noch einen Augenblick auf seinem Schemel stehen geblieben. Er nickte seinen Sängern jetzt lächelnd zu, mit der ihm eigenen, kindlichen Bewegung strich er sich mit der ausgebreiteten Hand über den großen, schwarzen Bart und dann über den Magen hinunter, als wenn ihm etwas sehr gut geschmeckt hätte. Ein Zeichen seiner Zufriedenheit. Fein abgeschlossen! hieß das, famos, glockenrein, schön habt ihr gesungen, bravo!

Als nun die Gemeinde mit dem Choral einsetzte, stieg er sacht von seinem Thrönchen herab und setzte sich in die Ecke der vordersten Bank, neben Hanna Wasenius, die ihm seinen Platz schon aufgehoben hatte. Er nickte ihr, seinem Liebling, seiner Prima-Sopranistin, noch einmal besonders freundlich zu.

„Ist Becker in der Kirche?“ fragte Hanna leise.

„Nein, leider nicht. Verreist.“

„Das ist aber schade. Er wäre zufrieden gewesen, meinen Sie nicht?“

„Na ob!“ gab er fast laut zurück. „Bin übrigens neugierig,“ fuhr er gedämpfter fort, „was Erdmann zu der neuen Sache sagen wird.“

„Ich auch. Ich hab’ ihm geschrieben, er möchte nachher mit uns kommen, Abendbrot essen. Sie kommen doch auch wieder mit hinaus?“

„Selbstredend! Mein Sonnabend!“ Er strahlte sie aus seinen braunen, etwas weitläufig stehenden Augen an.

Die Unterhaltung war nur ganz leise, vom Gemeindegesang verdeckt, geführt worden, als aber nun der Kirchendiener die Seitenempore entlang auf die Sänger zugegangen kam, griff Günther verlegen, mit der Gebärde des ertappten Schuljungen, nach dem Gesangbuch.

Hanna unterdrückte ein Lächeln und schaute dann gleichmütig geradeaus.

Herr Müller, ohne Klingelbeutel, also außeramtlich, trat vor sie hin und murmelte mit so viel Häßlichkeit in Ton und Haltung, als sein geistlicher Stand dem trefflichen gegenüber zuließ: „Herr Paster lassen sagen, Herr Paster würden die Einladung Folge leisten, wenn die Litterurjie alle wäre, dann möchte Fräulein Herrn Paster an der Sankristeithür erwarten. Herr Paster kämen dann gleich mit.“

„Sehr schön, ich danke Ihnen.“

„Rettenbacher ist übrigens wieder fein bei Stimme,“ setzte Günther die leise Unterhaltung fort, nachdem Herr Müller würdig sacht davongeschlichen war.

Hanna nickte nur. Sie seufzte dann ein wenig. Der Gemeindegesang bedrückte sie stets, besonders, wenn er auf einen Chorsatz folgte, den sie eben mit tiefbewegtem Herzen gesungen hatte. Ihr Gefühl für Frömmigkeit war von feiner, sehr zarter, scheuer Natur. Es bedurfte nur eines einzigen, nüchternen Rufes, um es zu verletzen. Mit leiser Verwunderung betrachtete sie ihre Nachbarin, Helene Imhoff, die die ganze Zeit fromm, wie ein Nönnchen, mitgesungen hatte.

Wenn ich so glücklich wäre, zu fühlen wie die, dachte Hanna, so säng’ ich ja auch mit. Aber mich nur so anstellen, das kann ich nicht; Rettenbacher ist auch still.

„Ich hab’ den ,Paulus’ und den ,Elias’ mit für heute abend,“ murmelte Günther wieder neben ihr.

Sie lächelte ihm freundlich zu.

Die weiche, matte Stimme des Predigers, die jetzt den Spruch verlas und der Günther nun mit ernsthaftester Andacht lauschte, ging eindruckslos an ihrem Ohr vorüber. Sie gehörte zu den Leuten, die nur mit Anstrengung und um den Preis heftiger Kopfschmerzen imstande sind, dem Vortrag eines Einzelnen im großen Raume mitten unter vielen Menschen zuzuhören. Gedankenbilder zogen in der wachen Seele ein und aus; wer sie so unbeweglich sitzen sah, mußte sie für die aufmerksamste Zuhörerin halten. Es wäre ihr auch um Erdmanns willen leid gewesen wenn jemand etwas anderes gedacht hätte.

Und heute war sie zudem unaufmerksamer als sonst. Nicht, daß sie gar so viel zu überlegen gehabt hätte. Sie versank im Gegenteil zuerst in eine sanfte, fast gedankenlose Träumerei, zu der die zurückkehrende, nun nicht mehr gestörte Erinnerung an die vorhin gesungene Motette die begleitende Musik bildete, oder vielmehr jetzt wohl hauptsächlich der volle, goldene Ton von Rettenbachers Stimme, der dem Baß die Farbe gab, wie die ihre dem Sopran. Die Vorfreude für heute abend lief ihr dann wie ein warmer Strom über das Herz. Und daß die Mutter in diesen Tagen, und besonders heute, wieder so viel wohler war! Vorigen Sonnabend hätte sie den Pastor nicht zu sich bitten können. Ein Glück nur, daß Günther wenigstens noch mit heraufgekommen war, um „Mamachen“ Guten Abend zu sagen, wenn er auch wegen ihres schlechte Befindens nicht hatte bleiben wollen. Er hatte dann doch gleich zum Doktor stürzen können, während sie mit Rettenbacher zusammen die arme Ohnmächtige aufs Bett trug. Der dumme Brief von dem Bankier war schuld gewesen. Aber wenn die argen Nervenschmerzen sie nicht vorher recht matt gemacht hätten, wäre sie auch gewiß nicht so erschrocken. Es war ja wohl nicht so arg. Es konnte ja nicht sein. Es war hoffentlich nur ein Schreckschuß. Sehr hoffentlich! Denn – was werden mochte, wenn – –

Günther, der sich neben ihr aus der Bank erhob und an seinen Dirigentenplatz zurückkehrte, zerriß den schmerzhaft festgespannten Gedankenfaden. Hanna besann sich; sie lächelte dann vor sich hin, beinahe verlegen. Wenn das arme, gute Pfarrerlein da unten wüßte, wie wenig sie immer von dem hörte, was er vortrug! Gut, daß er niemals nachher von seinen Predigten sprach.

„Also jetzt – Melchior Franck: ,Wer mich lieber ….’

Die alte, dreihundertjährige Motette breitete ihren unvergänglichen Zauber aus über kalte und warme Herzen, über Trübsal und Frohsinn, der Wiederschein ihrer Lieblichkeit leuchtete allenthalben gleich.

Hanna sang mit tiefster Hingebung. All ihre Andacht war wieder da. Helenens Madonnengesichtchen neben ihr schaute nicht verklärter. Ein jedes betet eben auf seine Weise. Und wahrscheinlich finden alle Gebete, die aus Herzensgrund erblüht sind, ihre Heimstätte – welche Weg sie auch kommen mögen.

2.

Der Gottesdienst war zu Ende.

„Nun, wie ist das also mit Erdmann?“ fragte Arnold Rettenbacher, auf Hanna zutretend, die sich noch mit Helene Imhoff unterhielt. Die ehemaligen Schulkameradinnen, vom Leben derweil auseinandergeweht, hatten sich zu gegenseitiger froher Ueberraschung hier im Kirchenchor wiedergefunden. Helene, schon seit einem halben Jahr verheiratet, war der Freundin freilich um ein bedeutsames Lebenskapitel voraus.

„Gleich – einen Augenblick“, antwortete Hanna auf Rettenbachers Frage, ihn dabei flüchtig anlächelnd. Und zu Helene zurück: „Sag’ doch, Kleine, könntest du nicht ganz gut einmal am Samstagabend mit mir kommen? Soviel ich weiß, hat doch dein Herr und Gebieter um diese Zeit eine Art von Sitzung und du bist frei?“

„Eine Sitzung hat er schon, aber die ist um neun zu Ende und dann kommt er mit einem mörderischen Hunger nach Hause. Er würde ja mir zu Gefallen auch einmal auswärts essen, aber ich mag ihm das nicht anthun. Gerade, weil er sich ganz sicher sehr liebenswürdig darein finden würde, verstehst du?“

„Und mit mir kommen und ihn zu uns nachkommen lassen, mitsamt seinem Hunger – ginge das nicht? Wir kriegen ihn am Ende auch noch satt“. „Das müßten wir einmal überlegen. Es wäre sehr nett. Du darfst nur nicht vergessen, daß der Arme so unmusikalisch ist wie ein Thürpfosten. Um so rührender von ihm, daß er mich so vollkommen frei gewähren läßt, und um so mehr Verpflichtung für mich, ihn am Samstagabend besonders gut zu behandeln. Bei euch würden wir doch musizieren, nicht? Nun, siehst du, das wäre dann eigentlich ein neues Opfer für ihn –“

„Ich sehe schon“ unterbrach Hanna sie lächelnd, „damit ist es nichts. Du hast auch ganz recht. So grüß’ ihn einstweilen von mir. Wir verabreden nächstens einen Abend, an dem es unmusikalisch und doch gemütlich zugehen soll.“

Helene verabschiedete sich nun eilig und huschte flink die gewundene Steintreppe der Empore hinunter. Die andern Chormitglieder hatten sich schon entfernt.

Der Organist schloß seine etwas über das Gemeindelied hinaus gedehnte Ausgangsmusik mit einem machtvollen Accord und stieg dann von seiner Bank, um Günther, der noch in seinen Noten kramte, Guten Abend zu sagen.

[519] Rettenbacher hatte ihm, während Hanna mit Helene sprach, dabei geholfen. Jetzt wandte er sich zu ihr zurück.

„Ja, also Erdmann kommt mit,“ sagte sie, ehe er noch einmal fragen konnte. „Wir sollen ihn an der Sakristeithür erwarten, hat Müller bestellt.“

„Nun, dann müßten wir aber hinuntergehen, find’ ich. Er hat doch schon während des Liedes Zeit gehabt, sich umzuziehen. „Wollen wir auch. Haben Sie Ihre Noten beisammen, Güntherchen?“

„Zu Befehl. Ich bin bereit.“

Linde, weiche Luft empfing die Heraustretenden wohlthätig nach der dumpfig kühlen Kirchenatmosphäre, die um diese Zeit noch nicht genügend von der Sonne durchwärmt war. Mit Heizen hatte man schon aufgehört. Der Frühling war ja da. Und nicht nur im Kalender.

Hanna that einen tiefen Atemzug und legte lächelnd den Kopf in den Nacken. „Ah! Das thut gut! So einen Abend laß ich mir gefallen! Nehmt nur eine ordentliche Lunge voll von dieser Luft mit nach Hause, ihr Herren! Besonders Sie, Herr Rettenbacher. Es wird Ihrem Paulus zu gute kommen.“

„Meinem Paulus.“ Der junge Mann lächelte, was sein blasses, blondbärtiges Gesicht, dem die Ueberarbeitung aus den schwermütigen Augen schaute, merklich verschonte. „Ich wittere was von argen Ränken! Er zog ein wenig an den beiden großen Büchern, die Günther unter dem Arm hielt, um die Titel auf den Rücken zu lesen. Das Bündel Notenblätter, in einem Umschlag aus blauer Pappe, hatte er ihm schon oben abgenommen.

„Elias auch“ rief er heiter entrüstet. „Sie scheinen’s ja gut vorzuhaben heute abend.“

„Hab’ ich auch,“ versicherte Günther vergnügt. „Die Seele aus dem Leibe wollen wir uns musizieren. Nur keine Müdigkeit vorschützen, Magisterchen, oder vielmehr, wollt’ ich sagen, nicht von ‚Hefte korrigieren’ reden und so was!“

„O nein, das thut Herr Rettenbacher nicht mehr,“ beruhigte Hanna. „Er weiß schon, daß all diese profanen Dinge an unserm Samstagabend verpönt sind.“

„Jawohl,“ nickte er, „der Samstagabend ist mein Sonntag.“

„Es ist übrigens ein Brief von zu Hause für Sie gekommen,“ berichtete Hanna. „Ich hab’ ihn mitten auf Ihr Pult gelegt. Ein dicker Brief. Da ist sicher wieder so eine Brüderchen-und-Schwesterchen-Epistel drin.“

Jetzt öffnete sich die Seitenthüre der Kirche und Pfarrer Erdmann trat heraus, noch den Hut in der Hand. Sein langer, schwarzer, bis unter das Kinn zugeknöpfter Rock kennzeichnete immer noch den Geistlichen. Auch sein glattrasiertes, sanft rötlich überhauchtes Gesicht mit den weichen, etwas verschwommenen Zügen, den vollen, sehr beweglichen Lippen verleugnete den Priester nicht.

Er ging jetzt in eifrigem Gespräch neben Günther der Wohnung Hannas zu. Die beiden jungen Leute folgten. Anfangs hatten sie noch einige Bemerkungen ausgetauscht, daß das Osterfest sich diesmal so tief in den April hineinschöbe, in diesem frühlingsseligen, unverdient schönen April, und daß in der nächsten Chorprobe die Karfreitagsmotette von Franck noch gründlich durchgenommen werden müsse. Dann waren sie wieder verstummt, wie schon manchmal in der letzten Zeit, wenn sie zu zweien waren.

Rettenbacher blickte nach einer Weile von der Seite her auf seine Begleiterin, während sie so still nebeneinander weitergingen. Da er größer war als sie, konnte er ihre geradeaus schauenden, von dem breiten Hutrand beschatteten Augen nicht sehen, nur ein wenig vom Mund, die weiche Wange und das kleine rosige Ohr, und im Nacken die Last des in Zöpfen aufgesteckten dunkelblonden Haares. Ihre „einzige, unbestreitbare Schönheit“, wie sie selbst fröhlich zu versichern pflegte.

Von allem andern weiß sie nichts, dachte Rettenbacher. Auch von dem nichts, was daraus werden muß, wenn man das tagaus tagein vor Augen hat. Hört sie nicht, was da so laut spricht, wenn wir schweigen? Ist sie so arglos? Oder so klug? Für mich mit? – Er drückte die Lippen fester zusammen und wandte den Blick zur Seite. – „Klug“ war er selber. Die Augen thaten ihm weh von der unbarmherzigen Helligkeit, in der er die Zukunft liegen sah. Für die Schwäche unmännlich träumerischer Hoffnung, in der er sich gelegentlich zurief: Grüble nicht, es kommt doch alles anders! hatte er sich noch stets selber ausgelacht. Wohler war ihm über dem Lachen freilich nicht geworden. Aber es gehörte sich so, daß man den romanhaften Unfug nicht Herr über sich werden ließ. Und was sie auch fühlen mochte, die Schweigsame da an seiner Seite – von ihm sollte ihr keine Unruhe kommen! Es wäre ja auch für die Güte der alten kranken Frau ein schlechter Dank gewesen.

„Ja, übrigens,“ sagte er, nach dieser langen Pause mit noch etwas umflorter Stimme, „ich habe also heute in Ihrem Auftrage wegen des Stuhles mit den Leuten abgeschlossen, Fräulein Hanna. Der Preis ist fest vereinbart. Wenn Sie mir also gelegentlich das Geld übergeben wollen, so kann das Ding übermorgen – morgen ist ja Sonntag – gebracht werden.“

„O, wirklich“, sagte das Mädchen und sah lächelnd zu ihm auf. In der Tiefe ihrer Augen schwamm leise ein Glanz in die Dunkelheit zurück, aus der er, aller tapferen Bekämpfung zum Trotz, doch einmal wieder fragend und sehnsüchtig aufgetaucht war.

Er sah den schwindenden Schimmer nicht, mit seinem trockensten Schulmeistergesicht schaute er gerade vor sich hin.

„Ich danke Ihnen sehr,“ fuhr Hanna fort, „daß Sie so schön für mich unterhandelt haben. Aber das Geld will ich nun schon selbst hinbringen. Sie sollen sich jetzt nicht weiter bemühen –“

„Das geht nicht,“ unterbrach Rettenbacher sie hastig, in seinem Gesicht stieg eine schwache Röte auf. „Ich sagte Ihnen ja schon, daß die Feststellung des Preises eine persönliche Sache zwischen mir und dem einen Geschäftsinhaber ist. Eine Gefälligkeit, diese Preisermäßigung, weil ich ihm seinen faulen Lümmel von Sohn durchs Examen geschleppt habe. Es muß aber unter uns bleiben, hat er gesagt. So muß ich auch ihm persönlich die Summe aushändigen, verstehen Sie?“

„Aber Ihre Zeit!“ wandte Hanna ein. „Das ist doch ein weiter Weg.“

„Ich habe dort in der Nähe eine Privatstunde zu geben, da mache ich das im Vorbeigehen ab. Von Zeitverlust ist keine Rede.“

Hanna sah mit zweifelndem Lächeln an ihm hinauf. „Ist das auch wahr?“ fragte sie. „Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie manchmal schrecklich lügen.“

„Das thun viele Leute,“ gab er trocken zurück. „Es kommt nur darauf an, zu welchem Zweck. In diesem Falle aber kann ich mich zu Ihrer Beschämung rechtfertigen. Da sehen Sie her“. Er zog sein Taschenbuch heraus und wies auf einen über zwei Seiten weggeführten Stundenplan. „‚Montag nachmittag viereinhalb bis fünfeinhalb Wilfried Leonhardt, Friedrichstraße 20, Latein‘. Zufrieden? Ueberzeugt? Komme ich da nicht buchstäblich vorbei?“

„Ja,“ sagte Hanna, „dagegen läßt sich nichts einwenden. Aber ich finde es rücksichtslos von Wilfried Leonhardt, daß er so weit weg wohnt. Können Sie sich solchen Jungen nun nicht ins Haus kommen lassen?“

„Diesen nicht. Der arme Kerl hat das Bein gebrochen und liegt in Gips. Um in der Schule nicht zu weit zurückzubleiben, bekommt er alle Nachmittage ein bißchen Privatunterricht. Er wohnte früher hier in der Nähe und aus Anhänglichkeit an unsre Schule macht er täglich mit der Pferdebahn den weiten Weg. Beim Abspringen von einem fahrenden Wagen hat er sich die Geschichte zugezogen. Ich hab’ ihn gern, den wilden Schlingel. Es ist so viel Lebensfreude in ihm. Einer von denen, die einem das Handwerk lieb machen.“

„Lieb machen! Als wenn Sie es nicht auch ohne Wilfried Leonhardt schon geliebt hätten.“

„Das schon. Aber so ein paar frische Tautropfen sind auch nicht zu verachten. Schon weil sie selten sind. Staub schluckt man ja nebenher genug.“

Hanna lächelte nachdenklich. „Schade, daß Sie meinen Vater nicht mehr gekannt haben. Wie oft hab’ ich das schon gedacht! Der that auch zuweilen, als hätte er den Schulstaub satt bis oben hin. Es war aber nicht so arg. Manchmal, wenn ‚er heimkam, müde, abgeärgert, und seine Hefte auf den Tisch warf und knurrte. ‚Infame Kerls! Dynamit unter die Bande!‘ und ich ihm dann brummen half, damit er leichter damit fertig würde, und sagte: ‚Hast recht, Vater, sie taugen alle nichts‘ – dann hielt er gleich inne und guckte mich über die Brille weg strafend an. ‚Das hast du dumm gesagt, mein Kind. Manche taugen [522] nichts, viele sind leidlich und einige sind famos. So ist die Sache!‘ Und dazu lachte er schon wieder vergnügt. Und wenn er sich dann zu Tische setzte und entzückt vom Essen war, einen Tag wie alle Tage, dann sagte er: ‚Komisch! Wie’s zugeht, weiß ich nicht. Wenn ich mich geärgert habe, dann schmeckt mir’s, zum Trost, zur Erquickung, wenn ich mich gefreut habe, dann schmeckt mir’s, weil mir’s so schon wohl ist. Also hin oder her – die verflixte Schule giebt allemal das Salz zu der Geschichte!‘“

Mit einem Blick auf Rettenbachers still vor sich hinlächelndes Gesicht fügte sie etwas verlegen hinzu: „Mir scheint, ich hab’ Ihnen das schon einmal erzählt?“

„Nein, nein,“ sagte er beruhigend, „wenigstens nicht vor kurzem, vielleicht viel früher, zu Anfang.“

„Sie schmunzelten aber so vielsagend; kennen wir – alte Geschichte!“

„Ich freute mich nur. Wirklich schade, daß ich den alten Herrn nicht mehr gekannt habe. Ich glaube, ich hätte viel von ihm lernen können.“

„Lernen – ich weiß nicht. Es giebt so manche Dinge, die sich nicht lernen lassen, wenn man auch sieht, wie es der andere macht. Da ist zum Beispiel eines, was Ihnen fehlt und was er hatte und was sich nicht abgucken läßt. Das ist der Humor! Der geht Ihnen ab – glaub’ ich wenigstens.“

Er schwieg ein Weilchen.

„Vielleicht,“ sagte er dann kurz, mit rauher Stimme. “Vielleicht ist er mir abhanden gekommen.“

Das Mädchen sah verwirrt zu ihm auf, sah in sein entfärbtes, trauriges Gesicht und wurde ganz still.

Schweigend, wie zuerst, gingen sie nun wieder nebeneinander her. Vom Kanal bogen sie in die Linkstraße ein. Erdmann und Günther, etwa zwanzig Schritte voraus, traten dann bald in Wasenius’ Hausflur ein. Hanna sah mechanisch die beiden Gestalten unterm Thorbogen verschwinden, die langröckige, priesterliche, würdevoll wandelnde und die kleinere, untersetzte, mit den stets eilfertig pendelnden Schritten.

„Also für das mit dem Stuhl,“ wandte sie sich nun hastig an ihren Begleiter, „dank’ ich Ihnen herzlich – herzlich! Ich geb’ Ihnen nachher gleich das Geld. Und Montag abend wird er gebracht, nicht wahr? Ach Gott, wie freu’ ich mich. Was sie wohl sagen wird! Und wie gut sie darin sitzen wird! Und daß er so schön und pfiffig zu verstellen ist! Dann kann man ihn nach Tische immer so drehen, daß sie darin mehr liegt. O, ich kann’s schon kaum mehr aushalten, bis ich ihn selber sehe! Nicht wahr, Sie freuen sich auch?“

„Sehr,“ antwortete er freundlich. „Ich denke, das wissen Sie.“

„Ja. Und – bitte – Sie haben mir das nicht übelgenommen?“

„Was denn?“

„Das von vorhin. Das letzte. Weil Sie danach so still wurden.“

„Aber was reden Sie! Uebelnehmen! Was wär’ ich dann für ein Stoffel. Sie haben eine Betrachtung gemacht, eine zutreffende, über die ich nachgedacht habe. Beim Nachdenken pflegt man zu schweigen. – Aber geben Sie acht, hier ist schon die Stufe. Man sieht zuerst nicht gut, nach der Helligkeit da draußen!“

3.

Im Wohnzimmer, das auch gleichzeitig Speisesaal und Salon vorzustellen hatte, spann schon seit einem Weilchen die Dämmerung ihre Fäden.

Von dem rosigen Abendlicht draußen kam nur noch ein kleiner schräger Schein zart leuchtend zu dem offenen dreiteiligen Fenster herein, glitt warm über das blasse, traurige Gesicht der kranken Frau im Lehnstuhl, streifte eine Ecke des großen Vogelkäfigs mit Hannas Zeisigen, Stieglitzen und Hänflingen und flimmerte, langsam schwindend, auf der bräunlichen Wand entlang, ohne mit seinem letzten Fünkchen noch den breiten, polierten Ebenholzrahmen erreichen zu können, der Vater Wasenius’ Bildnis, die genial ‚hingehauene’ Kreidezeichnung seines Lieblingsschülers, umschloß. Dunkel stand darunter das schwarze Roßhaarsofa an der dunklen Wand, daneben, schon fast in der Ecke, das altmodische, tafelförmige Klavier. Vom Bücherschrank auf der andern Seite, von Hannas kleinem Schreibtisch war nicht mehr viel zu unterscheiden.

Die Hängelampe über dem gedeckten Tisch in der Mitte war noch nicht angezündet. Das kleine Dienstmädchen, das vierzehnjährige, das noch sehr dumm war, durfte sich an diesen Dingen nicht vergreifen. Es hätte ja den Hebel, mit dem man den Cylinder lüftete, ohne ihn abzunehmen, zerbrechen können. Diese neue verschmitzte Einrichtung war Hannas Stolz. Einer von ihren „Stölzen“ mit denen sie sich nur zu gerne necken ließ, weil niemand so wie sie wußte, mit wieviel Mühe, wie langsam, groschenweise, und mit wie häufigen Vertröstungen auf den „nächsten“ Monat die Sümmchen zur Anschaffung solcher kleinen Ueberraschungen für den Haushalt zusammengespart wurden. Manchmal ist der Luxus im Hause der Armut rührender als die Armut selbst.

In diesem letzten Winter war fast alles sorgsam Erübrigte, alle Extraeinnahmen für Handarbeitsunterricht, für feine Stickereien und sonstige Kunstfertigkeiten in die Kasse für den zauberhaften Krankenstuhl gewandert, der ja nun endlich in leibhaftiger Gestalt erscheinen sollte, durch Rettenbachers Vermittlung noch eher, als zu hoffen war.

Wenn das blasse Mütterchen da am Fenster, das dem langsamen Wandern der rosenroten Abendwolken zusah, die durchsichtigen, magern Hände über dem niedergesunkenen Strickzeug am Schoß verschlungen, eine Ahnung von dieser heimlichen Ränkespinnerei gehabt hätte – wie würde es sich dagegen gewehrt haben, mit allen seinen schwachen Kräften. Wie schlagend würde es bewiesen haben, daß der große Korbsessel ja vollständig seinen Zweck erfülle, daß es sich so weich darin säße, dank den vielen Kissen und Pölsterchen, die Hannas erfinderischer Geist allenthalben angebracht hatte. Wie würde es beteuert haben, daß das überpolsterte Brettchen an den starken Bändern ja prächtig die Füße unterstützte , während man den Stuhl aufhob, um ihn wegzutragen, zum Tisch oder zu ihrem Bett. Ja, das Hinundhertragen, das wäre vielleicht das einzige Argument gewesen, mit dem man etwas bei ihr ausgerichtet hätte. Es wurde infolge des steten Sträubens der Kranken auf das mindestmögliche Maß beschränkt, mußte aber doch immer wieder sein. Zum Glück war sie völlig ahnungslos über das, was ihr drohte, und Hannas Herz dehnte sich aufs neue in der Vorfreude auf Montag abend.

Sie schloß jetzt ihre Flurthür auf, und während die Herren in dem schmalen, halbdunklen Vorraum ablegten, trat sie rasch ins Zimmer, Hut und Jacke schon in der Hand.

„Guten Abend, mein Herzblatt,“ sagte sie mit ihrer frischen, warmen, tieftönigen Stimme, der man, wenn sie sprach, den umfangreichen Sopran gar nicht zutraute. „Warst du brav?“

Sie nahm das Gesicht der Mutter in beide Hände und sah ihr liebevoll prüfend in die Augen.

„Ich habe mich einfach musterhaft benommen,“ versicherte die Gefragte. „Hast du den Pastor mitgebracht?“

„Jawohl. Aber – ich weiß nicht, Mutterchen – du kommst mir mit deinem Selbstlob nicht ganz glaubwürdig vor. Sag’ mir – an was für unmusikalische Dinge hast du denn eben gedacht, als ich heimkam?“

„Ach, so sehr unmusikalisch waren sie gerad’ nicht,“ antwortete Frau Wasenius mit einem zaghaften Lächeln, das den Scherz bekräftigen sollte. „Sie klimperten wenigstens metallisch.“

Hanna verfärbte sich. „Also Geld. – Du hast –“

Jetzt traten aber schon die Gäste ins Zimmer und Hanna richtete sich hastig auf.

„Güntherchen,“ sagte sie während der Begrüßung, „gehen Sie geschwind auf Ihren Posten, spielen Sie etwas Frohes, Helles, Tröstliches. Diese kleine Mutter ist zu lange allein geblieben. Sie hat sich erlaubt, Grillen zu fangen. Die müssen vertrieben werden! Also gute Musik. Und Helligkeit! Bei Licht gedeihen sie auch nicht. Dies ist ja eine Stube für Fledermäuse.“

Rettenbacher hatte die Streichhölzer schon heraus und zündete, mit Hannas „gütiger Erlaubnis“, die Wunderlampe an.

Aber Frau Wasenius wollte jetzt keine Musik. Man werde ja doch gleich zu Tische gehen. Die Herren seien gewiß hungrig. Einen Augenblick sollten sie sich aber noch zu ihr her ans Fenster setzen. Ob da nicht eine ganz wunderherrliche Luft hereinkomme? Förmlich Sommer! Und wie es denn in der Kirche gegangen sei?

[523] Pastor Erdmann hatte sich schon gleich den zweiten, etwas kleineren Korbstuhl, ohne Kissen, der auch an dem breiten Fenster stand, um den Arbeitstisch herum näher herangezogen und legte jetzt seine weiße, weiche, rundliche Hand auf die schmächtigen Finger der Sprechenden. „Meine liebe Frau Doktorin, ich freue mich, Sie so frisch zu sehen, nach dem bösen Anfall in voriger Woche. Sie haben uns recht erschreckt!“

„Ja, ja,“ antwortete sie lächelnd, „das merkte ich wohl, und aus lauter Beschämung darüber habe ich mich so schnell erholt.“

„Ich fürchte, aus lauter Beschämung prahlst du jetzt fortwährend,“ sagte Hanna, die nach einem Blick auf den Tisch wieder zu der Mutter getreten war. Sie strich ihr über den silberig schimmernden Scheitel und über die schmalen, immer noch weichen Wangen; tiefe, wehvolle Sorge lag in dem Ausdruck, mit dem sie auf die Vielgeliebte niedersah.

Günther hatte indessen nur seine Noten auf dem Klavier abgelegt und war dann auf dem Weg zum Fenster am Tische stehen geblieben. „Hm!“ sagte er wohlgefällig und beugte sich, indem er seinen breiten schwarzen Bart wie ein Kind seine vorgebundene Serviette mit beiden Händen festhielt, darüber, um die Schüssel in der Mitte näher zu betrachten. „Fein! Famos! Blumenkohlsalat! Wieder was anderes! Mamachen gemacht, natürlich, was?“

Hanna nickte ihm lächelnd zu. Ihr fiel von neuem der fast komische Gegensatz zwischen seinem ganz kindlichen, leckerhaft schmunzelnden kleinen Munde und der martialischen Bartwildnis, dem mächtigen Haarschopf über der breiten Stirne auf. Auch die kräftige Nase wollte zu dem unreifen Knabenmäulchen nicht passen. Nur die siegreich fröhlichen Augen sprühten noch durchaus zwanzigjährig und schienen von der nun doch schon lange erlebten Mühsal des Musikantenberufes nichts wissen zu wollen.

„Ja,“ sagte das Mädchen nach dieser kleinen Betrachtungspause. „Sie wissen ja, ihren Samstagabendsalat läßt sich Mutter nicht nehmen. Ich trag’ ihr immer alles herein was sie braucht, und dann mischt und rührt sie, daß es ein Vergnügen ist, ihr zuzusehen. Ich möcht auch keinen anderen, als den sie gemacht hat! Jetzt werd’ ich aber doch sorgen, daß wir etwas zu trinken kriegen, und dann kann das Festmahl seinen Anfang nehmen.“ Herr Rettenbacher ist hinausgegangen. Jedenfalls will er schnell noch einen Blick in seinen großen Familienbrief thun.

Seine Thür, an der sie vorbeikam, stand offen. Bei der brennenden Lampe stand er an seinem Pult und las.

„Gute Nachrichten?“ rief sie fragend hinein.

„Danke,“ gab er zurück, ohne aufzusehen. „Bin noch lange nicht durch, überfliege nur.“

„Uebrigens,“ sagte Hanna, den Schritt anhaltend und zu seiner Schwelle zurückkehrend, „ich könnte Ihnen jetzt geschwind das Geld geben.“

„Aber das hätte ja Zeit, Fräulein Hanna, bis morgen, bis Montag nachmittag sogar.“

„Zeit! Ja doch! Aber, ich möchte es los sein. Verstehen Sie nicht? Es ist mir, als wäre dann die Freude näher, wenn ich es Ihnen schon übergeben habe, als dauerte es dann nicht mehr so lange. Warten Sie, ich hol’ es, es ist ein Augenblick.“

Sie huschte davon und war gleich wieder da, ein Schächtelchen in der Hand. Rettenbacher war ihr bis zur Thür entgegen gekommen. Als sie das Geld herausschütten wollte, sagte er. „Geben Sie mir’s so, wie es da ist, mit dem Kästchen. Oder brauchen Sie das noch?“

„Nein. Aber wozu?“

Darauf antwortete er nicht, sondern nahm es ihr aus der Hand.

„Also gut,“ sagte er dann. „Am Montag. Ich würde sagen Punkt Sieben, nicht wahr?“

„Ja! O Himmel, wie freue ich mich! Und jetzt geschwind das Bier!“

„Darf ich vielleicht helfen?“

„Nein das dürfen Sie nicht. Aber kommen Sie hinein! Ihren Brief lesen Sie später mit mehr Gemütsruhe.“

Drinnen war das Fenster geschlossen worden. Was nun noch von „Sommerluft“ hereinkam, langte nicht mehr viel.

Rettenbacher und Günther trugen Frau Wasenius zum Tisch, nachdem Hanna sorgsam die willenlosen armen Füße vom Schemel auf das schwebende Brettchen gehoben hatte. Das war das „Samstagsrecht“ der beiden, seit diese gemütlichen Musikantenabende eingerichtet worden waren. Für dieses eine Mal in der Woche ließ sich Hanna, die sonst mit der kräftigen jungen Magd zusammen diesen Dienst versah, von ihrem Posten verdrängen. Lächelnd sah sie dem beklommenen Aufatmen der Kranken zu, als der Stuhl gehoben wurde. Nicht mehr lange wird dir das Pein machen, mein Armes, dachte sie. ‚Wart’ nur wart‘, nachher wirst du gefahren.

„Seufzen Sie nicht so gottsjämmerlich, Mamachen,“ sagte Günther. „Sie thun ja wahrhaftig, als wenn wir unter Ihrer Last zusammenbrechen müßten. Wenn Sie nicht gleich wieder ein vergnügtes Gesicht machen, dann laß ich Sie am steifen Arm verhungern.“

„Lieber nicht,“ wehrte Frau Wasenius, schon wieder erheitert. „Das würde sehr lange dauern, und da kämen Sie ja selbst um Ihr Abendbrot. Bitte, lieber Herr Pastor – sie wies auf das kalte Fleisch und den Salat – Ehrwürden fangen an.

Der geistliche Herr nahm sein von Rettenbacher gefülltes Glas in die Hand. „Der erste Gruß heute abend,“ sagte er, „gebührt unserm lieben Kirchenchor. Meine Freunde, wie schön habt ihr wieder gesungen! Wie habt ihr mir zutiefst das Herz bewegt! Besonders mit dem ersten, das ich ja noch gar nicht kannte! Von wem ist denn diese hinreißende Komposition?“

„Von unserm Becker natürlich,“ antwortete Günther. „Klang es Ihnen nicht ganz Beckerisch?“

„Es klang mir wie etwas, dem man regungslos zuhört, mit weitem, weitem Herzen, und auf das man schweigt, weil man nichts mehr sagen kann. Ich hab’ noch predigen müssen hinterher … Aber nun – wenden wir uns den irdischen Genüssen zu!“

„Die übrigens auch nicht zu verachten sind,“ warf Günther behaglich ein. „Mamachen, prosit! Es schmeckt wieder göttlich! Der Rettenbacher kann lachen. Ich wollt’, ich wär’ auch Ihr Pensionär!“

„Ja, glauben Sie denn,“ sagte Hanna, „daß der alle Abende Salat und zweierlei Aufschnitt bekommt? Dieses sind nur unsere Samstagsorgien. An allen übrigen Tagen sieht die Geschichte bedenklich anders aus.

„Nun, ich meine, der Augenschein lehrt, daß ich mich recht wohl bei diesen Zuständen befinde,“ sagte Rettenbacher mit einem warmen, dankbaren Blick auf Frau Wasenius, die, schweigsamer als gewöhnlich, mit nur mühsam beherrschter, trauriger Beklommenheit vor sich hinschaute.

Sie hob jetzt den Kopf und nickte dem jungen Mann zu …

„Jedenfalls lebt er nun regelmäßiger, also gesünder,“ sagte sie, sie richtete sich ein wenig auf, mit dem offenbaren Vorsatz, sich zusammenzunehmen und sich von nun an besser an der Unterhaltung zu beteiligen. „Vor einem Jahr“, fuhr sie fort, „– so lange ist es ja nun wohl gerade? – da wußte er nie, wann er eigentlich zu Mittag äße, und ob er überhaupt dazu kommen würde. Den Privatunterricht, außerhalb der Schulstunden, hatte er sich unglaublich unpraktisch gelegt, eine so unpraktische Tageseinteilung und eine so ungesunde Bedürfnislosigkeit habe ich noch nie gesehen. Wissen Sie noch den Tag, wie ich einmal dahinter kam? – Ich seh’ es noch, wie Sie hier hereintraten, um mir den Einschreibebrief zu bringen. Sie hatten ja wohl das Mädchen auf die Post geschickt und machten darum selbst die Thür auf, als es klingelte. Hanna war nicht zu Hause. Ich seh’ noch das magere, elende Magistergesicht, gerade in dem hellen Sonnenstreifen. Es war etwas darin, was mich – rührte, möcht’ ich sagen, was mich an meinen Mann erinnerte, als er noch jung war. Ich schämte mich ganz plötzlich, daß ich so gar und gar nichts von diesem Menschen wußte, der doch nun schon ein Jahr lang mein ,Chambregarnist’ war. Er war eine wesenlose Gestalt für mich geblieben. Nun, daß er seines Zeichens Lehrer war, das wußten wir. – Ich weiß, was Sie sagen wollen, wehrte sie mit einer sanften Bewegung der müden Hand, „wie hätten wir zu näherer Bekanntschaft kommen sollen? Sie schickten pünktlich an jedem Ersten durch das Mädchen, das Ihnen früh den Kaffee brachte, Ihre Miete herein. Das war unser ganzer Zusammenhang. Aber als ich Sie dann so vor mir stehen sah, mit diesem Ueberarbeitungsgesicht, das mich so an damals erinnerte, und aus Höflichkeit ein paar Worte mit Ihnen wechselte und dann also anfing, mich zu schämen, und weiter und weiter fragte, und wie dann eins sich [524] ans andere heftete und Sie nach einer Stunde noch bei mir saßen, da am Fenster, und wie dann Hanna nach Hause kam und sich wunderte –“

„Und sich freute,“ fiel das Mädchen ein, „über ihr Mutterchen, das da so aufgeräumt plauderte und alle alten Zeiten ausgekramt hatte –“

„Wissen Sie was, Mamachen,“ unterbrach nun Günther, „ich glaube, es war hauptsächlich die Zunft, die es Ihnen angethan hatte – daß es einer ‚vom Bau’ war. Oder hätten Sie ebensolches Mitleid mit seinem elenden Magistergesicht gehabt, wenn er ein junger Rechtsgelehrter oder sonst was anderes gewesen wäre?“

„Ich weiß nicht,“ sagte Frau Wasenius nach einem herzlichen Blick auf den jungen Mann, der vor sich niedersah, als begänne ihn diese ausführliche Beschäftigung mit seiner Person zu quälen. „Vielleicht. Eine Brücke war es gewiß, das geb’ ich zu. Und das ist wohl auch natürlich. Es hat dann nicht gar lange mehr gedauert, bis unser neuer Kontrakt zustande kam. Und ich glaube, wir sind alle zufrieden damit.“

„Wenigstens ist ihm Mamachens Pflege ganz gut bekommen. Wenn ich denke, wie er vorher aussah. Aber zum Bürgermeister hat er doch wohl kein Talent, scheint mir.“

„Ich glaube,“ warf Hanna so halblaut hin, „das verhindert schon die Sorge für die lieben, lustigen Orgelpfeifen daheim, nicht wahr?“

„Bitte,“ sagte Rettenbacher sich aufrichtend, mit einem fliegenden Lächeln, „wollen wir uns nicht erinnern, daß wir zusammengekommen sind, um Musik zu machen?“ Der Herr Pastor wartet gewiß schon darauf.

„Ja, wenn wir denn wirklich mit Essen fertig sind? Güntherchen, da ist noch ein Löffel voll Salat übrig.“

„Her damit!“ rief der Musiker vergnügt.

Bis aufs letzte Krümchen wurde die Schüssel geleert. Die andern sahen ihm lächelnd zu. Als er fertig war, stand er sofort auf.

„Warten Sie, Mamachen! Bis abgeräumt ist und alle Mann auf Posten sind, spiel’ ich Ihnen den neuen Becker vor, damit Sie doch ’ne Ahnung davon kriegen. Gott, daß Sie den nicht in der Kirche hören können!“

Frau Wasenius antwortete nicht. Aus ihrem schwermütigen Lächeln heraus sah sie erstaunt auf ihre Tochter, die mit dem Zusammenräumen der Teller innehielt und strahlend zu ihr herüberblickte.

In der Kirche hören! Sie sollte ihn in der Kirche hören, den Becker. Wenn erst der herrliche Stuhl da war, in dem sie fahren konnte. Das mußte zu machen sein! Rettenbacher und Günther mußten sie die drei Treppen hinuntertragen, auf ihren verschlungenen Händen. Sie war ja so leicht. Zu leicht. Drunten in den Stuhl hinein und auf die Straße hinaus! In die Luft. In die Frühlingsluft! Zum erstenmal seit fünf Jahren wieder! Und zur Kirche am Samstag abend. Und ihr vorsingen. „Kommet her zu mir!“ Und den Kiel. „Die mit Thränen säen, werden mit Freuden ernten.“ Mit Freuden ernten! Ach, Mutter! Und ihr liebes Gesicht in Freudenthränen!

Ein Viertelstündchen später saß sie still neben Erdmann auf dem Sofa, den Kopf angelehnt, die Hände im Schoß gefaltet.

Arnold Rettenbacher sang, das Gebet aus Mendelssohns „Paulus“. Alles, was die wortarme Befangenheit dieses an Einsamkeit Gewöhnten tagaus tagein verschwieg, das redete jetzt seine klingende Sprache. Alles, was an Hoffnung in ihm lebte, ihm selbst vielleicht nur unklar bewußt, alles, was er zu erbitten hatte ohne Gewähr der Erfüllung, alles, was ihm das Einschlafen schwer machte und seine Träume vergoldete, das sang sich von seiner bedrückten Seele los.

Es blieb sehr still im Zimmer, als der letzte Ton verklungen war. Günther senkte den großen, schwarzen Kopf tief auf seine Hände nieder, die noch auf den Tasten liegen geblieben waren. Er war aber dann doch der erste, der wieder sprach. Mit einer seiner ungestümen Bewegungen schlang er einen Arm um den jungen Mann, der neben ihm stand und mit sehr fernabträumenden Augen in die flackernde Kerzenflamme starrte. „Menschenkind, Menschenkind,“ sagte er halblaut, zärtlich. „Wo singen Sie Einen hin!“ Rettenbacher sah mit der Bewegung eines Erwachenden zu ihm nieder. Auf seinem von der tiefen Bewegung verschönten blassen Gesicht schien eine Flamme zu erlöschen. Er antwortete nicht und sah sich langsam, zögernd nach Hanna um.

Das Mädchen hatte sich noch nicht gerührt. Es schien aber jetzt seinen Blick zu fühlen und richtete sich auf, noch ohne den Mut, nach ihm hinzusehen. Es wandte sich vielmehr zu Erdmann, der mit einem seltsam starren Gesicht geradeaus schaute.

„Nicht wahr, lieber Herr Pastor,“ sagte sie leise und mühsam, mit ganz erdrückter Stimme, „dies ist doch auch Gottesdienst?“

„Auch?“ erwiderte er mit so tiefer Bitterkeit und so rauh, daß Hanna erschrak.

Er sah es, und ehe sie noch in ihrer Bestürzung etwas herausbringen konnte, fuhr er fort, nur zu ihr sprechend, als sei niemand sonst im Zimmer: „Was glauben Sie wohl, mein liebes Kind, was für ein beredter Priester ich geworden wäre, hätte man mir vergönnt, auf meine Weise zu predigen. Man hätte mir meine Geige lassen sollen – damals. Man hätte mir meine Musik lassen sollen. Die war meine Sprache, die war mein Gebet!“

Er atmete tief auf und strich mit der flachen Hand über die gerötete Stirn. „Da hab’ ich jetzt eine sogenannte Unklugheit begangen, sagte er traurig lächelnd, mit einem zögernden Blick auf die erschrockenen vier Gesichter. „Liebe Freunde, vergeßt das! Aber kommt und singt weiter in meiner Kirche! Ich predige dann doch etwas besser. – Und nun – gute Nacht! Heute nichts mehr. Nach diesem heute nichts mehr! Aber bald wieder, ja? – Gute Nacht! Recht gute Nacht!“

[533]
4.

Frau Wasenius lag endlich in ihrem Bett. Und nun setzte sich Hanna zu der Mutter auf den Bettrand; sie beugte sich tief zu ihr herab. „Warum willst du es auf morgen versparen, Mutterchen,“ sagte sie mit ernstem, zärtlichem Lächeln, „denkst du, ich hätte es nicht gleich gesehen, als ich hereinkam, daß du irgend eine Nachricht hast? Und zwar keine gute? Ich wollte nur nicht in Gegenwart der andern – aber nun sind wir ja allein. Nun gieb mir meinen Teil. Oder glaubst du ich, schlafe die Nacht, wenn ich weiß daß du in Sorgen wach liegst. – Thomas hat geschrieben?“

[534] „Ja“, sagte Frau Wasenius leise. „Ich wollte eigentlich wirklich bis morgen warten,“ fügte sie zögernd hinzu.

Hanna machte nur eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. „Also, die Fabrik ist doch hin?“ fragte sie dann. „Und alle Aktien wertlos?“

Die Mutter nickte nur.

„Thomas hat gemeldet, daß wir auf nichts mehr zu rechnen haben?“

„Auf gar nichts mehr.“

Hanna wurde sehr blaß und drückte die Zähne auf die Unterlippe, sie sah ein Weilchen starr geradeaus.

„Nun“, sagte sie endlich halblaut, „das ist wenigstens klipp und klar. Nun weiß man doch, woran man ist. Daß es gut ausgehen würde, hat man im stillen ja doch nicht geglaubt. Du wenigstens nicht, armes Herz. Und die Zeit von dem Warnungssignal an war auch nicht beneidenswert schön.“

„Aber was wird nun?“ fragte die Kranke, der plötzlich große Thränen über das Gesicht liefen.

Hanna ließ sich neben dem Bett niedergleiten und nahm die Mutter fest in die Arme. „Mein liebes Mutterchen, fürchte dich nicht so sehr, bat sie mit tiefer, vor Sorge und Zärtlichkeit bebender Stimme. „Es wird schon gehen, es wird schon gehen! Wie denn nicht? Wir schränken uns ein. Ich werd’s schon machen, glaub’ mir. Ich hab’ in diesen letzten Tagen schon allerhand Pläne entworfen, ganz gescheite Pläne. Ich bin nicht müßig gewesen. Weine nur nicht so! Und wie dein armes Herz klopft! Komm, komm, du darfst dich nicht so abängstigen. Denk doch an so manche andre arme Lehrerswitwe, die zu ihren kümmerlichen Einkünften noch eine Schar Kinder hat. Du hast doch wenigstens nur dieses eine, und das ist schon so alt, zu dem darf man gar nicht mehr Kind sagen.

Sie zwang sich zu einem heitren Lachen, es gelang ihr auch ganz leidlich.

Frau Wasenius streichelte ihr die Wange. „Prahlst mit deinen dreiundzwanzig, du armes Ding,“ murmelte sie.

„Es sind ja eigentlich schon viel mehr. Du weißt, Kriegsjahre zählen doppelt. Ich fühl’ mich schon recht erwachsen. Jedenfalls groß genug, um meinem arme Mutterchen hier in diesem Bett jetzt alle unnütze Grämerei zu verbieten. Morgen ist auch noch ein Tag. Heruntergesprochen haben wir’s uns jetzt, das war die Hauptsache. Morgen, wenn die Sonne scheint, wird weiter verhandelt. Da nehmen wir das große Buch und rechnen –“

„Thomas will morgen herkommen,“ unterbrach Frau Wasenius.

„Wozu das noch? Wenn doch alles vorbei ist?“

„Er schreibt sehr liebenswürdig. Der Brief ist in meiner Tasche. Er schreibt, er könne sich als Vaters ehemaliger Schüler nicht damit beruhigen, mir einfach nur Bericht von dem Verlust zu geben. Er stelle sich mir zur Verfügung, um wegen unserer künftigen Lage gründlich Rücksprache zu nehmen. Als Kaufmann könne er uns doch vielleicht den einen oder den andern guten Rat geben. Er bedauert diese ganze Sache sehr. Aber niemand hätte das voraussehen können, sonst hätte er beizeiten gesorgt, die Papiere zu verkaufen.

„Ja ja,“ sagte Hanna. „Aber darüber jetzt noch zu reden, hat doch keinen Zweck mehr. Nützen wird er uns nicht können, glaub’ ich. Deine Pension und die Zinsen von der Lebensversicherung beziehst du nach wie vor, auch ohne ihn. Was ich nebenbei verdiene, ist auch meine und nicht seine Sorge. Kurz, ich weiß nicht – aber einerlei, er meint es jedenfalls gut. Wir werden ja sehen! Eins weiß ich aber ganz gewiß. Nämlich, daß du von Rechts wegen schon lange schlafen solltest, Mutterherz. Du wirst jetzt brav sein, nicht wahr, wenn ich dich sehr, sehr bitte, und die Augen zumachen und bis hundert zählen hin und zurück, wenn’s sein muß, und einschlafen, ja? Willst du einen kalten Umschlag in den Nacken?“

Frau Wasenius schüttelte den Kopf. „Ich will ohne alle Künste zu schlafen versuchen, mein gutes Kind,“ sagte sie zärtlich, „nur dir zuliebe. Aber du mußt dich auch niederlegen.“

„Bald thu ich’s,“ versprach Hanna. „Ich muß mir nur noch geschwind an meinem Kleid etwas flicken. Ich bin auf der Treppe mit dem Fuß in den Saum geraten, weißt du. Das näh’ ich noch und dann geh’ ich schlafen. Gute Nacht! Wenn ich dann hereinkomme, will ich diese kleine Mutter im tiefsten Schlaf vorfinden, verstanden?“

Draußen auf dem dunklen’ Vorplatz blieb Hanna einen Augenblick stehen. Sie drückte die gefalteten Hände an den Mund und atmete tief. Drinnen bei der Mutter der herzkranken, hatte sie nicht schwach und weichmütig sein dürfen, keinen Augenblick lang. Aber jetzt überkam es sie, stieg ihr heiß und beklemmend in die Kehle hinauf. Aber sie weinte nicht, sie schluckte tapfer und hielt die Augen weit offen.

Und mit diesen weitoffenen Augen sah sie den feinen Lichtstreifen, der unten an Rettenbachers Thür entlang schien.

Er saß also noch bei der Arbeit.

Sie nickte dem zarten Scheinchen zu. „Guter, Fleißiger,“ hauchte sie. Die augenlose Dunkelheit, die sie umgab, sah nichts von ihrem unbewachten Gesicht. Nach einem tiefen Atemzug schlich sie leise vorbei ins Wohnzimmer daneben. Dort fühlte sie sich um den Tisch herum zu ihrem Schreibtisch, zündete ihre kleine Arbeitslampe an und setzte sich. Es war aber keine Näherei, die sie vornahm. Sie zog ihre Rechnungsbücher aus dem Fach und begann zu rechnen. Vielmehr sie fuhr fort. Sie hatte ja schon angefangen in diesen letzten Tagen, heimlich, in Absätzen – es blieb nicht mehr viel zusammenzuzählen. Hanna starrte auf die kleinen Ziffernreihen das Hauptexempel war sehr einfach zehn minus fünf bleibt fünf. Die Hälfte. Und mit dieser Hälfte konnten sie nicht hier bleiben, nicht hier weiter leben. Das Ganze hatte ja so nur kümmerlich gereicht. War mit allerlei Künsten in die Länge gezogen worden. Sie hatte ihre stille Freude an diesen Künsten gehabt, hatte sie mit der Zeit immer mehr ausgebildet, hatte der kranken Mutter sacht ein Fädchen nach dem andern aus der Hand gezogen, bis sie das ganze Bündel zwischen ihren jungen Fingern hielt. Es war ein Webstück daraus geworden, das sich hätte sehen lasse können, wenn die Weberin gewollt hätte. Sie wollte aber nicht. Sie wollte nichts, als die Mutter sorgenlos wissen. Sie wollte nichts, als den unruhig flatternden Schlag dieses armen Herzens besänftigen. Sie wollte Sonnenschein über dem müden, blassen Gesicht. Und es war ihr auch gelungen. Bis heute. Nein, bis vor acht Tagen. Bis der Brief kam mit der Vorbereitung auf den Schlag. Und sie hatte noch gehofft, es werde nur blinder Alarm gewesen sein. Sie hatte es sogar fertig gebracht, die tödlich erschrockene Mutter wieder zur Ruhe zu reden. An dem Schlag, den ihr vorhin die unwiderrufliche Nachricht gegeben hatte, war ihr bewußt geworden, wie fest doch noch ihre Hoffnung auf einen tröstlichen Ausgang gewesen war.

Nun also nicht mehr rückwärts gesehen auch nicht rechts, noch links, nur vorwärts, ins Neue, ins Notwendige! Also fort aus der Wohnung, aus Berlin, in einen billigen Vorort, in den billigsten!

Fort aus der Wohnung.

Aus diesem Haus, in das die Eltern geheiratet hatten vor sechsundzwanzig Jahren, wo sie zur Welt gekommen war, wo sie ihre glückselige Kindheit verlebt hatte, mit der noch gesunden, noch fröhlichen Mutter, wo alsdann auch das schwarze Gewölk der Sorge und Aengste mit dem beginnenden Herzleiden der Vielgeliebten seinen Einzug gehalten hatten wo der Vater, der angebetete gestorben war – nein, nicht gestorben, nur als ein stiller verstummter Mann gelegen hatte, noch drei Tage lang, nachdem man ihn von der Straße hereingebracht hatte, vom Schlag getroffen, die Treppe hinauf, seiner Frau entgegen, der Ahnungslosen, die ausgehen wollte, und die nun rücklings niederstürzte mit einem Schrei, und erst nach vielen Stunden erwachte, gelähmt von den Hüfte an, für Lebenszeit!

Hanna rührte sich auf ihrem Stuhl; die Starrheit, in der sie gesessen hatte, löste sich. Wie geschah ihr denn? Das war ja rückwärts gedacht, nur rückwärts! Das wollte sie ja nicht. Das durfte sie ja nicht. Sie strich sich das Haar aus der Stirn und wendete sich zur Seite. Ihr Blick fiel auf das Fenster, zu dem die sternklare Nacht hereinschaute, und auf die leere Stelle, wo am Tage der Sessel mit der Mutter stand. In dem matt erleuchteten Zimmer gähnte der unbewohnte Fleck wie ein Loch. Ein schwerer heißer Schrecken fiel ihr aufs Herz. Der Stuhl, der schöne, teure Krankenstuhl, der langsam, mühsam ersparte! Mit der Freude, die die Mutter darüber haben sollte, war’s nun [535] aus. Hanna wußte, sie würde nun nur noch erschrecken, würde sich grämen über die große Ausgabe in diesen neuen, trostlosen Verhältnissen. Als ob sie nicht längst verschmerzt wären, die einzelnen Markstücke, aus denen die Summe zusammengewachsen war. Als ob das überhaupt Schmerzen gemacht hätte. Ach, keine Schmerzen, nur Freude! Und als ob sie ihn nun nicht erst recht brauchten, diesen Stuhl, worin die lahme Mutter fortgeschafft werden mußte, wenn sie auszogen!

Hanna stand auf, es ergriff sie eine schmerzhafte, fieberische Unruhe. Auf ihren leisen Schuhen begann sie rastlos im Zimmer auf und ab zu gehen. Ihr Herz schlug schwerer und schwerer in ihrem nun schon übermüdeten Kopf knäuelten sich die wehvollen Erinnerungen, die Zahlen, die Furcht vor der Zukunft zu einem wirren Klumpen zusammen, der sich ihr hinter die Stirn legte, auf die Augen drückte. Es wurde ihr matt und mutlos zu Sinne. Am Klavier, an das sie mit dem Arm gestreift war, blieb sie stehen. Sie stützte die Ellbogen auf und legte das heiße Gesicht in die Hände. Nur nicht weinen, dachte sie noch. Und dann weinte sie schon, heiß und bitterlich.

Im Nebenzimmer wurde plötzlich ein Stuhl gerückt.

Hanna fuhr zusammen und richtete sich auf. Hatte er etwas gehört? Sie trocknete schnell ihre Thränen und lauschte, ohne sich zu rühren. Aber drinnen blieb alles ruhig. Auch kein Schritt ließ sich vernehmen. Es war also nur Zufall gewesen, das Geräusch.

Sie weinte aber nicht mehr, über dem Schrecken war es ihr vergangen. Doch der Kopf schmerzte sie arg, auch begann sie zu frösteln. Sie wollte zu Bett gehen, ruhen. Vielleicht kam doch noch zuletzt der Schlaf und half in den neuen Morgen hinüber.

Wie lange er da drinnen aber wohl noch aufsitzen wollte über seinen Büchern? Es mußte doch schon spät sein. Sie ging zum Schreibtisch. Im Lampenschein, der schon zu verglühen begann, sah sie nach der Uhr. Beinahe Zwei. Hatte sie sich so lange verweilt? Und die Mutter ganz vergessen? Ach, nicht vergessen aber wenn sie noch nicht schlief, mit welcher Unruhe wartete sie dann wohl schon, unfähig, aufzustehen und die saumselige Tochter zu holen, ins Bett zu treiben!

Also schnell! Sie nahm die Lampe, um sie draußen auf dem Vorplatz auszulöschen.

Auf dem Klavier sah sie im Vorbeigehen Noten liegen.

Günthers liegengebliebene Hefte. Sie blieb noch einmal stehen; es zog sie hin, mit der Hand über das Buch zu streichen, aus dem er gesungen hatte, er, der Ernsthafte, Ruhige, der nicht ahnte, wie ihr zu Mute war neben ihm, daß es um sie geschehen war, wenn sie seine goldene Stimme hörte.

Ein neues Frösteln lief ihr über den Rücken hinunter, die Lampe in ihrer Hand klirrte leise. Sie sah auf das Flämmchen, das zu knistern begann, und ging schnell hinaus. Auf dem Flurtisch setzte sie die Lampe nieder und verlöschte sie. Noch immer glänzte im Dunkeln der feine Lichtstreifen unter der Thür. Sacht, wie eine Flocke, glitt Hanna in ihr Zimmer. Der Mondschein leuchtete ihr zu Bett. Die Mutter schlief.

5.

Arnold Rettenbacher saß an seinem Schreibtisch, vielmehr am Schreibtisch des alten Herrn, wie denn überhaupt das Zimmer, dieses größere, zweifenstrige die Studierstube von Hannas Vater gewesen war. Dem Mieter, der ihnen den Zins tragen half, hatten die Frauen dann selbstverständlich dies Zimmer eingeräumt und alle besten Stücke des bescheidenen Hausrats hineingestellt. Arnold hatte seine paar Habseligkeiten mitgebracht. Ein tannenes, braungestrichenes Stehpult, an dem er tagsüber seine Schulsachen erledigte, es stand am zweiten Fenster – und ein ebensolches Bücherregal, vier Fächer hoch, das an der Wand zwischen dem großen, dunkelbunten Sofa und dem Ofen Platz gefunden hatte. Darauf seine „Bibliothek“, ein annoch armes Häuflein Bücher in billigstem Einband. Schulwissenschaftliche Sachen und einige Klassiker in Volksausgaben. Zwei gepolsterte Lehnsessel zu den Seiten des Sofas, die einzigen im Hause, verherrlichten zusammen mit einer von Hanna noch für den Vater gestickten Decke über dem länglichrunden Tisch diese Wohnseite des Zimmers. Gegenüber verdeckte ein großer, grüner Wandschirm der des Nachts zusammengeklappt an der Wand lehnte, die Schlafstubenecke.

Langsam, in der ersten Zeit halb bewußtlos, hatte Rettenbacher sich in diesen Raum hineingelebt. Seit einem Jahr erst etwa, seit er sich aus der gestaltlosen Form des fast allezeit unsichtbaren „Chambregarnisten“ zum Pensionär verdichtet hatte, nach dessen Schulstunden man das Mittagsessen ansetzte, dessen Leiden und Freuden – es gab von den letztern nicht viele – man teilte, dessen scheue Wortkargheit man nicht bekämpft und doch schließlich überwunden hatte, – seit diesem letzten Jahre erst war ihm allmählich das Verständnis für Gemütlichkeitsbedürfnisse aufgegangen. Ohne daß er’s recht wußte, hatte er seine „Bude“ lieben und sich an ihr freuen gelernt.

Daß er sich in der andern Stube, drinnen bei der alten Frau und dem jungen Mädchen, heimisch zu fühlen begann, war ihm schnell zum Bewußtsein gekommen. Ein Träumer in Herzenssachen war er nicht. Er wußte bald und wußte genau, wie ihm geschah. Aber in demselben Augenblick, als er sich darüber klar geworden war, daß er sein glückungewohntes Herz an diese grauen Augen verloren hatte, war auch sein Pflichtgefühl geharnischt aufgestanden und hatte sich mit ausgestreckter Hand vor die Pforte gestellt. Er durfte nicht heiraten! Kein armes Mädchen und kein reiches. Kein armes, weil bei Null zu Null gerechnet Hunger herauskam, und wenn er selbst auch diese schwere und ziemlich undankbare Kunst beizeiten gelernt hatte – seine Frau durfte nicht in diese Schule. Kein reiches, weil Arnold Rettenbacher selbstbezahltes Brot essen mußte, um gesund zu bleiben. Diese Weisheit war schon nicht mehr neu, sie war ungefähr so alt wie sein Herzensverstand, war zusammen mit ihm auf steinigem Boden aufgewachsen, unaufhaltsam, himmelan, der Sonne entgegen. Aber daß sie ihm wehthat, die Weisheit, daß er schwer an ihr trug, das war noch nicht gar lange her, einige Monate erst, und die dünkten ihn länger als die ganze übrige Zeit bis dahin.

Ungern und schwer nur war er heute am späten Abend „ins Geschirr“ gegangen, an die Arbeit, die einen Teil der Samstagnacht zu kosten pflegte.

Die Paulus-Arie lag ihm noch im Blut. Es sang und klang in ihm. Verflogen war der Nebel, der aus Erdmanns trostlosem Geständnis aufgestiegen war und sich wie eine schwere Decke über sie alle hingebreitet hatte. Seine Seele war wieder wach und wund und schrie mit starker Stimme nach Erlösung. Sie rüttelte an den Gitterstäben ihres Käfigs. Warum ihm heute so viel schlimmer, so viel ungebärdiger zu Mute war als sonst – er wußte es nicht. Hatte er das Mädchen gestern, vorgestern nicht so lieb gehabt wie heute? Doch wohl! Aber es war nicht alle Tage Sonnabend. Und nicht alle Sonnabende wehte der Westwind so duftschwer übers Land.

Er schob die lateinischen Extemporalia zusammen, die er zuerst noch hatte erledigen wollen. Es fehlte ihm jetzt durchaus an der nötigen Sammlung. Unthätig, finster stand er dann vor seinem Schreibtisch still, bis ihm das mittlere Fach, das nur angeschoben, nicht geschlossen war, ins Auge fiel. Er zog es weiter auf und nahm die Schachtel heraus, die ihm Hanna heute abend gegeben hatte. Es war ein Schiebkästchen wie man sie in der Apotheke bekommt, in der Mitte der Hülse ein eingeschnittener Schlitz, über dem stand: „Mutters Stuhl“.

Rettenbacher lächelte. „Wenn du wüßtest,“ murmelte er vor sich hin. Er zog dann ein anderes Schubfach auf, in dem stand Kästchen an Kästchen, sehr ähnlich dem in seiner Hand. Eine ganze Reihe. Zwei große, acht kleine. „Vater“, „Mutter“ stand auf den großen. „Grete“, „Liese“, „Meta“, „Ernst“, „Regine“, „Franz“, „Johannes“, „Evchen“ auf den kleinen. Alle sperrten die Mäulchen auf. man sah an den Rändern, sie waren gefüttert worden. Rettenbacher nickte ihnen zu. Er griff dann ganz hinten in das Fach hinein, dort war noch ein Kästchen, ein einzelnes, für sich. „Mutters Stuhl“ stand über dem Schlitz. Er öffnete es und schüttete das Geld, das darin war – etwas große, schon eingewechselte, und viele kleine Münzen – in Hannas Schachtel. Sie war nun voll bis zum Rande. „Wenn du wüßtest,“ murmelte er wieder. „Um ein gutes Drittel billiger hat er ihn dir gelassen, der Biedermann! Du Kind du, wie leicht betrügt man dich!“

Seine leere Schachtel warf er in das Fach zurück, Hannas schwerer gewordene behielt er in der Hand. Mit brennenden [536] Augen betrachtete er die zierlichen aber kräftigen Buchstaben der Aufschrift, sie begannen sich aber allmählich zu verwirren. Er ließ die Hand mit der Schachtel sinken und schloß die Finger fester darum her. Zu fest. Sie knackte und brach ein. Erschrocken, vor sich selber beschämt, wickelte er das Ganze, wie es war, in ein Papier und verschloß es sorgfältig.

Er ging dann eine Weile ziellos im Zimmer auf und ab, blieb am Fenster stehen und starrte, die heiße Stirn an die Scheibe gelehnt, in die Nacht hinaus. Es that ihm aber nicht gut, es wurde ihm nicht besser davon zu Mut. Aus dem Dunkel sahen ihn Hannas Augen an. In der tiefen Stille hörte er ihre Stimme sprechen, zu ihm sprechen. Liebe, gute Worte, zärtliche Worte. Und ihr unschuldiger, junger Mund blühte ihm entgegen.

Mit einem schweren Seufzer löste sich Rettenbacher von seinem Platz und wandte sich langsam von dem unheilvoll flüsternden Dunkel da draußen zu dem sanften, ganz unromantischen Schein seiner Studierlampe zu seinem Schreibtisch, zu seiner Arbeit, die nicht länger warten durfte, die ein Recht auf ihn hatte, die allein ein Recht auf ihn hatte. Er starrte noch mit den geblendeten, aus verbotenem Traumland heimkehrenden Augen auf die weißen Blätter, die da neben dem Buch bereit lagen – und ließ sich dann müde in den hochlehnigen, breiten Stuhl niedersinken. Er zog das Buch heran, den englischen Roman, den er übersetzte – seine Sonntagsarbeit, zu der er immer in der Nacht vorher die vorbereitenden Studien machte, um dann sein Kapitel hintereinander niederschreiben zu können. Eine leidlich gut bezahlte Sonntagsarbeit, die ihm schon manchen notwendigen Ertraggroschen eingetragen hatte und die er dem von seinem Schuldirektor ermöglichte halbjährigen Aufenthalt in England verdankte. Er raffte sich zusammen. Er las, machte Anmerkungen, las weiter. Die Gewohnheit forderte ihr Recht. Das Pflichtbewußtsein nahm ihn am Zügel. Die heiße Stirn begann sich zu kühlen, die tiefe, schmerzliche Falte zwischen den Augenbrauen glättete sich.

So verrann die Zeit. Langsam? Schnell? Wer weiß es? Weder der rechte Träumer noch der rechte Arbeiter.

Plötzlich zuckte Rettenbacher zusammen und fuhr von seinem Stuhle auf. Nebenan weinte jemand, ganz leise.

Hanna! Wer denn sonst? Sie war da drinnen, noch auf, so spät – wie spät denn? Fast Zwei. Und sie weinte. Was war ihr geschehen? Er lauschte regungslos.

Alles still jetzt. Das Schluchzen verstummt. Mit seinem scharfen Ohr hätte er es sonst leicht vernommen. Es war ja eine Thür zwischen den Zimmern, wenn auch zugestellt, drinnen mit dem Bücherschrank, hier die Nische davor, in der sein Waschtisch stand, mit Wollstoff ausgekleidet. Aber alles totenstill. Er drückte sich die Faust auf das wieder heftig schlagende Herz. Hinübergehen. Sie fragen, trösten.

Aber er blieb flehen, er rührte sich nicht vom Fleck, schüttelte nur mit einem schwachen, rasch verfliegenden Lächeln den Kopf. Noch war er ja nicht verrückt. Noch hatte er ja seine Gedanken beisammen. Er wußte genau, was er thun würde, wenn er jetzt hineinginge zu ihr, die da allein saß und weinte. Er würde es nicht zuwege bringen, fein höflich zu fragen: „Was fehlt Ihnen, liebes Fräulein? Kann ich Ihnen helfen? Befehlen Sie über mich! – Er würde ihr seine arme Seele vor die Füße legen, er würde ihre Hände küssen, die blassen, vielgeliebten, er würde sein streng bewahrtes Geheimnis verraten, er würde ein Narr werden und kein ehrenhafter Narr. Helfen? Er? Wobei? Und womit? Daß Gott erbarm! O nein, noch hatte er seine Gedanken beisammen.

Er lauschte wieder angestrengt. Alles still.

Er wußte nicht, daß ihm das weinende Mädchen da drinnen, dem das Herz so bänglich schlug, in seiner einsamen Not vielleicht wortlos in die Arme gesunken wäre, wenn er plötzlich in der Thür gestanden und gefragt hätte: „Was ist geschehen? Er wußte nicht, wie arg bedroht seine Ehrenhaftigkeit gewesen war.

Er hörte jetzt deutlich, da er mit Anspannung aller Sinne lauschte, daß sie durch das Zimmer und auf den Vorplatz hinaus schlich, daß das Lämpchen klirrte. Er hörte das leise, leise Knarren ihrer Thür – und dann nur noch die tiefe Stille, die folgte, und die mit ihren langsamen, breiten Wellen dahergezogen kam und alles andere verschlang.

6.

„Sag’du es ihm,“ bat Hanna, nachdem sie übereingekommen waren, daß man Rettenbacher sofort Mitteilung von der Veränderung ihrer Lage machen müsse. Sie saßen am Frühstückstisch. Er konnte jeden Augenblick hereinkommen.

„Gewiß, natürlich,“ antwortete Frau Wasenius beklommen. „Aber du bleibst doch im Zimmer, du hilfst doch bei der Besprechung, wenn ich angefangen habe, du lässest mich doch nicht im Stich?“

„Nein, mein Engel, ich lasse dich nicht im Stich.“ Hanna küßte die Hand der Mutter. „Beunruhige dich nicht. Wir besprechen das alles gemeinsam. Nur den allerersten Anfang, die Einleitung, weißt du –.“ Sie sah nach dieser schlimmen Nacht sehr blaß aus. Aber in ihrer Fürsorge für die Mutter hatte sie sich genug in der Gewalt, um gleichmütig zu erscheinen. Nur vor diesem Anfang graute ihr, vor dieser ersten Mitteilung an Rettenbacher: wir müssen uns trennen!

Rettenbacher trat ein. Auch überwacht, auch hohläugig, auch gefaßt. Aber ein schneller, falkenscharfer Blick traf die Gestalt des Mädchens, das ihm freundlich, wie immer, den Morgengruß zunickte. Er sah wohl ihre Blässe, die von einem jähen, aber nur flüchtigen Erröten übergossen wurde, sah ihre dunkler und größer gewordenen Augen und fühlte wieder die halszuschnürende Angst; was ist ihr geschehen?

Fast vergaß er, höflich, wie er gewohnt war, zu grüßen. Und am Tisch niedersitzend, seine gefüllte Tasse aus Hannas Hand entgegennehmend, warf er mit heiserer Stimme irgend eine gleichgültige Bemerkung hin, nur um zu sprechen nur um die Beherrschung nicht zu verlieren. Aus einem tieferen Stummsein wäre er doch mit der Frage aufgefahren: Was ist Ihnen geschehen?

„Lieber Rettenbacher“ – sagte Frau Wasenius leise.

„So,“ dachte er, „jetzt kommt’s. Was ist das für ein Ton?“ Argwöhnisch sah er sie an. Er hatte sie in der Sorge um das Mädchen noch gar nicht betrachtet. Sie zitterte ja.

„Bitte?“ sagte er so ruhig wie möglich.

„Es ist – wir müssen Ihnen etwas erzählen – es ist etwas geschehen – das heißt, die Hauptsache ist: wir müssen uns trennen.“

Er antwortete nicht gleich, er lehnte sich etwas zurück, den Griff des Messers, mit dem er eben das Brötchen durchgeschnitten hatte, in der festgeballten Faust, und starrte sie an. Aus seinem Gesicht war alle Farbe weg. „Bitte –“ wiederholte er dann mechanisch. „Und warum?“ brachte er noch heraus.

„Wir haben Unglück gehabt,“ fing Frau Wasenius wieder mühsam an. „Ich glaube, ich habe Ihnen schon früher einmal gesagt, daß die Hälfte meines Einkommens in einer kleinen Rente aus schlesischen Fabrikaktien besteht. Ich habe diese Aktien vor Jahren von meinem verstorbenen Bruder geerbt. Diese Rente ermöglichte es uns, hier wohnen zu bleiben, auch nach dem Tode meines Mannes, obwohl wir uns sehr zusammennehmen mußten. Nun ist das aber –“ sie machte eine hilflose Bewegung mit der Hand und brach ab.

Hanna, die bisher mit aufgestütztem Kopf still vor sich hingeschaut hatte, streichelte diese arme Hand und hielt sie dann fest.

„Also das Kurze und Lange von der Sache ist,“ sagte sie nun, indem sie tapfer das schmähliche innere Zittern bekämpfte und den Blick zu Rettenbachers starrem Gesicht erhob, „daß diese Fabrik hin ist, ruiniert ist, falliert hat. Außer den Prioritätsaktien, von denen wir keine haben, sind alle Papiere wertlos. Unser Einkommen hat sich also auf die Hälfte verringert, und wir müssen unser Leben danach einrichten. Das heißt, wir müssen diese Wohnung aufgeben, überhaupt Berlin aufgeben. Soweit bis jetzt – seit gestern abend – eine Ueberlegung möglich war, scheint es uns am besten, in irgend einen billigen, recht billigen Vorort zu ziehen, sozusagen aufs Land, je weiter hinaus, also je wohlfeiler, desto besser.“

Sie hatte ganz ruhig gesprochen anfangs noch mit etwas schwankender Stimme, aber sie fühlte doch, es ging. Da Rettenbacher, anstatt sie anzusehen, regungslos auf seinen Teller starrte, wuchs ihr der Mut.

„Wir sind übereingekommen,“ fuhr sie dann fort, „Ihnen gleich von unserem Mißgeschick zu erzählen. Denn hoffentlich [538] glückt es uns ja, zum ersten mal von dieser Wohnung loszukommen, und – da wir uns dann doch trennen müssen, so ist es wohl gut, wenn Sie sich auch beizeiten –“ nun stockte sie doch.

Aber er unterbrach sie auch schon mit einer aufzuckenden Handbewegung. „Wir wollen doch, bitte, jetzt nicht von mir sprechen,“ sagte er, fast tonlos heiser. Und nach einer kleinen Pause: „Ich bin so erschrocken über diese Geschichte, daß mir die Worte fehlen. Halten Sie das nicht für Teilnahmlosigkeit.“

„Ganz gewiß nicht,“ sagte Frau Wasenius warm und streckte ihm die Hand hin. Er nahm sie und drückte sie an seinen Mund.

„Wie heiß Ihre Lippen sind,“ sagte sie unruhig. „Fühlen Sie sich krank?“

„Keine Spur. Etwas übernächtigt. Ich schlief spät ein, hatte noch lange zu thun. Und dann – ist mir doch – diese Sache eben in die Glieder gefahren. Also keine Hoffnung?“

„Gar keine,“ antwortete Hanna. „Herr Thomas, ‚unser Banquier’ – um ihn so zu nennen –, der stets diese Geldangelegenheiten für uns besorgt hat, hat uns geschrieben, daß Betrügereien, Unterschlagungen sehr umfangreicher Art entdeckt worden sind, ganz plötzlich entdeckt worden sind. Der eine Teilnehmer, eben der Uebelthäter, hat sich geflüchtet, als er sich nicht mehr halten konnte. Nun ist der Konkurs über die Fabrik verhängt. Es sind noch viel mehr Menschen zu Schaden gekommen als wir. Das dürfen wir nicht vergessen. Aber freilich, jeder denkt, ihn trifft’s am härtesten.“

Sie seufzte leise, aber sie lächelte auch schnell wieder der Mutter zu, die mit ihren verängstigten Augen der Tochter die Worte von den Lippen las. „So lange es nur Geld ist, Mutterliebchen, um das man sich grämt,“ sagte sie tröstend, „so lange ist man noch besserungsfähig. Laß uns nur erst das Aergste überwunden haben, den Auszug hier aus unserm alten Nest; in dem neuen da irgendwo weit draußen, mitten in der Natur, will ich’s dir dann auch schön behaglich machen.“

Sie sah Rettenbacher immer noch nicht an. Sie wagte es nicht. Sie durfte nicht schwach werden. Nun sie auseinandergingen, mußte sie ihr Geheimnis um so sorgsamer hüten.

Eine Weile blieb es nun still, dann hob der junge Mann den Kopf. „In dieser kurzen Zeit können Sie natürlich noch keine Einzelheiten in Erwägung gezogen haben,“ fing er wieder an, seine Stimme hatte noch immer keinen eigentlichen Ton – „ich hoffe, Sie werden mir erlauben, Ihnen behilflich zu sein, wo es nur immer möglich ist.“

Er sagte es zu Hanna, die er dadurch zwang, ihn anzusehen. Sie that es, indem sie ihm freundlich zunickte. Beide beherrschten sich vortrefflich, keines erfuhr von dem andern, wie elend ihm zu Mute war. Die Armut nährte aus ihren kärglichen Mitteln den Stolz, den die beiden armen Wichte brauchten, um sich selbst und einander vor der eignen Schwäche zu bewahren.

„Zum Beispiel,“ fuhr Rettenbacher fort, „könnte ich zum Hauswirt hinuntergehen und an Ihrer Statt mit ihm verhandeln.“

„Nein,“ sagte Hanna, „ich danke Ihnen. Aber gerade das muß ich selbst thun – ich gehe doch auch schon in Vertretung, an Mutters Statt. Ich hoffe ja viel von seinem guten Willen. Von dem hängt freilich alles ab. Denn von Rechts wegen könnten wir ja eigentlich erst im Oktober zum April kündigen. Aber wenn ich ihm klar mache, daß wir ihm die Miete nicht mehr zahlen können, so wird er wohl in Anbetracht unsrer alten ‚Freundschaft’ – sechsundzwanzig Jahre, denken Sie doch, ein menschliches Rühren fühlen. Für dieses Vierteljahr ist schon bezahlt. Aber der erste Juli – der liegt mir im Nebel. Uebrigens, fügte sie helleren Tones hinzu, mit einem Blick auf das Gesicht der Mutter, in dem die Farbe kam und ging – „darüber wollen wir uns den Kopf in diesem Augenblick nicht zerbrechen. Heute ist Sonntag. Heute soll auch Sonntag bleiben. Nichts von Geschäften mehr! Das – Nothwendige ist geschehen. Alles andre fängt erst morgen an.“

„Du vergissest,“ wandte Frau Wasenius ein, „daß sich Herr Thomas auf heute vormittag angemeldet hat.“

„Richtig – den hatte ich vergessen. Aber ich denke, er wird nicht lange bleiben. Helfen kann er uns nicht. Was soll er also hier?“

Sie war aufgestanden und hatte die Tassen und Teller auf dem Theebrett zusammengestellt, um sie hinauszutragen. Rettenbacher öffnete ihr die Thür und kehrte dann auf seinen Platz am Tisch zurück. Gegen seine Gewohnheit, er pflegte sonst gleich nach dem Frühstück zu verschwinden, auch am Sonntag.

Frau Wasenius, die sich nach der Peinlichkeit der ersten Eröffnung nun gefaßt hatte, sah mit liebreichem Blick in sein blasses Gesicht. Als er sich dann neuerdings, offenbar völlig geistesabwesend, niedersetzte, sagte sie mit ihrer sanften, weichen Stimme, die ihm schon manchmal wohlgethan hatte. „Ich glaube, ich brauche Ihnen nicht erst zu versichern, wie schwer uns der Entschluß geworden ist, lieber Rettenbacher. Ich meine das mit unsrer Trennung. Der Gedanke war mir anfangs gar nicht einmal gekommen. Erst, als wir uns heute früh darangaben, ein bißchen auszurechnen, wie der Rest einzuteilen wäre, da wurde mir klar, daß es für uns unmöglich ist, zusammenzubleiben. Wir müssen einen abgelegenen, recht anspruchslosen Platz suchen. Und da ich nicht in Berlin bleiben kann, ich meine, hier in dieser alten, lieben Wohnung, so ist mir der Gedanke, irgendwo weit draußen in so einer Art von Dorf zu wohnen, ganz recht. Meine arme Hanna – für die hätt’ ich mir freilich ein anderes Los geträumt. So, im Kampf mit der Armut, als Pflegerin ihrer krüppelhaften Mutter – eine traurige Jugend!“

Sie schwieg eine Weile; er störte sie nicht darin. Wieviel er von dem Gesagten vernommen hatte, war ihm nicht anzusehen. Frau Wasenius hatte aber wohl keine Erwiderung von ihm erwartet.

„Ich sehe auch keinen Ausweg,“ fuhr sie fort zu sprechen, aus ihrem trüben Sinnen heraus. „So lange sie noch mit mir behaftet ist, bleibt sie an den Fleck gefesselt. Und wenn ich einmal tot bin – was macht sie dann, angesichts der Mittel, die ihr zur Verfügung bleiben? Gesellschafterin launenhafter Leute muß sie werden. Stütze der Hausfrau. Sich hudeln lassen. Zur Lehrerin taugt sie nicht. Abgesehen davon, daß sie ja gar kein Examen gemacht hat. Mein Mann wollte es nicht. Sie kann’s nicht, sagte er, sie hat das Zeug nicht dazu, schlechte Lehrer giebt’s genug. Er wird wohl recht gehabt haben. Aber mit dem bißchen Handarbeitsunterricht und dem Arbeiten für Geschäfte kann sie ihr Leben nicht fristen. Das giebt nur einen notwendigen und angenehmen Zuschuß. Also irgend eine Stellung als Dienende ist das einzige, was ihr bleibt, meinem stolzen, fröhlichen Mädchen!“

Sie schwieg wieder, aber vor Schreck. Sie hatte in ihrem halblauten Vorsichhinsprechen den aufgestützten Kopf gesenkt gehalten und ihn erst bei den letzten Worten wieder erhoben. Nun sah sie Rettenbacher an, sah in sein gequältes, zusammengezogenes Gesicht – und erriet alles. Gott im Himmel! dachte sie erschüttert. Und gleich darauf. Wie habe ich das nur bis jetzt übersehen können! So leidet er ja nicht erst seit heute. O du Armer! Aber still, nicht daran rühren. Nichts merken lassen! Auch Hanna nichts merken lassen! Schützen, diese Wunde!

„Ich verdiene Strafe,“ sagte sie mit einem frischen, gehobenen Neuklang der Stimme, der ihn auch wirklich weckte. „Ich sollte ja nicht grübeln. Auf allerhöchsten Befehl sollte ich ja den Feiertag heiligen und all dieser Trübsal zum Trotz an gute Dinge denken. An andre wenigstens. Das will ich auch! Sie sollen mir von zu Hause erzählen, gestern kam doch ein dicker Brief. Wie geht’s denn dort?“

„Ganz gut soweit, ich danke,“ gab er zur Antwort. Er faßte sich nun gewaltsam, es gelang ihm auch. Er stand aber auf, als er Hannas Stimme auf dem Vorplatz hörte. „Sie gestatten mir wohl, mich zurückzuziehen. Ich muß notwendigerweise an die Arbeit. Ich habe mich schon zu lange verweilt. Den Brief lasse ich Ihnen da.

Er nahm ihn aus der Brusttasche und legte ihn auf den Tisch. Es schien ihm dann wieder ein Bedenken zu kommen, denn er griff noch einmal danach, aber in dem verlegenen Gefühl, daß er mit dem Zurücknehmen eine Unzartheit begehen würde, ließ er ihn wieder los.

Hanna trat ein. Sie hatte sich draußen zu schaffen gemacht, hatte sich tüchtig gerührt und den schmerzenden Kopf gezwungen, sich auf die „laufenden Tagesgeschäfte“ einzustellen. Rote Wangen hatte der gut geschulte Wille noch nicht erzwingen können, aber doch die heitere, unbefangene Miene, mit der sie nun hereinkam [539] und Rettenbacher bat. „Helfen Sie mir, die Mutter ans Fenster tragen, ja? Bertha ist noch nicht zurück. Und den Brief auf dem Tische mit dem Blicke streifend. „Den dürfen wir lesen, nicht wahr? Das ist hübsch, da freu ich mich. Sie wollen arbeiten gehen? Nach Tische kann ich wohl schon wieder etwas zum Abschreiben bekommen? Schon. Also bis nachher.“

Sie nickte dem Hinausgehenden freundlich nach. Als sie sich zurückwandte, trafen ihre Augen auf einen so befremdlich spähenden Sorgenblick der Mutter, daß sie leicht erschrak.

„Ist dir etwas, Mutterchen?“

„Nein,“ sagte die verwirrt und sich sammelnd. Die erste Entdeckung hatte die Furcht vor der zweiten gezeitigt. Sie traute sich nun auch die andere, die tiefere Blindheit zu. Aber ein tapferes, ehrenfestes Kind kann mitunter auch das wachsamste Mutterauge betrügen. Mit einem Seufzer der Erleichterung nickte Frau Wasenius ihrer lächelnden Tochter zu, als diese sich ihr gegenüber setzte und den vielblättrigen Rettenbacherschen Brief aus seiner Hülle zog.

„Lieber Sohn!

Nach Erledigung meiner Amtsgeschäfte ergreife ich die Feder, um Dir auf Deinen Brief vom 2. dieses Monats zu antworten. Es wäre schon etwas eher geschehen, aber ich konnte nicht schreiben, weil mich der Rheumatismus geplagt hat und mir in die Hüfte fuhr, wenn ich mich unvorsichtig wendete. Dein Bruder Ernst hat sonach müssen die Glocke läuten und mit dem Rohrstock bin ich derowegen auch sparsam umgegangen. Die Schulkinder haben Maul und Nase aufgerissen ob meiner Sanftmut, aber gar zu lange haben sie sich nicht brauchen wundern, dann war ich wieder gesund. Mein lieber Sohn, ich habe Deine Sendung erhalten und sage Dir dafür meinen väterlichen Dank. Es traf wieder recht gelegen. Unser Stadtsohn ist uns stets ein erheblicher Gedanke und der Herr Graf, der sich neulich im Vorbeifahren wieder nach Dir erkundigt hat, sagte mit herzlichem Wohlwollen, ich sollte Dich grüßen und es reute ihn nicht, das mit dem Stipendium, Du schienest das Studiengeld gut angewendet zu haben und solltest nur so weiter machen. In der That, ich darf wohl glauben, mein Sohn, daß seine Güte von damals bei Dir auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Ich habe denn auch Gelegenheit genommen, dem Herrn Grafen zu erzählen, daß Du ein guter Sohn bist und Deine Eltern und Geschwister bis dato noch nicht vergessen hast. Möge es stets so bleiben. Der Herr Graf hat ein neues Arbeiterhaus lassen bauen, einen großen Kasten, und es ist eine ganze Kolonie von neuen Leuten eingerückt. Kinder sind auch etzliche Mandeln dabei, so steigt auch der Schulbesuch, und wenn es glückt mit der Fabrik, so muß der Herr Graf mir lassen auch ein neues Schulhaus bauen, denn die blökende Herde wächst mir schon bald zu den Fenstern heraus. Deine Mutter will Dir auch noch eine kleine Epistel senden, so mag sie vom Haus und von den Kindern erzählen. Daß sie alle gesund sind, kann ich bestätigen, nur die Grete könnte schöner aussehen, aber dafür kann sie nichts und es wird sich ja bald geben. Dein Schwager freut sich auch schon. So sei denn gegrüßt und gesegnet

  von Deinem allzeit getreuen Vater Rettenbacher.“

 „Mein lieber Junge!
Ein paar Reihen will ich noch hinschreiben, damit daß ich Dir kann danken für das Geld, mein Arnold, und ich bete alle Abend und ich danke dem lieben Gott für mein liebes Kind, für meinen Arnold. Er wird es Dir einstmals vergelten, ich kann es nicht. Es langte dem Hans zu einer neuen Hose zum Geburtstag und er geht stolz herum und Evchen sagt, sie freut sich auch schon, denn ihrer ist jetzt der nächste und sie meint, eine Puppe, aber ich meine ein Paar Schuhe, denn sie sind ihr zu klein und Vorschuhen geht auch nicht mehr. Es geht uns allen gut. Vater war erkältet, aber es ist auch schon wieder gut. Die Wintersaat steht schön und die Obstbäume möchten schon bald blühen, wenn nur nachher kein Frost mehr kommt, die gestrengen Herren. Die Kinder lassen alle grüßen, der Hans sollte Dir auch schreiben, aber er ist mir ausgerissen. Grete geht es auch so leidlich, aber sie möchte, es wäre schon so weit, noch eine sechs Wochen, dann wird es wohl kommen. So will ich denn schließen und ich segne Dich von Herzen, mein treues Kind, ich möchte Dich so gerne wiedersehen, aber die teure Fahrt, das ist das schlimme. Es umarmt Dich in treuer Liebe, mein Arnold,

Deine Mutter.“ 

 „Liber Bruder!
Ich danke Dir für Dein Geschenk sie paßt mir, Mutter hat mich doch erreicht, ich war auf den Apfelbaum und beim Wurstessen habe ich mir gebrochen aber nicht ser.

Dein liber Hans.“ 

Hanna lachte laut auf. „Wenn ich doch diesen Hans einmal zu sehen bekommen könnte. Das ist sein Liebling. Er muß jetzt sieben Jahre alt geworden sein. Das war jedenfalls beim Schweineschlachten, wo er sich mit dem Wurstessen übernommen hat.“

Sie hob dann die Blätter und schüttelte sie ein wenig. Man sieht hieraus wieder deutlich, wo alles bleibt, was er sich abdarbt. Und wie lange wird das noch dauern! Von wem ist denn noch dieses Briefchen? – Deine Regine.’ – Aha, das Lockenköpfchen, die kleine ‚Schönheit‘. Sie schlug das Blatt um.

„Lieber Herzensbruder! – –“

Draußen ging die Flurglocke.

Die Magd steckte den Kopf zur Thüre herein. „Herr Thomas wünscht Frau Doktor zu sprechen.

[549]
7.

Meine verehrteste Frau – mein Fräulein – Sie gestatten – eigentlich müßt’ ich mich Ihnen erst wieder regelrecht vorstellen. Ich darf gar nicht hoffen, daß Sie sich nach so langer Zeit meiner noch erinnern. Mein Gewissen schlägt mich förmlich.“

„Aber bitte, Herr Thomas!“ Mit ihrer blassen, leicht zitternden Hand wies Frau Wasenius auf den Stuhl ihr gegenüber. „Es lag ja in all dieser Zeit nicht die geringste Veranlassung für einen Besuch bei uns vor.“

„Keine offizielle, nein, das ist wahr. Der geschäftlichen Angelegenheiten wegen hätt’ ich wohl nicht herzukommen brauchen, die ließen sich ja durch die Post erledigen. Aber es hätte mir auch nicht geschadet, wenn ich mich von Zeit zu Zeit ein bißchen nach der Frau meines verehrten Lehrers umgesehen hätte. Rein menschlich. Meines Lieblingslehrers. Was aber nicht bedeutet, daß ich auch sein Lieblingsschüler gewesen wäre. Ich war ein ziemlich rüder Bengel, durchaus kein Lernkopf. Aber das meiste von dem, was ich weiß, verdank’ ich doch schließlich ihm; wenigstens ist vieles in späteren Zeiten aus allen möglichen Winkeln meines Gehirns hervorgeschossen gekommen, was seinen Stempel trägt. Etwas Dankbarkeit hätte mich also nicht schlecht gekleidet. Aber – man kommt ja zu nichts. Das hat man von dem Segen. Die Geschäfte wachsen, aber nicht die Zeit, sie unterzukriegen. Aus meinen Büchern seh’ ich, daß ich wahrhaftig vor fünf Jahren zum letztenmal hier im Hause gewesen bin. Damals nach dem schrecklichen Todesfall. Bis dahin war ja der Herr Doktor meistens zu mir ins Bureau gekommen, wenn etwas zu besprechen war. Also, meine verehrteste Frau –“

Hanna war überrascht.

So hatte sie den Herrn Bankier gar nicht in der Erinnerung gehabt. Freilich war ihre letzte Begegnung auch nur sehr flüchtig gewesen. Sie war just nach Hause gekommen, als er sich zum Gehen anschickte. Seine früheren vereinzelten Besuche, die in ihre Backfisch- und Kinderjahre zurückreichten, hatten noch weniger Eindruck hinterlassen. Aber sie erinnerte sich wohl, daß der Vater ihn gern gehabt hatte, obwohl er als Schüler nicht übertrieben mustergültig gewesen war. „Schadet nichts,“ hatte der alte Herr gesagt. „Er soll ja auch nicht Professor werden. Für einen Kaufmann weiß er genug und der Kern ist gut.“ Sie hatte in diesen fünf Jahren beinahe vergessen, wie er aussah. Nun saß sie neben der Mutter und betrachtete erstaunt diesen elegant gekleideten Mann, der mit seinen lebhaften braunen Augen [550] seinem flotten schwarzen Schnauz- und Knebelbart unter der kühn geschwungenen Nase, mit seiner fröhlichen, etwas geräuschvollen, aber nicht unangenehmen Stimme so ganz und gar nichts vom Geldmenschen an sich trug. Seine Hautfarbe erschien ihr sehr dunkel, aber vielleicht nur im Gegensatz zu der manchmal fast durchsichtigen Blässe in Rettenbachers Gesicht. Auch entsprach ja der bräunliche Ton dem schwarzen Bart- und Haupthaar des einen so gut, wie die lichte Färbung dem Blond des anderen. Und nur die Vertrautheit mit dem immer etwas gedämpften, weichen Klang in Arnolds Stimme ließ ihr wohl das Organ des Fremden verwunderlich laut erscheinen.

Man war schnell zur Sache gekommen.

Mit weltmännischer Gewandtheit hatte Herr Thomas die befangene Scheu der kranken Frau, die vor allem Neuen zuerst ängstlich in sich zusammenkroch, überwunden. Die zu Grunde gegangene Fabrik war als verlorenes Terrain mit zwei Worten abgemacht und endgültig verlassen worden. Ebenso schnell wurde die Frage über die Notwendigkeit eines Wohnungswechsels erledigt. Es handelte sich nur um die Benutzung der Kündigungsfristen.

Recht dumm, daß Sie erst im Oktober wieder kündigen können.

„Im Oktober?“ sagte Hanna. „Aber wir müssen überhaupt alles daransetzen, schon im Juli ausziehen zu können. Wir haben ja das Geld zur Miete nicht mehr.“

Thomas sah sie freundlich an. „Ja, mein verehrtes Fräulein, um das zu erreichen, müssen Sie sich an keinen Berliner Hauswirt wenden. So einer, wie Sie ihn brauchen, wohnt nur in Utopien. Seien Sie heilfroh, wenn er Ihnen am ersten Juli gestattet, zum Oktober zu kündigen, anstatt erst im Oktober zum April.

„Ja, aber wie soll denn das werden?“ fragte Frau Wasenius, die es bei dem bloßen Gedanken, etwas schuldig bleiben zu müssen, heiß überlief.

„Gleich morgen will ich zu Herrn Giesecke hinuntergehen,“ sagte Hanna beruhigend. „Ich hoffe doch, er wird zugänglich sein.“

„Darf ich mich den Damen zur Verfügung stellen? Wozu sollen Sie sich bemühen? Ich mache so was im Handumdrehen!“

Hanna wurde rot. „Ich danke Ihnen,“ sagte sie. „Sie sind sehr liebenswürdig, aber ich möchte das nicht annehmen. Es kommt mir so vor, als sei das eine Sache, die ich niemand anderm überlassen dürfte. Sonst wäre auch schon Doktor Rettenbacher an meiner Statt hinuntergegangen.“

„Unser Pensionär,“ erklärte Frau Wasenius, „der einen Teil der Miete bezahlt. Er hat sich sofort angeboten, aber –“.

„Sehr richtig,“ unterbrach sie Thomas. Und zu Hanna. „Sehr fein empfunden, mein verehrtes Fräulein. Dieses Anerbieten mußten Sie ablehnen. Bei mir ist das etwas anderes. Abgesehen davon, daß mich mein sogenanntes Herz hergetrieben hat – was den Herrn Wirt nichts angeht –, fungiere ich doch als Ihr geschäftlicher Beirat, dem ganz naturgemäß die Erledigung dieser Art Dinge zufällt.“

„Aber so lange man seine Angelegenheiten selber besorgen kann –“ wehrte Hanna verlegen.

„So lange man einen anderen schicken kann, der mehr davon versteht, bleibt man zu Hause,“ verbesserte Thomas verbindlich lächelnd. „Sehen Sie die Geschichte doch nur objektiv an. Und lassen Sie mir das Vergnügen, Ihnen ein bißchen behilflich zu sein. Zu meinem Bedauern bewege ich mich so in engen Grenzen. Also – wie heißt der Onkel? Er wohnt natürlich unten. Parterre. Alle Hauswirte wohnen Parterre. Bitt’ schön, gnädige Frau, geben Sie mir Vollmacht, Sie loszueisen, so gut es geht.“

Frau Wasenius war ganz gerührt. „Ich danke Ihnen, Herr Thomas,“ sagte sie herzlich. „Und ich nehme Ihr Anerbieten an, so unerwartet es mir kommt.“

„Mir ja auch,“ versicherte er so komisch treuherzig, daß Hanna in aller Verlegenheit lachen mußte. „Wahrhaftig, ich bin selber erstaunt,“ fuhr Thomas fort. „Was mich ursprünglich hertrieb, war eine Art Gewissensstoß. Ich genierte mich, sozusagen, mich mit der schriftlichen Meldung von der verflixten Sache abzufinden. Schandenhalber, sagt’ ich mir, muß man sich die Folgen der Geschichte doch ’mal persönlich betrachten. Freilich, wenn die Jugenderinnerungen nicht gewesen wären – ich will mich nicht schöner malen als ich bin – aber so – na kurz, ich machte mich auf die Strümpfe. Und nun sitz’ ich hier, Ihnen gegenüber in diesem traulichen Stübchen, in diesem seltsamen – na, um das verdammte Modewort ,Milieu’ nicht zu gebrauchen – in diesem Um-und-um von heimeliger, feiner Gemütlichkeit und weiß gar nicht, wie mir wird. Von Minute zu Minute verrückter. So gewissermaßen gerührt. Sie haben es mir angethan, meine gnädige Frau, gleich im ersten Augenblick.“ – Ein blitzrascher sprühender Blick streifte dabei auch über das Mädchen hin. – „Ich bin wahrhaftig sonst kein sentimentaler Mensch. Aber daß Sie da so hilflos sitzen, mit dieser – dieser – liebreizenden barmherzigen Schwester zur Seite und mit meinem verehrten alten Herrn da an der Wand – ein famoses Bild! und daß Ihnen die Geschichte mit der vermaledeiten Fabrik so elend auf die Butterseite geschlagen ist und daß Sie hier aus Ihrem netten Nestchen heraus müssen und daß es so ausgerechnet unnötig ist, dieses Ganze – kurz, das fuchst mich und das rührt mich. Also zur Ablenkung, meine gnädige Frau, gestatten Sie mir ein Kosestündchen mit Ihrem Hauswirt!“

„Abgemacht,“ sagte Frau Wasenius. Sie reichte ihm die Hand, die er ritterlich an seine Lippen zog. „Aber Sie, mein verehrtes Fräulein, wandte er sich dann zu Hanna, „ohne Ihre Sanktion ist nichts zu machen, das hab’ ich schon heraus.“

„Sie ist Ihnen aber gewährt,“ sagte das Mädchen mit ernstem Lächeln.

Seine drollige Herzlichkeit gegen die Mutter und deren sichtlich gehobene Stimmung hatten sie besiegt. Nach einem leichten Zögern streckte sie ihm auch die Hand hin. Er nahm sie und drückte sie stark, küßte sie aber nicht. Er sah ihr dabei fest in die Augen.

„Gut,“ sagte er dann, ihr zunickend. „Dieses Bündnis wäre geschlossen. Ich betrachte mich als feierlich engagiert. Sie sollen sehen, ich bin ein ganz brauchbarer Mensch.“ Zunächst werde ich mich also schleunigst mit Meister Giesecke in Verbindung setzen.

„Heute nützt Ihnen das nichts,“ wehrte ihm Hanna, da er schon aufgestanden war. „Unser Mädchen erzählte mir vorhin, daß er mit seiner ganzen Familie schon um sechs Uhr zu einer Landpartie aufgebrochen ist.“

„So. Na, dann müssen wir diese Sache bis morgen aufschieben. Wir haben ja aber noch mehr Dinge zu besprechen!“

Er setzte sich neuerdings und tiefer, gemütlicher in den Korbsessel, Hannas Sessel, hinein und zog langsam den rechten Handschuh aus. Forschend und gespannt ruhte dabei sein Blick wieder auf dem Mädchen.

Man faßte nun die Frage wegen der Wahl eines Wohnortes ins Auge. Thomas machte sich anheischig, jemand in den weiter abgelegenen Vororten auf die Suche zu schicken und nach so und so viel Tagen eine Liste des Angebotenen vorzulegen. Seine frische, zugleich verbindliche und energische Art besiegte das Zögern der Frauen auch dieser neuen Gefälligkeit gegenüber. Daß aber Frau Wasenius erklärte, anstatt überflüssige Möbel verkaufen, lieber die Einrichtung aus ihres Mannes Zimmer an Rettenbacher schenken zu wollen, fand nicht seinen Beifall.

„Im allgemeinen,“ sagte er, „bekommt man ja freilich nur ein Ei und ein Butterbrot für solche Sachen, aber bedauerlicherweise sind Sie ja in der Lage, jede einzelne Mark ansehen zu müssen. Ich würde mir das doch zweimal überlegen.

„Bitte, nein,“ antwortete Frau Wasenius so entschieden, wie sie heute noch nicht gesprochen hatte. „Hierüber bin ich mir ganz klar. Es ist mir einfach unmöglich, die Sachen, die meinem Mann gehört haben, für Geld wegzugeben. Es würde mir weh thun. Ich will sie, wenn ich mich denn doch von ihnen trennen muß, in lieben Händen wissen, in pietätvollen. Rettenbacher soll sie haben. Dir ist es auch recht, Hanna, nicht?“

„Sehr, Mutter,“ antwortete das Mädchen leise. Es war ihr peinlich, zu fühlen, daß sie rot wurde, während dieser [551] Thomas sie fortwährend mit seinen glänzenden aufmerksamen Augen betrachtete.

„Gut, gut,“ sagte er jetzt. Sein Blick löste sich nur zögernd, wie es schien, von ihr und ging zur Mutter hinüber. „Das ist ein Argument. Dagegen läßt sich nichts sagen. Ueber die sogenannten Gefühle soll man nicht streiten. Ich konnte ja auch nicht wissen, daß dieser Pensionär zugleich ein so naher Freund ist, wie es nach dieser Bestimmung den Anschein hat.“

„Ja, er ist ein treuer und guter Freund,“ erwiderte Frau Wasenius. „Nur die Notwendigkeit dieser neuen Lebenseinrichtung zwingt uns zur Trennung.“ Es war ihr Bedürfnis, ihrer mitleidsvollen Teilnahme für dieses Stiefkind des Glückes in irgend einer Form Ausdruck zu geben.

„Sehr schön.“ Thomas klopfte sacht mit dem ausgezogenen Handschuh auf sein Knie. „Wieder ein Punkt erledigt. Gestatten Sie mir nur noch eine Bemerkung, meine verehrte Frau. Eine Betrachtung. Vielleicht erweisen Sie dem Herrn mit Ihrem großmütigen Geschenk gar keinen Gefallen. Er muß sich jetzt ein leeres Zimmer mieten und hat die Kosten des Umzugs mit seinen Möbeln zu bezahlen, während er bisher nur seine gebacknen Birnen und Pflaumen in die Tasche zu stecken brauchte, um in das neue Quartier zu wandern. Aber dies hat mich ja nicht zu kümmern. Und vielleicht macht es dem Herrn gar nichts aus. Was ist er denn seines Zeichens?

„Lehrer“ – antwortete Frau Wasenius und schwieg dann betroffen. „Das ist mir noch gar nicht eingefallen,“ sagte sie nach einem Weilchen in ziemlicher Beklemmung und mit einem ratlosen Blick auf ihre Tochter.

Hanna, die in den letzten Minuten sehr still geworden war, schaute flüchtig auf. „Laß, Mutterchen, zerbrich dir deswegen jetzt nicht den Kopf! Bis wir uns darüber entscheiden müssen, fließt noch viel Wasser zu Thal. Wir ziehen ja morgen noch nicht aus. Es ist aber – sie holte einmal tiefer Atem – „noch etwas andres, wegen dessen ich Sie nun um Ihren Rat bitten möchte, Herr Thomas. Ihre Freundlichkeit macht mir Mut.“

Sie sah freilich nicht danach aus, als ob sie viel Mut hätte. Das fand Thomas wohl auch.

„Na,“ sagte er lächelnd und sich etwas zu ihr vorneigend, „scheint Ihnen aber doch gewaltig schwer zu werden.“

Hanna schüttelte den Kopf und versuchte auch zu lächeln, sie errötete tief unter dem seltsam eindringlichen Blick, mit dem er sie ansah. „Ich muß mehr Geld verdienen,“ sagte sie dann rasch, mit einem Anlauf. „Vielleicht wissen Sie Mittel und Wege. Ich wäre Ihnen sehr dankbar.“

Thomas verneigte sich von seinem Platz aus. „Ihr Vertrauen ehrt mich, mein Fräulein. Ich dachte gerade über eine schickliche Redewendung nach, um auf diese Frage loszusteuern; da kommen Sie mir so offenherzig entgegen. Reizend von Ihnen! Es thut mir zwar riesig leid, daß es überhaupt nötig ist, von solchen leidigen Dingen zu reden. Aber was will man machen gegen die verkehrte Weltordnung. Hoffentlich bin ich wenigstens imstande, Ihnen wirklich behilflich zu sein. Aus welchen Quellen flossen denn bisher Ihre Einnahmen?“

„O, von sehr kleinen. Ich habe Handarbeitsunterricht gegeben und habe für Geschäfte gestickt, gehäkelt, gebrannt, geschnitzt, geätzt, Muster gezeichnet. Es ist kein großartiger Erwerb, aber als Zuschuß zu unsern bisherigen Einnahmen konnte es noch genügen. Jetzt – – ich weiß mir keinen Rat. Ich kann ja nichts unternehmen, was mich lange vom Hause fernhält. Und nun gar, wenn wir da draußen wohnen werden! Ich müßte alle geschäftlichen Beziehungen vorher so ordnen können, daß die weite Entfernung nicht ungünstig wirkte, denn ich könnte mich doch nur auf ganz seltene Stadtbesuche einlassen. Aber wie viele Leute werden mir unter diesen Umständen dann noch Beschäftigung geben? Mit dem Handarbeitsunterricht ist es vorderhand ganz aus, wenn wir wegziehen, denn ich darf nur hoffen, aber nicht darauf rechnen, daß es mir gelingt, in dem neuen Wohnort einen neuen Kursus zu gründen.“

Sie schwieg, etwas atemlos, mit leicht zitternden Lippen, die Hände fest im Schoß gefaltet. Die Mutter sah blaß und verstört, mit ihrem ödesten Sorgegesicht seitwärts zum Fenster hinaus. Thomas war auch eine Weile still. Er schien gerührt zu sein, er schüttelte mehrmals den Kopf.

„Gott bewahre!“ sagte er endlich und klopfte mit der Hand auf die Stuhllehne. „Wie fürchterlich dauern Sie mich! Und das Dumme ist, ich kann nicht einmal versprechen, Ihnen behilflich zu sein. Im Augenblick wenigstens bin ich ratlos, wie ich die Geschichte anzupacken hätte. Ich bin ja nur ein ganz gewöhnlicher Thalermensch. Eine Stelle als Buchhalterin könnt’ ich Ihnen zur Not bald genug verschaffen. Ueberhaupt eine Stelle in irgend einem Geschäft. Aber damit ist Ihnen ja nicht gedient. Und mit weiblichen Handarbeiten und solchen Dingen hab’ ich mich nie abgegeben. Aber halt! Da fällt mir ein. Zeichnen! Sprachen Sie nicht von Zeichnen? Das wäre was. Wenn Sie Vögel und Bäume und so Zeugs zum Sticken auf Kissen und Tischtücher zeichnen können, dann werden Sie’s auch fertig bringen, ein Buch zu illustrieren. Ich denke mir’s wenigstens. Wissen Sie was? Geben Sie mir mit, was Sie etwa von vorrätigen Sachen da haben. Ein paar Blätter mit Entwürfen und so was. Ich zeig’s einem Maler, mit dem ich befreundet bin, und der soll uns dann sagen, ob es zu solchem Zweck langt und was zu thun ist, um in so eine Buchgeschichte erst ’mal reinzukommen. Daß Sie dabei bedeutend mehr verdienen, ist todsicher.“

„Ich danke Ihnen,“ sagte Hanna mit herzlichem Lächeln. „Aber ich weiß schon, damit ist es nichts. Meine Zeichenkünste sind sehr gering und meine Leistungen sehr endlich. Für einen Tischläufer und ein Sofakissen reicht es allenfalls aus, jedoch höhere, also künstlerische Ansprüche, darf man an mich nicht stellen. Aber ich danke Ihnen, Sie müssen nicht glauben, daß ich Ihre Freundlichkeit nicht empfände, noch dazu mit Leuten die Sie ja eigentlich gar nicht kennen.

Er wehrte ihr mit beiden Händen, winkte auch der Mutter ab, die sich wieder zu ihm wendete.

„Hören Sie auf!“ rief er. „Machen Sie keine Sachen! Ich hab’ Ihnen ja nichts gethan! Ich sitze da und erkläre Ihnen, daß ich Ihnen nicht helfen kann, und da wollen Sie mir danken. Warten Sie erst ab, ob ich überhaupt irgend was für Sie ausrichte! Erst muß ich mir bei Giesecke meine Sporen verdient haben. Morgen also! Für heute empfehl’ ich mich. Er stand auf, Hanna auch. „Das heißt, ich möchte den Damen einen Vorschlag machen. das Wetter ist famos. Ich komme nach Tisch mit meinem Wagen und hole Sie zum Spazierenfahren ab.“

„Wo denken Sie hin,“ sagte Hanna an Stelle der Mutter, die nur förmlich erschrocken den Kopf schüttelte. „Meine Mutter ist seit fünf Jahren nicht mehr aus der Wohnung gewesen. Sie kann ja die Treppen nicht hinunter, kann überhaupt nicht mehr gehen.“

„Was?“ sagte er ganz entsetzt. Nicht mehr aus dem Hause diese ganze Zeit? Gänzlich lahm? Das ist ja schauderhaft! Ja, mein Gott, was meint denn Ihr Arzt dazu? Das kann doch nicht so weiter gehen!“

„Unser Arzt meint nichts, denn wir behelfen uns ohne Hausarzt,“ antwortete Hanna. „Als meine Mutter damals das Unglück hatte, den schweren Fall zu thun, hat der Doktor, der dazugeholt wurde, gesagt, es sei ihr nicht mehr zu helfen. Seitdem leben wir so hin und bemühen uns, nicht überflüssig viel an das Unabänderliche zu denken.

„Find’ ich gräßlich,“ sagte er. „Find’ ich einfach unmöglich! Sie müssen mir gestatten, daß ich Ihnen meinen Hausarzt herschicke und daß er eine neue Diagnose stellt.“

„Das müssen wir nicht gestatten, Herr Thomas,“ fiel Hanna mit ernstem Gesicht ein. „Wir können keinen Arzt bezahlen, also dürfen wir auch keinen fragen.“

Er wollte etwas erwidern, aber nach einem Blick in Hannas Augen verstummte er.

„Ich wollte Sie nicht kränken,“ sagte er dann freundlich. „Ich bin nur über die Geschichte förmlich konsterniert, sie will mir nicht in den Kopf. Aber daß Sie nicht an die Luft sollen, meine verehrte Frau, dagegen protestier’ ich. Das muß zu machen sein. Wissen Sie was? Ich nehme zwei Dienstmänner, die tragen Sie die Treppe hinunter und setzen Sie unten in den Wagen.“

[552] „Nein, nein, nein!“ wehrte Frau Wasenius mit nervöser Hast. „Bitte, Herr Thomas, quälen Sie mich nicht! Ich bin ganz zufrieden so. Ich brauche das alles schon lange nicht mehr, ich habe mich ganz an mein Leben hier oben gewöhnt. Ich würde mich entsetzlich ängstigen bei solchen Kunststücken. Ich danke Ihnen sehr, aber Sie thun mir den größten Gefallen, wenn Sie mich ruhig hier in meinem Stuhl sitzen lassen. – Und zu Hanna: „Es ist mir ja leid, mein Kind, daß du durch mich um diese Auffrischung kommst –“

„Auffrischung!“ unterbrach Hanna vorwurfsvoll ihre Mutter. „Wie du redest. Als ob ich krank und schwach wäre und Erholung haben müßte! Ich wollte, dir wäre so wohl wie mir. Sprechen wir doch nicht von ganz zwecklosen, unvernünftigen Dingen.“

Thomas hatte sie wieder mit glänzenden Augen betrachtet. „Es wäre entzückend, mein sehr verehrtes Fräulein, wenn ich mir gestatten dürfte, Sie zu einer Ausfahrt abzuholen. Aber leider Gottes – die lieben Nebenmenschen –“

Hanna unterbrach ihn mit einer gleichgültig ablehnenden Handbewegung. „Nicht der Mühe wert, Herr Thomas, nur ein Wort über die Sache zu verlieren. Bitte!“

Er verabschiedete sich endlich mit der Versicherung, morgen wiederzukommen, um Bescheid über seinen Zusammenstoß mit Giesecke zu bringen.

„Aber das könnten Sie uns ja auch brieflich mitteilen, Herr Thomas,“ sagte Frau Wasenius freundlich abwehrend. „Ich möchte Ihre bedrängte Zeit –“

„Nicht doch, meine gnädigste Frau.“ Er zog ihre Hand an seine Lippen. „Ich sagte Ihnen ja schon, daß Sie es mir einfach angethan haben, daß es mir vom ersten Augenblick an wunderbar heimelig bei Ihnen zu Mute gewesen ist. Ich komme gern wieder, wenn Sie es mir gestatten.“

Hanna begleitete den Gast zur Thür. Auf dem Vorplatz sagte Thomas mit gedämpfter Stimme:

„Ich bitte Sie, mein bestes Fräulein, kann man denn wirklich und wahrhaftig nichts thun, um der armen Märtyrerin das Leben ein bißchen zu erleichtern? Ich bin sonst gar kein so weichmütiger Geselle, können Sie mir glauben. Aber der Anblick dreht mir alles um und um. Sie sollten nett sein und mir erlauben, ein bißchen von der Dankbarkeit, die ich gegen meinen alten Lehrer nicht mehr loswerden kann, auf seine Frau zu übertragen. Spät genug fang’ ich damit an. Aber wozu hab’ ich denn das scheußlich viele Geld, wenn ich mir damit nicht ’mal gelegentlich eine kleine Extrafreude machen soll? Immer bloß gut essen und trinken und ins Theater gehen und – na überhaupt! Also wie ist das? Schlucken Sie Ihren Stolz ein Endchen weit ’runter. Sagen Sie mir, womit könnt’ ich der armen Frau wohl eine Freude machen?“

„Ich danke Ihnen sehr,“ sagte Hanna verlegen, bedrückt, aber auch gerührt. „Ich wüßte wirklich nicht – ja, wenn Sie ihr denn ein paar Blumen schicken wollen. Rosen hat sie schon lange nicht mehr gesehen.“

„Machen wir! Soll sie haben! Also adieu, mein – sehr verehrtes Fräulein. Auf Wiedersehen. Ich gehe ganz anders fort, als ich gekommen bin, wahrhaftig! Er nahm ihre Hand, die sie ihm bot, und drückte sie sehr fest an seine Lippen, that dann geschwind dasselbe mit der andern, die sie ihm nicht geboten hatte.

„Also auf morgen!“ murmelte er und lief die Treppe hinunter.

Nach einer Stunde kam ein großer Blumenkorb mit einer Fülle der herrlichsten Rosen. Frau Wasenius traute ihren Augen nicht. Sie ließ ihn sich auf den Arbeitstisch stellen, um ihn ganz nahe zu haben, und beugte ihr armes, blasses Gesicht tief in die duftigen Blüten. „Er ist doch sehr nett, nicht wahr? Ein bißchen kurz angebunden manchmal, nicht sehr feinkörnig, wenigstens im Reden – aber sicher von der besten Meinung. Mir fällt wieder allerlei Freundliches ein, was der Vater von ihm gesagt hat. Es ist doch gut, daß er gekommen ist, meinst du nicht auch?“

„Ja, Mutter, es ist gut,“ sagte Hanna sanft. Sie seufzte dann verstohlen „Froh wär’ ich, wenn wir erst wohlgeborgen da draußen säßen, in Marienfelde, oder in Friedrichsfelde, oder irgendwo, ganz für uns allein.“

8.

Es schien wirklich „gut“, daß er gekommen war, dieser Herr Ludwig Thomas.

Wenigstens zu Anfang. Auf die bisher so tiefgedrückte Stimmung der Mutter war seine heitere, zutrauliche Art, seine zwanglose burschikose Redeweise mit dem unverkennbaren, aber nicht unsympathischen Beigeschmack von fideler Berliner Schnoddrigkeit, seine herzliche, wenn auch fruchtlose Teilnahme von entschieden wohlthätigem Einfluß, der sich zuerst bei jedem neuen Besuch befestigte. Denn er war bald wiedergekommen nach jenem ersten Sonntag, und oft. Trotz seiner zeitfressenden Geschäfte, die ihn jahrelang so ausschließlich in Anspruch genommen hatten! Es schien ihn eine Art Fieber rückläufiger Dankbarkeit erfaßt zu haben.

Zunächst hatte es sich freilich um den versprochenen Besuch beim Hauswirt gehandelt. Getreu seinem Wort hatte Thomas am folgenden Tage seinen Angriff eröffnet. Zornschnaubend war er aber eine halbe Stunde später hinaufgekommen, um von seinem Mißerfolg zu berichten.

Der Herr Maurermeister Giesecke war ganz nett und zugänglich gewesen. Aber Giesecke junior, Sohn und Teilhaber im Geschäft, hatte sich als „bocksteif“ erwiesen, trotz der sechsundzwanzigjährigen „Freundschaft“, die er mit hätte überkommen haben müssen. Ohne seine Zustimmung konnte der Alte kein Uebereinkommen schließen, und die schlechten Zeiten berechtigten Giesecke Sohn, der zu dem Zweck der Unterredung aus seinem ersten Stock heruntergerufen worden war, zur äußersten Strenge in der Wahrung seiner Interessen. Sein Bedauern über das Mißgeschick der Dame war bedeutend, aber es beherrschte ihn nicht genügend, um ihm deshalb zu gestatten, seine Pflicht als Familienvater außer acht zu lassen. Die Frau Oberlehrer möge nur die Gewogenheit haben, ordnungsgemäß am ersten Oktober zum ersten April zu kündigen. Auf die Frage, was die Herren zu thun gedächten, wenn Frau Wasenius im Juli ihre Miete nicht, oder doch nicht vollständig und von da ab vielleicht gar nicht mehr werde zahlen können, beschwichtigte Junior ein wohlwollendes Murmeln Seniors mit einer Handbewegung und ersuchte dann achselzuckend den Herrn Bankier, doch nur erst den Juli abzuwarten. Vielleicht gelänge es der Frau Oberlehrer, einen Untermieter zu finden, der in den Kontrakt einträte. Im übrigen – Thomas hatte die weitere Darlegung dieses „Uebrigen“ nicht abgewartet, sondern hatte sich empfohlen, von dem Alten hinausbegleitet, der ihm unter der Thür noch zugeraunt hatte: „Lassen Sie man, den ersten Oktober schind’ ich ihr noch raus, bis April brauch’ sie nich bleiben, ich muß ihn bloß erst ’mal ein bißchen alleine vorkriegen.“

Mit dieser trostvollen Auskunft und mit einem Blumenstrauß war Thomas bei den Frauen erschienen, er hatte das duftige Mitbringsel derweilen in seinem vor der Thür haltenden Wagen aufbewahrt gehabt. Ein „Gedicht“ von einem Strauß, von Schmidt Unter den Linden.

Er legte ihn Frau Wasenius in den Schoß, küßte ihr die Hand und bat um Erlaubnis, sich erst einmal über den „infamen Kerl“ da unten sattschimpfen zu dürfen. Die Bestürzung über den Bescheid suchte er alsdann durch um so lustigere Laune wieder abzuschwächen. Seine Lebensaufgabe solle es sein, den berühmten Untermieter zu finden! Tod oder lebendig müsse er zum ersten Juli heran, am besten wohl lebendig. Einstweilen falle ihm ein, daß er ja unterwegs ein Schächtelchen Zuckerzeug für Fräulein Hanna habe mitgehen heißen. Ob sie ihm die Freude machen wolle, es aufzuknuppern? Aus dem Seidenpapier entwickelte sich eine kleine elegante Bonbonniere von Savadé.

Hanna, dunkelrot, bedrückt, verlegen, hielt das zierliche Ding noch unschlüssig zwischen den Fingern, als draußen geläutet wurde und mit ziemlichem Lärm – pünktlich um sieben Uhr – der Krankenstuhl seinen Einzug hielt.

Hannas erstes Gefühl, das sie wie eine heiße, erstickende Welle übergoß, war: Warum sind wir jetzt nicht allein? Unser liebes Geheimnis! Unsere Ueberraschung! Was geht das alles den an? Sie stammelte ein unverständliches Wort, warf die Bonbonniere auf den Tisch und lief hinaus.

[554] Rettenbacher, der gerade nach Hause gekommen war, fertigte die Boten ab.

An die wieder geschlossene Flurthür gelehnt, hauchte das Mädchen, die gefalteten Hände unters Kinn gedrückt: „O, warum sind wir jetzt nicht allein!“

Rettenbacher nickte. In der tiefen Dämmerung hier draußen – nur die geöffnete Küchenthür gab etwas Licht – konnte sie seine Züge nicht deutlich unterscheiden. „Die Geschichte wird sich etwas anders abwickeln, als wir uns gedacht haben,“ sagte er ruhig. „Schieben Sie ihn nur hinein. Man wundert sich sonst, wo Sie bleiben.

„Sie kommen doch mit? Sie müssen doch Mutters Gesicht sehen.“

„Nein,“ antwortete er ebenso ruhig, „das hat nicht viel Sinn, da das Programm doch geändert ist. Das Gesicht Ihrer Frau Mutter seh’ ich mir nachher an. Erlauben Sie, daß ich Ihnen aufmache. So. Bitte!“

Da die Thür – er öffnete sie schon – nach außen ging, blieb er hinter ihr stehen, man sah ihn nicht. Hanna behielt keine Zeit mehr, sich zu besinnen. Blaß, zitternd in der Erregung durch diese zwiespältigen, miteinander streitenden Gefühle von Freude und Enttäuschung, schob sie den Stuhl vor sich her ins Zimmer. Die Thür schloß sich lautlos hinter ihr.

„Um Gotteswillen“ – stieß Frau Wasenius, völlig verwirrt, heraus.

„Nanu?“ sagte Thomas.

Hannas Fassung war schon zu Ende. Sie ließ den Schiebegriff los, lief um den Stuhl herum zur Mutter, drückte, niederkniend, ihr Gesicht in deren Schoß und brach in Schluchzen aus.

„Aber um Gotteswillen,“ wiederholte Frau Wasenius, „was ist das?“

Hanna erhob das naßgeweinte Gesicht. „Erschrick nicht, Mutterherz,“ bat sie mit erstickter Stimme, „es ist nur eine Ueberraschung, ich habe mir’s den Winter über gespart, ich wußte ja nicht, wie alles werden würde, du mußt dich aber nun doch noch freuen bitte, bitte!“

Frau Wasenius antwortete nicht. Sie atmete ein paarmal schwer auf. Dann umfaßte sie den Kopf des Mädchens mit beiden Händen und drückte ihn an ihre Brust, beugte sich, küßte das weiche Haar, die Stirn, die Augen, den Mund, küßte, schwieg und küßte.

Nach einem Weilchen regte sich etwas in der Ecke neben dem Sofa. Thomas war in einem plötzlichen, zwingenden Gefühl mit drei leisen Schritten bis an die Wand zurückgetreten. Sie hatten ihn auch wirklich einige Augenblicke lang vergessen.

Frau Wasenius hob nun den Kopf, mit beiden Armen umschlang sie fest ihr Kind, das, zusammenzuckend, glühendrot, sich erheben wollte. „Was hab’ ich hier?“ fragte sie aufschauend mit dem seligsten Mutterlächeln

„Einen Schatz,“ antwortete Thomas leise.

Fünf Minuten später empfahl er sich. Irgend etwas mahnte ihn, die zwei jetzt allein zu lassen.

Beim Abschied nahm er Hannas beide Hände und sagte ernst. „Ich glaube, Sie sind ein ganz köstliches Geschöpf. Ihre Mutter ist trotz allem und allem glücklich zu preisen. Auf Wiedersehen!“

Als er fort war, klopfte Hanna sogleich bei Rettenbacher an. Es kam aber keine Antwort. Bertha richtete dann aus, der Herr Doktor habe noch einmal fort müssen. Erst zum Abendbrot kam er heim.

Seinem vollkommen ruhigen, leidenschaftslosen Gesicht sah man nicht an, daß er vorhin aus dem Hause gelaufen war, weil ihn die schmerzliche Unrast der Enttäuschung, der Eifersucht und der Sehnsucht nicht mehr Wand an Wand mit dem Mädchen gelitten hatte. Hannas Schluchzen zauberte ihm jählings die Bilder der Samstagnacht vor die Seele. So hatte er seine Arbeit im Stich gelassen und sich davongemacht. Ein langer Marsch, immer unter den Bäumen am Kanal entlang, bis über den Zoologischen Garten hinaus, hatte ihm helfen müssen, seine Beherrschung zurückzugewinnen. Der „Omnibusbrief“ von daheim mit seinem Kindergeschwätz und seiner Mutterstimme musizierte derweilen auch in ihm herum und harfte allgemach seine arme Seele in die Ruhe zurück, die nur die Erkenntnis eines eng umgrenzten Pflichtgebots erzwingen kann.

So war er umgekehrt und nach Hause gegangen. Er fand Frau Wasenius schon in ihrem schönen Stuhl. Die Hochflut der freudigen Erregung, der Augenblick, auf den er sich mit Hanna zusammen den ganzen Winter hindurch gefreut hatte, war vorbei. Er war darumgekommen durch diesen hereingeschneiten Menschen, den er noch nicht einmal gesehen hatte, dessen laute, etwas metallisch klingende Stimme aber, fast in jedem Wort vernehmlich, zu ihm in das Zimmer gedrungen war und sich ihm je länger, je mehr auf die Nerven gelegt hatte. Auf seine durch Ueberarbeitung und verbissene Herzensnot zerquälten Nerven!

Ganz unberechtigt, wie er sich selber vorwarf, hatte er von der ersten Stunde an einen nagenden Verdruß gegen diesen Eindringling gefühlt. Eine dumpfe Furcht, ein Vorgefühl vieler kommender Bitternisse hatte sich ihm auf die Brust gewälzt. Aber die Gewohnheit der strengen Beherrschung schützte ihn vor Selbstverrat. Sogar Frau Wasenius suchte heute abend vergeblich den Nachglanz der Schmerzen, deren Anblick sie gestern so erschüttert hatte.

Unwissentlich baute er gerade mit dieser undurchdringlichen Ruhe einen sichern Schutzwall zwischen sich und dem Mädchen auf, von dem er nicht wußte, daß es drüben kämpfte, wie er hüben.

Ueber die kommende Trennung war nach dem ersten Male nicht mehr gesprochen worden. Ein jedes von den dreien hütete sich, hieran zu rühren. Rettenbacher ließ sich von der mißglückten Unterhandlung mit dem Hauswirt erzählen. Er hatte kein Wort darüber verloren, daß man dem Fremden gewährt hatte, was ihm versagt worden war, die halbamtliche Eigenschaft des Bankiers als geschäftlicher Beirat leuchtete seinem Gerechtigkeitsgefühl ein. Daß es aber diesem gewiegten Herrn nicht gelungen war, etwas auszurichten, füllte einen kleinen verschwiegenen Winkel seines eifersüchtigen Herzens mit einem freilich nicht ganz eingestandenen Gefühl von Genugthuung.

Seine Hoffnung war gewesen, daß mit diesem zweiten, immerhin noch geschäftlichen Besuch des Bankiers der lose Zusammenhang zerblättern würde. Aber diese Hoffnung sah sich getäuscht. Thomas kam wieder und wieder. Die beiden Männer trafen jetzt auch zusammen. Aber es begegneten sich zwei unvermischbare Elemente, die darum bald anfingen, sich zu bekämpfen. Jeder war vor dem andern auf der Hut, trat mit geschlossenem Visier, mit eingelegter Lanze aufs Feld. Rettenbachers steifer Zurückhaltung setzte Thomas alsbald herablassende Gönnerhaftigkeit entgegen, die aber an Arnolds starrer Kälte ablief wie Wasser. Verstohlen streifende Spürblicke gingen zwischen Hanna und dem „Pensionär“ hin und wieder, von dem Mädchen unbemerkt, von Rettenbacher mit stillem Ingrimm aufgefangen. Er glaubte, einen Wilddieb in dem lieblichen Revier zu wittern, das ihm verboten war, und schwor sich, mit scharf geladener Waffe Posten zu stehen. Thomas jedoch, der jetzt immer Zeit hatte, wußte bald genug die Stunden, in denen der unbequeme, steife Herr beschäftigt war, und richtete sich danach ein. Noch ehe der letzte Strauß verwelkt sein konnte, erschien er mit einem neuen, der Blumenduft blieb heimisch im Zimmer. Etwas anderes „mitzubringen“, war ihm verboten worden. Um so verschwenderischer erging er sich in dem erlaubten Vergnügen. Der Fensterplatz der Mutter glich einer blühenden Laube. Thomas konnte sich gar nicht genug thun in dem Ausdruck der wärmsten Sympathie. Die stille, gemütliche Klause hatte es ihm nun einmal sofort angethan, er war nicht mehr der verwöhnte Herr aus der Tiergartenstraße, wenn er hier eintrat. Das Mitgefühl für die gelähmte Frau durchwärmte das Herz, der Respekt vor dem stillen, unermüdlichen Fleiß des tapferen Mädchens erfüllte ihn mit Rührung, sein Entzücken über die Geschicklichkeit, mit der sie heute die Nadel, morgen das Schnitzmesser, übermorgen den Brennstift führte, war ohne Grenzen. In Ermangelung einer andern Möglichkeit, ihr zu helfen, fing er an, Bestellungen über Bestellungen zu machen, für sich, für Verwandte, Bekannte, die sich seiner als Vermittler zu bedienen hatten. Er schraubte ihre [555] Preise, die er lächerlich niedrig fand, in die Höhe und sie wurden anstandslos bezahlt.

Hanna war ihm für seine vielen Bemühungen herzlich dankbar. Es gab freilich Augenblicke, wo Bangigkeit und Beklemmung sie befiel, wenn sie seinen glänzenden, eindringlichen Blicken begegnete, Blicke, in denen mehr geschrieben stand als allgemeine menschliche Teilnahme. Doch warnte dies unruhvolle Herzklopfen nicht laut und nicht lange genug. Nicht so sehr, weil ihre persönliche Eitelkeit dazu nicht stark genug war, sondern vielmehr, weil das, was ihr mutig bezwungenes Herz einzig schwerer und härter schlagen machte, mit Ludwig Thomas nichts zu thun hatte. Auch fehlte es ihr einfach an Zeit, um eifrig Betrachtungen anzustellen. Es mangelte ihr die Seelenruhe des behaglichen Müßigganges. Sie arbeitete mit fieberhaftem Eifer. Sie nahm halbe Nächte zu Hilfe. Sie sagte sich, daß eine so günstige Gelegenheit für allerhand Aufträge kaum je wieder kommen werde und daß sie darum alles daransetzen müsse, um während dieser Frist so viel Geld ins Haus zu schaffen, wie nur irgend möglich. Sie fühlte aber auch, daß ihren Kräften mit dieser Rastlosigkeit zu viel zugemutet werde, daß ihre Augen begannen, zu leiden, daß ihre Nerven sich immer straffer anzogen, zu reißen drohten. Sie sagte sich zugleich, daß sie mit all ihrer Mühe das drohende Gespenst der Not nicht würde abwenden können, wenn es nicht gelinge, die Wohnungsfrage befriedigend zu lösen. Aber ein Mieter zum Juli wollte sich nicht finden, und Giesecke senior hatte sich zu dem Bekenntnis entschließen müssen, daß sein Sohn ihm an Charakterstärke „über“ sei.

Indessen gingen die Wochen hin. Man war aus dem April tief in den Mai geraten, ehe man es wußte.

Hanna und Rettenbacher waren ihren Pflichten im Kirchenchor mit gewohnter Pünktlichkeit nachgekommen. Es fiel keinem der beiden ein, der wehvollen Stimmung, die sich nach Stummsein sehnte, dieses Zugeständnis zu machen. Auch die Samstagabende waren nach alter Gewohnheit eingehalten worden, oder vielmehr dieser Gewohnheit zuliebe. Ohne den Pastor, der sich nach jenem Musikabend bei Frau Wasenius einstweilen in seiner Studierstube verkrochen hatte. Ohne Thomas, der zu Rettenbachers unendlicher Erleichterung nicht erst zur Teilnahme aufgefordert wurde, nachdem er bei einer Erwähnung des Kirchenchores gesagt hatte: Musik ist nett, aber ich kann famos ohne sie leben.

Sie hatten an diesen Abenden gesungen, beide, der Mann und das Mädchen. Beide fürchteten sich gleichermaßen vor dem Singen wie vor dem Schweigen, fürchteten, daß das eine wie das andere sie verraten möchte. Günther in seiner Harmlosigkeit aber war von dem Schleier, der über den beiden herrlichen Stimmen lag, nichts gewahr geworden. Freilich war es nur ein durchsichtiger Flor, zart wie Spinnwebe, mehr dem geschärften Ohr des selber Leidenden als dem dieses kindlich fröhlichen Musikers fühlbar. Wäre Günther Poet gewesen, dem eigene Melodien in der Seele blühten, so wäre ihm vielleicht der leidverklärte Ton, mit dem Hanna am Karfreitag in der Kirche gesungen hatte, in seinen Träumen wiedererklungen und hätte ihn zum Lauschen geweckt. So aber fühlte er nur immer wieder die Wonne über die Reinheit und Süße dieser Mädchenstimme, die sich mit dem edlen Goldklang der andern zu berückend schwermutvoller Harmonie verschmolz.

Ostern war längst vorbei, Pfingsten nahte. Die Welt stand in Blüte. Mit ihren schon fieberisch glänzenden Augen sah Hanna von der Arbeit in diese strahlende, sommerwarme Frühlingsseligkeit hinaus, zu ihrem düster umwölkten Sorgenhimmel empor und wieder hinab auf die Mutter, die in diesem wachsenden Unheilschatten von Tag zu Tag welker und blasser in sich zusammensank. Die Heiterkeit und Zuversicht, die ihr Thomas mit seinen ersten Besuchen ins Haus getragen hatte, war eine ärmliche Blume gewesen und schon lange verblüht. Es wollte ihm nicht mehr gelingen, die immer schweigsamer werdende Frau zum Lächeln zu bringen. Zurückgelehnt, von weißen Kissen umgeben, die Augen geschlossen, lag sie unter ihren Blumen da wie auf dem Totenbett.

Ein Windstoß fuhr daher, Regentropfen fielen vom wirklichen Himmel. Hanna erhob sich, um das Fenster zu schließen. Sie blieb dann neben der Mutter stehen und sah sie lange an.

Thomas, schon im Begriff zu gehen, trat noch einmal zu ihr her. Er schüttelte wehmütig den Kopf, dann winkte er, seinen Hut in der Hand, dem Mädchen, ihm vor die Thüre hinaus zu folgen. „Fräulein Hanna,“ sagte er draußen leise, „Ihre Mutter macht mir eigentlich Sorge. Ich muß es Ihnen einmal sagen.“

„Meinen Sie mir nicht?“ antwortete sie heiser, mit einer fliegenden Blässe. Die Hände, die sie fest zusammenfaltete, zitterten.

„Sie müßte ganz anders gepflegt werden, als man es hier kann,“ fuhr er fort, „sie müßte kräftigen Wein haben, alle möglichen guten Dinge –.“

„Keine Sorgen vor allem,“ unterbrach ihn Hanna. „Was reden Sie denn? Wem sagen Sie das alles? Kann ich helfen? Könnt’ ich’s “ – – ein thränenloses Aufschluchzen erschütterte ihren Körper – „meine Seele würd’ ich dem Teufel verschreiben dafür!“

Er sah sie mit einem eigentümlich funkelnden Lächeln an.

„Muß es gerade der Teufel sein?“ fragte er nach einer kleinen Pause.

„Sonst hilft ja niemand,“ antwortete sie mit schmerzlichem Humor.

„Wer weiß!“

Er nahm sacht ihre festverschlungenen Hände und löste die starren Finger. „Ich wüsste jemand, der die Sache mit einem Schlage in Ordnung bringen könnte, Fräulein Hanna. Keinen Teufel. Oder wenigstens einen sehr menschlichen.

„Was soll das heißen?“ Sie sah ihn erst jetzt aufmerksamer an. „Was wollen Sie thun? Wie wissen Sie plötzlich Hilfe? Sagen Sie! Sagen Sie!“

Er öffnete schon den Mund. „Nein,“ sagte er dann aber kurz abbrechend. „Wenn Sie so fragen, wenn Sie so gar nicht – heute sag’ ich kein Wort mehr. Denken Sie nach. Sie müssen ja verstehen. Ich komme wieder, bald, vielleicht morgen, übermorgen. Vielleicht erraten Sie es bis dahin! Adieu.“

[565]
9.

Hanna zersann sich den müden, schmerzenden Kopf. Diese geheimnisvolle unklare Aussicht auf die Möglichkeit einer Hilfe in der Not versetzte sie in quälende, brennende Unruhe. Als Thomas gegangen war, hatte sie sich noch nicht wieder ins Wohnzimmer hineingetraut, sondern sich aus Furcht, der Mutter ihre Erregung zu verraten, erst in Küche und Schlafstube allerhand zu thun gemacht. Leidlich gefaßt hatte sie nach einer Viertelstunde, ihrer stillen Kranken gegenüber, die weggelegte Arbeit wieder aufgenommen. Aber die Hand, mit der sie das Schnitzmesser führte, zitterte, und wenn sie sich den beinahe fertigen Bilderrahmen nicht durch einen Fehlschnitt verderben wollte, mußte sie aufhören. In dem entmutigenden Gefühl, heute zu keiner anspruchsvollen, zierlichen Arbeit mehr imstande zu sein, holte sie eine grobe Flickerei heran, die Augen und Hand gleichermaßen ausruhen ließ.

Frau Wasenius lag still in ihren Kissen. Es wurde nicht mehr viel gesprochen zwischen Mutter und Tochter. Die traurige Frage: was wird aus uns? war einstweilen verstummt, weil die Antwort ausblieb. Die Prüfung der Wohnungsliste, die Thomas gebracht hatte, war unterblieben, da man ja hier immer noch gefesselt saß. Denn auch Hannas eigene flehentliche Bitte konnte Herrn Giesecke nicht zur Drangabe seiner berechtigten Forderung veranlassen. Das drohende Gespenst der Pfändung reckte sich immer deutlicher im Winkel. Die Kreuz und Quer woben Sorge und Rat ihre Fäden. Dicht, erstickend dicht! Und kein Ausweg, keine Lücke in den grauen Schleiermassen. – Doch? Es gab also eine lose Stelle, die man durchstoßen konnte? Hinter der es hell wurde? Thomas hatte mit dem Finger daran gerührt. Das Gewebe schütterte. Aber wie kann man heraus? Um was für einen Preis? Und wohin?

„Was ist dir denn, Kind?“ – Frau Wasenius hatte schon eine ganze Weile, von Hanna unbemerkt, aus ihrem Dämmerschlaf erwacht, beobachtend dagelegen und ängstlich staunend dem Feuer dieser innerlich glühenden Unrast zugesehen, das dem Mädchen aus den weit offenen Augen flammte.

„Aber gar nichts, Mutter. Warum?“ Sie hatte sich schnell gefaßt, kaum daß sie flüchtig zusammengezuckt war.

„Du siehst verstört aus. Ist etwas Neues – aber was sollte denn noch kommen?“

„Das sag’ ich auch. Also keine Unruhe, Mutterchen. Ich machte nur gerade einen Ueberschlag, wie viel mir die beiden großen Schnitzereien zusammen mit der geätzten Platte für den Truhendeckel bringen werden.

„Nach Rechnen sah es nicht aus,“ sagte Frau Wasenius argwöhnisch.

„Aber, Herzblatt! Wonach soll es denn aussehen?“ [566] Es klingelt übrigens“, unterbrach sie sich erleichtert. „Bertha ist nicht da. Ich will nur schnell nachsehen. Es wird Rettenbacher sein.“

Er war es auch.

Mit seinem gewohnten gleichmütig höflichen Gruß trat er ein und wollte nach einer Erkundigung über das Befinden der Mutter in sein Zimmer gehen. Aber das Mädchen hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

„Sagen Sie! Raten Sie mir! Ich bin so unruhig.“ Sie mußte sprechen, die innere Spannung war unerträglich.

„Was ist denn?“ fragte Rettenbacher aufmerksam. Er öffnete zugleich seine Thür. „Darf ich bitten? Hier auf dem Flur – das Mädchen hört jedes Wort.“

Hanna schüttelte den Kopf und blieb auf der Schwelle stehen.

„Bertha ist nicht da. Aber Mutter könnte uns hören“ flüsterte sie, den Finger über die Lippen legend.

Er betrachtete sie unruhig forschend.

„Also?“ sagte er.

Sie wiederholte ihm das kleine Gespräch mit Thomas.

„Was kann er meinen?“ schloß sie. „Wen kann er als Retter im Sinn haben? Warum sagt er nicht einfach das und das? Und so und so? Warum geht er erst weg und läßt mich in dieser Unruhe?“

„Das weiß ich nicht,“ sagte Rettenbacher langsam. Er blickte starr auf das Buch nieder, das er in der Hand hielt, und drückte dann die Lippen fest zusammen.

Hanna sah es.

„Warum schweigen Sie?“ fragte sie fiebernd. „Ich fürchte mich, das sehen Sie doch! Was soll ich thun?“

„Aber gar nichts vorderhand, Fräulein Hanna,“ beschwichtigte er mit einem Lächeln, das ihm aber nur schlecht gelang. „Abwarten müssen Sie. Herr Thomas ist ja ein kluger Kopf. Wahrscheinlich ist ihm endlich irgend ein Ausweg in den Sinn gekommen, auf dem man Meister Giesecke entwischen kann.“

„Er sagt etwas vom ‚Teufel‘, von einem ganz menschlichen Teufel. Was kann er damit meinen?“ fragte sie mit der Ungeduld der Angst.

„Ich weiß nicht,“ antwortete er kurz. „Es wird ein Witz gewesen sein.“

„Ein Witz? Es ist auch wohl hier der Ort, um Witze zu machen! Glauben Sie das von Thomas?“

„Nein! Sie verstehen mich falsch. Ich wollte ihm nichts anhaben. Sie hatten ja aber angefangen. Mit dem Teufel, mein’ ich. Da müßte er kein richtiger Berliner sein, wenn er sich die Gelegenheit zu einem ulkigen Wortspiel vorbeigehen ließe. Weiter wird es nichts gewesen sein. Uebrigens – Sie gestatten die Bemerkung – Sie sehen jammervoll aus. Ueberreizt, übermüdet! Wo soll das hin? Sie schlafen zu wenig.“

Sie lächelte bitter schwermütig.

„Wo sollt’ ich die Muße dazu hernehmen? In manchen Zeiten brauchte man eigentlich für jeden Tag zwei Nächte. Eine für den Schlaf, eine für die Sorgen. – Also bis nachher! Ich decke jetzt den Tisch.“

Sie nickte ihm zu und schlich langsam davon.

Er trat völlig ins Zimmer und schloß die Thür.

Eine Röte, die Flamme der zurückgehaltenen Erregung, stieg ihm jählings ins Gesicht.

„Kommt es?“ murmelte er dumpf vor sich hin. „Soll dir auch dieser Kelch nicht erspart bleiben, armes Ding? Und keine Warnung möglich. Von wem? Von mir? Ich bin gerade der Rechte dazu! Wenn die Mutter gesund wäre! Der müßte ich sagen, was ich fürchte. Aber wer redet mit einer so schwer herzkranken Frau über solche Sachen? – Dem Teufel ihre Seele! – Diese Seele wird es sein, die sie schützt. Geschehen wird ihr nichts. Sorge hab’ ich darum nicht! Aber die Bitterkeit, der Ekel der Erkenntnis! Daran kommt sie nicht vorbei. Was hätte ich ihr eben sagen können zur Warnung, was sie nicht entsetzt haben würde, wenn sie es verstanden hätte? Diese Furcht, die von heute abend, die ist nur Nervenschreck. Sie ist nicht mehr gesund. Ahnen thut sie nichts. Ist ja doch all die Wochen blind und taub an diesen heißen Augen vorbeigegangen. Sieht und hört nichts als die Sorge um die Mutter und die Angst vor der Zukunft. Von der Mutter freilich begreif’ ich die Arglosigkeit nicht. So richtet Krankheit die Menschen zu. Hat sie sich keinen Vers auf diese Besuche gemacht, zu denen all und jeder Vorwand fehlte? Was wird sie sagen, wenn das nun plötzlich aufhört, vom nächstenmal an? Zu verheimlichen wird es nicht sein. Wie wird der Schreck sie mitnehmen. Und Hanna! Mein armes Mädchen!

Fast hätte er gestöhnt. Er schüttelte sich, er begann im Zimmer auf und ab zu gehen, um sich zu beruhigen. Er suchte sich auch selber zuzureden. Berechtigte ihn denn die Auskunft über Thomas, die er bei seinen sorgsam und vorsichtig eingezogenen Erkundigungen erhalten hatte, zu diesem schnöden Verdacht? Wenn er gerecht sein wollte. Nein. Ganz und gar nicht. Wenigstens nicht mehr als jedem andern Mann gegenüber, der schwer reich war und eine reizende Villa am Tiergarten bewohnte. Daß er mit etwa achtunddreißig Jahren noch nicht geheiratet hatte, war seinen Bekannten schon etwas verwunderlich erschienen, besonders, da er niemals eine ausgesprochene Abneigung gegen die Frauen verraten hatte. Freilich auch keine entscheidende Vorliebe. Er „amüsierte“ sich nicht rücksichtsloser und lebemännischer als hundert andere mit denselben Vorzügen an flotter Schmuckheit der Erscheinung und auskömmlicher goldner Basis. Hatte er wirklich ernsthafte Abenteuer zu verzeichnen, so war seine Diskretion nach dieser Richtung lobenswert. Als Kaufmann genoß er den seltenen Ruf absolutester Zuverlässigkeit und fleckenlosen Anstandes.

Nun?

Er blieb stehen. Er mußte über sich selber lächeln. Es war ihm sogar sehr nach Beschämung zu Mut. Was in aller Welt berechtigte ihn, wie ein Wegelagerer aus dem Hohlweg über diesen Mann herzufallen? Nichts, als das allgemeine Mißtrauen gegen das eigene Geschlecht. Nichts, als die allgemeine Unwahrscheinlichkeit, daß es ein reicher Herr mit einem armen Mädchen anders als hinterhältig meinen könne. Nichts, als der ohnmächtige Grimm über die eigene Armut. Nichts, als die brennende, nagende, die höllische Eifersucht. Das war’s. Ein nobler Richter, beim Zeus! Eigennutz, Neid – hübsche Triebfedern! Schäme dich, Arnold Rettenbacher! Und duck’ dich! Und wart’ ab! Es bleibt dir immer noch unbenommen, ihm zu geeigneter Zeit an die Kehle zu springen. Wart’s nur erst ab!

Er that so.

Auch Hanna wartete. Aber diese zwei Tage der Spannung brauchten den Rest ihrer Seelenruhe auf.

Als Thomas endlich kam – sie öffnete ihm selbst die Thür – sah sie ihn nur scheu fragend an. Zu sprechen wollte ihr nicht mehr gelingen.

Aber auch er blieb vorläufig stumm. Langsamer und bedächtiger als gewöhnlich legte er den üblichen Blumenstrauß auf das Flurtischchen und hängte seinen Hut an den Riegel. An der Wohnstubenthür anhaltend, sagte er mit einer abwehrenden Bewegung: „Kann ich Sie zuerst ein paar Minuten unter vier Augen sprechen?“

Hanna begann zu zittern; ganz still ging sie ihm voran in Rettenbachers Zimmer. Es war das einzige, das ihr zur Verfügung stand. Mit einem schüchternen, gleichsam um Vergebung lullenden Streifblick sah sie sich um. Es bedrückte sie, den Arbeitsraum des Freundes, den sie gewohnt war, in Ehren zu halten, zur Besuchsstube zu entwürdigen. Rettenbacher konnte zwar erst nach Stunden heimkommen, erst gegen Abend, aber sie glaubte ihn doch mit finster verwundertem Gesicht auf der Schwelle stehen zu sehen. Mit einer raschen Bewegung, die um Beschleunigung bat, wandte sie sich an den Gast, der seltsam erregt und unschlüssig im Zimmer auf und ab zu gehen begonnen hatte.

„Ja,“ sagte er, mit einem kurzen Ruck vor ihr stehen bleibend, „was ich sagen wollte. Aber – wie sehen Sie denn aus? Ganz blaß. Ganz verstört. Und Ihre Hände zittern. Was ist denn los?“

„Gar nichts,“ antwortete sie gequält. „Sie wollten mir aber etwas mitteilen. Bitte! Ich dächte meine Mutter nicht zu lange allein zu lassen. Sie wird schon jetzt unruhig sein.“

„Na also,“ fing er wieder an. „Daß ich’s kurz mache. Sie erinnern sich, was ich Ihnen vorgestern sagte. Draußen an der Thür?“

Hanna nickte nur.

„Es giebt also ein einfaches Mittel, um Ihnen aus all Ihren – Ihren – Aergernissen und so weiter herauszuhelfen.“ [567] Thomas hielt inne. „Erraten Sie’s nicht?“ fragte er mit einem aufgeregten Lächeln.

Sie schüttelte nur mit dem Kopf.

„Herrgott, na – Sie sind aber auch – das Mittel heißt, daß Sie meine Frau werden!“ stieß er heraus.

Hanna erschrak nun doch entsetzlich. In den taumelnden, suchenden Gedanken dieser letzten Tage waren diese Worte aufgetaucht, aber vor ihrem heftigen abwehrenden Kopfschütteln wieder verschwunden. Nun trafen sie sie wie ein Schlag auf den Kopf. Sie wich mehrere Schritte zurück, bis zum Sofatisch, an den sie sich lehnte.

Er sah ihr nach, es schoß eine Röte in sein dunkles Gesicht.

„Donnerwetter,“ sagte er halblaut, „das sieht ja ermutigend aus! Sie scheinen ja mächtige Sympathien für mich zu haben! Darauf war ich denn doch nicht vorbereitet!“

Hanna faßte sich mühsam.

„Verzeihen Sie mir,“ sagte sie mit noch tonloser Stimme. Das Herzklopfen, das sie förmlich erschütterte, nahm ihr den Atem weg. „Ich wollte Sie nicht kränken. Ich bin nur – ich habe nur – hieran noch nie gedacht.“

Er näherte sich ihr langsam, fing auch wieder an zu lächeln.

„Aus welchem Grunde haben Sie Gotteslamm denn geglaubt, daß ich immer wieder hierher kam?“

„Ich habe über Gründe wirklich nicht viel gegrübelt. Ich hatte an so Wichtiges, so Schlimmes zu denken. Ich hielt Sie einfach für sehr wohlwollend, für sehr gutmütig.“

„Bin ich auch. Wenigstens, wen ich gern hab’, der kann mich um den Finger wickeln. Aber deswegen – na wissen Sie!“

Er stand jetzt dicht vor ihr.

„Fräulein Hanna,“ sagte er etwas gedämpfter „ich bin ja schmachvoll in Sie verliebt! Das ist die Sache! Ich halt’s ohne Sie nicht mehr aus. Sie müssen meine Frau werden, da hilft gar nichts.“

Er griff nach ihrer Hand, sie stemmte sie aber fest auf den Tischrand.

„Bitte – nicht –“ sagte sie fast laut, ängstlich. „Ich fürchte mich!“

„Vor was denn? Vor mir? Bin ich Ihnen denn wahrhaftig so ein Greuel?“

„Nein,“ sagte sie verlegen. „Was reden Sie! Ich schätze Sie sehr. Aber –“

„Na also! Eklig bin ich Ihnen nicht? Das ist die Hauptsache. Alles andere findet sich, wenn Sie erst meine Frau sind. Denn das ist beschlossene Sache. Da beißt keine Maus den Faden ab. Geben Sie mir nur die kleine Patsche!“

Aber Hanna schüttelte nur immerfort den Kopf.

„Bitte, bitte,“ sagte sie flehend. „Sprechen Sie nicht so! Lassen Sie alles, wie es war. Ich kann das nicht.“

„Warum?“ fragte er schroff.

„Ich habe wirklich noch niemals an heiraten gedacht,“ entgegnete sie angstvoll. „Ich möchte auch nicht – ich habe Sie dazu wohl nicht lieb genug.“ – Und dann schnell, um abzubrechen: „Ich möchte nun zu meiner Mutter gehen. Sie weiß gar nicht, wo ich bleibe.“

„Halten Sie ’mal,“ wehrte er. „So schnell ist das doch nicht abzumachen. Sie fegen mich ja förmlich zur Thüre hinaus. Ihre Mutter! Gerade von der wollen wir jetzt reden. Was sagten Sie neulich? Könnt’ ich ihr helfen – meine Seele würd’ ich dem Teufel verschreiben dafür! Das klingt nach was. Das klingt nach Charakter. Ich hab’ Sie nicht im Verdacht, daß Sie Redensarten machen. Also: dem Teufel Ihre Seele! Das heißt, Sie würden wer weiß was thun, um ihr das Leben zu erleichtern, sie von Sorgen zu befreien. Nicht wahr? Na also! Sie haben sich ja auch für Ihr Teil so redlich abgequält, daß es einem das Herz im Leibe umwenden konnte. Aber dennoch – rundum, wohin Sie auch sehen – keine Hilfe! Sie gehen mit der kranken Frau einer verflucht unsichern Zukunft entgegen. Bloß eine Ritze thut sich auf und an der steht dieser arme Teufel hier, dieser Satan mit dem wohlklingenden Namen Ludwig Thomas, und sagt nach berühmtem Muster: Dies alles will ich dir geben, wenn du niederknieest und mich anbetest. Das heißt knieen und beten wär nicht nötig, verstehen Sie. Vielmehr zu neudeutsch. Alles, was ich habe – und es ist ’ne ganz anständige Masse – leg’ ich dir zu Füßen, wenn du meine Frau werden willst. Du wirst ein feines, behagliches Leben haben! Keine Geldsorgen mehr, höchstens die Sorge wohin mit dem Mammon? Du kannst deine Mutter von aller Angst und Not befreien, kannst sie mit dir nehmen – denn das verstünde sich von selbst, sie wohnte bei uns! – kannst sie nach allen Regeln der Kunst pflegen, kannst ihr hundertfünfzig Aerzte kommen lassen, kannst sie in heilsame Bäder bringen und so weiter, und so weiter! Ein ganz nettes Programm, was? Ein Pakt, sollt’ ich denken, ein Teufelspakt, über den sich reden ließe. Auf der einen Seite alles, was gut und schön und teuer ist, auf der anderen Seite nur ein bißchen Liebe. Thut Ihnen denn der arme Satan nicht leid, der sich an Ihren himmlischen Augen die Flügel verbrannt hat? Er hat doch Flügel? Jawohl, schwarze. Und wird Ihnen denn das Herz nicht warm bei dem Gedanken an die arme Mutter? – Na ja. Nun weint sie. Da haben wir den Salat. Ist das nun ein gutes Zeichen, oder ein schlimmes? Fräulein Hanna! Hannichen!“

Ja, sie weinte. Beide Hände vors Gesicht gedrückt, weinte sie still und bitterlich.

Er ließ sie eine Weile gewähren. Er betrachtete sie erwartungsvoll, rot im Gesicht, sehr verliebt.

„Na?“ sagte er endlich halblaut, zärtlich. „Wie ist das nun? Darf ich zu Ihrer Mutter hineingehen und fragen?

Hanna trocknete hastig ihre Augen.

„Bitte, jetzt nicht,“ bat sie heiser, mit noch erstickter Stimme. „Heute nicht. Sie verträgt keine Aufregung. Man muß alles langsam thun.“ Sie schluckte einmal mühsam. „Ich will’s ihr sagen,“ fuhr sie dann fort, „und wenn es ihr recht ist …. ich will Ihnen morgen Antwort geben.“

„– – Na gut“, sagte er nach einem kurzen Zögern „Das mit der Mutter, das begreif’ ich. Ihr mit der Thür ins Haus zu fallen, möcht’ ihr am Ende schaden. Also morgen krieg’ ich Bescheid. Günstigen?“

„Bitte, fragen Sie jetzt nichts mehr,“ sagte sie so flehentlich, daß es ihn rührte.

„Herrgott nein, ich bin ja kein Unmensch. Ich liebe Sie nur so sehr. Sagen Sie mir bloß eins, aber ehrlich! – Na ja anders reden Sie überhaupt nicht, ich weiß. Also sagen Sie, wenn es ein Ja ist – ist es dann so eins, bei dem Ihnen graut? Das möcht’ ich mir nämlich verbeten haben. Auf Opferlämmer steht mein Geschmack nicht.“

Sie schüttelte den Kopf. Es wurde ihr offenbar immer schwerer zu sprechen. „Ich habe Ihnen ja gesagt,“ brachte sie noch heraus, „daß ich Sie sehr schätze. Und ich bin Ihnen dankbar.“

„Schön! Ist zwar eine etwas plemprige Sache gegen den Feuerbrand, der in meinem Busen wütet. Aber – kommt Zeit, kommt Rat! Also denn – morgen. Sie schreiben mir eine Zeile. Ich komme dann sofort.“ – Und nach einer beklommenen Pause, als hätte er noch auf etwas gewartet. „Ich gehe ja schon. Nur die Hand noch. Und die andere.“ Er küßte beide mehrmals, heftig.

„Ich verbrenne vor Ungeduld!“ rief er noch unter der Thür, sich zurückwendend. Dann ging er endlich.

10.

„Ich rede dir gewiß nicht zu, mein Kind.“

„Nein, Mutterchen, ich weiß.“

Nein, sie redete ihr nicht zu. Sie würde sich ein Gewissen daraus machen, ihr auch nur mit einem Wort zuzureden.

Aber konnte sie es verhindern, daß der Gedanke an die Hoffnung auf Befreiung aus Not und Sorgen sie plötzlich aufleben ließ? Daß es bei Hannas erster Mitteilung wie eine Art von Schwindel über sie gekommen war? Ein Schwindel der Freude, der ihr die Augen umnebelte, ihr das dumpf schlagende Herz zusammendrückte, bis sie atemlos wurde und erst in einem Thränenstrom Erleichterung fand?

„Es wäre wohl schön, Mutter? – Du wärest froh, Mutter?“

„Ja, Kind, o ja! Aber auf mich höre nur nicht!“ Und nun saß sie aufgerichtet da, Glanz in den letzthin so matt gewordenen Augen, die erst noch schlaff ruhenden Hände ineinander gefaltet, und machte halblaut Pläne, wie es sein würde, wenn – –

Nein, sie redete ihr nicht zu. Aber das ganze arme Geschöpf war nur ein fieberhafter, atemloser Ruf: Thu es!

[570] Sie wollte ja auch. Sie wehrte sich gar nicht mehr. Mit dem eigentlichen Widerstand war es schon aus. Den hatten bereits die ersten heißen Thränen da drinnen ertränkt. Und erfüllte sich nicht ihr tiefster Herzenswunsch: Der Mutter helfen zu können, dafür wäre ihr ja kein Opfer zu schwer geworden! So hatte sie immer gedacht. Nun war sie so weit. Und dachte jetzt noch an ein Zögern.

„Ich möchte dich nicht beeinflussen, mein Kind. Daß du etwa dächtest, du solltest es um meinetwillen thun!“

„Aber Mutterchen. Nein. Still!“ Damit es auf ihr lastete, das Opfer, nicht wahr? Damit sie davon erdrückt würde! Still! Man thut es, aber man redet nicht davon. „Mutterchen, deswegen sorge dich nur nicht.“

„Und siehst du – ich wollte noch sagen, wenn er ein häßlicher, unsympathischer Mensch wäre, gegen den man Widerwillen hätte! Und wenn er ungütig wäre, hart! Aber so – ich glaube wirklich, ich täusche mich da nicht; er ist gut. Von so einer frischen Güte, weißt du.“

„Gewiß, Mutterchen, ich glaube es auch.“

„Und er scheint dich doch sehr zu lieben. Daß ich davon nichts gewahr worden bin! Daß mir der Gedanke nie gekommen ist!“

„Aber war er denn so naheliegend? Mir scheint, nicht. Ein sehr reicher Mann, ein sehr armes Mädchen.“

„Mit einer sehr kranken Mutter. Nein, du hast recht. Gewöhnlich ist der Fall sicher nicht. Obwohl es mir nicht gerade ein so übergroßes Wunder dünken will, daß man dich lieben lernt, wenn man dir näher kommt, mein lieber Trost du, mein Augen- und Herzenstrost! Sehen hätt’ ich’s eigentlich doch müssen. Ich war blind!“

War diese Seelenblindheit ihr Los? Auch an dem anderen, diesem Aermsten, war sie ja offenen Auges vorbeigegangen und hatte nicht gesehen, daß er Schmerzen litt. Blutete das Kind da vielleicht auch? Verblutete sich ganz in der Stille und lächelte dazu?

„Und siehst du – wie dieses Herzklopfen den Atem zerdrückte, wie es die Kehle hinausflatterte – siehst du, daß da nichts ist, was du aufgeben müßtest – ich meine, was dir wehe thäte, aufzugeben – das ist mir ein solcher Trost“ – ein Zusammenzucken – ein Blaßwerden – „Gewiß, Mutterchen, das glaub’ ich, das kann dir auch ein Trost sein.“

„Denn sonst dürftest du’s nicht thun. Ich litte es nicht. Frei muß dein Herz sein für diesen Weg.“

„Freilich, das muß es. Also sorge dich nicht.“

„Und du thätest es wirklich gern.“

„Ich thue es gern. Alles wird gut werden!“

„Alles wird gut werden, ja, ja! Keine Angst und Not mehr, kein hartherziger Hauswirt, kein Arbeiten von früh bis spät für das Sündengeld, du mein armes Kind!“

„Und geschickte Aerzte für dich, Mutterchen, und gute Pflege – und gesund werden!“

„Gesund werden – daß du nachher geborgen bist, das erlöst mich! Daß ich darüber nun ruhig einschlafen kann.“

„Sprich davon nicht, Mutter, ich bitte dich. Kein Nachher!“

Nach diesem wurde es still im Zimmer. Vor dem Gesicht des Mädchens war die Mutter erschrocken, vor diesem finstern Gesicht, das plötzlich wie in Nacht getaucht aussah. Und vor der heiseren Stimme, die beim letzten Wort zerbrach.

Hanna faßte sich aber bald genug. Sie stand auf und warf die Stickerei, die ihr hatte helfen müssen, den Augen der Mutter auszuweichen, auf ihren Sessel zurück. Ich bin ja wohl verrückt, fuhr ihr durch den Kopf. Wie darf ich mich so gehen lassen! Halbe Arbeit, erbärmliche Arbeit!

Lächelnd beugte sie sich tief über die Mutter und küßte sie auf beide Augen.

„Und nun wollen wir also diesem Herrn Thomas mitteilen, daß er glücklicher Bräutigam ist. Warum soll der arme Mann noch bis morgen auf die Entscheidung warten?“

Frau Wasenius faßte die Tochter an den Händen und zog sie nahe zu sich. „Versprich mir –“ begann sie und brach wieder ab.

„Was, Mutter?“

„Schwöre mir, daß du es freudigen Herzens thust.“

„Bei wem oder was soll ich schwören?“ fragte sie so heiter sie nur konnte.

„Denk’ an den Vater und sage mir: Ja, ich thue es gern.“

„Mein Mutterherz, an den Vater will ich denken und dir sagen: Ja, ja, ja! Gilt dir das so viel wie ein Schwur?“

„Es gilt,“ antwortete sie mit Thränen in den Augen. „So schreib ihm also!“ –

Rettenbacher fand Frau Wasenius allein, als er kurz vor dem Nachtessen aus seinem Zimmer herüberkam. Hanna werde gleich zurück sein, sagte die Mutter, sie besorge nur noch etwas kaltes Fleisch. Es habe sich eben ein Gast angesagt, Thomas. Und nach einer kleinen Pause, mit sanfter Stimme, die sich gleichsam zu streicheln, zu trösten bemühte: „Sie finden nämlich eine große Veränderung, lieber Freund, eine Veränderung, auf die niemand gefaßt war – Hanna ist Braut.“

Rettenbacher fuhr heftig zusammen; er stieß dabei mit der Hand an die Lehne des Stuhles, neben dem er stand. Diese Lehne umklammerte er jetzt so fest, daß ihn die Finger schmerzten.

Das erste überwältigende Gefühl nach dem Schrecken war das der Erleichterung gewesen. Kein schlechter Kerl also! Aber gleich schlug darüber die aufschießende Flamme der wütenden, qualvollen Eifersucht zusammen. er nimmt sie mir weg. Nun wird sie niemals die Meine!

Frau Wasenius strich mit unsicherer Hand am Rande ihrer Decke hin und her. Sie wagte nicht, ihn anzusehen, sie fand auch in der bitteren Verlegenheit ihrer mitleidsvollen Teilnahme, die sie ja nichts zeigen durfte, kein Wort, von dem sie nicht gefürchtet hätte, es möchte ihn verletzen.

Er murmelte etwas Unverständliches, räusperte sich und fragte dann vernehmlich, unter dem offenbaren Zwang, sich nun sogleich und durchaus zusammenzunehmen. „Wohl heute?“

„Ja. Heute nachmittag. Vor einer Stunde brachte Bertha ihm die Antwort. Sie kehrte mit dem Bescheid zurück, daß er ihr nachkäme. Ich habe ihn noch nicht gesehen. Er hatte nur mit Hanna gesprochen.“

„So möchte ich nicht stören,“ sagte er schnell. „Sie gestatten mir wohl, mich für heute abend zu beurlauben. Ich werde ja noch Gelegenheit haben, Fräulein Hanna – – also – Guten Abend!“ Er trat auf sie zu. In der Dämmerung unterschied sie seine Züge nicht mehr genau. „Und meinen herzlichen Glückwunsch!“

„Lieber, guter Freund,“ sagte sie sanft, mit etwas bebender Stimme und faßte seine Hand mit ihren beiden. „Ich hoffe, es wird alles gut werden.“

„Ich hoffe es auch,“ gab er zurück; es gelang ihm, zu lächeln, der kranken Frau zuliebe, seinem Stolze zuliebe. Ein schattenhaftes Lächeln, das der Mutter ins Herz schnitt. Sie verlor ihre Beherrschung, vergaß ihren Vorsatz, sich nichts von ihrer Entdeckung merken zu lassen. Sie zog ihn zu sich heran, nahm seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn auf die Stirn.

„Mein lieber, armer Junge.“

Sehr erschrocken richtete er sich auf, drückte ihr die Hand und ging schnell zur Thür hinaus.

Fast wäre er nahe beim Hause mit Hanna zusammengetroffen.

Er sah sie noch zur rechten Zeit und kreuzte eilig, von ihr unbemerkt, nach der andern Seite hinüber. Dort blieb er stehen.

Er folgte ihr mit den starren Blicken, die Brauen finster zusammengezogen. Ihre Züge konnte er nicht genau unterscheiden – sie hielt auch den Kopf gesenkt. Aber blaß schien sie ihm, und die Schultern hängend, der Schritt ohne Schnellkraft, zögernd.

Gleich nachdem sie unter dem Thorbogen verschwunden war, kam eine Equipage dahergejagt und hielt mit einem Ruck vor dem Hause still. Thomas sprang heraus und rief dem Kutscher ein Wort zu, der wendete und fuhr ab.

Rettenbacher war zusammengezuckt, es überlief ihn dann.

Er konnte sich leicht ausrechnen, wie schnell der Mann, der mit solcher Hast eingetreten war, das Mädchen auf der Treppe eingeholt haben würde, wie er sie anrufen, festhalten, umarmen würde – und küssen – mit seinen roten, vollen naschhaften, unersättlichen Lippen –

Er stöhnte dumpf, ein schüttelndes Zittern rann ihm über den Rücken hinunter. Dann wandte er sich ab und ging eilends davon.

[581]
11.

Zu Herrn Giesekes Beruhigung war die leidige Geschichte mit „Waseniussens“ aufs angenehmste erledigt worden. Ein Untermieter war da und noch dazu einer, der nur zahlte, nicht wohnte. Gelungen! Hätte man das gedacht, damals, als Herr Thomas im Auftrag der Damen gekommen war, um zu unterhandeln, daß sich dieser selbe Herr – Millionär ja wohl – nachher als Bräutigam des Fräuleins entpuppen würde, der die ganze Geschichte einfach übernahm und ihnen gleich eine schriftliche Bürgschaft auf den Tisch hinlegte? Auf diese Auskunft wäre doch niemand verfallen.

Zwar – Waseniussens Bertha hatte Giesekens Auguste erzählt, sie habe nicht begriffen, daß ihr Fräulein nicht längst gemerkt habe, daß Herr Thomas auf Freiersfüßen gegangen kam. Sie habe nur zu bald gewußt, wie der Hase laufe. „So ’ne Augen“ mache man nicht für nichts und wieder nichts. Na, [582] nun sei ja alles schön und gut. In den ersten Tagen des Juli solle die Hochzeit sein. Herr Thomas habe es zwar furchtbar eilig und wolle so lange nicht warten. Aber die Frau habe gesagt. Nein, wegen Doktor Rettenbacher, der müsse erst in Ruhe umziehen, sie setzen ihn nicht vor die Thüre! Wenn auch Herr Thomas so was von „oller Schulmeister“ gebrummelt habe. Dem Herrn Doktor werde das übrigens noch eklig genug vorkommen, nun wieder bei ganz anderen Leuten! Er habe es doch sehr gut gehabt bei ihrer Frau. Sie für ihr Teil habe sich manchmal so ihre Gedanken gemacht. Wenn der Herr Doktor man ein bißchen flotter bei Gelde gewesen wäre – der und Fräulein Hannichen, das hätte doch ein zu nettes Paar abgegeben. Aber so war’s freilich viel besser. Und sie gehe auch mit, ganz besonders für die Aufwartung bei Frau Doktor, Fräulein habe es schon für sicher mit ihr ausgemacht. Und gestern sei sie in der Villa gewesen. Nein, diese Pracht! Nein, himmlisch! Vorn der Tiergarten und hinten ’raus ein mächtiger Park. Und Stuben! Säle! Der reine Zucker. Die Frau Doktor, die kriegte es gut. Parterre nach dem Garten zu ein Schlafzimmer und ein Salon. Und die große Terrasse gerade davor! Sie könnte reineweg aus dem Bett ’raus ins Freie. Und dann ein paar Stufen und im Park war sie. Mit dem schönen Krankenstuhl konnte man ganz gut, sachteken, die drei flachen Stufen ’runter kommen. Na, da würde sie aufleben! Sie gönnte es ihr. Gut war sie. Und Fräuleinchen auch. Und gleich am zweiten Tag nach der Verlobung war der Hausarzt von Herrn Thomas dagewesen und noch ein Doktor, ein Geheimrat. Die hatten eine großmächtige Untersuchung vorgenommen. Und Fräulein Hanna war ’rausgeschickt worden und hatte die ganze Zeit über in der Küche gesessen, kreideweiß im Gesicht und die Hände gefaltet, und immer auf die Thür gesehen, über den Vorplatz weg. Und wie die Herren ’rauskamen, aufgesprungen und hingestürzt! Und der Herr Sanitätsrat, was der Hausarzt war, hatte sie über den Kopf gestreichelt und etwas gesagt, aber sie, die Bertha, habe es nicht ordentlich verstehen können. Bloß, wie Fräulein dann so einen Ton ausgestoßen habe, so was wie Lachen und Weinen zusammen, und dem alten Herrn die Hand geküßt habe und dann zur Frau ’reingestürzt sei und vor sie hin auf die Kniee und sie umgefaßt und immer geschluchzt. „Siehst du, Mutter, siehst du wohl! O, wie glücklich bin ich!“ – daran habe sie gemerkt, daß es was Gutes gewesen sei mit dem Bescheid von der Untersuchung. Und nachher habe Fräulein auch zu ihr gesagt. Alles wird gut, Bertha. Gute Pflege, gute Luft, Ruhe, keine Sorgen. Alles wird gut!

Frau Giesecke klatschte natürlich nie mit ihren Leuten. Aber da sie gerade in die Küche gekommen war, als Waseniussens Bertha den Kopf zur Thür hereingesteckt hatte, und da sie gerade in der Speisekammer allerlei zu ordnen gehabt hatte und auf diese Weise den ganzen „Tratsch“ mit hatte anhören müssen, so trieb sie ihre Teilnahme für Fräulein Hanna, das Mädchen zu fragen, wie denn die Brautleute miteinander umgingen.

„O, sehr nett,“ gab die dumme Person zur Antwort. Herr Thomas sei rein weg vor Verliebtheit und Fräulein Hanna werde auch alle Tage vergnügter.

Frau Giesecke hatte doch lächeln müssen. Vergnügt! – Kunststück. – Wenn man so eine Partie mache. Die Sorte kenne man! Durchsichtige Sache. Und das mit dem verhungerten Lehrer – na ja. Was der Herr Doktor denn für ein Gesicht zu der Verlobung gemacht habe?

Gar keins. An dem Verlobungsabend sei er gerade nicht zu Hause gewesen und erstaunt habe er am anderen Tage auch nicht ausgesehen. Sie seien alle ganz so miteinander umgegangen wie gewöhnlich. Viel reden thäte der Doktor Rettenbacher ja überhaupt nicht.

Na ja, ihr könne es so recht sein, hatte Frau Giesecke gesagt, sie wolle ja nicht gleich das Schlimmste denken. Damit war sie aus der Küche und Bertha war ihrer Wege gegangen, ein bißchen verblüfft über den Floh, den ihr die lange, dünne Dame ins Ohr gesetzt hatte. Sie nahm sich vor, aufzupassen, und horchte und spähte von ihrer offenen Küchenthür aus nach Leibeskräften. Leider vergeblich! Aus der Stille in Rettenbachers Stube erlauschte sie nichts und aus den Gesprächen zwischen Mutter und Tochter, die sich immer um Hauseinrichtungen und solche Sachen drehten, war ebensowenig zu entnehmen. Auch Thomas, der mit wenigen Ausnahmen jetzt täglich erschien, manchmal nur auf einen Sprung, häufig zum Abendessen, gab ihr keinerlei Grund zu Besorgnissen. Es wurde wirklich alles gut.

Ja, so sah es aus.

Heinrich Günther wenigstens hätte darauf geschworen. Als er auf die Nachricht von der Verlobung, viel mehr überrascht als erfreut, „mit verhängtem Zügel“ angestürzt kam, fand er die beiden Frauen allein. Das war ihm gerade recht. Denn der Herr Thomas lief ihm nicht weg, und zuerst drängte es ihn, seinen lieben Singvogel ohne bräutigamliche Kontrolle zu sehen und zu sprechen.

„Nun sagen Sie ’mal, um alles in der Welt, Fräulein Hannichen – –“

Mit seinen glänzenden, lebhaften Braunaugen musterte er eindringlich das Mädchen, das ihm ein übers andere Mal befangen lächelnd zunickte.

„Es ist wahr, Güntherchen, es ist wirklich wahr.“

„Ich glaub’s ja,“ sagte er, „hab’ ja Ihre Anzeige gelesen. Aber – ich bin noch vollständig perplex, ich kann mich noch gar nicht in der Geschichte zurechtfinden. Ganz, aber ganz was anderes hatte ich mir im stillen auskalkuliert.

Möglichst ungeschickt – Diplomatie gehörte zu Güntherchens allerschwächsten Seiten – fuhr er dann noch heraus. „Was sagt denn Er dazu?“ mit einer Kopf- und Schulterbewegung zum Nebenzimmer.

Hanna war leicht zusammengefahren, unter einem verwunderten Stirnrunzeln verbarg sie, so gut es ging, ihren Schreck.

„Wieso ,sagt'?“ wiederholte sie gedehnt, fragend. „Er freut sich natürlich.“

„Na ja,“ gab er schnell zur Antwort, übers ganze Gesicht rot werdend, die regelmäßige Folge seiner Verlegenheit, wenn er einer dieser nicht mehr einzufangenden Uebereilungen nachschaute. „Das versteht sich ja. Ich meine nur – ach, Donnerwetter – was ich fragen wollte: ist es denn ein guter Mann, Ihr Thomas? Ich kenn’ ihn ja so gut wie gar nicht. Einmal auf der Treppe an ihm vorbeigerannt.“

An Hannas Lächeln, an der Art, wie sie einen Augenblick die Zähne auf die Unterlippe setzte, erkannte er seine neue „Klotzigkeit“ und verlor nun ganz die Fassung. „Seien Sie gut, Hannichen, ich weiß, ich weiß, ich rede heute Dummheiten, wenn ich den Mund aufthue – aber der Kopf ist mir eben von der Geschichte ganz verdreht. Und mir steht das Herz bis dahin vor lauter Sorge um Sie – na, Dingsda, Sorge wollte ich ja wieder nicht sagen! Also einerlei –“

„Lassen Sie’s gut sein, altes Güntherchen,“ sagte Hanna sanft, auf seine Hand klopfend, die die ihre noch immer festhielt. „Entschuldigen Sie sich nicht. Warum sollen meine Freunde denn nicht einmal Sorge um meine Zukunft haben dürfen? Das thut mir ja gut. Das ist ja lieb von Ihnen. Um so schöner, daß ich Sie so herrlich beruhigen kann. Setzen Sie sich vor allen Dingen da her zur Mutter! Sehen Sie die an! Würde die wohl so aussehen, wenn sie sich Sorge machen müßte?“

„Wahrhaftig,“ sagte Günther sehr erleichtert. „Guten Tag, Mamachen. Ich glaube, ich habe Sie vor lauter Aufregung noch gar nicht ordentlich begrüßt. Sie sehen in der That famos aus, ganz anders als neulich. Wenn Ihr Gesicht Hannichens Barometer ist, dann steht es wohl auf Schön Wetter. Wie mich das freut, wie mich das freut! Ich hatte mir – na also –“

„Na also“ – fiel Hanna schnell ein, im Niedersitzen sich ihren Sessel näher rückend, indem sie mit der Gebärde einer Mutter, die dem Kinde etwas recht Schönes erzählen will, die Hände im Schoß übereinander legte. „Also es ist wirklich ein guter Mann, mein Thomas. Mit seiner Hilfe werd’ ich mein Mutterchen wieder gesund kriegen. Denken Sie, die Aerzte haben mir die Versicherung gegeben, daß es sich nur um nervöse Störungen handelt, die bei ruhigem, bequemem, sorgelosem Leben ganz von selbst schwinden werden. Ordentliche Pflege braucht sie, gute, ärztlich geregelte Ernährung, viel Aufenthalt im Freien zum Herbst, wenn sie erst zur Reisefähigkeit herangepäppelt ist, vielleicht ein Aufenthalt irgendwo da unten, im Süden. Gott im Himmel“ – mit einem zitternden Auflachen, in dem Thränen [583] mitklangen – „am Ende lernt sie auch noch wieder gehen! Mein Einziges! Und da soll ich nicht froh sein. Nicht dankbar? Das alles ermöglicht er mir! Aus lauter Liebe! unglaublich, aber wahr! Er erzählt mir alle Tage auf’s neue diese wunderbare Geschichte von der Liebe auf den ersten Blick. Solche Dinge kommen doch eigentlich nur in den dummen Romanen vor. Aber es ist gewiß nicht nur diese thörichte Vernarrtheit. Er ist wirklich ein guter Mensch.

„Dafür leg’ ich meine beiden Hände ins Feuer,“ warf Frau Wasenius ein.

„Mein Mutterchen hat er ganz und gar gewonnen,“ sagte Hanna lächelnd. „Die schwört auf ihn. Muß ich da nicht auch? Ich sehe ja auch jeden Tag mehr ein, daß ich alle Ursache habe, glücklich zu sein.“

„Gott, mir fällt ein Centnerstein vom Herzen,“ rief Günther seelenfroh. „Sie dürfen mir’s nicht übelnehmen, Hannichen, daß ich so verblüfft in die Stube kam. Ihre Nachricht war so lakonisch, so ernsthaft: ,Lieber Günther, ich habe mich mit Herrn Thomas verlobt.' Punktum. Darüber konnt’ ich mich doch unmöglich gleich freuen. Aber nun bitt’ ich mir auch verschiedene Einzelheiten aus. Ad eins: Wann ist die Hochzeit?“

„Am dritten Juli.“

„So bald schon?“

„Das sollte Ludwig hören,“ sagte Frau Wasenius heiter. „Wenn es nach ihm ginge, dürften wir nicht einmal bis Pfingsten warten. Ich will aber Freund Rettenbacher erst sicher in seiner neuen Behausung wissen. Er zieht am ersten Juli in den zweiten Stock hinunter. Es trifft sich prächtig, daß die Leute gerade ein leeres Zimmer vermieten wollen. Nun nimmt er seine ganze Einrichtung von hier oben mit. Da nun Bertha mit uns geht, bliebe er bis dahin hier mutterseelenallein. Das will ich unter keinen Umständen. Natürlich ist er ohne Ahnung, daß um seinetwillen gewartet wird, darf es auch nicht wissen, sonst ginge er in seinem Stolz und seiner peinlichen Rücksichtnahme sofort bei Nacht und Nebel seiner Wege.

Günther öffnete schon den Mund. Zur rechten Zeit aber fiel ihm seine ungeschickte Frage von vorhin wieder ein und so schwieg er wohlweislich.

„Das war ad eins,“ sagte Hanna. „Was wollen Sie noch wissen?“

„Ja. Bei dieser aberwitzigen Fixigkeit – jetzt haben wir erstes Drittel Juni – wie wollen Sie da mit Aussteuer und all dem Kram fertig werden?“

„Gar nicht,“ antwortete Hanna errötend. „Das ist ein Punkt, über den wir nicht sofort einig waren. Ich habe nichts, lieber Günther, das heißt, ich bin ein ganz bettelarmes Mädel, kann mir keine Aussteuer kaufen. Thomas – Ludwig – nimmt mich, wie ich bin. Muß mich so nehmen. Er wollte mir die Ausstattung schenken, will sagen, ich sollte sie mir auf seine Kosten bestellen. Aber das wollte ich nicht. Das wäre mir wie eine Unwahrheit erschienen. Mit den paar Dingen, die ich habe, muß er mich heiraten. Erst von dem Augenblick an, wo ich seine Ehefrau bin, nehme ich solcherlei Geschenke von ihm an. Meiner Mutter darf er bringen, was ihn freut! Mir nichts als den Ring da zur Verlobung – sie zeigte ihn, mit seinen schimmernden Diamanten – und viele Blumen, und Naschwerk meinetwegen – was ja freilich ein ganz neues, komisches Vergnügen für mich ist.

Günther betrachtete sie zärtlich.

„Hat Rasse, unser Hannichen, hat Kern, gefällt mir. Ja sieht denn der Herr Thomas das ein?“

„Er muß wohl. Anders thu’ ich’s nicht. Er sagt, nachher würde er sich für die Entbehrung schadlos halten; das sollte ich sehen. Und mit einem verlegenen Lächeln fügte sie hinzu: „Ich werde nämlich eine gräßlich reiche Frau, Güntherchen.“

„Famos,“ rief er, „so muß es kommen. Ihnen gönn’ ich’s! Donnerwetter! Gehen Sie denn auch nachher noch mit so einem armen, ruppigen Musikanten um?“

„Schwerlich. Besonders, wenn er dumme Fragen stellt.“

„Gut, fein, Hannichen! Ich bin ja so vergnügt! Also schwer reich. Schönes Haus, was?“

„Herrlich. Sie sollten nur Mutters Zimmer sehen. Ich bin ihm wirklich sehr dankbar dafür, wie hübsch er das alles für sie herrichtet! Ein schönes, großes Haus, ja. Eigentlich viel zu groß. Ich weiß auch noch gar nicht, wie ich mich mit den vielen Dienstboten zurechtfinden werde. Für so ein paar Leute. Eigentlich ein Unsinn.“

„Na, Sie werden’s schon machen. Ich glaube, dergleichen lernt sich leicht.“

„Sagen Sie das nicht! Zum Reichsein gehört auch Talent.“

„Das ist richtig. Manchem steht’s seiner Lebtage scheußlich. Mancher ist dazu geboren. Aber Sie, Hannichen wissen Sie, so gut wie Sie gelernt haben, als Kirchenmäuschen herumzuknuppern – ich hab’ Sie stets bewundert, wie haben Sie’s nur manchmal gemacht?“

„Reden wir davon doch jetzt nicht,“ wehrte Hanna, wehmütig lächelnd.

„Na ja, was ich sagen wollte. Mit der Knusperei! richtig. Ebensogut, glaube ich, werden Sie’s anders herum fertig bringen.“

„Sie meinen mit Grazie ausgeben?“

„Hm, meine ich.“

„Wenn ich aber nun hart werde?“

„Keine Gefahr. Bei Ihnen darf man’s drauf ankommen lassen, ohne Probe. Ja, und dann – ad drei. Um doch mit meinem Fragezettel fortzufahren. Ist über die Trauung schon alles beschlossen? In der Kirche doch hoffentlich?“

„Gewiß,“ antwortete Hanna rasch, mit einem plötzlichen Erröten. „Ganz gewiß.“

„Das ist famos. Wir singen, ja?“ Das Mädchen nickte nur heftig, die Lippen fest geschlossen. Erst nach einer kleinen Pause sagte sie gepreßt: „Darf ich mir eins aussuchen?“

„Aber selbstredend. Was möchten Sie denn? Zum Eingang?“

„Das Engelterzett aus dem ,Elias', ja?“

„Gut, soll geschehen! Und dann? Zum Schluß? „Das bestimmen Sie. Es wird alles recht sein. Nur um das eine hätt’ ich gebeten!“

„Abgemacht! Gott, wie wird mir zu Mute sein, da oben auf meinem Schemel, zum erstenmal ohne meine liebe kleine Singdrossel! Und die sitzt da unten in der Kirche und hört zu. Schneeweiße Braut. Wird das rauschen mit der langen Seidenschleppe!“

„Freuen Sie sich darauf nicht,“ unterbrach Hanna, ihre beklommene Stimmung durch ein rasches Lächeln aufheiternd. „Es wird nicht rauschen, denn es wird keine Seide sein, nur Mull. Es giebt so weichen, indischen. Von dem Erlös meiner letzten Arbeiten kaufe ich mir das Kleid.

Günther nickte erst ihr, dann der Mutter zu, die in stiller Behaglichkeit dem Gespräch folgte, ohne sich zu beteiligen.

„Gefällt mir wieder riesig,“ sagte Günther dann, „daß Sie das so machen. Stimmt alles zusammen. Na, ich renne weg. Sie werden zu thun haben. Müssen Sie nicht noch viele Besuche machen? Ist die Familie sehr groß?

„Gar nicht. Er hat nur eine Schwester, und die ist in Breslau verheiratet. Seine Eltern leben schon lange nicht mehr. Von ihnen hat er das große Haus geerbt. Nein, Besuche machen wir jetzt überhaupt nicht. Das kommt alles erst nach der Vermählung. Ich kann doch Mutter nicht so viel allein lassen. Dazu ist sie noch lange nicht wohl genug. Ludwig sieht das auch ein, ich bin ihm sehr dankbar für diese Rücksichtnahme. Draußen ging die Thürglocke. „Hui, ich drücke mich, der Bräutigam kommt!“

„O nein, der kann es noch gar nicht sein.“ Sie sah nach der Uhr. „Es ist Rettenbacher, sagte sie dann aufstehend. „Ich will Bertha sagen, daß sie ihm seinen Kaffee bringt.“

„Wieso? Trinkt er denn nicht mehr mit Ihnen zusammen?“

„Seit kurzem nicht mehr,“ antwortete Hanna mit etwas gepreßter Stimme. „Seine Privatstunden häufen sich, er hat keine übrige Zeit mehr, nur hier herumzusitzen; trinkt so nebenher. Gleich wird der kleine Leonhardt zur Lateinstunde kommen. Sein Liebling.

Sie hatte hastig gesprochen und mit abgewandtem Gesicht. An der Thür stehen bleibend, hatte sie gewartet, bis sich Rettenbachers Schritte in seinem Zimmer verloren hatten. Dann erst ging sie hinaus.

[584] Günther drehte sich jetzt geschwind zu Frau Wasenius herum, und mit dem Daumen über die Schulter nach Arnolds Stube weisend, sagte er mit besorgter Miene: „Hm? Und der?“

„Also Sie haben es auch gesehen?“ gab sie traurig zurück.

„Aber Mamachen! Und ich in meinem dummen Verstand hatte noch gedacht –“

„Aber, lieber Günther, dazu hätten sie dann doch beide einverstanden gewesen sein müssen.“

„Na eben,“ stieß er heraus. „Und daß ich mich in diese Idee so verrannt hatte, das hat mich ja so erschreckt bei der ersten Nachricht. Der arme Kerl dauert mich schmählich. Wie nimmt er’s denn?“

„Musterhaft. Ich habe den größten Respekt vor seiner Haltung. Als anständiger Mensch darf er ja auch bei Hanna nicht die leiseste Ahnung aufkommen lassen. Es würde sie ja schrecklich betrüben und um die Harmlosigkeit des Verkehrs wäre es geschehen. Still! Sie kommt. Bewundern Sie doch diese schöne seidene Decke, die mein Schwiegersohn mir geschenkt hat. Günther that, wie ihm befohlen war. „Leonhardt?“ sagte er dann. „Quarta? Den hab’ ich ja auch in meiner Gesangsklasse. Ein Goldkern und musikalisch! Wenn Rettenbacher so zufrieden mit ihm ist wie ich, kann er lachen. Da klingelt es. Es ist gewiß der Bub'. Ich kann mir denken, daß Rettenbacher Freude an ihm hat. Das ist so ein Feld für seine Gaben. Wirklich ein köstlicher Schlingel! Und dabei keine Spur von Musterknabenhaftigkeit. Er tobt in den Pausen, haut sich herum, zerreißt seine Sachen wie jeder Taugenichts. Neulich sah ich ihn davonrennen mit einem Dreiangel über den ganzen Hosenboden. Solche Kerle mit Feuer und Blut im Leibe müßte man mehr haben, dann fleckte es besser! Uebrigens hat Rettenbacher das Zeug dazu, alles, was drin ist in der Bande, herauszuholen. Den kennt man erst ganz, wenn man ihn hat unterrichten sehen. Ich hab’ neulich bei ihm hospitiert. Ein Vergnügen, sag’ ich Ihnen! So hören Sie ihn hier zu Hause nie reden. Mit so viel Klang in der Stimme, so energisch und so warm. Und so scharf, ich meine, so gescheit. Der muß Leben in die dümmste Klasse bringen. Der Direktor weiß aber auch, was er an ihm hat.“

„Wie mich das freut,“ sagte Frau Wasenius. „Wenn nur auch allgemach die drückende Last der Familiensorgen für daheim von ihm weichen möchte. Aber bis die acht Geschwister alle richtig herangewachsen sind – du lieber Gott!“

Schon wieder ging draußen die Glocke. Günther sprang auf.

„Aber jetzt wird’s Ernst.“

„Es wird sogar Ludwig,“ verbesserte die Mutter lächelnd. Seit sie angefangen hatte, froh in die Zukunft zu schauen, that auch ihr sanfter Humor die Augen wieder auf. „Nun können Sie gleich Ihren Knix machen, Güntherchen.“

[597]
12.

Keine Sorgen mehr! Keine Furcht mehr vor dem schrecklichen Quartalsersten. Kein angstvolles Rechnen mehr mit Kassensturz am Abend, mit immer neuem Verteilen der noch übrigen Summe auf die noch übrigen Tage. Kein Arbeiten mehr um Lohn mit heißen Augen, mit schmerzendem Kopf. Kein banges Ueberlegen mehr: dürfen wir das auch diesen Monat noch ausgeben? Oder: dafür muß dann aber das und das unterbleiben.

O, verhaßtes Geld! Verhaßter Tyrann!

Hanna Wasenius wäre kein Mensch von Fleisch und Blut gewesen, wenn das Gefühl der Befreiung von dieser Last ihr nicht allgemach die beengte Brust zu tiefen, lauten Atemzügen gehoben hätte. Keine Geldnot mehr! Das läßliche Bewußtsein der Erlösung von allen Sorgen begann sich als flimmerndes Gerank um den jungen Stamm ihrer Opferfreudigkeit zu schlingen. Es war nicht mehr ganz allein; die gesunde Feuerwärme ehrlichen Wollens, ehrlichen Ueberwindens, die ihr die blaß gewordenen Wangen färbte.

Ein Hauch von dem berauschenden Blütenduft aus dem Garten der Ueppigkeit war herübergeweht. Mit Verwunderung, mit leiser Beschämung gestand sie sich ein, daß sie anfange, sich auf den Reichtum, der ihrer wartete, zu freuen. Ein noch fremdes Gefühl, das sie sehr verwirrte. Wie geschah ihr denn nur? Die oberste, stärkste und einzig entscheidende Triebkraft zu ihrem Entschluß war doch die Liebe zur Mutter gewesen. Sie war auch das stärkste Gefühl geblieben nachher – aber nicht das einzige. Hanna erschrak vor diesem Selbstbekenntnis. Wie ertappt bei einem Unrecht stand sie da. Sie war bis jetzt immer ehrlich gegen sich selbst gewesen; sie bemühte sich, es auch zu dieser Frist zu bleiben. Wo war denn also der Wert ihres Opfers, wenn sie es sich mit klingender Münze bezahlen ließ? War es alsdann überhaupt noch eines? Wurde es nicht ein einfaches Tauschgeschäft? War es das nicht am Ende von Anfang an gewesen? – – Mit selbstquälerischer Grübelei spürte sie Schritt für Schritt ihrem Empfindungsleben der letzten [598] Wochen nach. – Nach dem lähmenden, kalten Schrecken der ersten unwillkürlichen Abwehr, die keine Gründe gab, auf keine Gründe hörte, war das Leidensgesicht der kranken Mutter als stummer Ueberwinder aufgetaucht und neben ihr stehen geblieben. Der Herzensaufschrei: ich kann nicht! war bald genug zum bittern Weinen der Ergebung geworden. Im Kampfe mit der starken und reinen Kraft der Kindesliebe zerknickte das arme Schattenpflänzchen ihrer verschwiegenen Sehnsucht nach dem Manne, der nun schon über Jahr und Tag so starr und aufrecht neben ihr dahergegangen war, der von all ihrer Not und Pein nichts wußte, auch niemals davon hätte erfahren dürfen. Mit dem Stolz als Wanderstab, mit dem Lächeln der wieder lebenatmenden Mutter als Wegzehrung war ihr von da an die Wanderung ins neue Leben hinein nicht mehr allzu schwer geworden. Von dem Dornenzweig, der sich ihr ans Gewand geheftet hatte, den sie mitschleppte, wußte niemand etwas. Nein, sie hatte wirklich Leid auf sich genommen, dem kein Reichtum Balsam brachte. Und endlich – wo stand sie denn heute noch? Doch wohl auf der Schwelle erst dieses neuen Lebens. Mit ihrem auch noch so tapferen „Ich will!“ und „Ich werde!“ war ja noch nichts gethan. Ob sie sich treu bleiben würde, ob sie standhalten würde – wie konnte sie das heute schon wissen? Sie hoffte es zwar.

Sie hoffte es mit fester Zuversicht. Wie klein wäre ihr Herz gewesen, wenn sie nicht mit tiefer Dankbarkeit zu dem Manne aufgesehen hätte, der gegen ihre Mutter so gut war. Sie nannte ihn sich beständig den Retter, den Helfer, den Gütigen, da sie ihn den Liebsten nicht nennen konnte. Aber der Anblick der sichtbarlich auflebenden Mutter goß ihr täglich neue Freudigkeit in die Seele. So schufen Rührung und Dankbarkeit zusammen ein Gefühl der Sympathie, das sie stark genug wähnte, um damit auf die lange Reise gehen zu können. Den gebieterischen Wink der Natur, der sie am Anfang unbedenklich Nein sagen hieß, hatte sie vergessen, wollte sie vielmehr vergessen haben. Ludwig erinnerte sie nicht daran, obwohl ihm das Wort manchmal auf der Lippe schwebte, wenn sie sich mit ängstlich bittendem Blick aus seinen Armen befreite. Er vertröstete sich im stillen auf später, auf den natürlichen Lauf der Dinge und nannte sie nur lachend sein scheues Vögelchen, das erst noch gezähmt werden müsse. Mit heißer Ungeduld sehnte er den Tag ihrer Vereinigung heran. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte man sich nach Erledigung der nötigen Förmlichkeiten in denkbar kürzester Frist auf dem Standesamt zusammengeben lassen. Von einer kirchlichen Trauung wollte er zuerst überhaupt nichts hören. Er hatte aber nachgeben müssen, hatte auch nach einem Blick auf Hannas betrübtes, fast erschrockenes Gesicht gern wieder eingelenkt. Die Gelegenheit, ihr doch einmal einen persönlichen Wunsch erfüllen zu können, war ihm dann ganz recht.

„Also gut, gehen wir in die Kirche,“ hatte er gesagt, „aber empfiehl deinem geehrten Herrn Pastor, daß er sich nach Kräften mit seinem Sermon beeilt.“

Erdmann, den Hanna in seiner stillen Klause aufsuchte, um ihm von der Wendung in ihrem Schicksal zu erzählen, versprach, sich kurz zu fassen.

„Ich hätte ohnehin nicht viel Worte gemacht,“ sagte er mit einem feinen und weichen Lächeln. „Je tiefer einem das Gemüt bewegt ist, desto weniger spricht man. Fräulein Lieschen Müller und Herrn Ferdinand Schönecker, die ich morgen traue und die mich gar nichts angehen, werde ich eine schwungvolle Rede halten. Meiner lieben Hanna gegenüber – – Herr Thomas wird zufrieden sein. Hat er denn Freude an der Musik? Der Chor wird doch singen?“

„Ja, er wird singen.“

Auf die andere Frage antwortete sie nicht. Nein, er hatte keine Freude an der Musik. Leider!

„Laß sein, laß sein,“ hatte er gleich am Anfang gesagt. „Komm von dem Klavier weg, thu mir den einzigen Gefallen. Worte ohne Lieder, wenn ich bitten darf.“

„Ist das ein Programm?“ hatte das Mädchen mit einem verwirrten Lächeln gefragt.

„Sieh’ doch nicht gleich so niedergedonnert aus,“ war die Antwort gewesen. „Es müssen doch nicht alle Leute in Tönen schwelgen. Man kann auch so glücklich sein, glaube mir. Komm’ auf meinen Schoß. Was Gescheiteres kannst du im Augenblick nicht thun. Ei Gott, ei Gott, macht sie jetzt nicht ein Gesicht, Mama, wie ein Kätzchen beim Gewitter?“

Frau Wasenius hatte ihrer Tochter lächelnd und beruhigend zugewinkt.

„Ein bißchen Musik zuweilen mußt du ihr schon gönnen, Ludwig. Der eine braucht sie, der andere nicht. Dir vorzusingen, wird sie bleiben lassen, aber ganz stumm muß man so eine Drossel nicht machen wollen, sonst wird sie traurig.“

„Herrje, will ich ja auch gar nicht. Aber alles zu seiner Zeit und an seinem Platze. Ich bin jedenfalls ein vollständig unwürdiges Publikum, und ob du mir einen Choral oder ein Liebeslied vorträgst, verschlägt mir keinen Pfifferling. Ich unterscheide es höchstens am Text – wenn ich zuhöre.“

Also, das war abgemacht.

Im Hause wurde nicht mehr musiziert, in seiner Gegenwart wenigstens nicht.

Auch von der „ollen Singerei“ in der Kirche war nur flüchtig die Rede noch. Ungern genug zwar beurlaubte Thomas seine Braut zu den Uebungen am Mittwoch und zu den Abendgottesdiensten. Hanna war aber fest geblieben und hatte keine Probe versäumt.

Sie gab sich nicht Rechenschaft von dem beruhigenden Gefühl des Geborgenseins, mit dem sie, sicher vor seiner Gegenwart, in den Konfirmandensaal des Predigerhauses trat, in dem die Uebungen stattfanden, oder die Treppe der Orgelempore hinaufstieg.

In dem kühlen, feierlichen Kirchenraum mit seinen ernsten Wölbungen, seinem milden, durch die hohen, gemalten Fenster weichgetönten Helldunkel atmete sie jedesmal tiefer auf, als sie selbst wußte. Und willenloser, als sie selbst wußte, wies in diesen Stunden auf den breiten, mächtigen Wellen des Orgelklanges ihre arme Seele Seite an Seite mit der anderen, die so still ihres Weges zog, daß man kaum gewahr wurde, sie lebe noch.

Heute saß Hanna in tiefer Beklommenheit an ihrem gewohnten Platz.

Es war ihre letzte Motette vor der Hochzeit. Am nächsten Mittwoch stand sie dort unten am Altar.

Das Herz schlug ihr hart und schwer, wie vor dem Abschiednehmen. Ihre Stimme zitterte und verlor den Halt, mehr als einmal verdunkelten Thränen ihren Blick. Sie erlitt heute die Musik, anstatt sie zu erleben wie sonst. Sie gab ihr keinen Trost, that ihr nur wehe. Ein innerliches Frösteln, wie es auch der Eilige empfindet, und das von Minute zu Minute stärker wurde, nahm ihr die Ruhe. Ihre Gedanken, schon rastlos, wanderten hin und her, gingen voraus, kamen wieder, erinnerten sich, überlegten und kehrten endlich, wie in einen Nothafen, zu dem einen Punkt zurück, von dem sie in all ihren mannigfachen Verzweigungen ausgestrahlt waren, zur Mutter. Am Hochzeitstag sollte die Mutter zum erstenmal das Haus verlassen und nicht mehr dahin zurückkehren. Von der Kirche aus gleich nach der Tiergartenstraße, so war es abgemacht worden. Der Herr Sanitätsrat hatte einen Krankenwärter bestellt, „den stärksten und geschicktesten“, wie er dem ängstlichen Mädchen versicherte, der sollte das Mutterchen die Treppe hinunter und in die Kutsche tragen, von der wieder in die Kirche und auf einen bequemen Sessel und so weiter bis zur endlichen Landung im neuen Heim. Der Kranken zuliebe war von jeder Festlichkeit zunächst Abstand genommen worden. Die Uebersiedlung brachte Aufregung genug. Ein kleines feines „Souper“ mit der Familie von Ludwigs Schwester, die erwartet wurde, und damit fertig. Der Tribut an den Freundes- und Bekanntenkreis sollte erst einige Wochen später gezahlt werden. Hannas Dank für all diese Rücksichtsnahme hatte er lachend hingenommen. Ihm selber stehe ja der Sinn augenblicklich nicht nach „Gesellschaftstrara“, er denke an nichts andres als daran, seinen Schatz endlich in seine Höhle zu tragen. Zur herzlichen Erleichterung des Mädchens waren sie beide über die Frage einer Hochzeitsreise vollkommen einig; es war keine Rede davon.

Fast erschrocken fuhr Hanna zusammen, als Pastor Erdmann Amen sagte.

Es klang ihr lauter als sonst ins Ohr, fast wie ein Ruf. Amen! Nicht so sei es! Sondern nun ist es aus!

[599] Langsam erhob sie sich von ihrem Platz. Zum letztenmal sammelte sie die Stimmen ein. Zum letztenmal. Warum nicht gar! Wie nervös sie geworden war. Sie kam ja wieder. Sie ging ja nicht weg. Nur von einem Haus ins andere. Nach den Ferien, die jetzt begannen und die so lange dauerten wie die der Schulen, kam sie wieder. Natürlich. Mit dem Versuch, sich selbst aus ihrer schwermütigen Stimmung aufzurütteln, sagte sie sich, wie man einem betrübten Kind etwas verspricht, damit es wieder lacht; dann kann man auch gefahren kommen, wenn man zu faul zum Laufen ist.

Sie ging dann mit Günther und Rettenbacher ins Pfarrhaus hinüber, um die Noten im Schrank zu verwahren, wie sie immer gethan hatten, wenn sie sie nicht zu irgend einem Zweck mit nach Hause nahmen. Arnold schloß sich von dieser gewohnten Hantierung auch jetzt nicht aus. Er trug seine Hälfte Noten und den „dicken Schöberlein“, aus dem Günther den Palestrina dirigiert hatte. Es wäre aussagend gewesen, wenn er sich auch hiervon zurückgezogen hätte, seit kurzem mußte er sowieso am Samstagabend immer in eine Lehrerversammlung und kam dann erst spät nach dem Abendessen heim.

Sie fanden dumpfe, schlechte Luft in dem Saal, auf dessen Fenster die Sonne geschienen hatte, es war Unterricht gewesen und noch der ganze Menschendunst eingefangen beisammen. Nachdem sie geschwind alles aufgemacht hatten, räumten sie ihre Noten weg. Sie waren noch am Stimmenordnen, da wurde die Thür aufgerissen und Thomas erschien.

„Donnerwetter,“ sagte er statt aller Begrüßung, „'ne nette Sommerluft ist das ja hier drinnen. Danke ergebenst.“

„Wo kommst denn du her?“ fragte Hanna, ganz verwirrt auf ihn zugehend. „Guten Abend übrigens.“

„Ich wollte dich abholen,“ antwortete er, erst jetzt den Hut abnehmend und die beiden Herren flüchtig begrüßend. „Habe aber den Anschluß versäumt. Die Geschichte war schon aus und der Fritze da drüben, der Kirchendiener, wies mich hierher.“

„Das war ja ein freundlicher Gedanke von dir,“ sagte Hanna, immer noch sehr befangen.

„Was machst du denn nun aber noch in diesem stickigen Lokale“, fuhr er fort. Ein unruhiger, nicht besonders liebenswürdiger Blick streifte dabei Günther und Rettenbacher.

„O, wir ordnen nur, wie gewöhnlich, unsere Noten“, erklärte der Musiker. „Aber Fräulein Hanna steht natürlich ganz zu Ihrer Verfügung.“

„So, sehen Sie ’mal. Nett von Ihnen,“ sagte Thomas, kurz auflachend. „Alles mögliche, daß Sie weiter keine Ansprüche machen, kann ich ja kaum annehmen.“ Hanna griff schnell nach Handschuhen und Schirm. Beklommen und unruhig sah sie ihren Verlobten an. Worüber war er denn so ganz ersichtlich gereizt? Und warum kam er hierher, was er noch keinmal gethan hatte. „Wollen wir gehen?“ sagte sie. Er nickte, öffnete die Thür und ließ sie voraus. „'n Abend,“ murmelte er über die Achsel zurück, ohne die beiden, die ihm erstaunt nachblickten, recht anzusehen.

„Was fehlt dir?“ fragte Hanna, als sie draußen waren. Er blieb auf der kleinen Treppe stehen und betrachtete sie mit unstet funkelnden Augen. Dann, ganz unvermittelt, begann er zu lachen, ergriff sie an beiden Händen und zog sie zu sich.

„Wie reizend siehst du aus, wenn du erschrocken bist!“ Sie machte sich aber los. „Was dir fehlt, sollst du mir sagen,“ wiederholte sie kühl.

„Nichts fehlt mir – wenigstens in diesem Augenblick erhol’ ich mich. Aber ich war allerdings etwas unwohl, vor Ungeduld und – na, und vor Sehnsucht. Du bliebst mir zu lange. Ich habe nämlich da in der Kirche gesessen und euer Dideldum angehört. Habe dich stehen sehen und aus der Ferne mit den Augen verschlungen, habe diesen – Günther beneidet, der dir so nahe war, und den du so andächtig angucktest. Wollte dich abfangen, überraschen. Aber natürlich wußt’ ich nicht Bescheid in dem edlen Gebäude und starrte mir die Augen aus dem Kopf nach dir. Endlich kriegt’ ich den Kirchendiener am Flügel, rabiat, wie ich schon war. Ja Kuchen! Die Sänger sind hinten raus. Weg. Bald hätt’ ich geflucht. Aber als ich nach dir fragte, da meinte der Onkel, du würdest wohl noch hier drüben sein. Mit Herrn Günther. So stürz’ ich denn her. Fuchs-teufelswild. Finde dich auch, aber wenigstens nicht allein mit dem verdrehten Musikanten. Mädel – er zog sie heftig an sich – siehst du denn nicht, hörst du denn nicht, merkst du denn nicht – Donner und Doria – daß ich eifersüchtig bin auf jeden Menschen, den du nur ansiehst!“

„Eifersüchtig?“ fragte Hanna sehr erschrocken. „Rasend eifersüchtig,“ murmelte er, sie leidenschaftlich küssend. „Bedenk’ das, vergiß das nie! Milch hab’ ich nicht in den Adern!“

13.

Frau Wasenius war die erste in der Kirche. Der ihr zugesagte Wärter war in seiner ganzen Riesengröße schon zeitig in der Linkstraße erschienen, um ihr, bei aller Gemütsruhe des Transportes, nachher noch die Möglichkeit der Erholung vor Beginn der Feier zu schaffen. Er hatte sie sorglich in Pastor Erdmanns bequemstem Sessel untergebracht, rückte nun das breite, weiche Fußkissen, das der Pfarrer gleichfalls herübergeschickt hatte, zurecht und breitete die Decke über die Kniee der Kranken.

„Sitzen Sie so gut, gnädige Frau?“

„Herrlich. Ich danke Ihnen. Wie schön Sie das alles machen. So sanft und sicher. Ganz vergeblich hab’ ich mich vor dieser Expedition gefürchtet.“

„Na, gnädige Frau sind ja auch man ein Häschen, da ist nich viel Kunst bei nötig. Wir im Krankenhaus sind das anders gewöhnt. Da kommt verschiedenes Kaliber vor.“ Er trat jetzt zurück und setzte sich in ihrer Nähe auf die vorderste Bank.

Ein Weilchen blieb Frau Wasenius nun noch still, mit angelehntem Kopf, mit geschlossnen Augen sitzen. Die lautlose Ruhe, die Kühle des weiten Raumes thaten ihr wohl, besänftigten die schweren, schmerzenden Schläge des kranken Herzens.

Dann aber begann sacht um sie her das Geräusch von Schritten auf den Steinfliesen, das Rascheln und Huscheln von Kleidern, das Murmeln von Stimmen. Hinter ihr, in den Bänken, schoben sich die Leute hin und her, das gewöhnliche Publikum, das den Trauungen beizuwohnen pflegt. Für die sehr kleine Hochzeitsgesellschaft standen nur einige Stühle neben ihrem großen Sessel vor dem Altar. Oben auf den Emporen wurde es nun auch lebendig, dort hallten die Schritte lauter. Eine ganze Gruppe mußte sich jetzt gleichzeitig eingefunden haben: die Sänger, die Aufstellung neben der Orgel nahmen. Dann wurde es wieder für ein Weilchen still.

Frau Wasenius hatte die Augen nicht geöffnet. Erst als Wagenrollen näher kam, erhob sie den Kopf und sah sich um.

Vereinzelte neugierige Gesichter, die sich weiter vorgedrängt hatten, starrten sie an. Von den andern hinter ihr in den Bänken wurde sie nichts gewahr. Die Stühle neben ihr waren noch leer. Der Kirchendiener trat aber jetzt heran und rückte sie noch einmal zurecht, empfing dann mit ergebenstem Bückling die majestätische Erscheinung der Frau Bankdirektor Eggebrecht, geborene Thomas, die am Arm ihres ebensogroßen, aber nur halb so breiten Gatten dahergerauscht kam, begleitet von zwei sehr jugendlichen Töchtern und einem erst halbausgebackenen, schlenkrigen Gymnasiasten.

Die kleine gelähmte Frau, die als Brautmutter so wenig Imponierendes an sich hatte, wurde mit der gebührenden Höflichkeit, aber kalt begrüßt. Um so liebenswürdiger bemühte sich der alte Sanitätsrat, der als langjähriger Freund der Familie Verwandtenrechte genoß, Frau Wasenius seine Freude über ihre Anwesenheit auszudrücken.

Nach kürzester Frist hatte man sich auf den verschiedenen Plätzen geordnet.

Nun setzte die Orgel ein. Frau Wasenius fuhr zusammen und begann nervös zu zittern.

Hanna und Ludwig kamen den Mittelgang herauf, von den brausenden, tiefen Tönen begrüßt und geleitet.

Zu den bunten Kirchenfenstern schien die Sonne herein und umwob mit einer vielfarbigen Strahlenglorie das blumengeschmückte dunkelblonde Haar der Braut. In dem weißen, [602] weichen, schleierumflossenen Gewand sah das Mädchen mit seinem schneeblassen, stillen Gesicht, in dem die grauen Augen leuchteten, an der Seite dieses kräftig blühenden Mannes, dem es bis an die breite Schulter reichte, wie ein weltfremdes, aus irgend einem Zauberland geholtes Märchenwesen aus.

Langsam waren sie bis zu den Stufen vor dem Altar vorgeschritten.

Bei der Mutter angekommen, blieb Hanna stehen und ließ ihre Hand von Ludwigs Arm herabgleiten. Den weißen Rosen- und Myrtenstrauß der Mutter in den Schoß legend, beugte sie sich nieder und küßte sie auf den Mund. Diesem ganz unherkömmlichen Gebaren sah die Frau Schwägerin mit gerunzelter Stirn, die junge Verwandtschaft mit nur schlecht verbissenem Lächeln zu.

Aber die Unterbrechung hatte kaum eine Minute gedauert, und nun führte Ludwig schon, etwas rot im Gesicht, seine Braut an ihren Platz.

Zum Wundern blieb keine Zeit. Denn droben begannen in diesem Augenblick schon die Engelstimmen ihren zarten Gesang.

„Hebe deine Augen auf zu den Bergen, von welchen dir Hilfe kommt. Deine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und der dich behütet, schläft nicht.

Hanna saß tiefatmend da, den traumverlorenen Blick geradeaus gerichtet. Der Schauer der Andacht, mit dem die unbeschreibliche Poesie der Kirchenmusik sie stets umwehte, senkte sich wieder auf sie herab und umspann sie ganz.

„Hebe deine Augen auf zu den Bergen von welchen dir Hilfe kommt!“

In die tiefe Stille hinein, die dem Verklingen des Engelgesanges folgte, tönte nun weich und mild, vor Bewegung zitternd, Pastor Erdmanns Stimme:

„Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“

Er hielt sein Wort. Seine Rede war nur kurz. Sie enthielt keine herkömmlichen Floskeln, hatte eigentlich gar keinen rednerischen Schwung, war nichts als ein herzwarmer Geleitruf des väterlichen Freundes an das Kind, das die Schwingen lüftete zur Reise in das fremde Land, war eine schlichte Mahnung an die Erkenntnis der hohen Aufgabe für den Mann, der von heute ab dieses Kindes Führer sein wollte.

Die Hände des Pfarrers zitterten, als er sie nach dem gewohnten Spruch: „Rein, wie dieses Gold, und ohne Ende, wie dieser Ring, sei eure Liebe“ über den Vereinigten ausbreitete, um sie zu segnen.

„Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir,“ klang es wieder von droben, diesmal aber mit allen Stimmen, sogar im Doppelquartett. Man hätte dem kleinen bescheidenen Sängerchor diese jubelnde Tonfülle kaum zugetraut.

„Daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen, daß sie dich auf den Händen tragen, und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“

Hanna, von Ludwig unterstützt, hatte sich von ihren Knieen erhoben. Die Thränen liefen ihr übers Gesicht. Ohne jemand anzusehen wandte sie sich um, trat die Altarstufen hinab und kniete vor ihrer Mutter nieder, die, von heftigem, fast krampfhaftem Weinen geschüttelt, nur wortlos die Arme um ihr Kind schlang.

„Mutter, weine nicht,“ murmelte Hanna, am ganzen Körper zitternd, dicht an sie geschmiegt. „Weine nicht. Alles ist ja gut. Ich bin ja froh. Weine nicht, du machst dich krank.

Man ließ auf einen Wink des Sanitätsrates die beiden, die alles um sich her vergessen zu haben schienen, einstweilen gewähren. Der gelähmten Frau wegen mußte man ja auf die gebräuchliche Form, sich nach vollzogener Trauung in die Sakristei zurückzuziehen, verzichten.

Ludwig Thomas stand mit einem Gesicht, in dem Verlegenheit mit unwillkürlicher Rührung kämpfte, neben seiner jungen Frau, strich auch ein und ein andres Mal der Kranken über die Schulter und den Arm herunter.

„Daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen!“ schloß der Gesang jetzt zart und leise. Und zart und leise hob die Orgel wieder zu spielen an, wob ein Gespinst von seinen, allerfeinsten Modulationen aus dem Schlußaccord des Quartetts und spann sich dann in die Melodie der Mendelssohnschen Kavatine hinüber, die den Hochzeitsspruch gegeben hatte: Sei getreu bis in den Tod – –

Hanna, wieder gefaßt, erhob sich jetzt.

Erdmann kam auf sie zu, schloß sie in die Arme und küßte sie auf die Stirn. Mit Thomas wechselte er einen kräftigen Händedruck. Auch die Familienmitglieder näherten sich nun den Neuvermählten und die kühle offizielle Scene der stummen oder gemurmelten „Gratulationen“ löste die nervöse Spannung und leitete zu normalerer Stimmung über. Frau Wasenius war nun auch schon imstande, mit einigen freundlichen Worten auf die höflichen Redensarten der Breslauer zu erwidern.

Indessen hatten die Sänger mit anerkennenswerter Geschwindigkeit ihre Empore verlassen und kamen nun unter Anführung ihres Dirigenten den Mittelgang der Kirche herauf, um auch ihr Scherflein zur allgemeinen Beglückwünschung beizutragen.

Hanna streckte Günther, der mit nassen Augen daherkam, strahlenden Blickes beide Hände entgegen.

„Gutes, liebes Güntherchen! Wie schön, wie schön! Lauter Engelstimmen! Wie danke ich Ihnen! Und Ihnen allen, allen!

Sie winkte den Sängern und Sängerinnen zu, die sich nun allmählich heranschoben, um doch ein jedes ihrer sehr beliebten jungen Stimmführerin, zum Abschied gewissermaßen, die Hand drücken zu können. Helene Imhoff küßte die Freundin zärtlich.

„Liebe gute Hanna,“ murmelte sie mit Thränen in den Augen. Sie schlang dann – vorsichtig , um dem duftigen Schleiergewölk kein Leid anzuthun – beide Arme um sie. „Daß du mir glücklich wirst, das sag’ ich dir! So glücklich wie ich!“

Mit strahlendem Lächeln sah sie zu ihrem Manne auf, der sich unter dem „Publikum“ befunden hatte und nun glückwünschend herangetreten war.

Thomas dauerte diese Scene aber schon viel zu lange.

„Komm, komm!“ sagte er etwas ungeduldig. „Mach ein Ende, liebes Kind!“ Und zu der Gruppe der Chormitglieder: „Meine Herrschaften, genehmigen Sie in corpore meinen ergebensten Dank und gestatten Sie mir gütigst, meine kleine Frau nun endlich nach Hause zu führen.“

Hanna war leicht zusammengeschreckt.

„Gleich, bitte,“ sagte sie leise. „Nur noch – –“

Als letzter war Rettenbacher zurückgeblieben, scheinbar verdrängt von den andern, in die Bankreihen hinein. Hanna trat auf ihn zu. Die Anspannung all ihrer Nerven half ihr über ein plötzliches feiges Zittern hinweg, daß sie sehr blaß wurde, wußte sie nicht.

„Ein gutes Wort von Ihnen,“ bat sie mit matter Stimme.

Er nahm ihre dargereichte Hand, beugte sich und küßte sie. Zum erstenmal. Zum Abschied. Sprechen konnte er nicht. Er sah sie auch nicht an.

Aber Thomas war schon wieder da. Vielmehr hatte er das Mädchen nicht aus den Augen gelassen. Er schlang jetzt mit einiger Heftigkeit den Arm um Hannas Nacken und zog sie mit sich fort.

„Komm, mein Herz, wie lange soll ich noch warten! Empfehl’ mich, Herr Rettenbacher.“

Schon im Gehen, aber von ihm festgehalten, sah Hanna noch einmal zurück, sah in ein paar flammende Augen, in ein von tiefem Schmerz verzerrtes Gesicht, sah dieses so plötzlich unbeherrschte bleiche Gesicht zusammenzucken und sich schnell abwenden – – und blieb stehen, atemlos, von einem jähen, rasenden Herzklopfen überfallen.

„Was ist los? Wie siehst du aus?“ fragte Thomas erschrocken.

Sie schüttelte nur mit dem Kopf.

Argwöhnisch folgte er ihrem jammervollen Blick.

Dort ging langsam, langsam Arnold Rettenbacher zur offenen Kirchenthür hinaus.

[613]
14.

Unter dem blau und weiß gestreiften Zeltdach, das die Terrasse und auch die dahinterliegenden Zimmer beschattete, war der große runde Frühstückstisch gedeckt. Auf weißem, feingeblümtem Tischtuch zierliches rosagetöntes Meißner Porzellan, schweres Silbergerät, Gebäck verschiedner Art, Blumen in hoher Vase. Herangeschoben zwei bequeme Bambussessel mit Kissen belegt; der Platz vor dem dritten Gedeck noch frei. [614] Aus der weitgeöffneten Flügelthür, aus dem im Dämmerlicht schwimmenden, behaglich eleganten Salon schob Hanna den Stuhl mit der Mutter über die Schwelle und in die Lücke zwischen die beiden Sitze.

Ein erfrischendes Morgenlüftchen, Rosenduft auf den Flügeln, kam aus dem Garten dahergeweht, mitten durch den aufsteigenden, schimmernden Strahl des großen Springbrunnens, und hob die weichen kleinen Locken auf Hannas Stirn. Die Sonne brannte noch nicht heiß, strahlte nur golden und spielte in funkelnden Lichtern auf Bäumen, Büschen, Blumen und Gras.

„Köstlich,“ sagte Frau Wasenius nach einem tiefen Atemzug und mit einem Blick in den herrlichen Garten hinein. „Ein schöner Morgen, wie er im Buch steht.“

„Ja, und ein braves Mutterchen dazu, das gut geschlafen hat.“ Hanna beugte sich zärtlich zu ihr herab. „Das beides zusammen lob’ ich mir. Du siehst heute wirklich viel besser aus, mein Engel. Was so eine schöne, ruhige Nacht doch thut. Die Tage her war ich recht unzufrieden mit dir. Weißt du das auch?“

„Freilich weiß ich’s, brauchte ja nur dein Gesicht anzusehen,“ antwortete die Mutter lächelnd. „Aber wie anspruchsvoll du auch bist. Alles soll jetzt im Galopp gehen. In ein paar Wochen soll ich die Versäumnisse von Jahren eingeholt haben. Laß mir doch Zeit, ungeduldiges Kind. Bedenke, daß die Uebersiedlung und was damit zusammenhing, für mich etwas Aehnliches bedeutete wie ein Krankheitsprozeß, der erst verwunden werden mußte. Oder, wenn dir das zu gewaltthätig klingt, eine Anstrengung, eine Erschütterung, ganz gewiß nichts Gleichgültiges. In meiner Verfassung darf man wohl eine Weile brauchen, um sich an etwas Neues zu gewöhnen. Erst von da an ist zu erwarten, daß die Erholung einsetzt. Drei Wochen sind am Ende noch keine Ewigkeit, sollte ich meinen.“

„Nein,“ sagte Hanna leise, „eine Ewigkeit sind sie nicht. Aber viele Stunden.“ Sie stand noch neben der Mutter, wieder aufrecht, den Arm auf die Rücklehne des Rollstuhles gestützt, den Kopf etwas geneigt. „Ich bin ungeduldig. Ja, in dieser Sache bin ich’s. Wort wider Wort. Es soll mir sein Versprechen halten. Ich warte darauf, Tag um Tag, Stunde um Stunde.“

„Wer soll dir sein Versprechen halten?“ fragte Frau Wasenius verwundert. Sie lehnte den Kopf zurück, um das Gesicht der Tochter zu sehen.

Von den finster gerunzelten Brauen, von den gesenkten, leise zitternden Augenlidern ward sie aber nichts mehr gewahr, so schnell hatten sich die einen geglättet, die andern gehoben.

„Es, Es, Mutterchen.“ Hanna beugte sich lächelnd wieder tiefer zu ihr herab. „Es hat keinen Namen. Oder nur einen breiten, pathetischen, der nach Wunder was klingt. Das Schicksal! Sieh’ nicht so nachdenklich aus. Ich hab’ nur Spaß gemacht. Aus Freude, weil du endlich anfängst, brav zu werden.“

Sie zog die Uhr heraus. „So. Gleich wird unser Gestrenger erscheinen. Ich kann schon klingeln.“

Sie drückte auf den Knopf der elektrischen Glocke an der Wand neben dem Fenster. Ludwig stand später auf als sie. Oder vielmehr sie erhob sich leise, leise, um ihn nicht zu stören, eine gute Stunde früher, als seine gewohnte Zeit war. Der geliebten Pflicht, die Mutter anzukleiden, wollte sie sich nicht entziehen, und er hatte sich nach einigen Einwendungen „vorläufig“ diesem Wunsch seiner jungen Frau gefügt.

Sie ging nun, bis der Diener mit dem Frühstück und den Zeitungen kam, mit ihrer Gießkanne an den Blumen entlang, die auf der Balustrade standen.

„Die rührende Malve hat doch noch wieder drei neue Blüten bekommen,“ rief sie über die Achsel zur Mutter zurück. „Und sieh nur, die Clivia! Die kann ihre Zeit nicht erwarten. Jetzt ist sie ganz geöffnet. Diese Pracht! Eins, zwei – – nein wirklich, zwölf einzelne Blumen! Kannst du sie von da aus gut sehen?“

„Ja, ich kann sie sehen.“

Der Blick der Mutter ging aber von der bunten, duftenden Herrlichkeit alsbald wieder zu der Tochter zurück. In dem weißen, schmiegsamen Hauskleid, das eine feine goldene Schnur um die Taille schloß, mit den lang niederhängenden, schweren Zöpfen, die sich unten zu Locken kräuselten … auf Ludwigs ausdrücklichen Wunsch ihre Morgenfrisur – stand sie mädchenhaft liebreizend da. Das Gesicht, den Blumen zugekehrt, für die zärtlich sorgenvollen Augen der Mutter nicht erreichbar.

Es blieb auch zum Beobachten keine Zeit mehr. Denn fast im gleichen Augenblick kam von drinnen her der Hausherr und vom Garten, aus der nahebei die im Souterrain gelegene Küche mündete, der Diener mit seiner großen Platte. Während er von einem Kredenztischchen aus die verschiedenen Sachen auftrug – den Kaffee, die Butter auf Eis, die weichen Eier, den Schinken, die frisch gerösteten englischen Brotscheibchen – trat Ludwig heran und begrüßte seine Schwiegermutter mit Handkuß und Erkundigungsfrage.

„Gute Nacht gehabt, Mama?“

„Prächtig, ausgezeichnet,“ kam die Antwort, noch gehobener als eine Stunde zuvor, und in dem offenbaren Bestreben, einen guten Eindruck zu machen. „Ich habe einfach durchgeschlafen und fühle mich heute so frisch und gesund, als wenn ich ein anderer Mensch wäre.“

„Na, siehst du wohl, das ist ja famos. Da wird ja auch hier mein kleines Ehegespons ein anderes Gesicht kriegen was? Und ganz zu Hanna gewendet, mit dem unterdrückten Ton verhaltener Zärtlichkeit. „Tag – du!“

Seine flammenden, zehrenden Blicke gingen an ihr auf und ab.

Furchtbar verliebt, fand August, der trotz der respektvoll unbeweglichen Miene des gutgeschulten Dieners alles bemerkte und kritisierte, was vorging.

Hanna nickte ihrem Mann freundlich zu. Sie hatte sich schon gleich an ihren Platz gesetzt und drehte eben den Hahn der Wiener Kaffeemaschine auf, um seine Tasse zu füllen. Er hielt aber ihre Hand fest, so daß das braune, dampfende Brünnlein wieder versiegte. Und dann, ohne Rücksicht auf die Anwesenheit des Dieners, der sich nun schnell mit einem leisen Lächeln auf seinem Diplomatengesicht entfernte, drückte er sie tief in ihren Sessel zurück und „nagelte“ sie mit dem Kuß an der Lehne fest, wie August brühwarm in der Küche berichtete.

Sie rührte sich nicht, sie griff nur nach den Bambusstäben der Seitenlehnen und umklammerte sie fein. Wie mit Glut übergossen, richtete sie sich endlich nach Empfang dieses Morgengrußes schweigend wieder auf. Ein unsicherer Blick streifte die Mutter, die aber, ganz abwesend, in eine Zeitung vertieft schien.

„Wieder ein kleiner Eisenbahnunfall,“ sagte sie, aufschauend und das Blatt zusammenfaltend, als nun Ludwig um den Tisch herum an seinen Platz ging. „Zum Glück ohne Menschenverluste. Die Zeitung möchte ich sehen, die man aufmacht, ohne auf eine solche Nachricht zu treffen!“

„Mach sie nicht auf, Mama,“ riet Thomas lachend. „Was ich nicht weiß, macht mir nicht heiß. Denk’ lieber daran, dich zu pflegen und uns durch rasch zunehmende Besserung zu erfreuen. Danke!“

Er nahm die gefüllte Tasse aus Hannas Hand. Während er sich mit Fleisch und Eiern versorgte, nickte er seiner Frau zu.

„Iß, Piepmatz! Wie lange wird’s noch dauern, bis ich dich zu einem vernünftigen Frühstück bekehrt habe? Die eine Tasse Kaffee und das Buttersemmelchen – lächerlich! Deine Mama ist verständiger als du.

„Die hat’s auch nötiger,“ antwortete Hanna freundlich. Dann wandte sie sich ihr zu. „Hier, mein Engel, Butter! Hast du Salz? Neben dir steht es. Du mußt dir viel Butter zu den Eiern nehmen, hörst du? Das ist gut. Ich mache dir derweilen dein Brötchen zurecht. Wenn ich den Schinken ganz fein schneide, dann geht mehr hinaufzupacken als bei so einer dummen Scheibe. Vergiß auch deinen Kaffee nicht.“

„Kind, du nudelst mich ja förmlich. Ich bin doch keine Gans.“

„Mein Mutterchen! Es werden ja nicht nur Gänse genudelt. Schmeckt es dir denn?“

„Sehr. Heute so wie noch nie. So wohl, wie ich mich aber heute auch fühle!“

Hanna griff strahlend nach der Hand der Mutter und küßte sie.

„Du Einziges! Wie glücklich bin ich! Und über den Tisch, zu ihrem Mann: „Sind dir die Eier heute recht. Ludwig?“

„Die Eier, ja“ antwortete er, aus seiner Zeitung aufsehend, [615] die er entfaltet und vor sich ausgebreitet hatte, als wenn er allein wäre. „Aber der Schinken ist zu salzig,“ fügte er hinzu, ein Stück versuchend. „Ungenießbar. Laß ihn stehen, Mama!“

„Mir kommt er nicht zu salzig vor,“ sagte Frau Wasenius, die nun auch mit ihrer Gabel eins von den schon geschnittenen Stückchen aufpickte.

„Aber er ist zu salzig,“ beharrte Ludwig. „Der Kerl soll kalten Braten bringen.“ Und zwei Finger zwischen die Zähne schiebend, that er schnell einen gellenden Pfiff.

Beide Frauen waren zusammengezuckt. Hanna schüttelte den Kopf mit einem vorwurfsvollen Blick. „Wieder! Ich hatte dich so gebeten, Ludwig, das zu lassen. Hunden pfeift man. Ich konnte ja klingeln.“

Thomas winkte leicht ungeduldig mit der Hand. „Auf kein Signal kommt er so schnell. Das ist die Hauptsache. Bis du da aufstehst! und hingehst! und auf den Knopf drückst! – siehst du wohl, da haben wir das Freundchen schon. – Und zu dem herantretenden Diener sagte er in kurzem, herrischem Ton: „Bei wem ist der Schinken gekauft? Ganz sicher nicht bei Borchardt, wie ich befohlen hatte.“

Der Mann wußte es nicht.

„Sagen Sie der Köchin, daß ich solches Zeug nicht noch ’mal auf dem Tisch haben will. Verstanden? Bringen Sie kalten Braten!“

„Es ist zweierlei da.“

„Also beides. Den sogenannten Schinken nehmen Sie mit.“

„Vielleicht will aber Mutter noch davon,“ wandte Hanna halblaut ein. „Er hat ihr doch geschmeckt.“

„Der Braten wird ihr besser schmecken. Allons! Und morgen früh will ich ein Beefsteak.“

„Sehr wohl.“

„Wie kannst du nur so – so unklug sein,“ sagte Thomas mit verfinstertem Gesicht, nachdem August sich mit dem Schinken entfernt hatte, „und meine Befehle kreuzen in Gegenwart eines Dienstboten. Laß das künftig! Du würdest mich sehr dadurch verbinden.“

Hanna sah ihn fest an. „Am natürlichsten wäre es wohl,“ sagte sie ruhig, „wenn du mich alle diese Essensfragen erledigen ließest. Ich kann nicht behaupten, daß ich die hotelmäßige Art, wie du die Dinge behandelst, sehr anziehend fände. Dies Haus ist doch kein Gasthaus. Es ist dein eigenes Haus. Und ich bin deine Frau. Schon mehrmals habe ich dir das sagen wollen, aber ich dachte immer noch, es würde sich von selber geben. Die Beefsteakbestellung zu morgen früh aber –“

„Die hat dem Faß den Boden ausgeschlagen, was?“ unterbrach er sie mit einem etwas gereizten Lachen. „Liebes Kind, ich bin zu lange Junggeselle geblieben, um mich darin noch groß zu ändern. So wie ich bin, wirst du mich wohl verbrauchen müssen. Wenn die Bande nur pariert!“

„Dann hat es freilich wenig Sinn, daß ich mich mit der Köchin über das Essen berate, dann brauchtest du ja eigentlich nur durch den Diener – oder vielmehr Kellner – zu bestellen, was für ein Diner oder Souper du wünschest, und abgemacht! Eine Frau wäre eigentlich nicht nötig im Haus.“

„Meinst du?“ fragte er und blickte sie lächelnd an.

Sie hatte nur halblaut gesprochen, hatte sich nicht auf ihrem Platz gerührt, nur waren ihre Wangen langsam heiß und rot geworden.

„Wie reizend siehst du aus, wenn du so die Farbe wechselst,“ bemerkte er weiter, ohne den Blick von ihr zu lassen. „Ich sollte dich eigentlich öfters ärgern. Es steht dir famos!“

Schon kam der Diener mit den zwei neuen Schüsseln zurück. Er brachte auch einen Brief für Frau Wasenius, den diese schnell ergriff und öffnete, froh, eine unauffällige Beschäftigung zu haben.

Thomas, offenbar von einem bestimmten Gedanken beherrscht, beugte sich nach Augusts Entfernung etwas vor und verschränkte die Arme auf dem Tischrand. „Reizend“, sagte er noch einmal halblaut, Hanna zunickend. Und dann, in heiteres Lachen ausbrechend. „Na komm her, ich will dir noch ’mal verzeihen.“

Er streckte ihr die Hand hinüber.

Sie rührte sich aber nicht, sie lehnte sich vielmehr zurück die Hände im Schoß gefaltet.

„Was willst du mir denn verzeihen?“ fragte sie kühl.

Er lachte, sprang auf und kam um den Tisch herum zu ihr. Sie machte eine schwache, unwillkürliche Fluchtbewegung.

„Duckst dich, wie der Hase in der Ackerfurche,“ sagte er lustig. „Nützt dir aber nichts. Komm!“

Er faßte sie mit beiden Händen und zog sie vom Stuhl auf in seine Arme, drückte sie an sich, bog ihr den Kopf zurück und küßte sie auf die kleine weiße Kehle.

„Bitte –“, sagte sie ängstlich und strebte sich zu befreien.

„Nichts bitte,“ erwiderte er, umschlang sie fester und bedeckte nun auch ihr Gesicht mit heißen, leidenschaftlichen Küssen. „Ich werd’ dir sagen,“ murmelte er, „was ich dir verzeihen will: daß du mich verrückt gemacht hast!“

Sie machte sich nun fast heftig los, über und über glühend rot. „Du vergißest dein Frühstück,“ sagte sie etwas heiser. „Darf ich dir noch einmal einschenken?“

Er kehrte langsam zu seinem Platz zurück. „Ja, ich vergesse alles über meinem entzückenden Hauskreuz. Essen und Trinken! Gieb mir noch eine Tasse! Gestattest du, Mama, daß ich dir eine Scheibe Roastbeef abschneide? oder willst du von dem Kalbsfricandeau?“

„Danke,“ sagte Frau Wasenius freundlich. „Ich bin satt. Ich war mit dem Schinken auf meinem Brötchen ganz zufrieden.“

„Reize den schlafenden Löwen nicht, Mama,“ warnte er lachend. „Erinnere mich nicht an den versalznen Schinken, sonst verderbe ich es noch einmal mit meiner gestrengen Ehehälfte. Sieh nur, wie sie dasitzt, ganz geknickt über ihren brutalen Mann. ,Ach, ich hab’ – dich ja nur – auf dein Hälschen geküßt!' Hat’s denn so weh gethan? Was hast du gedacht, als ich dich heiratete? Hast du gedacht, ich würde dich platonisch verehren wie ein Heiligenbild? Kleines Schaf du. – Das Roastbeef ist gut. Iß doch was davon! Nicht? – Du hast ein empfindliches Töchterchen, Mama. Erst will ihr das Herz brechen, weil ich dem August gepfiffen habe, dann fühlt sie sich in ihrer Hausfrauenwürde verletzt und schließlich nimmt sie’s übel, wenn ich sie küsse.

Es klang ein Unterton von Verdruß in seiner fidel sein sollenden Rede mit. Frau Wasenius sandte einen schnellen, warnenden Blick zu Hanna hin und sagte dann, wieder zu Thomas gewendet, schüchtern und sehr sanft:

„Lieber Ludwig, es will alles erst gelernt sein. Auch das Geliebtwerden. Auch die Hausfrauenwürde. Wenn sie sich nun gern ein bißchen fühlen möchte. Sie hat sich eben dumm benommen, aber das ist ein Fehler, den sie ablegen wird, hoff’ ich. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Auch noch keine vollendete Ehefrau. Ich glaube, sie sieht schon ein, daß man liebenswürdiger hätte sein können, als sie gewesen ist.

Hanna, den Blick der Mutter verstehend, hatte sich sofort beisammen. Mit einer sehr liebreizenden Gebärde streckte sie ihre Hand, zwischen Tassen, Brotkörbchen und Blumenvase durchkriechend, ihrem Mann über den Tisch entgegen. Er betrachtete einen Augenblick mit sachlichem Ernst die feinen Finger, und zur Mutter gewendet, ohne die Miene zu verziehen sagte er. „Jetzt will sie mir wieder verzeihen.“

„Es scheint so,“ erwiderte diese mit begütigendem Lächeln.

Ludwig wiegte nachdenklich den Kopf erfaßte dann vorsichtig die Spitze des kleinsten Fingers und schüttelte ihn ein wenig.

„Hoffentlich habe ich mich jetzt decent genug benommen,“ erkundigte er sich trocken, immer noch, ohne Hanna anzusehen.

„Musterhaft,“ gab Frau Wasenius zu, ein leises nervöses Zucken der Augenbrauen bekämpfend.

„Nun, dann sind wir ja quitt,“ sagte er. Und als die kleine Hand mutig und ergeben zugleich immer noch ausharrte, beugte er sich etwas vor und blies nach ihr, als wenn er sie verscheuchen wollte.

Auf dieses „Signal“ zog sie sich nun freilich sofort zurück.

Er lachte laut auf aus Vergnügen über seinen gelungenen Spaß.

„Wütend?“ fragte er lustig. Offenbar gefiel ihm wieder ihr gekränktes Gesicht.

„Nein,“ sagte sie schnell gefaßt. „Aber verblüfft bin ich über deine Unliebenswürdigkeit.“

„Potz Donner!“

[616] Er stand langsam auf.

„Jetzt bin ich unliebenswürdig, während ich nur deinen Wünschen in meinem Betragen entsprochen habe.“ Und auf ihren erstaunten Blick antwortend. „Du hast ja vorhin gethan, als ob du mindestens von einem Gorilla überfallen worden wärest. – Na, ich gehe. Erhole dich in den paar Stunden.

Vielleicht bist du bis heute mittag menschlicher gegen mich gesinnt.“

Hanna war gleichfalls aufgestanden und näherte sich ihm. „Du kannst doch nicht im Ernst verstimmt sein, Ludwig?“ fragte sie etwas ängstlich.

„Ich bin überhaupt nie verstimmt. Willst du dir das gütigst merken. Ich bin der verträglichste, gleichmäßigste, sanftmütigste Mensch in Europa. Aber Weiberchenlaunen natürlich, die machen auch schließlich einen Eichenstamm nervös.“

Hanna drückte die Lippen zusammen. „Nun, so ist ja alles in Ordnung,“ sagte sie dann aber freundlich. „Weiberchenlaunen wollen wir nicht haben. Und ihm freiwillig den Mund hinhaltend, die Hände auf seinen Schultern, sagte sie heiter.

„Adieu, Gorilla!“

Er betrachtete einen Augenblick diese zartblühenden, etwas bläßlichen Lippen, es lief nun ein hellerer Schein über sein kaltgewordenes Gesicht.

„Hexe,“ murmelte er ganz leise, „entzückende Hexe!“ Mit einem Griff in ihren Nacken, in die weichen Zöpfe, drückte er sie heran und küßte sie auf den Mund, der nun tapfer stillhielt, ohne zu zucken, so angst ihm bei diesem langen Kuß auch wurde.

„Entzückende Hexe,“ wiederholte er, sie anlächelnd und ihren Kopf an seine Schulter drückend. Er faßte dann ihr Handgelenk und streifte langsam an ihrem Arm aufwärtsgleitend, den weiten Aermel zurück bis über den Ellbogen. Sie errötete, ließ ihn aber gewähren.

„Dein Arm gefällt mir,“ sagte er. „Gerade, daß er noch so schlank ist. Und wie weiß gegen meine braune Pfote. Sieh!“

„Deine ganze Tochter gefällt mir, Mama,“ sagte er, sich über die Achsel zu Frau Wasenius wendend, die zum zweitem mal aufmerksam ihren Brief zu lesen begonnen hatte. „Sie ist zwar manchmal noch ein heilloses kleines Schaf, aber ich kann sie trotzdem gut leiden. – Von wem ist denn der Liebesbrief, den du so zärtlich studierst?“

„Von Günther. Er meldet sich von seiner kleinen Ferientour zurück und fragt an, ob Hanna im August, wenn die Proben wieder anfangen, auch in Berlin ist, um mitzusingen.“

„Natürlich,“ rief Hanna lebhaft, „ich freue mich schon darauf.“

Ein zweiter Gedanke, der unmittelbar folgte, schien sie dann zu erschrecken, sie brach ab und schwieg.

„Darüber brauchen wir uns ja jetzt noch nicht zu entscheiden,“ wendete Ludwig mit unbehaglicher Miene ein. „Mir ist diese ganze Singerei – na, das findet sich. Jetzt hör’ mal zu, mein Schatz. Erstens gehen wir heute nachmittag in die Kunstausstellung. Da sind von diesem Orientmaler ein paar famose Dinger. Wie heißt er? Kuhnert. Du sollst entscheiden, ob wir uns die Elefantensache kaufen oder die Zebraherde. Ferner, sage der Köchin – merkst du wohl, wie ich mich unter deinen Pantoffel schmiege? – sage der Person, sie soll mir zu morgen früh – zu dem bewußten Beefsteak – Ravigotbutter machen, aber nach dem Rezept, das ich ihr aus Paris mitgebracht habe. Verstanden? Na gut! – Und nun komm, begleite mich noch bis zur Thür. Adieu, Mama!“

15.

Gewiß, sie hatte ihn gern. Sie war ihm wirklich zugethan. Es war so auch nicht so schwer, ihn liebzugewinnen, mit der Dankbarkeit als Bundesgenossen. Und angesichts der Güte, mit der er für die Mutter sorgte, ohne viel Wesens davon zu machen, was durften da die kleinen Trübungen, die Meinungsverschiedenheiten, deren das enge Zusammenleben in diesen Wochen schon einige gezeitigt hatte, bedeuten? Mit etwas gutem Willen von ihrer Seite waren sie ja auch leicht zu lösen gewesen! Eine und die andere Schrulle konnte man ihm wohl nachsehen, dem Wohlthäter! Nicht anders als mit dankbarer Freude durfte sie ihm entgegenkommen und an ihn denken. Am deutlichsten empfand sie das, wenn sie ihn nicht sah, wenn er für einige Stunden das Haus verlassen hatte, wenn sie sich seinen plumpen Zärtlichkeiten nicht ausgesetzt fühlte, die sie beim besten Willen nicht erwidern konnte. Die Glückseligkeit über das behagliche Leben in schöner Umgebung, das die Mutter jetzt führte, nahm sie dann jedesmal wieder ganz gefangen. Mit gerührter Freude sah sie auch stets von neuem auf die Fülle von Herrlichkeiten, mit denen seine verschwenderische Freigebigkeit sie überschüttete, betrachtete mit noch nicht überwundenem Staunen die Pracht, die sie umgab. Aus kümmerlicher Armut, die näher und näher rückende Not vor Augen, war sie plötzlich in das Zauberreich des Ueberflusses versetzt worden. Und der Beherrscher dieses Zauberreiches betete sie an. Mußte sie nicht glücklich sein? Gewiß, sie wollte ja auch. Sie hatte den besten Willen dazu. Aber sie mußte sich vor dem Alleinsein hüten! Es that ihr nicht gut! Es that ihr schweren Schaden! Denn in solchen Stunden der Einsamkeit ergossen sich über den künstlichen Frieden ihres Gemüts in breiten, schweren Wellen Orgelklänge daher, die sie wohl mahnen wollten mit ihrem Ruf. Sei getreu! – und die doch ihrer eigenen Mahnung zum Trotz das Schmerzensgesicht des verlorenen Freundes mitbrachten, wie es abschiednehmend und erbleichend in der sonndurchleuchteten Kirche vor ihr gestanden hatte.

Nein, sie durfte nicht allein sein!

Sie wollte ja auch nicht! Wie alle Tage nach der Verabschiedung von ihrem Mann eilte sie, zur Mutter zurückzukommen.

In keinem der prachtvollen Räume, die ihr in dem weitläufigen Hause zur Verfügung standen, fühlte sie sich so von Herzen gemütlich wie in den Zimmern der Mutter. Selbst in ihrem wirklich reizenden „Boudoir“ hatte sie noch keine Stunde hintereinander zugebracht. Freilich lag es im ersten Stock, entfernt von der Mutter, unerreichbar für sie, die unten wohnen mußte, um Terrasse und Garten mühelos benutzen zu können. Ihre beiden Zimmer, mit einem Schlafstübchen für Bertha daneben, waren den Gesellschaftsräumen abgewonnen worden, die, besonders jetzt, mit ihren geschlossenen Fensterläden, ihrer in Dämmer ruhenden Pracht, wie ein schlafender Ocean die lichte, warme Koralleninsel der Gemütlichkeit bespülten.

Aufatmend und schon wieder lächelnd trat Hanna aus der etwas dumpfen Kühle des grauen Salons – so genannt nach seiner stahlgrauen, mit reichen Silberornamenten geschmückten Ausstattung in das von der duftigen Sommerluft durchwärmte Terrassenzimmer, in dem das vielfältige Gezwitscher ihrer Vögel aus dem großen Käfig her sie anjubelte, in dem trotz aller wohlhäbigen Eleganz der Einrichtung mit dem dicken roten Plüschteppich, den schweren, persisch bunten Polstermöbeln, den schönen Kupferstichen an den Wänden, dem mächtigen Spiegel am Pfeiler, dort aus der Ecke her das alte Klavier, vom Fenster her ihr kleiner Schreibtisch und von der anderen Seite ihr Bücherschrank sie grüßte. Ludwig hatte dafür gestimmt, den ganzen „alten Krempel“, da ihn die Mutter ja durchaus nicht haben wollte, auf dem Speicher zu verstauen. Aber die Frauen hatten es doch durchgesetzt, daß die liebsten von ihren Sachen weiter im Gebrauch blieben, und es that ihnen nicht weh, daß der Hausherr naserümpfend die stillose und zusammengewürfelte Ausstattung dieser Wohnstube bekrittelte.

Nachdem sie ihre Vögel versorgt hatte, trat Hanna erst noch in das Schlafzimmer, in dem Bertha aufräumte, und überzeugte sich, wie alle Morgen, daß das Bett – ein herrliches, neues, bequemes Bett – ordentlich gemacht sei. Das Mädchen durfte die große Decke nicht eher überspreiten, als bis die „gnädige Frau“ Bertha schwelgte in diesem schönen, neuen Titel – gesehen hatte, daß das Leintuch faltenlos glatt gespannt liege und daß die Kissen durchgeschüttelt und vom Sonnen frisch aufgequollen seien.

Nachdem ihr dann Bertha noch einmal – sie selber durfte ja diesen Schlaf nicht mehr bewachen! – von der herrlichen Nacht berichtet hatte und daß die Frau Doktor wie ein Engel so ruhig geschlummert habe, nahm sie ihre Handarbeit und setzte sich zur Mutter hinaus.

Für die nächsten paar Stunden wieder Hanna Wasenius! Der Frühstückstisch war mittlerweile schon abgeräumt worden. Nur die Vase mit den Rosen stand noch mitten auf der bunten, gestickten Decke, mit der das Tischtuch vertauscht worden [618] war. Eine von Hannas Stickereien, die ihr der „Herr Bankier“ damals abgekauft hatte. Mit vielen anderen ihrer Arbeiten hatte sie sie beim Einzug vorgefunden.

„Und nun sag’ mir ordentlich, was Günther schreibt,“ bat sie, ihren Bambussessel so nahe wie möglich neben die Mutter rückend.

„Hier ist der Brief. ‚Liebes verehrtes Mamachen! Seit vorgestern bin ich von meiner kleinen Ferientour zurück. Habe mich nach Kräften ausgerannt, immer querwaldein. Jetzt giebt es in Thüringen bald gar kein Fleckchen mehr, das ich nicht kenne. Auf dem Rückweg hab’ ich in Weißenfels Station gemacht und bin mit einem Wagen nach dem Dorf hinausgefahren, wo die alten Rettenbachers wohnen. Ich wollte doch dem armen Kerl, der die nötigen Groschen zur Reise nicht übrig hat, einen Gruß von zu Hause bringen. Er hat sich auch mächtig gefreut. Ich erzähle Ihnen mündlich davon. Nämlich, des Pudels Kern! Ich werde mir morgen nachmittag die Ehre geben, die Damen in ihrem neuen Heim aufzusuchen, vorausgesetzt, daß ich nicht störe. Ich bin riesig gespannt, zu hören, wie es Ihnen geht, verehrtes Mamachen, und auch, wie sich unser Hannichen als gnädige Frau fühlt. Hoffentlich wird sie doch Mitte August, wenn unsere Proben wieder anfangen, in Berlin sein, um mitzusingen. Alles weitere mündlich.

In bekannter Treue und Ergebenheit

Ihr Heinrich Günther.'“

„Also heute nachmittag,“ sagte Hanna erfreut. Zugleich aber beschlich sie eine leise Bangigkeit. Wenn nur Ludwig nicht wieder kalt und ungesellig sein möchte, wie schon ein und ein anderes Mal als Bräutigam.

„Hoffentlich kommt er zeitig genug,“ fuhr sie dann fort, „daß ich nicht am Ende schon mit Ludwig nach der Ausstellung unterwegs bin. Vielleicht verschieben wir auch die Fahrt, wenn ich ihn darum bitte. Die Bilder werden uns auch von einem zum anderen Tag nicht weglaufen. Wie schön, mein Mutterchen, daß du heute so wohl bist. Da kann ich doch Ehre mit dir einlegen.

Vom Garten her kam jetzt die Köchin, mit der um diese Zeit über das heutige „Souper“ und das morgige „Diner“ beratschlagt wurde.

Hanna empfand dieser „Perfekten“ gegenüber, die in Paris „studiert“ hatte, immer noch ein leises Gruseln. Mit ihrer eigenen Kochkunst, die sich über die schlichtesten bürgerlichen Gerichte hinaus nie erstreckt hatte, kam sie sich in ihrer eleganten Küche ganz erbärmlich vor, und so tüchtig und gesund ihre gastronomischen Grundbegriffe auch waren – hier getraute sie sich kaum Piep zu machen. Im stillen entsetzte sie sich immer vor dem, was es alles gab, was man alles kochen konnte. Aber sie wollte sich von dieser feindrähtigen Person, die mit den verzwicktesten Gerichten nur so um sich warf, nicht über die Achsel ansehen lassen und führte darum ihre Rolle als kühle und allervornehmste Verächterin dieser Uebertriebenheiten zur steten Belustigung ihrer Mutter sehr hübsch durch. Sie hatte sich diesen Standpunkt gewählt als Widerspiel zu ihrem Mann, der so unheimlich bewandert in allen Küchenfragen war, daß auch einem gewiegten Koch hätte schwindlig werden können. Mitsamt ihrer Magd aber ängstlich die Stirnfalten des gnädigen Herrn zu studieren und vor seiner Kritik zu zittern, fühlte sie sich nicht berufen. Wenigstens nicht eingestandenermaßen. Im stillen freilich hatte sie schon begonnen, nach der kleinen Wetterwolke zwischen seinen Augenbrauen zu spähen, und aus der „Idee zu wenig Pfeffer“, der „Ahnung zu stark gesalzen“ konnte sie bereits mit einiger Sicherheit auf Witterungswechsel schließen. Eine Suppe, die nicht ganz „auf der Höhe“ war, stimmte ihn gegen die ganze Mahlzeit mißtrauisch, und nur selten gelang es an solchen Tagen einem der folgenden Gerichte, den ersten Verstoß vergessen zu machen. Hanna that der Köchin nicht den Gefallen sich gemeinsam mit ihr über diese Unglücksfälle aufzuregen, so daß zu Paulinens Leidwesen in diesen Vormittagsstunden wohl eifrig beraten, aber nie geplaudert werden konnte. Hanna genoß übrigens die allgemeine Gunst des Personals, weil sie „gut“ gegen die Leute war, ohne sich etwas zu vergeben, und nicht „protzte“, wie sie es alle von der neugebackenen Millionärin erwartet hatten.

„O Gott, die hatte ich jetzt wirklich vergessen,“ seufzte Hanna, als sie den Kies des Gartenweges knirschen hörte und nun die ansehnliche Gestalt ihrer „Chefin“ mit dem weißen Mützchen auf dem noch glänzend schwarzen Haar, der blendenden Schürze über dem dunklen Kleid daherkommen sah.

„Wenn es gnä' Frau angenehm wäre –“

Ja, es war ihr angenehm.

Nach kurzer Besprechung des „ungenießbaren Schinkens, der natürlich doch von Borchardt war – wie würde sie sich unterstehen, gegen den ausdrücklichen Befehl des Herrn! – und die zum Beefsteak befohlene Ravigotbutter hinweg vertiefte sich die Beratung in Mockturtlesuppe, Potage Sévigné, Saumon Sauce crevettes, Hammelrücken à la Portugaise, Timbale de riz, Filet de chevreuil, Fonds d’artichauts an veloutée de volaille, Maraschinogelée, Mousse meringuée, Crême à la Nesselrode –--

Hanna zuckte schon nicht mehr unter Paulinens „Somong“ und „Schewrölch“. Gut, daß sie viel besser kocht, als sie spricht, dachte sie. Es schmeckte entschieden pariserisch, wenn es fertig war, und darauf kam es ja an. „Heiliger Sprachverein, bitt’ für mich!“ sagte sie lachend zur Mutter, nachdem Pauline mit dem begutachtete Küchenzettel ihrer Wege gegangen war. „Was Ludwig wohl sagen würde, wenn ich ihm die ’Speisekarte', auf gut deutsch abgefaßt, neben den Teller legte. Ich glaube, der Appetit verginge ihm schon bei der Fleischbrühe!“

„So laß ihm also das kleine Vergnügen.“

„Freilich laß' ich es ihm. Ich muß nur immer wieder lachen, wenn diese Küchenfürstin sich mir mit dem neuen Menü unterbreitet. So sagt sie ja gewöhnlich. Hast du es nicht bemerkt?“

„Ja – Aber was ich fragen wollte – wir sind durch diese Küchensorgen ganz aus dem Text gekommen. Es war wegen Günther. Wie denkst du es in Zukunft mit dem Singen in der Kirche zu halten, mein Kind? Da Ludwig ja doch nun einmal gar keine Freude daran hat. Das will gut überlegt sein. Meinst du nicht?“

Hanna nickte stumm und sah auf die Stickerei in ihrer Hand.

„Verbieten wird er es dir natürlich nicht,“ fuhr die Mutter nach einer kleinen Pause fort. „Aber du mußt darauf gefaßt sein, seiner Mißstimmung zu begegnen. Es ist jetzt ein ander Ding als zur Zeit eurer Verlobung, wo er in bestehende Verhältnisse eintrat. Dies ist sein Haushalt. Er ist der eigentliche Herr. Du kannst nicht mehr ganz frei über deine Tageseinteilung bestimmen. Die Uebungen sowohl wie der Dienst in der Kirche schließen erst nach eurer eigentlichen Abendbrotzeit. Diese müßte also verlegt werden. Ob ihm das recht sein wird? Ich zweifle. Ja, wenn er mitsänge oder doch an der ganzen Sache herzliche Freude hätte. Aber es ist etwas, was nur dich allein angeht, an dem er keinen Anteil nimmt.“

„Das ist wahr,“ sagte Hanna leise.

„Verarge ihm das nicht, mein Kind. Sieh das nicht mit Bitterkeit an. Damit thätest du ihm unrecht. Er ist ja als ganz unmusikalischer Mensch nicht mit dem Taktstock zu messen. Wie soll er denn Vergnügen an einer Sache haben, die ihm keine Spur von Genuß gewährt? – Vielleicht lernt er’s noch. Wer weiß?“

„Glaubst du das?“ fragte Hanna ebenso leise wie vorher und ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.

„Ueberzeugt bin ich nicht davon. Aber möglich ist alles. Denn er hat dich sehr lieb. – Uebrigens brauchen wir ja nicht in diesem Augenblick über die Sache zum Schluß zu kommen. Laß es dir einmal durch den Kopf gehen und bedenke dir die Art, wie du um seine Zustimmung bittest. Ich wollte nur, daß du dir darüber klar wärest, daß du nicht mehr allein darin zu entscheiden hast, mein Kind.“

„Das habe ich schon gewußt, Mutterchen.“

„Nun, also. Wir werden Günther heute nachmittag auf die mögliche Schwierigkeit aufmerksam machen. Er wird das alles einsehen. Leid thäte es mir für ihn, wenn er seine Singdrossel verlöre. Und auch für dich, mein Herzenskind, würde ich es sehr bedauern. Aber allem voran steht doch das gute Einvernehmen im Hause. Und du schuldest Ludwig so vielen Dank, daß es dir auf einige Opfer nicht ankommen dürfte. Meinst du nicht auch?“

„Gewiß, Mutterchen.“

„Wenn es mit meiner Besserung übrigens so reißend weiter geht wie heute, dann seh’ ich noch die Zeit kommen, daß ich auch wieder am Klavier sitze.“

„O Gott, Mutter, wenn wir das erlebten!“

[619] „Warum nicht? Heute glaube ich an alles. – Zur As-Dur-Polonaise von Chopin werde ich’s zwar nicht mehr bringen.

Das ist aber auch gar nicht mein Ehrgeiz. Und unser alter guter Klapperkasten möchte sich für die Zumutung bedanken.

Aber musizieren, weißt du, könnten wir dann hier in unseren vier Wänden nach Herzenslust, ohne Ludwig zu stören. Zusammen singen, wir beide, alles, was sich nicht wehrt, alle unsere lieben Duette! Ich begleite wieder, wie in früheren Zeiten.

Dann sollten wir am Ende die Sache mit der Kirche verschmerzen können. Glaubst du nicht, mein Altes?“

Hanna, so golden hoffnungsreiche Pläne an ihrer stets schwermütigen Kranken gar nicht mehr gewöhnt, hatte die Arbeit in den Schoß sinken lassen und sah nun, stumm, mit noch ungläubigem Lächeln und großen Augen, die langsam feucht wurden, der Mutter ins Gesicht.

„Wie kommt dir das so auf einmal, mein Liebling?“ fragte sie dann halblaut, fast zaghaft, als fürchte sie, durch ein lautes Wort den seltsamen Zauber zu verscheuchen.

„Jetzt werde ich dir wohl wieder zu schnell gesund? Heute morgen noch hast du gebrummt, daß ich damit so trödle. Recht kann ich’s dir wohl nicht mehr machen, du anspruchsvolles Ding?“

Hanna warf die Arbeit auf den Tisch und umschlang die Mutter stürmisch mit beiden Armen.

„Ach, du mein Einziges! Halt’ still, jetzt muß ich dich erst kaput und wieder ganz küssen! Also so wohl fühlst du dich, daß du schon schlechte Witze machen kannst? Wie soll man das Glück nur aushalten!“

Von der Kirche war nicht mehr die Rede. Hanna rührte das Wort nicht mehr an. In dem Freudensturm über die Besserung im Befinden der Mutter verwehten alle anderen Klänge.

[629]
16.

Früh am Nachmittag kam Günther, neugierig gespannt wie ein Kind auf „Hannichens Märchenschloß“. Es machte ihr Vergnügen, ihn in den prächtigen Räumen des Erdgeschosses herumzuführen. Zwar ging sie selber immer noch beinahe wie ein Gast zwischen all den Herrlichkeiten einher. Aber während sie hier einen Vorhang lüftete, um die Sonne hereinzulassen, dort eine Falte der türkischen Diwandecke zurechtzog oder einem „dumm dastehenden“ Stuhl einen Ruck gab, überkam sie doch wieder mehr und mehr das fröhliche Gefühl der Besitzesfreude.

Den obern Stock mit den Wohnräumen, den Günther auch gern gleich gesehen hätte, zeigte sie ihm aber jetzt nicht. Sie wünschte Ludwig nicht aufzustören. Er würde sich schon von selbst einfinden, dachte sie, wenn er seine Mittagsruhe beendet hatte.

Auf der Terrasse am runden Tisch bei Frau Wasenius saßen die Drei, alsdann gemütlich wie in alter Zeit beisammen. Günther war entzückt von allem, was er sah, am meisten aber von der Mutter, über deren Besserung er sich gar nicht genug freuen konnte. Daß sie erst von heute so eigentlich datieren sollte, ging ihm nicht in den Kopf.

„Sie haben ein ganz anderes Gesicht als früher, Mamachen, wahrhaftig. So habe ich Sie noch nie gesehen. Es ist so was Geheimnisvolles drin. Gerade, als hätten Sie von irgendwo da oben her eine Botschaft bekommen. Wenn Sie doch der Rettenbacher so sehen könnte.“

„Sie hätten ihn mitbringen sollen,“ sagte Frau Wasenius. Es war ihr aber nicht ganz ernst damit. Im stillen wünschte sie einstweilen keine Begegnung zwischen ihm und Hanna. Doch davon durfte sie sich nichts merken lassen. Und sie glaubte auch keinen Besuch des jungen Mannes befürchten zu müssen und wunderte sich nicht, als Günther antwortete: „Wollt’ ich auch. Ich war bei ihm, ehe ich hierher ging, um ihn mitzunehmen, aber er hatte keine Zeit. Ließ mich überhaupt ziemlich abfallen, säße bis über die Ohren in Arbeit, könnte sich nicht aufs Besuche machen einlassen, wüßte kaum, wie er durch den Tag kommen sollte“ – und so weiter und so weiter. [630] Ich sollte schönstens grüßen und ihm erzählen, wie ich Sie gefunden hätte. Um Sie, Mamachen, hatte er große Sorge. Wie wird er sich nun freuen, wenn ich ihm berichte, daß es Ihnen so famos geht.“

Hanna saß still daneben, wieder eifrig mit ihrer Stickerei beschäftigt. Das Herz schlug ihr schwer, es hätte ihr wohl die Worte erdrückt, wenn sie selbst weiter nach dem Freunde gefragt hätte. So schwieg sie. Seit jener kurzen stummen Zwiesprache in der Kirche, seit sie sich mit jenem einzigen Blick – zu spät – alles gesagt hatten, was voreinander zu verbergen ihnen monatelang vorher so gut gelungen war, lag der tapfere Mut ihrer Selbstbeherrschung in Scherben. Im Alleinbesitz ihres wehmütigen Geheimnisses war sie stolz und sicher gewesen. Die Entdeckung hatte sie furchtsam und scheu gemacht. So lange die heißen Tropfen Herzblut im tiefen Dunkel aus dem Altar der Kindesliebe niederfielen, war ihr, so dünkte ihn jetzt, das Lächeln leicht geworden. Von jener Stunde an aber bangte ihr auch vor der Mutter, der ein unbedachter Atemzug alles verraten konnte. Und dann war Weh und Pein, Opfermut und Entsagung vergeblich gewesen. – Wußte er das? Blieb er fern, um ihr zu helfen? Fürchtete auch er sich vor dem Wiedersehen? War er nicht stärker als sie? – Und weiter: Sagte auch er, gleich ihr, die in der einsamen Not ihrer armen Seele mit dieser Liebe rang wie mit einer Krankheit, getrennt dürfen wir schweigend Leid umeinander tragen? Vereint läßt uns jeder Blick zu Schuldigen werden? – Jawohl, schuldig! Von dem Augenblick jenes stummen Geständnisses an fühlte sie sich Sünderin. Denn mit der Sehnsucht nach dem Verlornen brach sie ja dem Ehemann die Treue. Dem Mann, der sie aus Liebe geheiratet hatte. Dem Mann, dem sie die Rettung der Mutter verdankte. Dem Mann, der bereit war, ihr die Hände unter die Füße zu legen! Wie eine schwüle, erstickende Welle lief ihr ein Angstgefühl über das Herz. Brav bleiben! Ehrlich weiter Posten stehen! Nicht müde werden! Und nicht feige!

„Schrieben Sie nicht, Güntherchen, Sie hätten auf Ihrer Heimreise die alten Rettenbachers besucht?“ fragte sie schnell mitten in seinen Bericht von der thüringer Ferienfahrt hinein.

„Habe ich. Gerade wollt’ ich davon reden. Ein gelungener, alter Knopf, der Vater. Würdevoller Herr, thut sich ein bißchen. Kantor, Schullehrer, Honoratiore. Und kaum hat er ein Gläschen von seinem selbstgebrannten blassen Johannisbeerwein hinter der Binde, so kommt der urfidelste, gemütlichste Kumpan heraus. Hat keine Ader von seinem Jungen. Oder vielmehr umgekehrt, nicht zu denken, daß sie Vater und Sohn sind. Dagegen die Mutter! Sie sollten der ihr Gesicht sehen, wenn sie von ihrem Arnold spricht. Die weiß, was er für’n Kerl ist, wenn sie auch nicht immer ganz richtiges Deutsch redet. Die schönen, melancholischen Augen, die hat er von ihr. Und auch die weiche Stimme. Es hat mich ganz eigentümlich berührt, wenn ich sie sprechen hörte, obwohl ich nicht zu sagen wüßte, weshalb. Ich glaube, das Heimweh nach ihrem großen Jungen steht ihr bis an den Hals.

„Was machen denn die übrigen Kinder?“

„Alle fidel. Alle gesund. Jemine, ist das noch ein Haus voll! Die Aelteste ist ja zwar verheiratet, an so einen Kleinbauern, hat einen dicken Jungen von ein paar Wochen. Aber dann sind da noch zwei erwachsene, unversorgte Mädel, abgerechnet die beiden noch kleinern. Dann noch drei Jungen, alle drei noch nicht zu rechnen, außer als hungrige Mäuler. Gott, was geht in so einen Kindermagen hinein, ehe er satt ist! Drei oder vier, wenn mir recht ist, sind zwischendurch weggestorben, sonst wär’ der Tisch noch länger. Arbeiten thun sie ja alle, jeder nach seinen Kräften, die arme Mutter, glaub’ ich, über ihre Kräfte, aber schaffen thun doch bloß die Großen etwas. Wissen Sie, nach dem, was ich so sah und hörte und wie die Mutter andeutete, geht alles, was unser armer Arnold nicht blutnotwendig zum Leben braucht, in diesen Schlund. Ohne die Notgroschen von dem sähe die Sache manchmal klaterig aus. Und wie lange wird das noch so weiter gehen! Zu was Eignem kommt der nie auf diese Weise. Trostlose Geschichte. Ich sagte ja was zu ihm, aber, wie Sie ihn so kennen, er nahm es krumm und schnauzte mich regelrecht an. Das gehörte sich nun einmal nicht anders. Wie man denn seine Liebe beweisen sollte als durch die That und wer denn das erste Anrecht auf seinen Erwerb hätte wenn nicht die Eltern, die ihn großgezogen hätten – und so weiter. Recht hat er ja, aber gemütlich ist die Sache nicht.“

„Gewiß hat er recht,“ sagte Hanna mit leicht zitternder Stimme. Sie schämte sich dieser Rührung nicht. Sie sah, daß ihrer Mutter ebenso zu Mute war. „Lassen Sie ihn nur bei seiner Art. Wenn man ihm helfen will, muß man es heimlich thun, um ihn nicht zu verwunden. Vielleicht gelingt es mir, durch meinen Mann, für die heranwachsenden Jungen einmal etwas zu thun. Wie sieht denn der Hans aus? Das ist sein Liebling.“

„Famoser Kerl. Enakssohn. Sieben Jahre alt, aber groß für zehn. Ganzer Kopf voll blonder Locken, Augen unwahrscheinlich himmelblau, strahlend, Stimme wie ’ne Kirchenglocke – à propos Kirchenglocke! Hannichen, gnädige Frau! Wie ist das mit unserer Singerei? Mitte August fangen wir bekanntlich wieder an. Sie kommen doch natürlich?“

„Das weiß ich noch nicht, liebes Güntherchen,“ antwortete Hanna verlegen. „Bis dahin sind ja noch reichlich zwei Wochen. Lassen Sie uns darüber ein anders Mal reden!“

„Zu Befehl. Aber – – Sie werden uns doch nicht etwa untreu werden?“

„Das ist schon möglich,“ sagte Ludwig Thomas, der unbemerkt über den dicken Teppich des Wohnzimmers herangekommen war und seit einer Minute hinter ihnen an der Thür lehnte.

Hanna zuckte unwillkürlich zusammen und wandte sich, rot übergossen, zu ihrem Mann herum. „Da stehst du und hörst zu in aller Stille?“

„Scheint dir keine sehr angenehme Ueberraschung zu sein,“ anwortete er mit einem eigenen, unherzlichen Lächeln. Er trat jetzt an den Tisch heran, Günther, der verwirrt aufgesprungen war, mit frostiger Höflichkeit begrüßend. „Die Herrschaften waren eben so vertieft – ich hätte mich wohl mit einem kleinen Böllerschuß anmelden sollen, um zu warnen.“

Hanna sah ihn mit stummem Kopfschütteln an. Er machte eine Bewegung, als wollte er etwas darauf erwidern, drückte aber die Lippen zusammen.

„Wir wollten dich nur nicht stören,“ sagte nun Frau Wasenius schnell, freundlich begütigend. „Sonst hätten wir dich gleich benachrichtigt, als Günther kam.“

„Bitte, bitte, zu liebenswürdig,“ erwiderte er kalt. „Der Besuch des Herrn galt ja gar nicht mir.“

„Im Gegenteil, Herr Thomas,“ verteidigte sich Günther, so ungeschickt wie gewöhnlich. Mit seinem verlegenen Gesicht nahm er sich aus wie ein auf Gott weiß was für einer That ertappter Sünder.

„Gegenteil ist gut,“ sagte Ludwig, den einen Mundwinkel verziehend. „Sehen Sie ’mal an. Sie hatten also das dringende Bedürfnis nach einem ganz besonderen Kosestündchen mit mir? Das find’ ich aber rührend. Warum haben Sie denn das nicht gleich gesagt?“

„Genug, genug,“ bat Hanna, die mit wachsendem Unbehagen der Art zusah, mit der ihr Mann einen Gast bewillkommnete, der ihr alter Freund war. „Sehen Sie nicht so begossen aus, Güntherchen, mein Mann neckt gern, das müssen Sie erst noch gewohnt werden. Behalten Sie Ihren Platz. Und du, Ludwig, komm hierher zu mir. Soll ich den Kaffee bestellen?“

„Keine Spur. Wenigstens für mich nicht. Und für dich auch nicht. Hast du vergessen, daß wir in die Ausstellung wollten? Es ist Zeit, mein Kind, ich gestatte mir, dich dazu abzuholen. Also geschwind, zieh’ dich um!“

„Aufschieben könnten wir’s wohl nicht?“ fragte sie zaghaft bittend. „Wir sitzen hier gerade so gemütlich. Wenn wir morgen gingen?“

„Morgen kann ich nicht. Und was ich gesagt habe, habe ich gesagt, mein Engel. Das weißt du doch nun eigentlich schon, was? Also hoppla, wenn ich bitten darf! In einer Viertelstunde – nein, jetzt in zehn Minuten ist fertig angespannt. Sehr schön kannst du dich also schon nicht mehr machen. Sie entschuldigen, Herr – Musikdirektor. Wir hoffen, ein anderes Mal das Vergnügen zu haben. Ja, was ich noch sagen wollte, um auf Ihre Frage von vorhin zurückzukommen auf das Wiedererscheinen [631] meiner Frau in Ihrem Kirchenchor; spitzen Sie sich nicht allzufest. Vor allen Dingen ist sie voraussichtlich zunächst nicht in Berlin, wenn Sie anfangen. Denn da es meiner Schwiegermama so gut geht, werden wir unsere Reise nach dem Süden, die erst für September geplant war, schon viel eher antreten. Sorgen Sie also beizeiten für Ersatz. Man kann nie wissen, wie alles kommt. „Aber – von dieser schnellen Abreise wissen wir ja noch kein Wort,“ sagte Hanna, aufs äußerste erstaunt.

„Ich habe sie auch vor einer Viertelstunde erst beschlossen, mein süßes Kind. Langatmige Pläne sind nicht meine Sache. Du würdest mich aber riesig verbinden, wenn du jetzt schleunigst vorwärtsmachen wolltest. Ich habe die Ehre, Herr Günther.“

„Er bleibt noch ein bißchen bei mir,“ sagte Frau Wasenius. „Wenn er Zeit hat?“

„Hab’ ich, Mamachen, gerne, wenn Sie erlauben.“

Thomas, schon zum Gehen gewendet, machte eine höflich zustimmende Bewegung über die Achsel zurück.

„Das ist recht,“ sagte Hanna rasch. „Bleiben Sie noch lange bei ihr, so lange Sie können. Und kommen Sie bald wieder, ja?“ Sie umschlang die Mutter und küßte sie zärtlich. „Auf Wiedersehen, mein Engel,“ murmelte sie nahe an ihrem Ohr. „Bis nachher. Ich werde alles schön finden, was ihm gefällt, dann geht’s schneller.“ – Und zu Günther mit einem gezwungnen Lächeln, das unbekümmert aussehen sollte: „Ueber das mit dem Singen reden wir noch. Adieu, adieu!“

17.

„Mutterchen?“

Alles still.

„Zweiäuglein, schläfst du? Zweiäuglein, wachst du?“

Hanna blieb auf der Schwelle zwischen Wohn- und Schlafzimmer stehen und lauschte noch ein paar Augenblicke in das dämmrige Gemach hinein, in dem die Vorhänge noch geschlossen waren.

Nichts rührte sich.

Von hier aus konnte sie das Bett nicht ganz übersehen. Die Thür stand nur halb offen, sie knarrte, wenn man sie bewegte. Also lieber nicht! Lieber noch ein bißchen schlafen lassen. Es war ja noch Zeit. Sie konnte auch erst ihre Vögel besorgen. Mittlerweile wachte die Mutter dann wohl von selber auf. Das Gezwitscher und Geschmetter mußte sie ja wecken. – –

Doch noch nicht?

Immer noch still da drinnen? Hanna beugte sich vorsichtig etwas um die Thür herum. sie konnte aber nichts erspähen als eine still auf der Decke ruhende Hand.

Also erst noch die Blumen.

Dann aber mußte Ernst gemacht werden. Sonst kam Ludwig, ehe sie fertig waren, und das war der Mutter unangenehm. Sie ließ ihn nicht gerne warten. Er vertrug das Warten auch nicht.

Was lagen denn da für Rosen auf dem Frühstückstisch, an ihrem, der Mutter, Platz? Drei blasse, zarte Rosen, zusammengebunden. Ein Kärtchen daneben.

„Arnold Rettenbacher sendet erfreut Gruß und Glückwunsch zum Beginn der Genesung.“

„O,“ sagte Hanna, mit weichem Lächeln, leise. Dann ist also dieser gute, kleine Günther noch gestern nachmittag zu ihm gelaufen, um es ihm zu erzählen. Und er hat dieses heute früh auf dem Wege zur Schule hier abgegeben. Das bring’ ich ihr ans Bett. Damit wecke ich sie.

„Mein Mutterliebchen, jetzt kann ich dir nicht mehr helfen. Wie schläfst du aber heute auch fest!“ Hanna stand an dem Bett. In diesem Dämmerlicht nach der Sonnenhelligkeit da draußen unterschied sie nicht deutlich das liebe Gesicht. Sie beugte sich nieder.

Wie lautlos, wie unmerklich ging dieser Atem. Wie still lag sie da, tief in den Kissen, bleich, der schmale Kopf müde zur Seite gesunken, regungslos.

Hanna beugte sich tiefer hinab.

„Mutter“ – sagte sie entsetzt, heiser, von einem jähen, fürchterlichen Zittern überfallen; sie griff nach der still ruhenden Hand – der schweren, todeskalten – –

„Mutter“ –

Und noch einmal, laut, verzweifelnd aufschreiend „Mutter“

Dann nichts mehr.

Ja, sie schlief heute fest.

Gar, gar zu fest. Kein Rosenduft weckte sie mehr, kein Vogelzwitschern, kein Rufen. Eingeschlafen, heimlich, mitten in tiefster, dunkler Nacht, unbewacht, stumm, ohne Abschied. –

Hannas Aufschrei war draußen gehört worden. Bertha kam eiligst ins Zimmer und sah ihre junge Herrin zusammengeknickt, regungslos, tief über die schlafende Frau gebeugt.

Die schlafende – –?

„Allmächtiger Gott!“ kreischte das Mädchen und prallte zurück, rannte zur Thür hinaus auf die Treppe und erfüllte das Haus mit Hilferufen. Die Dienerschaft lief erschrocken zusammen. Fragen, Durcheinander, Thürenschlagen, August allein blieb besonnen. Er lief ans Telephon und benachrichtigte den Sanitätsrat, der sofort zu kommen verhieß. Dann eilte er die Treppe hinauf zum Schlafzimmer seines Herrn, der durch die Unruhe im Hause schon gestört worden war und das schnelle, kräftige Klopfen des Dieners ärgerlich beantwortete.

Auf den Bericht, es scheine mit der Frau Doktor zu Ende zu sein, war er dann freilich mit einem Satz aus dem Bett und, ohne ein Wort zu verlieren, im Umsehen in den Kleidern.

Drunten hatte sich mittlerweile Bertha wieder in das stille, dämmrige Zimmer hineingewagt, während die andern Dienstboten ängstlich zusammengedrängt in einer flüsternden Gruppe im Wohnzimmer stehen blieben. In Thränen aufgelöst sah sie scheu von der Thür aus nach ihrer armen jungen Frau, die immer noch tief über die Mutter hingebeugt kauerte, die vorgestreckten Hände in die Kissen vergraben, als sei sie so zu Stein erstarrt.

Thomas trat jetzt hastig ein. Nach einem Schnellen Rundblick befahl er mit gedämpfter Stimme dem weinenden Mädchen:

„Machen Sie hell! Gardinen zurück! Fenster auf!“

Goldig strahlend flutete das Morgensonnenlicht zum Zimmer herein. Sommerherrlichkeit jubilierte draußen mit Vogelstimmen, atmete Blütenduft und webte in Glück und Daseinsfreude.

„Komm, mein armes Herz,“ sagte Ludwig so sanft er konnte. Er schlang den Arm um den hingesunknen Leib seiner Frau und hob sie in die Höhe. Mit scheuer Ehrfurcht streifte dabei sein Blick das Gesicht der Toten, das in seiner starren, wächsernen Ruhe so unbarmherzig weiter schlief.

Hanna zuckte zusammen und sah sich um. Sie griff nach der Hand, die sie emporzog, und wand sich los. Thomas erschrak vor dem gottverlassen öden Blick der ihn aus ihren Augen traf. „Ich bitte dich,“ sagte er halblaut, erschüttert. „Hanna!“ Er versuchte aufs neue, sie zu umschlingen.

Aber sie stemmte die flachen Hände gegen seine Brust und schob ihn weg. Ihre Lippen zuckten, doch blieben sie geschlossen. In ihren Augen lag eine solche Gewalt todwunden Jammers, daß er mutlos davor zurückwich und sie freigab.

Sie brach dann mit einem dumpfen Stöhnen an dem Bett in die Kniee, den Kopf neben die tote Mutter aufs Kissen gebettet. Schauer liefen über sie hin. Sie weinte nicht, es war nur ein tiefes, anhaltendes Röcheln, das dem Mann wie mit Zangen ans Herz griff. Er zog einen Sessel heran und ließ sich dicht am Bett darin nieder. Zu berühren wagte er das arme zitternde Geschöpf nicht mehr.

So gingen die Minuten hin, die ihm die längsten seines Lebens dünkten, und wie eine Erlösung begrüßte er das Erscheinen des Sanitätsrats, der auf die Schreckensnachricht hin wie er ging und stand, aufgebrochen war. Mit einer fast zornigen Bewegung seiner ratlosen Bekümmernis bat Thomas, aufspringend und ihm entgegeneilend, den alten Herrn um Hilfe in dieser ersten schweren Not.

Auf sein halblautes: „Was machen wir nur mit ihr?“ antwortete der Doktor, nach einem kurzen Blick auf Hanna, noch gedämpfter: „Am besten wäre ich zunächst mit ihr ganz allein.“

Und die immer noch vor sich hinweinende Bertha zur Thür hinausschiebend wandte er sich mit einer verabschiedenden Handbewegung zu Thomas. „Sorgen Sie, bitte, für unbedingte Ruhe in der Umgebung dieses Zimmers.“

Leise setzte er sich dann am Bette nieder.

Mit dem gelassenen Blick des erfahrenen Arztes, dem kein Totengesicht mehr neue Geheimnisse erzählt, betrachtete er eine [634] Weile die stillen Züge der schlafenden Frau, in denen jener tiefe, seltsame Frieden aufzudämmern begann, der früher oder später die Starrheit der unbarmherzigen Majestät des Allbezwingers ablöste. Mit den warmen, herzlichen Augen des Menschenfreundes sah er dann auf die niedergeworfene, friedlos zitternde arme Gestalt der jungen Frau. Das dumpfe Stöhnen war verstummt, aber es rüttelte sie Schauer um Schauer. Ein Weilchen blieb es noch still im Zimmer. Durch die offenen Fenster zog in breiten glänzenden Streifen das Sonnengold herein; die Spatzen lärmten im Gebüsch, leise und melodisch klang dazwischen das plätschernde Rieseln des hohen Wasserstrahles im Springbrunnen. Dann sagte der alte Herr, sacht und gedämpft, als spräche er zu sich selber: „Wie sanft sie ruht, wie friedlich!“

Hanna zuckte zusammen und richtete sich langsam auf.

Er hätte gern das arme, elend entfärbte, verzerrte Gesicht in beide Hände genommen und gestreichelt. Aber er hütete sich wohl, er rührte sie nicht an. Er nickte ihr nur freundlich zu.

„Nicht wahr?“ sagte er noch. Und als sie nun, wie unter einer jähen, peinvollen Erinnerung, die Arme an den Leib ziehend, sich furchtsam umsah, winkte er beruhigend: „Es ist niemand sonst da. Die Thür ist zu. – Nicht wahr?“ wiederholte er dann, „wie friedlich sie ruht!“

Hanna kehrte das starre Gesicht der Mutter zu. „Sie ist tot,“ brachte sie dann heiser, fast tonlos heraus, mühsam die blutleeren Lippen regend. „Von Frieden weiß sie nichts.“

„Nicht?“ fragte er sanft. „Sehen Sie sie doch an!“

„Von Frieden weiß sie nichts,“ wiederholte Hanna, unter einem neuen Schauer erbebend. „Wie könnte sie Frieden haben, wenn sie wüßte, daß ich – hier allein –“

„Wohl, wohl,“ sagte der Arzt mit ernstem Lächeln. „Aber – sie leidet nicht mehr. Wollen wir ihr das nicht gönnen?“

Hierauf blieb es eine gute Weile still.

Hannas thränenlose, starre Augen hingen unverwandt an dem Gesicht der Mutter, auf das der unermeßliche, verheißungsvolle Traum der Ewigkeit den Abglanz eines sanften Lächelns hauchte.

„Hat sie es gewußt?“ kam es dann wieder in demselben, schwerverständlichen, zerbrochenen Ton von Hannas Lippen.

„Ganz gewiß nicht. Es war ein schmerzloser Tod, ohne Kampf, ohne Wissen, wahrscheinlich im Schlaf.“

„Ohne Abschied –“ sagte Hanna. Sie hob einen Augenblick, wie in schweren Schmerzen, die Hände an die Schläfen, ließ sie aber nun wieder sinken. „Ohne Abschied –“

„Also friedlich,“ setzte der alte Herr hinzu. „Wie hätte sie wohl beim Abschied gelitten! Möchten Sie sie zurückrufen, damit sie das auch noch erführe?“

„Zurückrufen!“ schrie Hanna auf „Ja, ja, zurückrufen! Sie wollte ja noch gar nicht sterben! Sie wollte ja noch mit mir glücklich sein!“

„Wir wollen fast nie sterben, meine liebe, gnädige Frau. Der heißeste Lebenswille wächst oft im Todesschatten.“

„Darum gestern so viel Freude, den ganzen Tag, so viel Hoffnung –“

„Ein verlöschendes Licht brennt flackernd hell. Haben Sie das noch nie gesehen? Die Flamme steigt höher als vorher, sie reckt sich und leuchtet im Vergehen. – Mir scheint, das Schicksal hat es noch gnädig mit ihr gemeint, daß es ihr den Abschied ersparte. Es stirbt sich leicht im Schlaf und ohne Seelenpein. Nur wenigen wird es so gut. – Wie nun, wenn Sie einem stundenlangen, qualvollen Todeskampf hätten zusehen müssen? wenn Sie sie in den Armen gehalten hätten, während sie verzweifelnd nach Atem rang? wenn die Sterbende Ihren Jammer gesehen hätte? wenn sie gewußt hätte: ich muß fort von dem Kind? – – Nein, nein, es ist gut so, meine liebe, gnädige Frau. Da es kommen mußte, wie es kam, ist es gut auf diese Weise.“

Mit einer jähen Bewegung wandte sich Hanna zu ihm. In ihren glanzlosen Augen zuckte ein düstres Funkeln auf.

„Warum haben Sie mir’s nicht gesagt – damals, daß keine Hoffnung war? Warum haben Sie mich belogen?“

„Das Lügen ist zuweilen unsere heilige Verpflichtung. Es ist Arzenei, uns anvertraut wie andere Gifte.

„Arzenei, heilige Arzenei –“ wiederholte die Unglückliche, in öder Verwirrung vor sich niederstarrend. Sie schüttelte dann den Kopf. „Sie hätten mir sagen müssen – – sagen müssen –“

„Und wie würden Sie dann wohl das Leben dieser letzten Wochen ertragen haben?“

„Ich würde – –“ sie verstummte wieder, heftig zitternd, und schloß die Lippen. Mit einem jammervollen Blick sah sie sich rings im Zimmer um.

An der Thür wurde jetzt geklopft.

„Wer ist es?“ fragte der Doktor, nur spaltbreit öffnend.

„Ein Freund,“ antwortete Pastor Erdmann.

Bertha hatte ihn geholt. Er trat ein, Hanna wandte sich um und schrie laut auf. Sie streckte ihm die Arme entgegen.

„Sie ist tot, sie ist tot! Alles war umsonst!“

18.

„Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben, denn ob der Leib gleich stirbt, doch wird die Seele leben! – –“

Stand sie wirklich da an dem offenen Grab? – Und breitete der Pastor seine Hände über den Sarg, den festgeschlossnen?

– Und sie sah ihn hinabsinken, verschwinden – und blieb am Leben da oben, starb nicht vor Jammer?

‚Wir wollen fast nie sterben', hatte der da neben ihr gesagt, der alte Doktor. O Gott im Himmel, sie wollte so gern! All ihr Lebenswille lag da bei der stummen Mutter im Grab. Ihre arme Seele schrie nach dem Tod, nach dem unbarmherzigen Tod, der vorbeigegangen war, ohne sie mitzunehmen, der sie übrig gelassen hatte, ganz allein.

Da zogen sie schon die langen, weißen Tücher heraus.

Warum faßte sie der Doktor am Arm? Warum legte ihr Ludwig so fest die Hand auf die Schulter? Sie war ja ganz still, sie rührte sich ja nicht, sie gab ja keinen Laut von sich. Nur noch einmal sehen! Nur noch einmal – –

Blumen – Blumen in runden Körben – lose Blumen.

– Ja, hinunterwerfen, Blumen hinunterwerfen, keine Erde. Das war gut. Keine Erde. Sie fielen lautlos hinab, duftend. Viele Blumen. Keine Erde.

„Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir,
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt du dann herfür –“

„Ich hab’s ja gewußt,“ sagte Thomas mit finsterm Gesicht, indem er den Arm um seine Frau schlang, die, als der leise Gesang angehoben hatte, plötzlich in fassungslosem Weinen zusammengebrochen war. „Ich hab’s ja vorher gewußt, daß ihr die Musik auf die Nerven fallen würde. Nun sind wir soweit. „Gottlob, daß wir soweit sind,“ sagte ganz leise der alte Doktor neben ihm. „Nicht auf die Nerven fällt ihr die Musik. Im Gegenteil, sie löst die Spannung. War Ihnen vielleicht wohler bei der Starrheit vorher? Mir nicht, kann ich Ihnen sagen“

„Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
Reißt’ du mich aus den Aengsten
Kraft deiner Angst und Pein!

„Lassen Sie sie weinen, viel weinen! Der alte Sebastian Bach thut ihr keinen Schaden. Und führen Sie sie sachte langsam weg. So. – Weiter, nur weiter! – Meine liebe, gnädige Frau, hier kommt jemand, der Ihnen gern die Hand drücken möchte.

Hanna richtete sich mühsam auf und nahm das Tuch von den Augen.

Günther stand vor ihr. Er weinte wie ein Kind, die Thränen liefen ihm in den großen schwarzen Bart.

„Hannichen,“ schluchzte er, „ich sollte bald wiederkommen, hatten Sie gesagt. Nun bin ich da und sie weiß nichts mehr davon. Hannichen, mein armes, armes Hannichen!“

Sie wollte sagen ‚ich danke Ihnen', sie brachte aber nichts heraus. Sie machte sich nur von ihrem Mann los und schlang einen zitternden, matten Arm um Günthers Nacken. Er streichelte sie ein paarmal, löste aber dann sacht ihre Hand von seiner Schulter. Der finstere Blick Ludwigs beklemmte ihn, ließ auch seine Thränen gerinnen.

„Da ist auch der Rettenbacher,“ murmelte er.

Hanna zuckte leicht zusammen, als sie ihre Hand ergriffen fühlte. Sie kannte diese schlanke, warme Hand, die sich da so fest um die ihre schloß. Zum letztenmal hatte sie sie gehalten in [635] der Kirche, als sie Abschied voneinander nahmen. Wie lange war das her? War es nicht viele Jahre? Eine Last von Weh hatte sich in den Abgrund dieser Trennung gesenkt, ein Meer von Kummer und Leid. Mit dem Blick, den die beiden da tauschten, über dieses Meer hinweg, geschah dem in glühender Eifersucht wachestehenden Mann kein Unrecht. Hannas arme Seele hatte in diesem Augenblick keinen Raum für andere Schmerzen. In Arnolds tiefernstem, blassem Gesicht, das wortlos vor Mitleid und Erschütterung auf sie niedersah, grüßte sie nur das des Freundes, der die verlorene Mutter auch geliebt und auch verloren hatte.

Ludwig wußte das nicht. Und hätte man es ihm erklären wollen, er hätte es nicht geglaubt. Er fühlte nur in brennender Qual den Raub, der an ihm geschah. Er fühlte sich ausgeschlossen, beiseite geschoben. Das Schmerzensgesicht dieser blassen Frau aber gehörte ihm, mit all seinem Jammer. Heiße Röte schoß ihm flammend bis zur Stirn.

„Bitte,“ sagte er rauh, mit einem raschen Griff nach Hannas Arm, die verschlungenen Hände lösend. „Diesen Weg entlang, dort ist die Pforte. Und unser Wagen. Ich bitte dich inständigst, Hanna, komm, mach’ ein Ende!“

Sie fuhr zusammen und sah sich hilflos um.

„Mutter –“, sagte sie heiser, gequält. „Wo ist – –“

„Es ist vorbei, komm, komm, mach’ ein Ende!“

„Vorbei“, wiederholte sie tonlos und ließ sich wegführen.

Es schien ihr auch kaum zum Bewußtsein zu kommen, daß er sie, als der Wagen sich kaum in Bewegung gesetzt hatte, mit Heftigkeit an sich zog. Still und regungslos saß sie da, mit großoffenen, wieder trocknen, starren Augen. Am Hause angekommen, mußte er sie beinahe aus dem Wagen herausheben, sie hätte ohne seine Hilfe den Tritt verfehlt.

Erst im Treppenhaus, als er sie die Stufen zum oberen Stock hinaufführen wollte, schien sie zu erwachen, schien sich zu besinnen. Sie machte sich von ihm los und ging einige Schritte nach rechts, nach der Gartenseite zu.

„Wohin?“ fragte er, sofort wieder neben ihr.

„Zu – –“ sie verstummte, wies nur auf die Thür zum Wohnzimmer der Mutter.

Er legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Nicht doch, mein Kind, laß das, komm’ mit mir hinauf!“

Sie schüttelte nur den Kopf und schob an seiner Hand, um ihre Schulter zu befreien, ging auch vorwärts und griff nach der Klinke.

Die Thür war verschlossen.

Mit einem dumpfen, drohend fragenden Laut wandte sie sich zu ihm herum, die Finger um die niedergebogne Klinke geschlungen.

„Du siehst“ – sagte er mit etwas gemachter Gelassenheit – ihrem bleichen, scharfgespannten Gesicht gegenüber war er sich bewußt, einer entscheidenden „Scene“ entgegenzugehen – „du siehst, mein liebes Kind, es ist zu. Abgeschlossen. Ich habe den Schlüssel. Einmal mußte es ja sein. Ein Abschnitt mußte gemacht werden. Also lieber gleich. Du sollst dich nicht nutzlos in schmerzaufwühlende Erinnerungen vergraben. Wenn ich dich gehen ließe, dann würdest du tagaus tagein in den verlassenen Räumen sitzen, würdest dir jeden Zollbreit Boden mit Jammer pflastern. Das will ich nicht. Das ertrage ich nicht. Ich habe in diesen Tagen gerade genug davon zu kosten bekommen. Du sollst dich nicht mehr da drinnen einspinnen und dich vor mir verkriechen. An meinem Herzen ist dein Platz. Zu mir sprich dich aus, dann wird dir leichter werden. Gott im Himmel, ich habe ja riesiges Mitleid mit dir. Ich verlange ja nicht, daß du mir zuliebe schon heiter sein sollst. Aber du sollst bei mir sein! Ich will dich um mich haben! Ich habe dich nicht geheiratet, um dich an einen Schatten zu verlieren. Ich liebe dich und ich lasse dich keinem. – Sieh mich nicht so entsetzt an! Ich bin kein wildes Tier, ich fresse dich nicht. Ich bin auch kein Kerkermeister, wenn du das vielleicht glaubst. Jeden Gefallen will ich dir thun, den ich dir an den Augen absehen kann, was du dir wünschest, will ich dir kaufen, nichts wird mir für dich zu teuer sein. – Du denkst in deinem Sinn, ich wäre ein roher Patron, nicht wahr? Du denkst, ich hätte dir Zeit lassen sollen, dich zurechtzufinden, sozusagen. Aber darauf geduldig zu warten, geht über meine Kräfte. Unterdessen fahre ich aus der Haut. Du hättest dich auch nicht zurechtgefunden. Du hättest dir aus den kraftlosen Resten da drinnen ein Sanktuarium gebaut und hättest dich hineingesetzt. Und ich hätte an der Thüre stehen dürfen und dich um einen Gnadenknochen anbetteln. Zu dieser Rolle bin ich nicht geschaffen. Darum habe ich nach diesen entsetzlichen letzten Tagen bei mir beschlossen, lieber kurzerhand sofort ein Ende zu machen und dich als mein unbestreitbares Eigentum zu reklamieren. Gott bewahre, dies Gesicht! Wie ein Lamm auf der Schlachtbank! Was will ich denn so Schlimmes von dir? Ich liebe dich und will dich glücklich machen. Also sei jetzt ein braves Kind und laß die Klinke da los! Gieb mir die Hand und komm mit! Willst du? So – das ist recht.“

Langsam gaben die klammernden Finger den Griff der Thüre frei, er schnellte klirrend in die Höhe.

Ludwig schlang fest den Arm um die zusammenzuckende Gestalt seiner Frau und führte sie weg, die Treppe hinauf.

Sie sträubte sich nicht mehr.

'Mein erster Sieg', dachte er mit einem verstohl’nen, tiefen Aufatmen. Der schwerste. Es ging besser, als ich fürchtete. Alles andere findet sich nun von selbst.

[645]
19.

Mit einiger Besorgnis hatte Ludwig Thomas der ersten Nacht, der ersten nach dem Begräbnis, entgegengesehen. Er hatte erwartet, daß sie sich in ihre Kissen gedrückt zu schanden weinen und schluchzen würde. – Nichts davon. – Sie lag, ohne sich einmal zu rühren, ohne einen Laut bis zum Morgen. So oft er sich aufrichtete, um nach ihr zu spähen, sah er ihr bleiches stilles Gesicht mit offnen Augen, unverändert. Daß sie gar nicht schlief, war ihm unangenehm, machte ihn eigentlich nervös. Er selber hatte dadurch wieder eine unruhige Nacht. Denn, obwohl er von der Müdigkeit überwältigt, immer wieder einschlummerte, weckte ihn zu ungezählten Malen das quälende Bewußtsein dieser schweigend wachenden Nachbarschaft. Aber er musste ja schon froh sein, wenn sie nicht jammerte und stöhnte. Seine Energie nach der Heimkunft vom Friedhof hatte gute Dienste geleistet. Er hätte nur gleich so energisch auftreten sollen, hätte sich gar nicht erst von der Autorität des sentimentalen alten Doktors beeinflussen lassen sollen, der verlangte, daß man Hanna einstweilen zu nichts, aber auch zu gar nichts zwingen soll, daß man nicht einmal den Versuch mache, sie aus dem Sterbezimmer wegzubringen, daß man sie ruhig mit ihrer Mutter allein lassen, nachdem sie sie mit Hilfe der Bertha gekleidet und in den Sarg gelegt hatte.

Er begriff jetzt nicht mehr, daß er so schwach hatte sein können, diesen offenbaren Verrücktheiten nachzugeben. Ein solches [646] Sichgehenlassen, ein solches Schwelgen in Jammerseligkeit! Daß ein Arzt so etwas gutheißen konnte! Anordnen noch geradezu! Wenn es nicht der alte Meinhardt gewesen wäre, der seinen despotischen Doktorkopf daraufgesetzt hatte – von einem andern hätte er sich in seinem eigenen Hause nicht dermaßen dreinreden lassen, das war gewiß! Freilich war ihm Hannas Verzweiflungsgesicht allgemach auf die Nerven gefallen. So lange diese Tote noch unbestattet war, hatte er, das fühlte er deutlich, keine Macht über seine Frau. Also abwarten. An diese Tage wollte er denken. Nur drei, aber was für welche! Und Nächte! Denn infolge all dieser schwächlichen Zugeständnisse hatte sich Hanna auch zu Beginn der Nacht nicht von der Toten weggerührt, hatte sich eingeschlossen und weder auf Bitten noch Zureden geantwortet. Erst als er ihr, in aller Schonung, aber doch unmißverständlich, durch die Thür hindurch erklärt hatte, er werde den Schlosser kommen lassen, da hatte sie aufgemacht. Aber er war vor dem Gesicht, mit dem sie ihm da plötzlich gegenüberstand, beinahe zurückgeprallt. – Erbarm’ dich doch, hatte sie gesagt, und das mit einer Stimme, die ihm förmlich Herzklopfen verursachte – erbarm’ dich noch die kurze Zeit, die sie über der Erde ist! Laß mich hier bei ihr. Quäle mich nicht, ich bitte dich sehr! – – Nun, so hatte er sich erbarmt, war schwach genug gewesen, stillschweigend seiner Wege zu gehen hatte noch das Begräbnis mit all seinen Aufregungen und Quälereien abgewartet. Aber es stand bombenfest bei ihm, daß von da an sein Regiment, das des gesunden Menschenverstandes, beginnen würde. Mit dem Schlüssel, den er in die Tasche steckte, hatte er seine Macht und seinen Hausherrenwillen wieder an sich genommen. – Er war dann auf einen sehr heftigen Auftritt gefaßt gewesen, hatte sich auf Schreien und Weinen eingerichtet, auf Festhaltenmüssen, auf gewaltsames Hinauftragen, auf Einsperren, auf Zwang im Sinne des Wortes. Er war zu dem allen entschlossen gewesen, um ein Ende zu machen und sich seine Machtstellung ein für allemal zu sichern. Aber – von dem allen keine Spur. Kampf nur in den Zügen des bleichen Gesichts. Schrecken, Abscheu, Angst, Starrheit. Und mit der Starrheit lautlose, wortlose Ergebung. Gehorsam! Wie er im Stillen verwundert war! Wie er sich dieses ersten Sieges freute! Wie er sie dafür liebte! Wie er sie dafür gern in die Arme genommen, mit Küssen bedeckt hätte! Wenn er nicht bange gewesen wäre, sie damit wieder aufzuschrecken. Einstweilen nahm er sich vor, Geduld mit ihr zu haben, froh zu sein, daß sie nun Tag für Tag da saß, in ihrem kleinen, reizenden Boudoir, zwischen all den Herrlichkeiten mit denen er es geschmückt hatte. Geduld! Ein schweres Stück Arbeit für ihn. Einen Tag, zwei Tage, das ging allenfalls. Aber auf Wochen! Schauderhaft! Er wollte es aber verrichten zur Belohnung, daß sie da nicht im Hause herumjammerte, daß sie nicht mehr vor ihm davonlief. Er wollte auch nicht murren, wenn es noch ein Weilchen dauerte, ehe in den stumpfen Blick dieser grauen Augen wieder Wärme kam.

Einen verteufelt schlechten Anfang hatte ihre Ehe genommen mit diesem Todesfall, mit dieser schweren Erschütterung!

Allerdings war ja die Katastrophe vorauszusehen gewesen. Der Doktor hatte ihn darauf vorbereitet, hatte ihm damals gleich aus der Hoffnungslosigkeit des Falles kein Hehl gemacht. Daß man Hanna die Wahrheit verschwieg, verstand sich von selbst. Mochte sie doch das Zusammenleben mit der anscheinend genesenden Mutter ungestört genießen, so lange als möglich. Vielleicht sogar, daß sich wirklich bei guter Pflege noch eine Art von Aufschub erreichen ließ, ein Stillstand des Leidens. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, daß sich eine plötzliche Befreiung von Sorgen und Not, ein plötzliches Glück, wenn nicht als Heilmittel, so doch als kräftig wirkendes Linderungsmittel erwiesen hätte. Der Doktor aber hatte den Kopf geschüttelt und ihm bedeutet, er möge dazuschauen, daß die arme Frau es noch erlebe, ihre Tochter gut versorgt und am Herzen eines liebevollen Mannes geborgen zu wissen. Der Bescheid war ihm damals höllisch in die Glieder gefahren. Denn ein dunkles Gefühl hatte ihm versichert, daß er Hanna ohne die Mutter nicht bekommen werde, daß auf diesen zwei Augen seine ganze Zukunftshoffnung stehe. War sie erst einmal sein, so sollte es ihm nicht darauf ankommen, mit allen Teufeln der Welt um die Erhaltung ihres Besitzes zu raufen! Nur so lange noch sollte das ärmliche Lichtchen dieses verbrauchten Lebens brennen, daß es ihm das glühend begehrte Mädchen in die Ehe hinein rette! – Sie hatte diese Mission erfüllt, die blasse Frau, und nach allen Kräften war er alsdann bemüht gewesen, ihr zum Dank dafür den Rest ihres Daseins zu vergolden. Er hatte sie auch wirklich gern gehabt. Allerdings hauptsächlich mit jener Erkenntlichkeit des Wohlthäters, der über die Thränen seiner Almosenempfänger in Rührung gerät. Er hatte sie gern gehabt als wirksame Vermittlerin zur Erlangung von Hannas Gunst. Mit dem Spürsinn des Liebenden hatte er nach Gelegenheiten gesucht, die Mutter zu erfreuen um den Dank dann von den Lippen der Tochter zu küssen. Das war nun vorbei.

Unklare Gefühle bekämpften sich in ihm. Herzliches Leidwesen um den Verlust der freundlichen Frau, die ihm so dankbar ergeben gewesen war. Eine noch verstohlen glimmende Freude über den von nun an ungeschmälerten Besitz der Geliebten. Betroffenheit, ungewohnte, verdrießliche Beklemmung angesichts dieses niedergebrochenen Steges, angesichts dieses Wassers, das noch immer zwischen ihnen rauschte. Die Sympathie der Verstorbenen für ihn hatte dieses rauschende Wasser überbrückt. War sie nicht immer noch viel zu früh davongegangen? Oder sollte er sich nicht vielleicht gefälligst schämen, daß er feige nach einem Brett suchte, anstatt einfach hineinzuspringen und hinüberzuschwimmen?

Wie kam ihm nur dieses dumme, vergleichende Bild? Es war doch sonst nicht Herrn Ludwigs Art, seinen sogenannten Gefühlen in poetischer Form Ausdruck zu geben. Das kam, weil er von dieser ungewohnten Uebung in Geduld schon bald im Begriff war, aus der Haut zu fahren! – Warum schwamm er denn nicht wirklich hinüber? Nahm sie sich? Uebrigens saß sie still auf ihrem anderen Ufer. Es sah nicht gerade danach aus, als ob sie weglaufen würde, wenn er daherkäme. Freilich auch nicht, als wenn sie ihm die Hand hinstrecken und an Land helfen würde. – Aber schließlich, sie mußte einsehen, daß nur der Lebende lebt daß man einen Schatten nicht zu Tisch laden darf. Lieber hätte ja die alte Frau noch dreißig Jahre lang als Dritte im Bunde da bei ihnen sitzen können! Aus der Freundin und Helferin, die sie ihm im Leben gewesen war, wurde sie im Tode sein bitterster Feind. Wahrhaftig, so war die Sache, wenn man sie sich bei Lichte betrachtete. Ein unverwundbarer Feind dazu. Denn er konnte ihm nicht zu Leibe, er konnte ihm nicht sein Haus verbieten, er konnte ihm nicht begreiflich machen: geh weg, setz’ dich nicht immer zwischen uns, ich ertrage das nicht!

Uebrigens. eigentliche Vorwürfe konnte er Hanna ja nicht machen. Seit jener großen Rede, die er ihr da unten an der verschlossenen Thür gehalten hatte, hatte er an ihrem Betragen nichts mehr aussetzen können. All diese Wochen hindurch nicht. Von der Mutter sprach sie keine Silbe mehr, als wenn er ihr auch das verboten hätte. Im Grunde war ihm das ganz recht. Mit dem ewigen Sprechen über den Verlust wurde die Sache nicht besser. Auch verdarb man sich die ganze Stimmung. Es wäre ihr nach einer Unterhaltung über die Verblichene womöglich wie eine Lästerung erschienen, wenn er gewagt hätte, von anderen Dingen anzufangen. Vorwürfe machte er ihr ja auch nicht. Fiel ihm nicht ein. Nicht einmal darüber, daß sie so totenstill herumging, als wenn sie selber auch schon gestorben wäre. Aber sie schien vergessen zu haben, daß sie seine Frau sei. Sie irrte sich denn doch, wenn sie glaubte, daß er es noch lange aushalte würde, in der Rolle eines Krankenwärters um sie herumzusitzen. Dazu hatte er sie nicht geheiratet. Nein, wahrhaftig nicht!

20.

Sie stand am Fenster ihres Zimmers und sah in den öden Garten hinunter, sah dem strömenden Regen zu, der in Bächen die Kieswege entlang rieselte, horchte auf den Novemberwind, der gegen die Scheibe pfiff, der die letzten gelben, von den Bäumen gerissenen Blätter in die Pfützen fegte.

Kein Nachher, Mutter!

Wurde es denn wirklich zum erstenmal Winter, seit sie tot war? – War es denn wirklich erst vier Monate her, daß sie da draußen auf dem Friedhof lag? – Vier Monate! Am Sonnabend siebzehn Wochen. Es mußte viel länger her sein. Es mußte [647] siebzehn Jahre her sein. So endlos viele Tage, wie sie seitdem erlebt hatte! –

Nein, es war vorgestern geschehen, gestern, daß sie sie mit den Rosen in der Hand hatte wecken wollen, und daß sie da gelegen hatte mit diesem fürchterlich stummen Gesicht, mit diesen fest, fest geschlossenen Augen. Ohne Atem. Ohne Bewegung!

Sie hatte sich so in früheren Zeiten, wenn sie in sorgenwachen Nächten an ihrem Bett gesessen hatte, immer wieder vorzustellen versucht, wie es sein würde, wenn dieses Entsetzlichste auf der Welt geschähe, und sie ihr stürbe. Hatte sich mit dem Gedanken zermartert, wie das liebe Gesicht wohl im Tode aussehen würde. Vielleicht wie da im Schlaf, im Erschöpfungsschlaf nach schweren Schmerzen?- Sie hatte nichts geahnt von dieser steinernen, unerschütterlichen Ruhe, von dieser Undurchdringlichkeit, von dieser Unbarmherzigkeit des Schweigens. Sie hatte nichts geahnt von diesem Friedenslächeln, das allgemach den starren Ernst verklärte. Von diesem Lächeln , an dem sie keinen Teil mehr hatte, das nicht ihr mehr galt, das keine Antwort gab auf ihre Frage: an was für Liebes denkst du, Mutter? –

Sie hatte sich vorzustellen versucht, wie es sein würde, wenn sie sie nicht mehr hätte, wenn sie fort wäre aus der Welk wenn sie sie nie mehr sehen konnte. –

Mit allem Schauder der Vorahnung, mit allem Jammer der Seelenangst hatte sie das Wirkliche nicht erreicht. Wie wäre es auch möglich, sich auszudenken, was nicht auszudenken ist.

Kein Nachher, Mutter!

Und nun?

Winter und Sommer werden vergehen, ohne dich. Blumen werden blühen, Schnee wird fallen, ohne dich. Weihnachten wird kommen, dein Geburtstag wird kommen, ohne dich. Ich weine, und du weißt es nicht. Ich sehne mich nach dir, und du weißt es nicht. Ich bin allein, ich fürchte mich, und du weißt es nicht. Du bist fort, aus der Welt hinausgegangen, verschwunden, kommst nie wieder! – –

Wie der Regen strömte. Wie er an den Fenstern in zackig schimmernden Rinnen hinunterlief. Grauer, dunkler Himmel!

Auch auf dein Grab fällt der Regen nieder, Mutter, fließt darum her. Aber das kümmert dich nicht, du weißt es nicht. Sonst – wenn die Blätter fielen, wenn wir vom Sommer Abschied nahmen, wie dir vor dem Winter bange war! Dich friert nicht mehr. Ich kann dir nicht mehr deine armen, kalten Füße wärmen. Du bist eingeschlafen, heimlich, in der Nacht, hast nicht gewußt, daß du sterben müßtest, hast nicht gewußt, daß ich hier geblieben bin, ohne dich, daß ich nun aushalten muß hier, ohne dich, bei ihm, dem ich mich verkauft habe für Geld. Um deinetwillen, Mutter, aber doch verkauft! Wenn du wüßtest, wie schwer es mir geworden ist, damals, im Frühling. Wenn du wüßtest, wie mir nun graut. Ich kann’s ja jetzt sagen, ich kann es rufen, hier in meiner Stube, du hörst es nicht mehr, es thut dir nicht mehr weh. – – Wenn er nach Hause kommt, bin ich schon wieder brav. Ich darf ja nicht von dir sprechen. Ich dürfte schon, aber er hat’s nicht gern, ich weiß. Es ist ihm unbequem, es quält ihn, es stört ihn. Er will eine freundliche Frau, die für ihn allein da ist, die nicht an andere Sachen denkt. – –

Geschehene, unwiderrufliche Dinge müssen überwunden werden, dürfen sich nicht immer wieder vordrängen, mahnt er. Das Leben gehört den Lebenden. Auch die Liebe. Verstorbene, auch wenn sie noch so teuer waren, dürfen nicht den größten Platz im Herzen einnehmen. Damit geschieht den Lebenden unrecht. Und die Toten haben nichts davon. – –

Das war nun schon viele Wochen her und seitdem hatten sie über diese Dinge nicht mehr gesprochen. Besser nicht. Und sie hatte sich Mühe gegeben, sich nicht mehr gehen zu lassen in seiner Gegenwart. Er schien im allgemeinen zufrieden mit ihr.

Die Vergangenheit schlief da drunten, hinter der verschlossenen Thür, im Dunklen hinter den schweren Rollläden. – Hier, auf der anderen Seite des Hauses war die Gegenwart mit ihrem Glanz, mit ihrer raffinierten Pracht, mit ihrem elektrischen Licht und ihren Perserteppichen, mit ihren Oelgemälden „erster Meister“, mit ihren Gobelintapeten im Boudoir und ihren Butzenscheiben im Rauchzimmer, mit ihren ledergepunzten Stühlen und ihren damastnen Ottomanen. Die Gegenwart mit ihrer unabweisbaren Pflicht, das Leben müßig zu genießen, in den Tag hineinzuleben, sich um nichts zu sorgen als um die gute Laune des lieben Mannes, dem man dieses Brillantfeuerwerk, diesen Goldregen verdankte. O verhaßtes Geld!

Die Vergangenheit schlief draußen auf dem Friedhof ihren schweigenden Todesschlaf. Sie schlief mit ihrem Andenken an arbeitsvolle Tage, an sorgendurchwachte Nächte, mit ihrem Andenken an viel Kummer und Not und viele kleine, sonnengoldige, herzwarme Freuden. Mit ihrem Andenken an Liebe und wieder Liebe.

Hannas starre Gestalt rührte sich. Sie hob die aufs Fenstersims gestützten Hände und drückte sie an die Schläfen, über die Augen.

„Mutter!“ – schluchzte sie auf.

Sie wandte sich ab und ging mit unsichern, schleppenden Schritten im Zimmer hin und her.

„Nicht weinen, nicht weinen,“ murmelte sie, faßte ihr Taschentuch zwischen die Zähne und schluckte krampfhaft. – „Nicht erst anfangen zu weinen. Denn wie endet das. Hart, hart!“

Wieder am Fenster stehend, bemüht, sich zu sammeln, sah sie eine Gestalt in ihr Gartenthor einbiegen, eine wohlbekannte, behäbige Gestalt. Den Schirm tief über den Kopf gezogen, vorgebeugt gegen den Sturmwind angehend, kam der Pastor langsam den Weg herauf.

„Da!“ sagte sie auffahrend. „Endlich! Und ich habe den Wagen bestellt …Schnell – –“

Sie klingelte.-- „Lassen Sie wieder abspannen,“ befahl sie hastig dem eintretenden Diener. „Ich fahre nicht aus. Ich sehe Pastor Erdmann auf’s Haus zukommen. Er muß in diesem Augenblick schon unten an der Thür sein. Führen Sie ihn gleich zu mir herauf. Nun? Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Schnell, schnell, daß der Herr Pastor nicht erst wartet!“

„Sehr wohl!“

21.

„Lieber Herr Pastor! Endlich!“ Sie nahm seine beiden Hände. „Wie gut, daß Sie da sind!“ Ihre Lippen zitterten, sie atmete ein paarmal tief auf, um ihre Bewegung zu meistern. „Daß Sie nur endlich einmal kommen!“

„Endlich?“ wiederholte er und sah sie freundlich forschend an. „Ich war schon dreimal hier, außer heute.“

„Nein“ sagte sie laut, erstaunt.

„Doch. Man gab mir regelmäßig den Bescheid, Sie empfingen noch keine Besuche. Es dürfe überhaupt gar nicht bei Ihnen darum angefragt werden. So ließ ich denn nur jedesmal meine Karte und meinen Gruß für Sie da.“

Hanna sah mit scharfgespanntem Gesicht, mit gerunzelter Stirn geradeaus, über seine Schulter weg ins Leere. Sie drückte die Lippen fest zusammen.

„Also“ – sagte sie nach einer Pause, nach einem nervösen Räuspern, „setzen Sie sich vor allem, lieber Herr Pastor. Von Ihren vergeblichen Besuchen weiß ich nichts, auch nichts von Ihren hiergebliebenen Karten. Ein Mißverständnis. Ich werde das – – aber gut. Abgemacht. Sie sind da, das ist die Hauptsache. Ich danke Ihnen, daß Sie immer noch wieder gekommen sind. Wenn Sie wüßten, wie froh ich bin, Sie zu sehen! Wie geht es Ihnen? Wie leben Sie?“

„Das mein liebes Kind zu fragen, kam ich her. Von mir soll jetzt nicht die Rede sein.“ Und als sie nur stumm, mit zusammengebissenen Zähnen, den Kopf schüttelte, fuhr er fort. „Doch, doch! Dazu kommt man unter sehr guten Freunden zusammen, daß man sich auch in schweren Zeiten fragen darf: wie lebst du? wie gelingt’s dir? was thust du den Tag über, damit du nachts Ruhe findest? womit machst du dich tüchtig müde? – Sagen Sie mir, mein liebes, armes Kind, was thun Sie?“

Sie breitete mit einer Gebärde der Hoffnungslosigkeit beide Hände aus.

„Nichts,“ sagte sie schneidend. „Ich habe nichts zu thun, es ist nichts für mich zu thun da. Ich bin ja eine reiche Frau, lieber Herr Pastor, ich bin König Midas, alles ist von Gold rund um mich her. Niemand braucht meine Mühe, niemand braucht meine Sorge, niemand braucht meine Arbeit, es ist alles [648] schon gethan. Ich habe keine Pflichten, ich versäume nichts. Sie ist ja tot, um die ich auf der Welt war!“

„Und Ihr Mann?“

„Er – –“

Sie stand auf, sie griff sich mit beiden Händen in den Nacken, abgewandt blieb sie stehen, ohne zu antworten.

Er rührte sich nicht, sah nur mit erschrockenem, betrübtem Gesicht zu ihr hinüber.

„Liebe Hanna,“ sagte er endlich leise und sanft, „liebt er Sie nicht?“

„Ja, er liebt mich,“ antwortete sie mit rauher Stimme, noch von ihm abgekehrt. „Gott sei’s geklagt, ja, er liebt mich!“

„Sie lästern, mein Kind,“ warnte er sehr ernst.

Nach einem schmerzhaften Zusammenziehen der Schultern wandte sie ihm langsam ihr traurig verstörtes Gesicht wieder zu, kam auch auf ihren Platz, neben ihm, zurück. Ein Weilchen saß sie dann noch mit gesenktem Kopf, die festverschlungnen Hände im Schoß.

„Darauf antworte ich Ihnen nicht,“ sagte sie endlich halblaut, ohne ihn anzusehen. „Verteidigen kann ich mich nicht, weil ich Ihnen nicht erklären kann – – ich klage niemand an, auch ihn nicht. Schweigen wir davon. Mir ist auch nicht zu helfen.“

Er nickte, seufzte dann leise. Nach einem Streifblick durch das im Rokokostil sehr üppig ausgestaltete Gemach, sagte er: „Also hier, nehme ich an, bringen Sie Ihre einsamen Stunden zu. Ihre arme Mutter hat diesen glänzenden Raum nie gesehen?“

„Nein. Natürlich nicht. Und auch ich habe ja eigentlich alle meine freie Zeit bei ihr drunten verbracht. Erst – seit sie fort ist, seit – die Thür verschlossen ist, sitz’ ich hier.“

„Thür verschlossen ist?“ wiederholte er verwundert.

Sie nickte, mit einem bittern, rasch verfliegenden Lächeln. „Er wird ja wohl wieder recht haben. Ein Abschnitt mußte gemacht werden. Also lieber gleich. Er ist sehr für das abgekürzte Verfahren. Und bei meiner Sentimentalität – was konnte er Gescheiteres thun, als kurzen Prozeß machen? Gleich nach dem Begräbnis! Wie gesagt, nun sitz’ ich hier. Vielleicht denkt er, ich sehne mich so weniger. Während ich –“ sie atmete tief, fast stöhnend – „wenn ich doch einmal wieder etwas anrühren könnte, was ihr gehört hat! Ihr Kleid, ihr weiches graues Kleid. Und ihren kleinen Kragen. Und ihre Schuhe. Sehen Sie – wie ein armer Hund, dem sein Herr gestorben ist, so möcht ich mich auf ihre Kleider legen und ihren Duft einatmen!“ Sie drückte die Hände vor das Gesicht und weinte jammervoll.

Stumm vor Erschütterung streichelte er sie leise über den Kopf.

„Nicht einmal ausräumen hab’ ich noch können, zum letztenmal,“ fuhr sie fort. „Ich bin ja so aus dem Zimmer gegangen, hinter dem Sarge her. Und als ich zurück kam, war die Thür schon zu. Ich glaube, er hat Bertha am andern Morgen noch einmal hineingeschickt, Ordnung machen, alles einpacken. Ich weiß nicht. Am Nachmittag, als ich nach ihr fragte, war sie auch schon fort, auch mir aus den Augen, auch der Erinnerung wegen. Kurzen Prozeß, kurzen Prozeß.

Ganz leise, aber unaufhaltsam, und trostlos weinte sie nun vor sich hin. Sie hatte offenbar vergessen, daß sie hart hatte bleiben wollen.

Erdmann ließ sie gewähren, hielt sie nur sacht um die Schultern gefaßt. Von Zeit zu Zeit schüttelte er nachdenklich und bekümmert den grauen Kopf.

Sie richtete sich endlich von selbst aus ihrer vornübergeneigten Stellung auf und trocknete das nasse Gesicht.

„O weh, meine roten Augen,“ sagte sie, noch heiser vom Weinen. „Das geht heute nicht gut. Aber einerlei. Ich bin so froh, daß Sie da sind, lieber Herr Pastor! Und daß ich einmal sagen kann, wie mir zu Mute ist. Immer schweigen, das hält der Mensch ja nicht aus. Und besonders schweigen und dabei nichts thun, als warten, bis der Tag um ist. Sehen Sie – ich tauge nicht zur Millionärin. Ich passe nicht in dieses üppige Haus. Ich tauge nicht zum Müßiggang. Ich müßte arbeiten um mich selber los zu werden. Ich müßte so viel zu arbeiten haben, daß ich nicht wüßte, wie ich damit zu Ende kommen soll. Ueberm Kopf müßte es mir zusammenschlagen. Todmüde müßt’ ich mich machen. Und auch – ich müßte jemand haben, für den ich sorgen könnte, für den ich mich tüchtig quälen könnte, für den ich mir Freuden ausdenken könnte, dem ich, so gut es eben gehen möchte, bei seinen Arbeiten, in seinem Beruf, helfen könnte. Was verstehe ich von dem Geschäft meines Mannes? Nichts. Er braucht auch meine sogenannte Hilfe gar nicht. Er braucht nur seinen klugen Kopf. Ich habe ja auch nicht nötig, etwas davon zu verstehen, daran liegt ihm gar nichts. Ich brauche nur fleißig sein Geld auszugeben. Das Geld, das ich mir nicht selber verdient habe, um das ich nicht den kleinen Finger gerührt habe. Das verhaßte, das teuflische Geld, für das ich meine ewige Seligkeit verkauft habe. Ja! ja, ja! Sehen Sie mich nicht so außer an, meine ewige Seligkeit. verkauft habe! – Und es hat eine Zeit gegeben, wahrhaftig, in der ich geglaubt habe, mich auf den Reichtum, der kommen sollte, zu freuen. Ich habe nicht gewußt, daß ich ihn für mich nicht brauchte, um froh zu sein. Ich habe nicht gewußt, daß er zum Fluch werden kann. Für meine Mutter hab’ ich zu diesem – diesem – Handel Ja gesagt. Für meine Mutter, weil man mir heilig versicherte, sie würde gesund werden, wenn sie keine Sorgen mehr hätte. Es war gelogen. Und alles ist umsonst geschehen!“

„Kind, Kind, Kind!“ sagte Erdmann, erschrocken über diesen leidenschaftlichen Ausbruch, über ihr bleiches, zuckendes Gesicht, in dem die Augen brannten.

Sie sah es und nahm sich sofort zusammen.

„Verzeihen Sie mir,“ sagte sie, schon wieder sanft, mit einem schwachen weichen Lächeln. „Ich habe Sie betrübt. Das ist unrecht. Ich sollte so nicht reden, denn es nützt nichts, es bessert nichts.“

„Nein, das thut es auch nicht,“ erwiderte er sehr ernst. Aber, was viel wichtiger ist. Sie sollten auch nicht so denken. Nun sehen Sie mich an, als ob Sie fragen wollten. Wer verbietet mir das? Darauf antworte ich Ihnen: Ihre Mutter verbietet Ihnen das. Wie ich sie gekannt habe, in ihrer stillen Duldung, in ihrer Gerechtigkeitsliebe, weiß ich, was sie heute sagen würde, wenn sie Sie so reden hörte.“

„Sie hört’s aber nicht, lieber Herr Pastor,“ unterbrach ihn Hanna mit finsterm Lächeln.

Als hätte sie gar nichts gesagt, fuhr er ruhig fort. „Sie würde sagen: Ganz umsonst geschieht überhaupt nichts, mein Kind. Irgendwo sitzt ein Zweck, man muß sich nur die Mühe geben, ihn herauszufinden. Und an jedem Platz, auf den uns das Leben stellt, können wir irgend etwas thun, können wir uns irgendwie nützlich machen. Mach’ nur deine Augen auf. Steck’ nicht den Kopf in den Sand. Warte nicht ab, bis dein Lebenszweck sich bei dir meldet, sondern geh’ ihm nach, such’ ihn dir! – So ungefähr, denk’ ich mir, würde sie reden. Sie glauben das auch, nicht wahr? Klingt es Ihnen nicht, als ob sie zu Ihnen spräche? Ohne eine segensvolle Spur geht so eine Frau nicht durch das Leben. Ihre unsterbliche Seele, die läßt sie uns, mit der leben wir weiter.

„Lieber Herr Pastor! Ich möchte Sie nicht kränken, aber –“ Hanna drückte die Handflächen zusammen – „Sie – –“

„Ehe Sie weiter sprechen,“ sagte Erdmann, wie abwehrend den Finger hebend, „lassen Sie mich Ihnen den Spruch ins Gedächtnis rufen, den ich ihr mit ins Grab gegeben habe. ‚Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben, denn ob der Leib gleich stirbt, doch wird die Seele leben.’ Hauptsächlich Ihretwegen, liebe Hanna, hab’ ich diesen Spruch gewählt. Hauptsächlich Ihretwegen die Sie ihn hören konnten. Das Andenken, das unauslöschliche Andenken dieser stillen, sanften, geduldigen Frau bleibt leben, steht den Uebrigbleibenden als ein milder Schutzgeist zur Seite. Ihrem Andenken zuliebe thut man, was ihr im Leben Freude gemacht hätte. Ihr Andenken sänftigt die Bitternisse, mildert die Wunden, erinnert an Vergebenes, giebt Mut zum Weiterwandern. Ihr ungetrübtes Andenken giebt Ruhe im Schlaf. Sie, mein Kind, brauchen nur zu wollen, so ist Ihre Mutter unsterblich.

Hanna war tief erschüttert. Sie beugte sich auf seine Hand und küßte sie, ehe er es hindern konnte.

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie leise. „Und verzeihen Sie mir.“

„Was, mein Herz?“

„Daß ich Sie bis jetzt so arg verkannt habe. Sie sind doch der rechte Priester. Sie sprechen mit jedem in seiner Sprache. [650] „Das ist, was wir sollen, scheint mir. Darin besteht unsere Aufgabe. Wenigstens denke ich’s mir so. Wenn es uns gelingt, zu trösten, so ist der Weg, den wir wählen, gleichgültig, und auch die Sprache, so lange sie den Stempel der wirklichen heimlichen Wahrheit, der Liebe, trägt. Und nun mein liebes Kind, ehe ich fortgehe, will ich Ihnen etwas geben, was mir für Sie anvertraut worden ist. Eine Botschaft, wenn man so will, aus dem Jenseits, oder richtiger, ein Vermächtnis, einen Gruß –“

Er hatte ein Ledertäschchen hervorgezogen und aufgeklappt. Ein Brief lag darin. Er reichte ihn ihr.

„Was – – – ist das?“ fragte Hanna erstarrend, fahl im Gesicht.

„An meine Hanna“ – stand darauf. Mit der feinen, zarten, etwas unsichern, vom Schreiben entwöhnten Handschrift der Mutter.

„Oeffnen Sie, lesen Sie,“ bat Erdmann, den der Blick mit dem sie an den drei Worten haften blieb, ohne sich zu rühren, zu ängstigen begann. Er schob ihr ein Papiermesser, das er mit raschem Griff vom nahen Schreibtisch genommen hatte, zwischen die Finger und half ihr den Umschlag aufschneiden.

Endlich schien sie aus dieser Schrecklähmung zu erwachen mit einem schweren, zitternden Atemzug stammelte sie ein unverständliches Wort und faltete das Blatt auseinander.

„Mein Herzenskind! Weil ich mich heute so herrlich wohl fühle, habe ich nicht nur den Mut, auf Musik und alle möglichen schönen Dinge zu hoffen, sondern ich habe auch die Kraft, Dir diesen Brief zu schreiben, den Du erst lesen sollst, wenn ich nicht mehr da bin. Günther hat mich an Deinen Schreibtisch fahren müssen und wird nachher dies Blatt an unsern alten Freund Erdmann zur Aufbewahrung bringen. Er soll es Dir dann einstmals geben, wenn Dir recht wundweh und verzagt ums Herz sein wird.

Laß Dir sagen, mein Kind, daß Du mein Glück und mein Trost gewesen bist, daß Deine treue Liebe mein Leben vergoldet hat. Laß Dich aber auch bitten, den Kummer den mein Tod Dir bereiten wird, mutig zu bekämpfen. So tapfer, wie Du immer im Leben bei mir ausgehalten hast, so tapfer zwing’ auch später Dein Herz von meinem Grab hinweg, wo es nutzlos trauert. Laß mich nicht wirklich gestorben sein. Laß mich lebendig bei Dir bleiben durch den immerwachen Gedanken. Wär’s auch der Mutter so recht? Sei gegen Deinen Mann, das bin’ ich Dich von ganzem, ganzem Herzen, immer so, als wenn ich noch da wäre. Thue mir auch im Tod kein Leid, wie Du mir im Leben keins gethan hast. Mehr sag’ ich über diese Sache nicht. Du wirst mich schon verstehen.

Und nun genug. Als Du noch klein warst, weißt Du noch, und zum Besuch beim Onkel, und ich Dir schrieb, da hieß es immer ganz zuletzt an dieser Stelle sitzt ein Kuß, nimm ihn Dir ab. So küß' ich auch zum letzten Abschied dieses Blatt, mein kleines, großes Mädchen.

Gute Nacht!“

[661]
22.

In dem altdeutschen Trinkstübchen deckte August den Tisch.

Hier oben wurden seit dem Tode der Mutter die Mahlzeiten eingenommen, wieder ganz wie zu Ludwigs Junggesellenzeit, um der Ungemütlichkeit des langen, anspruchsvollen Speisesaales auszuweichen. Mit seiner kleinen Kredenz, seinen verschiednen tiefen Wandschränken und –tischen bot das eichengetäfelte heimelige Gemach Raum genug zur Unterbringung der täglich nötigen Tischgerätschaften. Es lag, mit seinen beiden Fenstern auf die Straße schauend, als gemütliche „Kneipecke“ für kleinere gesellige Zusammenkünfte gedacht, um aber der vielfältig eingeteilten Räumlichkeiten des oberen Stockes durch eine Thür mit dem nach dem Park zu gelegenen Rauchzimmer verbunden. In diesem Raum, dessen viel größere Höhe man durch Hinzunahme des Kellergeschosses erreicht hatte, führte eine schmiedeeiserne, gewundene Treppe direkt auf das flache Dach und in einen ziemlich großen, sehr reizvollen, mit Säulchen umstandenen rankenverhangenen Semiramisgarten; vereinzelte Male hatte man zu Zeiten des Sommers hier unten gespeist, sehr zur stillen Unzufriedenheit der Dienstboten, die mit Schüsseln und Tellern die „halsbrecherische“ Wendeltreppe auf- und abklettern mußten, da der Aufzug wohl bis zum Korridor des oberen Stockes, aber nicht bis aufs Dach hinaus reichte. Jetzt freilich war diese Thür ins Freie seit vielen Wochen schon fest verschlossen und doppelt verwahrt.

August sah, ohne sich in seiner Orientierung zu unterbrechen, mit einem schrägen Seitenblick seiner Herrin nach, die in ihrer rastlosen Wanderung von Zimmer zu Zimmer eben wieder hier eingetreten war und nun in einer der durch vorgebaute Schränke gebildeten tiefen aufgetreppten Fensternischen stand und zu den farbig umrandeten Scheiben hinausschaute. Ein Fieber schien sie umherzutreiben, denn nach kaum einer Minute hatte sie das Zimmer wieder verlassen. Wie im Fieber glühte ihr auch das Gesicht. Das mußte doch wohl mit dem alten Pfarrer zusammenhängen. Ueber eine Stunde war er hier gewesen. Wenn das der Herr wüßte! Ihn, August, traf kein Vorwurf. Was konnte er dafür, daß die Frau ihn vom Fenster aus hatte kommen sehen!

Als Thomas gegen drei Uhr zum Speisen nach Hause kam,wunderte er sich, seine Frau schon oben [662] im Vorsaal zu treffen, anstatt sie gewohntermaßen in ihrem Zimmer aufsuchen zu müssen.

„Was machst du denn hier?“ fragte er.

„Nichts, ich komme dir entgegen. Ich sah vom Fenster aus den Wagen einfahren.“

„Dieses aufregende Schauspiel wiederholt sich alle Tage. Bis jetzt hat es noch nie den Erfolg gehabt, mir das Vergnügen deiner Begrüßung zu verschaffen. Ist irgend was passiert, daß du mich erwartet hast?“

„Aber nein,“ antwortete sie verlegen. „Ich stand nur gerade am Fenster, als der Wagen kam, und dachte. Sieh’, da ist ja schon der gute Mann.

„Na weißt du, mein Haseken – er trat dicht vor sie hin und faßte sie an beiden Schultern – „wenn du nicht ’ne ganz gewichtige Sache auf der Seele hast, will ich Matz heißen. Für nichts und wieder nichts kommst du mir nicht wenigstens neuneinhalb Meter entgegengegangen. Ich bin doch schließlich nicht von gestern, verstehst du. Also raus mit der Sprache. Was ist los?“

„Wirklich Ludwig, es ist nichts,“ antwortete sie, immer beklommener. „Es thut mir leid, wenn du dich wunderst über eine so einfache Sache, daß ich aus dem Zimmer gehe, um dich zu begrüßen.“

„Das kann dir auch leid thun. Soll dir auch leid thun! Du siehst daraus, wie wenig du mich mit Liebenswürdigkeiten verwöhnt hast. Na, es soll vergeben sein, wenn du dich von nun an ein bißchen anständiger gegen mich benehmen willst. Also komm her, sag ’bitte, bitte, lieber Mann!'“

Sie zuckte aber unwillkürlich zurück, als er sie in seiner ungestümen Weise an sich zog und küßte; sein Bart war naß.

„Na was hast du denn? Reut es dich schon, daß du ein einziges Mal nett gewesen bist?“

„Dein Bart –“ sagte sie halblaut, sich abwendend.

„Ach so,“ lachte er, als er sah, daß sie die feuchte Spur hastig abwischte. „Da hätt’ ich wohl erst Toilette machen müssen. Na wart!“

Geschwind zog er sein Tuch aus der Brusttasche und rieb ihr damit über Mund und Wange. Sie machte sich los.

„Ich bitte dich,“ sagte sie mit einem kleinen, schlecht unterdrückten Schauder, „Jeder mit seinem eigenen. Wie kannst du nur!“

„Ei Donner! Mein schönes seidenes Tuch! Na ja, es ist von gestern. Ekelst dich? Als wenn das unter Kameraden nicht ganz egal wäre. Tuch hin, Tuch her, wenn man sich liebt.“

„O nein,“ wehrte sie eifrig, „auch dann nicht. Das könnte nie sein.“

„Auch dann nicht ist gut,“ sagte er mit einem harten Auflachen. „Dies Zugeständnis ist gut. Auch nicht, wenn du mich liebtest, hm?“

„Was für Thorheiten,“ antwortete sie, leicht erschreckt. „Ich denke, du machst dich jetzt wirklich zu Tische in Ordnung. Hast du rechten Appetit? Pauline meint, der Rehrücken wäre auserlesen.“

„Na schön. Ich werde mich also menschlich machen. Trocken und sauber. Zu Befehl. Trocken hinter den Ohren bin ich übrigens schon, wenn du das noch nicht wissen solltest. Ich kriege auch noch heraus, was heute mit dir los ist, verlaß dich drauf.“

'O nein, das kriegst du nicht heraus,' dachte Hanna, als er in sein Ankleidezimmer gegangen war. – Sie seufzte dann tief; es flog dabei ein leichtes Zittern über sie hin. Die leidenschaftliche Erschütterung dieses Vormittags zuckte ihr noch in jedem Nerv. Ihr Herz ging in schweren, harten Schlägen, ihre mühsam errungene Fassung konnte umgeweht werden wie ein Kartenhaus. Wenn sie doch noch einige Stunden Ruhe vor ihm gehabt hätte! Sie ertrug ihn noch so schlecht. Seine laute, klingende Stimme that ihr weh; jeder seiner Bewegungen hätte sie zurufen mögen: Geh weg, komm mir nicht nahe! Und seine Art, an ihr herumzunörgeln, aus ihren eignen Worten kleine Waffen zu schmieden! O, sie kannte das ja nicht erst seit gestern und heute! Und daß er eine Aenderung ihres Verhaltens nicht ohne Bemerkung aufnehmen würde, hätte sie sich eigentlich denken und hätte darauf vorbereitet sein können. Auch, daß diese Bemerkungen sich nicht zartsinnig äußern würden.

Wie dankbar wäre sie ihm für stillschweigende Schonung gewesen!

Mit ihren nach dem langen Weinen noch fieberisch glühenden Augen sah sie vom Fenster her, an dem sie lehnte, zum Speisetisch hinüber, auf den Platz, wo sie sich von nun an die Mutter sitzend denken wollte, als Warnerin, als Schutzengel.

Ich will ja, ich will ja, murmelte sie. Aber was weißt du davon, wie es ist, ohne dich!

Ludwig trat ein. In seiner hastigen, geräuschvollen Art, die Thür mit einem schallenden Schlag auf die Klinke vor sich herstoßend. Sie kannte das nun schon, aber sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, schreckte auch jetzt wieder unwillkürlich zusammen.

Er lachte.

„Nervös!“ sagte er mit gemacht hoher Stimme, indem er, die Schultern und den Rücken krümmend, ihr Zusammenzucken nachahmte. Und als sie ihm nun, mit Ueberwindung lächelnd, entgegentrat, fuhr er fort: „Na also. Ich melde mich gebügelt und geschniegelt. Nun wollen wir ’mal so thun, als wenn wir uns gegenseitig lieb hätten.“ Er zog sie an sich und küßte sie.

Tapfer, ohne Widerstand, überließ sie sich seiner Zärtlichkeit.

Der Eintritt des Dieners erlöste sie von der sie beklemmenden Umarmung. Sie atmete auf und ging an ihren Platz.

Ludwigs Gedanken erhielten im Umsehen eine völlig andere Richtung. Seine Stimmungen, unberechenbar in ihren Folgen und unberechenbar in der Raschheit ihres Wechsels, gaben der Färbung des Tages stets eine Reihe unsichrer, zackiger Linien unvermittelter Uebergänge von rot zu blau, von schwarz zu weiß. – Mit der brummig kritischen Miene des argwöhnischen Feinschmeckers studierte er jetzt das elegante, in den Farben des Meißner Porzellans verzierte Kärtchen mit dem „Menu“, das immer neben seinem Teller liegen mußte.

„Bouillon mit Risotto – Zanderfilets à la crême – Blumenkohl au four – Rehrücken mit Salat und Kompott – Vol au vent von Birnen – Käse und Obst.“

Die Suppe ließ er hingehen. Den Zander strich er mit dem Daumennagel aus. „Ess’ ich nicht.“

„Aber warum? Du hast ihn ja letztesmal gelobt.“

„Liebes Kind – Abwechslung muß der Mensch haben. Immer dasselbe ist nicht auszuhalten! Den Zander hab’ ich mir nun glücklich übergegessen“

„Bester Ludwig, vor beinahe vier Wochen hast du ihn zuletzt bekommen.“

„Keine Spur. Ich habe ja den Geschmack noch auf der Zunge.“

„Nun, das ließe sich leicht feststellen. Ich bewahre ja die Kärtchen da auf.“

„Sitzengeblieben!“ Er winkte gebieterisch mit der Hand „Alibi nachweisen …. Fehlte noch. Wenn ich dir sage, daß ich ihn mir übergegessen habe, kann dir das doch wohl genügen, was?“

„Gewiß,“ sagte sie ruhig, sich zu einem gleichmütigen Lächeln zwingend. „Der Fisch wird es verschmerzen, wenn du ihn nicht mehr magst. Ich kann dir nur im Augenblick keinen Ersatz schaffen.“

„Ersatz! Als ob ich so ein Tyrann wäre! Wie du manchmal sprichst! Ich werde mich schon so behelfen für heute. Obwohl der Blumenkohl mich auch nicht gerade zu einem Meineid verführen könnte.“ Er runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht was mit der Person, mit der Pauline, los ist. Gar nicht mehr dieselbe!“

Hanna errötete. August, der ab und zu ging und jetzt eben hinter ihr an der Kredenz stand, hörte ja der ganzen Unterhaltung zu. Das war auch eine von Ludwigs Gewohnheiten: in Gegenwart der Dienstboten alles zu besprechen, als ob sie blind und taub wären.

„Oder findest du etwa nicht?“ fragte er, da sie noch nicht antwortete.

„Ich? Nein. Aber du scheinst nicht mehr mit ihr zufrieden zu sein.“

„Hast du das bemerkt? Na weißt du, dann hättest du dich als Hausfrau schon einmal mit Ernst dahinter machen können, um Wandel zu schaffen.“

„Wenn ich nur wüßte, was du ihr vorwirfst. Sie hat an Sorgfalt nicht nachgelassen. Und wir überlegen so vorsichtig.“

[663] „Ich hab’ mir eben die ganze Köchin übergegessen. Das ist die Sache. Und dafür kann ich nichts.“

„Aber Pauline auch nicht.“

„Sag’ ich denn das? Fress’ ich sie denn? Du hast manchmal eine Art, meine unschuldigsten Bemerkungen zu verdrehen – und dabei giebt es überhaupt keinen sanfteren, geduldigeren Menschen als ich bin.“

„I du, mein liebes Herrgottchen,“ dachte August, der mit seinem steinernen Gesicht hinter Ludwigs Stuhl vorbeiging. Bloß der Lohn sollte bei dir nicht so hoch sein! Sonst – – sauer kochen könntest du dich meinetwegen lassen mit deiner berühmten Geduld. Na, warte man!“

Auf das ihr nun schon wohlbekannte Selbstlob ihres Mannes antwortete Hanna nicht. Sie ließ die Unterhaltung über eßbare Gegenstände und deren Urheberin fallen, bis der Diener mit der letzten Schüssel davongegangen war und sie mit dem schwarzen Kaffee am Kamin des Rauchzimmers saßen.

23.

„Ich habe schon hin- und hergedacht,“ begann sie alsdann aufs neue, diese Lebensfrage des Hauses Thomas zu besprechen, „Wie man der Stimmung unseres Küchenzettels wieder aufhelfen könnte.“

Er sah sie mit gespannter Miene an.

„Sieh ’mal, also so viel Interesse hast du doch für deinen Mann, daß dir das ein bißchen durch den Kopf geht?“

„Ich habe sogar sehr viel Interesse für meinen Mann,“ unterbrach ihn Hanna freundlich. „Was meinst du, wenn man sich darauf verlegte, in allen Himmelsrichtungen nach auserlesenen Nationalgerichten zu spähen und sie sich anzueignen?“

„Ach,“ er winkte abwehrend und enttäuscht mit der Hand. „Das ist ja nichts! Nationalgerichte haben nur an Ort und Stelle ihren Reiz. Da macht man schon aus Neugier und um nichts zu versäumen, alles mit. Und es schmeckt dann auch. Oder es schmeckt nicht und man hat’s dann doch kennengelernt. Aber mit dem Uebertragen ist das nichts. Da fehlt das Klima, die Umgebung, die Ausnahmestimmung. Außerdem gelingt so was nie im Ausland, wenn man nicht darauf eingefuchst ist. Es geht nicht, laß das nur! Wenn du weiter nichts weißt!“

„Nun, ich denke mir, es müßte eine sehr hübsche Aufgabe sein, sich diese fremden Fertigkeiten anzueignen. Und dafür ist man eben ein genialer Koch, daß man die ausländische Eigenart nachmacht und sie doch vorsichtig den Gewohnheiten des eigenen Gebrauchs anpaßt. Man muß verstehen, zu modifizieren.“

Ein leises, unwillkürlich humoristisches Lächeln lief ihr über den Mund, als sie sein nachdenkliches Gesicht beobachtete, er nahm die ganze Sache blutig ernst.

„Ja, ja, ja,“ sagte er langsam. „Modifizieren. Das ließe sich allenfalls hören. Es wäre ’mal ’was Neues. Aber – ob diese Pauline dazu imstande sein wird?“

„Glaub’ ich wohl,“ sagte Hanna tröstend.

„Und wie gedenkst du das mit der Jagd auf Nationalgerichte eigentlich anzustellen? Willst du Fräulein Pauline auf Studienreisen nach Italien, Rußland, Spanien und so weiter schicken?“

„So dacht’ ich es nicht zu machen. Fortschicken wollt’ ich sie nicht. Rezepte verschafft man sich irgendwie und ausprobieren thut man es eben nach und nach. Ich denke mir das ganz interessant.“

„Willst dich wohl selber dazu in die Küche verfügen?“

„Warum nicht? Gern.“

„Schaden würde es dir nichts, wenn du dich ein bißchen für deinen Mann bemühtest. Aber es paßt sich nicht. Laß den Unsinn also!“

„Findest du es so unsinnig, wenn ich mich zu beschäftige wünsche? Mich verlangt sehr nach Thätigkeit, Ludwig. Der Müßiggang bekommt mir nicht. Ich schäme mich meines faulen Lebens.

Thomas richtete sich aus seiner halbliegenden Stellung auf und beugte sich zu ihr vor.

„Weißt du, mein Herzchen worüber du dich schämen solltest? Ueber deinen Undank. Fahre nur nicht gleich so zusammen! Ueber deinen Undank, hab’ ich gesagt. Anstatt froh zu sein, daß du jetzt ein bequemes Leben hast und keinen Pfannenstiel mehr anzurühren brauchst, jammerst du über Mangel an Thätigkeit. Als wenn du von der Sorte Unterhaltung nicht genug bekommen hättest, bis ich dich davon befreite. Ich denke, die Geschichte saß dir bis zum Halse, was? Aber mit euch Weibern werde der Teufel fertig. Nie seid ihr zufrieden. Müßt ihr euch plagen, greint ihr aus Angst vor der Not. Schafft man euch ein Paradies auf Erden, greint ihr aus Angst vor der Langweile. Ich denke, du hättest am wenigsten Grund, zu maulen, mein Kind. Wie gesagt, schäme dich!“

Hanna antwortete nicht. Mit zusammengebissnen Zähnen innerlich bebend, sah sie vor sich hin. Still, still, ermahnte sie sich. Nimm’s hin, als gerechte Strafe, schlucks hinunter! So mußte es kommen. Warum hast du des Geldes wegen den Mann genommen, den du nicht liebtest. Trag’ es jetzt mit Geduld! „Maule“ nicht!

„Na?“ fragte er, da sie nichts hören ließ als einen zitternden Atemzug. „Sind wir nun wieder in tiefster Seele gekränkt?“

„Nein,“ antwortete sie mit einem mühsamen Lächeln. „Du bist – – sehr verstimmt gegen mich.“

„Gott, Gott, Gott, verstimmt! Wenn ich dir verdientermaßen ein bißchen die Leviten lese, brauchst du nicht gleich zu sagen, ich wäre verstimmt. Du mußt dich daran gewöhnen, mein Kindchen, Tadel hinzunehmen, ohne gleich tragisch darüber zu werden. Du mußt dir diese gräßliche Empfindlichkeit abgewöhnen. Deine gute Mama hat dich immer viel zu sehr als rohes Ei behandelt. Davon sehen wir nun die Folgen. Ich sollte womöglich jedesmal einen Parlamentär mit der weißen Fahne vorausschicken, ehe ich mir gestatte, dich anzureden, ja? Das mindeste ist, daß du erschrickst. Wie ich dieses Zusammenfahren schon satt habe – na! Und jetzt wieder dies Gesicht! Als ob dir das größte Unrecht geschehen wäre.“

„Du irrst dich,“ sagte sie, sich gewaltsam fassend. „Ich glaube gar nicht, daß mir unrecht geschehen sei. Im Gegenteil. Aber wenn du vielleicht manchmal daran denken wolltest, daß mir noch recht – wund zu Mute ist – –.“

„Ja, Herrgott, denk’ ich denn etwa daran nicht? Als ob ich nicht seit Monaten die unendlichste Geduld mit dir gehabt hätte! Mir Ungeduld vorwerfen zu wollen, ist wahrhaftig unerhört, das muß ich sagen!“

Er sprang auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

Ein Weilchen sprach nun keins von ihnen.

Hanna saß unbeweglich, mit aufgestütztem Kopf, die eine Sesselquaste in der festgeschlossenen Hand, und blickte auf den Teppich zu ihren Füßen nieder. Im Gaskamin glühten die kleinen Fancykohlen, ihr Wiederschein spiegelte sich in den silbernen Gerätschaften auf dem niedrigen Tischchen zwischen den beiden weitläufigen großen Sesseln. Zwei elektrische Lampen in Laternenform verbreiteten durch ihre zartgefärbten Gläser ein sanftes Licht. Im Zimmer war alles still, nur von draußen her klang das unablässige Rauschen und Prasseln des Regens, das dumpfe Stöhnen des noch nicht ermatteten Windes.

Thomas hielt in seiner Wanderung inne, vom entgegengesetzten Ende des Zimmers her sah er zu seiner Frau hinüber. Allerlei Empfindungen, Verdruß gegen sie, die ihn in ihrem ganzen Wesen so schwer enttäuschte, wiederaufglühende Wonne an ihrer lieblichen Schönheit, Triumph der Besitzesfreude, Ingrimm über die Unbesiegbarkeit ihrer kühlen Ruhe seiner Leidenschaft gegenüber – quirlten sich in ihm zu einem heftigen, unklaren Gefühl zusammen.

Es entlud sich, wie sich vorläufig noch ein jeder derartiger Widerstreit in ihm entladen hatte.

„Komm her,“ sagte er, rasch auf sie zugehend, „sei brav –“ und schloß sie heftig in seine Arme.

„Du bringst mich um – erbarme dich –“ bat sie zitternd.

„Ich wollt', du brächtest mich einmal so um,“ gab er lachend zurück.

Er hielt sie jetzt auf seinen Knieen, so fest umschlungen, daß sie sich an seine Schulter lehnen mußte, sie mochte wollen oder nicht. „Wünsch’ dir ’mal was!“

„Ich danke dir, Ludwig,“ sagte sie leise. „Ich habe ja alles, ich wüßte nichts, was ich mir kaufen könnte.“

„Na aber, du langweilst dich ja! Was kann ich thun, um [664] dir die Zeit zu vertreiben? Ins Theater gehen können wir nicht. Während der Trauer kann man ja nichts vornehmen!

„Während der Trauer,“ wiederholte sie sacht wie ein Hauch. Er hatte es aber wohl gehört.

„Ja! Nicht wieder sentimental sein! Ich will und mag nun einmal nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Und übrigens, verstehst du, muß alles seine Grenzen haben. Auch diese Trauerbezeigungen. Du denkst doch wohl nicht, für ewige Zeiten schwarz wie ein Kolkrabe angezogen herumzulaufen. Wenigstens wollte ich mir das verbeten haben. Und auch von mir wirst du nicht verlangen, daß ich deiner verstorbenen Mama zu Ehren mein ferneres Leben in klösterlicher Abgeschiedenheit zubringe.“

„Gewiß nicht,“ versetzte sie. „Hast du das von mir gedacht?“

„Na, angestellt hast du dich genügend danach. Also, Gesellschaften geben, in Gesellschaften gehen können wir noch nicht, in Theater oder Konzerte auch nicht. Konzerte machen mir auch keinen Spaß –“

„Wenn es dir recht wäre,“ unterbrach sie ihn mit einem schnellen Entschluß, „so möchte ich wohl am Samstagabend wieder einmal in die Kirche gehen, um den Chor zu hören. Selber zu singen wäre mir noch nicht möglich. Aber nach Musik, nach dieser Musik verlangt mich sehr.“

Aus seinem Gesicht war im Nu alle Freundlichkeit weg. Eiskalt sah er sie an. Er hatte auch gleich die Arme sinken lassen, so richtete sie sich auf.

„Es ist dir also nicht recht?“ fragte sie zaghaft, als er nicht antwortete.

„Nein,“ erwiderte er endlich. „Es ist mir sogar im höchsten Grade unangenehm, daß du darauf wieder zurückkommst.“

„Ist dir denn die Musik so sehr unsympathisch?“

„Unsympathisch! Ich halte sie einfach für ungesund. Und besonders für dich ist sie geradezu schädlich.“

„Aber warum denn?“

„Weil sie deine Sentimentalität noch mehr steigert, weil sie dich immer weichlicher macht. Musik schwächt den Charakter. Das ist ein alter Satz.“

„Wo steht der geschrieben –“

„Mein Kind, bohre nicht so an mir herum, das kann ich nicht leiden! Was ich gesagt habe, habe ich gesagt. Und nun gieb dich drein. Aus dem Zuhören und aus dem Singen kann nichts werden. Jetzt nicht und später auch nicht. Ich wünsche es nun einmal nicht. Als wir noch verlobt waren, konnte ich nichts dagegen thun. Ich nahm mir aber gleich vor, nachher mit dem Unsinn aufzuräumen. Ich will eine gesunde Frau, keine krankhaft aufgeregte. Und Musik zu treiben ist ungefähr das Verrückteste, das Krankhafteste, was du thun könntest. Deine Nerven sollen nicht mehr dadurch aufgereizt werden. Also ein für allemal: Gieb den Gedanken auf! Ich weiß, was für dich gut ist. Punktum!“

Sie sah ihn traurig an. „Meine ganze, liebe, arme Musik verbietest du mir?“

„An dieser Fragestellung kann man schon gleich sehen, wie recht ich habe, da mein Veto einzulegen. Du fragst, als wenn ich dir so etwas wie eine Lebensader unterbinden wollte.“

„Und wenn es nun etwas derart wäre?“

„Thu’ mir den einzigen Gefallen, mein Engel, und quatsche nicht! Höchste Zeit, daß du in gesunde Behauptung kommst. Aus dir wäre was Schönes geworden, wenn du mit deinen verdrehten Singbrüdern zusammengeblieben wärest.“

Hanna antwortete nicht mehr. Mit fernhinträumenden Augen sah sie an ihrem Mann vorbei. Wieder war etwas vor ihr versunken, das nicht mehr zurückkam. Wieder war sie um eine Freude ärmer geworden.

„Schade, daß ich das nicht schon heute morgen gewußt habe,“ sagte sie dann ruhig. „Ich hätte es dem Pastor gleich sagen können.“

„Dem Pastor? Was heißt das?“

„Er war hier.“

„War hier?“ fuhr Thomas auf. „Wie kommt der Kerl, der August, dazu, ihn hereinzulassen?“

Hanna sah ihren Mann betroffen an. Plötzlich fiel ihr das verlegene Gesicht des Dieners wieder ein. Sie machte sich hastig los und stand auf.

„Hast du vielleicht Auftrag gegebe,n ihn abzuweisen?“

„Jawohl. Und zwar strengen. Ein für allemal. „Warum?“ fragte Hanna schroff, mit glühenden Wangen. „Er ist mein ältester Freund.“

„Aber nicht meiner,“ antwortete Thomas, der sich gleichfalls erhoben hatte. „Und nach meinen Wünschen richtet sich der Verkehr hier im Hause.“

„Was hat dir Erdmann gethan?“

„Nichts. Aber er ist mir unangenehm und das genügt. Und er beeinflußt dich und das will ich nicht.“

„Du solltest dich freuen, daß er mich beeinflußt. Du weißt nicht, wie sehr er dein Freund ist.“

„Ich brauche seine Freundschaft nicht. Er soll mir vom Halse bleiben! Ich kann famos ohne ihn leben.“

„Daß ich ihn lieb habe, das gilt dir nichts?“

„Du brauchst niemand lieb zu haben als mich. Weder den Pastor, noch den Musikanten, noch den Schulmeister. Ich wünsche deine Freundschaft nicht mit soundsovielen Anbetern zu teilen.“

„Schäme dich!“ sagte Hanna laut und scharf. Ohne ihn noch einmal anzusehen, verließ sie das Zimmer.

24.

Sie sahen sich an diesem Tage nicht mehr.

Thomas verließ nach einer Viertelstunde, ohne sich von ihr zu verabschieden, das Haus und kam erst tief in der Nacht wieder heim.

In der durch nichts unterbrochenen Ruhe ihres dunkler und dunkler werdenden Zimmers hatte die einsame Frau Zeit, das Geschehene und seine Folgen zu überdenken. Rastlos, von schmerzhaft fieberischer Glut getrieben, ging sie auf und ab. Ihre Stirn brannte, durch ihren Kopf schoß es wie jagende Funken.

Das also war der Anfang dieses neuen Lebens! Krieg, Krieg! Wenn das die Mutter wüßte! So durfte es nicht weiter gehen. Ganz gewiß nicht. Aber was thun? Sich einfach ducken? Sich einfach knuten lassen? Also sollte auf der einen Seite alle Willkür herrschen, auf der anderen nur stumpfsinnige Folgsamkeit? Was wurde dann aus dieser Ehe? Eine Hölle. Immer eine Hölle, was sie auch thun und lassen mochte. Eine Hölle, wenn sie sich zu seiner Sklavin machte. Eine Hölle, wenn sie sich sträubte gegen seine Faust. Im Frieden wie im Kampf der gleiche Jammer. Und ohne Ende so, noch zwanzig, dreißig, vierzig Jahre lang, das ganze, entsetzlich lange Leben hindurch.

Wenn das die Mutter wüßte!

Teuer genug erkauft war ihre Ruhe. Aber sie hatte diese Ruhe noch. Kein Leib, kein Schrecknis, das ihr Kind betraf, that ihr jetzt mehr weh. Wie gut das war! Was für ein Trost das war! Was für ein bittersüßer Trost in dieser tiefen Einsamkeit! Einsam war sie, ja, ja, einsam. Wo war die sanfte Kraft dieser unsterblichen Seele geblieben, die helfen sollte, das Schwere zu ertragen, die alle Bitternisse aufsaugen, die Mut zum Wandern geben sollte? Hatte sie ihr nicht noch eben erst zutiefst das Herz bewegt? Fort war sie, hatte sich auf ihren unsichtbaren Flügeln davongemacht. Und sie war in ihrer gottverlassenen Oede wieder allein. – Wirklich? Wirklich? Mit diesem über das Grab hinaus fürsorgenden Zeugnis der Liebe allein? Mit dieser zärtlichen Mahnung zur Tapferkeit allein? Mit diesem auf das weiße Blatt geküßten letzten Gruß allein?

Verzeih mir, Mutter, verzeih!

Also Kampf! – Aber nicht Kampf gegen ihn, der seines Sieges ja doch schon sicher war. Kampf gegen die eigene Schwäche, gegen die eigene Feigheit, gegen den kränklichen Wunsch, sich still auf die Erde zu legen und das Leben über sich weggehen zu lassen, ohne sich noch zu wehren, ohne sich noch zu rühren in Kampf gegen die Furcht, sich in diesem Leben noch einen Lebenszweck zu suchen und ihn zu erfüllen!

Also vor allen Dingen still sein, fügsam, brav! Es war ja auch das einzige, was ihr übrig blieb. Vielmehr das einzige, was ihr von Rechts wegen zukam. Sie hatte keine Selbstbestimmung mehr. Durfte keine mehr haben. Durch das Zugeständnis [666] dieser Ehe ohne Liebe hatte sie sich selber aufgegeben. Denn ehrlich: Mit der tiefsten Sehnsucht im Herzen nach einem anderen Mann hatte sie den geheiratet, der ihrer Seele gänzlich fremd war, allein des Geldes wegen. Und wenn es auch für die Mutter geschehen war, und wenn es auch den Namen Opfer trug – – ein Handel war und blieb es doch! Sie hatte ja auch Vorteil davon gezogen. Ein trauriger Handel freilich. Würde sie ihn wohl geschlossen haben, wenn sie gewußt hätte, daß in wenigen Wochen ihre sonnige Zukunftshoffnung in Trümmer fallen würde? Daß in wenigen Wochen nichts mehr übrig sein würde von dem, was ihrer That allein zur Sühne gereichte? Daß sie zurückbleiben würde inmitten dieses fluchbeladenen Reichtums, dessen Besitze sie sich schämte, als hätte sie ihn gestohlen? Zurückbleiben als Eigentum des Mannes, vor dessen Zärtlichkeit ihr graute bis ins Herz hinein? Zurückbleiben mit diesem Stachel in der Seele, diesem Stachel des verbotenen, sündhaften Heimwehs nach dem liebsten Freund?

Daß Gott erbarm! – Nur von diesem Gedankenabgrund weg! An diesem „Hätte“ und „Würde sein“ verlor sie den Verstand.

Es war nun ganz dunkel im Zimmer. Aber es verlangte sie nicht nach Licht. Sie brauchte nichts zu sehen. Allgemach erlosch die quälende Glut in ihrem Kopf, die schmerzhafte Rastlosigkeit, die sie umhergetrieben hatte, löste sich in dumpfe Schlaffheit auf. Erschöpft und schattenhaft, wolkig gestaltlos schoben sich die Gedanken hinter ihrer Stirn. In einer Art von Traumzustand, der wohlthätig als Widerspiel der leidenschaftlichen Erregung folgte, saß sie jetzt still in einer Ecke – wie lange, kam ihr nicht zum Bewußtsein. – Es war dann das unablässige Nagen und Bohren der Selbstvorwürfe, das in seiner stillen Emsigkeit mächtiger war als alle Klagen über erlittenes Unrecht, was sie endlich weckte. Sie richtete sich wieder auf und starrte in die Dunkelheit.

Ungerecht durfte sie gegen ihren Mann nicht sein. Gegen ihn am allerletzten. Sie hatte viel Ursache, ihn recht milde zu beurteilen, gerade, weil sie ihn nicht liebte. Hätte sie seine Zärtlichkeit erwidert, so wäre es kein besonderes Verdienst gewesen, ihm willig zu gehorchen, die Ecken und Kanten seines Wesens, die Härten seines Charakters mit Sanftmut zu ertragen. Denn die verzeihende und ausgleichende Kraft der Liebe schlägt Brücken über jede noch so tiefe Kluft. Ihm aber war sie in tiefster Seele fremd. Wollte es ihr denn nicht gelingen, sich das Gefühl der herzlichen Sympathie, der dankbaren Ergebenheit zurückzurufen, das sie während der kurzen Brautzeit doch zu allermeist noch erfüllt hatte? – Freilich – damals lebte die Mutter noch, atmete auf, schien zu gesunden! Damals, nach der tapfern Ueberwindung jenes ersten, ach, nur allzu verheißungsvollen, tödlichen Schreckens, war sie noch von dem Fieber der Opferfreudigkeit durchglüht gewesen. Erst die Erfüllung ihres Versprechens gab ihr Klarheit über das, was sie gethan hatte. Erst als es zu spät war, sich noch retten zu können, wußte sie, was ihr Los geworden war. Nun war die Mutter tot, das Opfer vergeblich. Uebrig geblieben allein die unerbittliche Notwendigkeit, die Liebe des Ungeliebten zu ertragen, lebenslang. Und freundlich zu ertragen, sanftmütig und geduldig zu ertragen, in steter dankbarer Erinnerung der empfangenen Wohlthaten, die ja aus gutem Herzen dargebracht worden waren. Nie durfte sie vergessen, daß er bis jetzt stets der Gebende, sie stets die Empfangende gewesen war. Nie durfte sie vergessen, daß ihr zu seiner gerechten Würdigung die Liebe fehlte, daß alles zwischen ihnen anders geworden wäre, wenn sie für ihn so gefühlt hätte wie er für sie – wenn ihr Jawort so ehrlich gewesen wäre wie seine Frage. Mit seiner Eifersucht, die ihn mißtrauisch, zornig, boshaft machte, mußte sie Mitleid haben, statt ihm dafür zu grollen. Es war ein Leiden, das ihr stets fremd bleiben würde und von dem sie ihn doch niemals würde heilen können. Also, also sie mußte ihm viel mehr verzeihen können als er ihr. Das war’s. Lag da vielleicht der Lebenszweck, auf den die Mutter hingewiesen hatte? Nicht vielleicht, sondern ganz gewiß! Da hatte sie also eine Arbeit. Eine Arbeit freilich, zu der das ganze Leben nur gerade ausreichen würde. Eine Arbeit, an der die Seele sich todmüde schaffen konnte ohne Ansehen! Aber wollte sie das nicht? Deuchte sie nicht etwas derart, um sich selber los zu werden? Sie hatte sich das Müdearbeiten zwar vorzeiten anders gedacht – recht, recht anders. Mit viel Sonnengold darüber, und viel frischem Wind um die freie Stirn und viel ehrenfestem Vertrauen in den Augen neben ihr! Das war nun für immer vorbei. Sie mußte nun versuchen, im Schatten und allein fertig zu werden. Der Brief der Mutter sollte nicht umsonst geschrieben sein. Ganz gewiß nicht!

„Sei gegen deinen Mann, das bitt’ ich dich, von ganzem, ganzem Herzen, immer so, als wenn ich noch da wäre. Thu’ mir auch im Tod kein Leid, wie du mir im Leben keins gethan hast.“

Dieser Mahnruf, in dem sich all ihre tiefe Sorge für die Zukunft ausgesprochen hatte, sollte ihr Talisman bleiben von nun an!

[677]
25.

Ja, also Pauline, das mit der Epanada, mit der finnischen Fleischpastete, das ist nun nicht sonderlich geglückt. Der Herr hatte so viele Einwendungen, ich weiß gar nicht mehr alle. Das müssen wir fürs erste ganz auf die Seite thun. Aber hier habe ich eine andere Sache. Ein Zwischengericht. Türkische Dolmas. Das ist so eine Art Krautwickel, verstehen Sie, nur sehr viel feiner. Ein äußerst pfiffiger Teig aus gemahlenem Fleisch und Zubehör, zu Kugeln geballt und in Blätter eingewickelt und dann gedämpft. Das ist das Rezept. Besorgen Sie alles dazu. Morgen wollen wir sie machen. Dann hab’ ich hier zwei Angaben für süßes Gebäck. Der gute Masurekkuchen von neulich hat mir Mut gemacht. Also erstens Kurabiedes das ist griechisch, soll vorzüglich sein. Dann eine Art von Theekuchen, [678] Russisch-Diad. Nächste Woche müssen wir dann auch endlich einmal die kleinen russischen Pastetchen versuchen, die vor der Suppe gegessen werden. Kolduny, wissen Sie. Und auch die neue Suppe, die provencialische, Bouillabaisse.

„Gott, gnä' Frau, mir wird schon wieder schwindlig!“

„Schwindlig darf uns nicht werden, sonst machen wir Dummheiten. Also zu morgen die türkischen Dolmas. Das griechische Backwerk setzen Sie aber heute noch an. Ich komme dann nachher auch hinunter.“

„Ja, bitte, gnä' Frau. Wenn gnä’ Frau dabei sind, ist mir lange nicht so angst vor die neuen Sachen. Und die Verantwortung ist auch nicht so groß.“

„Das glaub’ ich schon. Aber Sie haben sich wirklich sehr geschickt zu all den wunderlichen Dingen angestellt, Pauline. Ich muß Sie dafür loben. Nach und nach bilden wir uns zu einer Spezialität für die tollsten Nationalgerichte aus, und Sie werden noch eine Berühmtheit.“

„Das hätt’ ich dann gnä’ Frau zu danken.“

„Also bis nachher. In einer Stunde, oder in anderthalb sind Sie zurück; dann komme ich in die Küche.“

Paulinens Genialität hatte wirklich nichts zu wünschen übrig gelassen. Das neue Küchenrepertoire verfügte nach sechs Wochen bereits über eine Reihe der abenteuerlichsten Dinge, und das neugierige Studium der mit fremdländischen Namen gezierten Speisekarte, freilich zumeist das überraschende Gelingen der glücklich „modifizierten“ Nationalgerichte, übte häufig einen wohlthätigen Einfluß auf Ludwigs Laune aus. Daß seine Frau sich nun doch mit der Köchin in die Urheberschaft teilte, hatte er erst nach und nach erfahren und diese „Marotte“, da sie sich so augenscheinlich zu seinen Gunsten darthat, nachträglich gnädigst gestattet. Nur verbat er sich mit aller Strenge, daß sie ihm jemals mit erhitztem Gesicht oder sonst irgend der leisesten Spur ihrer untergeordneten Thätigkeit vor Augen käme. Er wolle eine elegante, schöne Frau und keinen Küchendragoner vorfinden, wenn er heimkäme!

Hanna lernte also, zur rechten Zeit von dem heißen Herde wegzubleiben um dem Vorwurf zu entgehen, sich „mutwillig“ die Haut verdorben zu haben. Vor groben, die Zartheit ihrer Hände angreifenden Arbeiten schützte sie Paulinens Wachsamkeit, die nach und nach eine kleine Schwärmerei für ihre Gnädige gefaßt hatte, in Uebereinstimmnug mit dem gesamten Personal, vom Herrn Kammerdiener abwärts bis zum Stallburschen, mit etwaiger Ausnahme vielleicht des ersten Hausmädchens, oder der Jungfer, wie sie sich lieber nennen hörte. Was sie unter einer „feinen“ Damen verstand, war Hanna nun einmal nicht, das war sicher. Dazu war sie viel zu selbständig. Sie zog sich allein an und aus, sie ließ sich nicht die Stiefel zuknöpfen, sie hängte ihre Kleider selbst in den Schrank und nähte sich selbst abgerissene Haken oder Borten an. Und was das schlimmste war: sie schnürte sich nicht. Aber auch kein bißchen! Das hatte Henriette denn doch noch bei keiner ihrer früheren Damen erlebt, und sie war immer nur in sehr feinen Häusern gewesen. Daß man ein Korsett an- und ablegte wie ein Leibchen ohne die Schnürung zu lösen, daß man am Mittag oder Abend dasselbe leichte Miederchen trug wie am Morgen beim Aufstehen, das war ihr doch noch nicht vorgekommen. An solchen Dingen zeigte es sich eben, was eine wirklich feine Dame war.

Für das Thema der Tischgespräche oben im altdeutschen Trinkstübchen war wohl gesorgt, so lange es sich um Essen und Trinken drehte. Denn voll Spannung und mit dem tiefen Verständnis des Kenners ließ sich Thomas Herkunft und Zusammensetzung der Neuheiten seiner Mittags- und Abendtafel erklären. Nicht selten gab er auch nach einer ersten Probe persönlich Befehl zu kleinen, verfeinernden Aenderungen, und Hanna that gut, sich diese dann sofort und genau zu notieren denn ein nicht buchstäblich ausgeführtes Kommando verursachte die ärgerlichsten Auftritte. Waren jedoch die Essensfragen, die freilich keine geringe Zeit in Anspruch nahmen, erledigt, die Kritik erfolgt, so sank die Unterhaltung der Eheleute alsbald in sich zusammen wie ein erlöschendes Feuerchen. Es gebrach Hanna durchaus an dem häufig so reizvoll wirkenden geselligen Talent, ein sacht schwirrendes, anspruchslos anregendes, liebenswürdig seichtes Gespräch zu führen, das über Pausen hinweghilft. Reden, nur um etwas zu sprechen, konnte sie nicht. Wenn sie nichts zu sagen wußte, war sie eben stumm. Nicht jeder ist imstande, jedem Gedanken sofort Ausdruck zu geben. Menschen, die sich verstehen, weil sie sich lieben, bedürfen auch nicht stets einer gesprochenen Unterhaltung, um sich mitteilsam zu fühlen. Wie gut wußte sie das aus den Zeiten des stummen Plauderns mit der Mutter. Wie sie da manch’ liebes Mal halbe, auch ganze Stunden lautlos einander gegenüber gesessen hatten, zwischen sich den Arbeitstisch, auf dem Hannas Gerätschaften ausgebreitet lagen, in ihrem Sessel die Kranke, langsam und leise mit den müden Fingern die lange Häkelnadel rührend, Masche auf, Masche ab an den Streifen der dunkelgrünen Fensterdecke, die niemals fertig werden sollte, auf der anderen Seite das Mädchen, eines seiner kleinen Kunstwerke unter den rastlosen Fingern. Wie oft hatten sie darüber gelacht, wenn nach langer Stummheit eines von ihnen den angesponnenen Gedankenfaden laut zu Ende dachte, mitten im Satz, nur gleichsam weitersprechend. Keine Sorge aber, daß etwa das andere nicht verstanden hätte! Sie waren ja nur scheinbar Zwei.

Jetzt waren sie ihrer Zwei in aller Wirklichkeit. Sie und ihr Mann hatten sich nichts zu sagen. Aber auch gar nichts. Die Oede völliger Seelenfremdheit dehnte sich zwischen ihnen, wuchs und wuchs. Und mit immer wachsender Pein schaute Hanna über diese starre, unfruchtbare Ebene hin. Mit welchen Zauberkünsten sollte sie sie urbar machen? Tagaus, tagein mühte sie sich vergebens, zergrübelte sich den Kopf um ein Plätzchen in der weiten Welt, wo sie gemeinsam, als Kameraden hätten hausen können. Es gab keins. Es gab keine Gemeinsamkeit zwischen ihnen. Allenthalben redeten sie zweierlei Sprachen. Mitzuleben in seinem Beruf, was sie so herzlich ersehnt hatte, war ihr versagt geblieben. Von Geldgeschäften, vom Börsenspiel verstand sie nichts; es fehlte ihr jede Ader dafür. Freilich auch jedes Interesse, obwohl sie ihm das nicht eingestand. Trotz der immer wiederholten Erkundigungen, die sie sich abzwang, um ihm Teilnahme zu bezeigen, blieb ihr der Eingang in das Bereich seiner Thätigkeit verschlossen; stand sie vielmehr vor einer Wand ohne Thür.

Ihn hatte „die Drängelei und Fragerei“ schon bald belästigt und gelangweilt, und er hatte sie ersucht, „das ewige Gedruckse“ zu lassen. Im Hause wenigstens wolle er vor dem Geschäft Ruhe haben, auch solle sie ihre hübsche Nase nur aus seinen Angelegenheiten herauslassen, die ja doch nur böhmische Dörfer für sie wären. So schwieg sie denn ein für allemal von diesen Dingen, erleichtert und bedrückt zu gleicher Zeit.

Womit nur ihn unterhalten, wenn er heimkam, da sich nirgend ein gemeinschaftliches Interesse finden wollte? Die Musik war verbotenes Land. Seit jenem einen entscheidenden Gespräch war es über diese Frage zwischen ihnen stumm geblieben. Er nahm an, daß sie es sich habe gesagt sein lassen, und war zufrieden, daß sie nicht muckste. Der prachtvolle Konzertflügel drunten im Festsaal stand unter seiner kostbaren, gestickten Decke als schönes Schaustück da, der Soireen wartend, die „nach der Trauer“ wieder gegeben werden würden. Im verschlossen dunklen Terrassenzimmer träumte der verstummte alte „Klapperkasten“ von vergangnen, liedfrohen Zeiten. Hannas Lippen blieben geschlossen. Hannas Hände ruhten im Schoß oder bewegten langsam, gleichgültig irgend eine feine Stickerei, die keinen besonderen Zweck hatte, die niemand eigentlich brauchte, die auch übers Jahr noch früh genug fertig wurde. Womit ihn unterhalten?

Sie hatte es mit dem Vorlesen versucht. Nach Tische, nach dem schwarzen Kaffee, im Rauchzimmer, in der Fensternische. Zwei gleichgesinnte Menschen hätten da so behaglich zusammen sitzen und aller geschriebnen Herrlichkeiten froh werden können. Zuerst – wunderbar genug – fehlte es an der Hauptsache. In ihrem strahlend eleganten Zimmer gab es keinen eigentlichen Bücherschrank. Auf dem zierlichen Gestell, das vergoldete Säulchen schmückten, protzten nur einige Prachtbände in leuchtenden Farben, ein paar andere lagen in malerischem Kreuz und Quer „arrangiert“ auf dem Tischchen mit der grauen Marmorplatte – es war so kalt, das Tischchen. Man fror, wenn man den Arm darauf legte, aber eine Decke würde die kostbare Goldverzierung des Randes und der geschwungnen Füße verborgen haben. [679] Hanna sorgte für vorsichtiges Abstäuben und peinliches Wiederordnen dieser „Dekoration“, wie aller andern im Zimmer, die sie vorgefunden hatte – ihre eignen Bücher, die von den Eltern nach und nach geschenkten, vom Vater ererbten, zärtlich gehegten Lieblinge, standen unten im verschlossen Terrassenzimmer. – „Wozu? Du hast ja so schöne Bücher in deinem Boudoir“ – war die Antwort gewesen, als sie eines Tages zaghaft darum gebeten hatte. „Diese Thür bleibt geschlossen. Basta! Kauf’ dir meinetwegen, was du noch brauchst, wenn du noch nicht zufrieden bist. Wo die Buchhändler wohnen, weißt du.“ – Das hatte sie dann gethan und sonderbar genug nahm sich der große, dunkle Bücherschrank in ihrem rosenfarbenen Ankleidezimmer aus, wo er hatte Platz finden müssen, da in dem zierlichen Damensalon kein Raum für ihn war; die Einheitlichkeit des Stils hätte auch jedenfalls durch ein so großes, anspruchsvolles Möbel gelitten. Von dort wo sie manche ihrer einsamen Stunden, in einen tiefen Sessel geschmiegt, lesend, grübelnd verbrachte, hatte sie alsdann, stiller Hoffnung froh, herbeigeholt, was sie für die Nachmittage, die er ihr widmete, zu brauchen dachte. Auch dies vergebens.

Das Unglück wollte, daß ihm nichts gefiel, was ihr Freude machte, daß aber ihr Vortrag eintönig und reizlos blieb, sobald das Geschriebne nicht ihr innerstes Empfinden weckte. Und auch dann nicht immer, da Rührung oder Erschütterung ihrer Stimme Klang und Farbe nahmen. Der Stoff beherrschte dann sie, nicht sie ihn. Von der eigentlichen, wohlstudierten Vortragskunst wußte sie nichts. Für die Mutter hatte sie immer gut genug gelesen und war gut genug von ihr verstanden worden, auch wenn ihr gelegentlich die Kehle eng wurde und sie eifrig Wasser trinken mußte, um sich zu fassen. – Jetzt befand sich ihr anstatt des lieben, feinen, aufmerksamen Gesichts der Unersetzlichen das fremde, ach, immer fremder werdende ihres Mannes gegenüber, in dem nichts von horchender Teilnahme geschrieben stand. Und es blieb nicht einmal immer auf demselben Fleck. Ludwig hielt ein längeres Stillsitzen nicht aus. Eine stete körperliche Unruhe trieb ihn oft nach wenigen Minuten schon von seinem Platze. – „Lies nur weiter, ich höre schon!“ rief er über die Achsel zurück, wenn Hanna sich unterbrach, das Buch sinken ließ und ihm nachsah. Sie versuchte alsdann auch, weiterzulesen, aber um die Sammlung war es geschehen. Es störte sie unsäglich, daß er nun ohne Anhalten im Zimmer hin und her ging, die Hände in die Hosentaschen geschoben, wo er mit dem Schlüsselbund klimperte. Sie las unwillkürlich mit erhobener Stimme, ohne jede Modulation um gegen das Geräusch anzukommen. Gleichzeitig peinigte sie der unwiderstehliche Zwang, immer wieder nach ihm hinsehen zu müssen; dadurch verlor sie den Faden, geriet in die falsche Zeile und verwirrte sich. In dem sacht glimmenden, nur mühsam niedergehaltenen Fieber der Nervosität wurde sie in wenigen Minuten heiser und hörte dann entmutigt auf. Blieb er wirklich ihr gegenüber an dem Fenstertischchen sitzen, so trieb er wenigstens irgend einen kleinen störenden Unfug. Er rollte ihr Garnknäuel oder ihren Fingerhut hin und her, er nahm ihr Scherchen lose an der Spitze und klopfte damit auf den Tisch oder versuchte, sich damit die Nägel zu schneiden, er faßte den Henkel des Arbeitskörbchens mit einem Finger, ließ es baumeln und niederfallen. Anfangs merkte er nicht, daß diese Dinge Hanna quälten. Er that sie so nicht aus böser Absicht. Sie beherrschte sich eine Weile ziemlich gut, bis sie ihm einmal ganz plötzlich – mitten im Satz innehaltend – den Gegenstand, mit dem er gerade spielte, aus der Hand nahm und weit weglegte.

„Nanu?“ sagte er, „was fällt dir denn ein?“

„Ich kann das nicht vertragen,“ entgegnete sie indem ihr eine fliegende Röte über das Gesicht lief „Thu’ mir den Gefallen und sitz’ still.“

„Alle Wetter,“ gab er mit etwas gereiztem Lachen zurück „bist du aber nervös. Das ist ja scheußlich. Mußt du dir ganz entschieden abgewöhnen. Uebrigens, ’ne nette Art, mir das Ding einfach aus der Hand zu reißen, als wenn ich ein unnützer Junge wäre. Mit deinem Mann könntest du schon anders umgehen, würde dir nichts danach fehlen.“

„Ich hab’ es dir doch nicht weggerissen,“ verteidigte sie sich möglichst sanft „nur weggenommen. Ich hielt eben dies fortwährende Geklapper und Gespiele nicht mehr aus. Entschuldige!“

„Nein, mein Engel, das entschuldige ich nicht, wenigstens nicht so ohne weiteres. ,Ewiges Geklapper und Gespiele!' Du thust ungefähr, als wenn ich den Veitstanz hätte. Man wird sich doch noch rühren dürfen in deiner Gegenwart. Und als sie darauf stillschweigend und unbeweglich vor sich niedersah: „Natürlich, wieder beleidigt! Gott im Himmel ist das ein Kreuz mit so einer reizbaren Frau! Klapp’ dein Buch nur zu. Mir ist alle Stimmung heute vergangen.“ Sie that es sofort.

„Klapp’ zu, hab’ ich gesagt, nicht schlag’ zu! Du willst mich wohl herausfordern, ja?“

„Ich denke nicht daran,“ sagte sie ruhig, ihn fest ansehend. „Ich war nur ganz mit dir einverstanden, aufzuhören. Sehr gefallen hat es dir wohl überhaupt wieder nicht.“ Es waren Ludwig Anzengrubers „Dorfgänge“, was sie las.

„Ist die Geschichte aus?“ fragte er mit gespielter Harmlosigkeit.

„Es scheint so,“ antwortete sie ruhig, noch ohne den Blick zu ihm zu wenden.

„Für diese tiefsinnige Antwort bin ich zu dumm. Wende dich gefälligst an meinen beschränkten Unterthanenverstand.“

Sie hörte die aufsteigende Gereiztheit in seiner Stimme; nur zu gut kannte sie nun schon diese scharfgespannte Saite, die bei der leisesten Berührung mitsummte und die, einmal gestreift, mit ihrem Mißklang schnell alle andern Töne überschrie. Aber sie besaß im Augenblick doch nicht mehr genug Herrschaft über ihre durch dieses beständige Rupfen und Zupfen gepeinigten Nerven um noch geschickt einer neuen Disharmonie auszuweichen. Mit einem scharfen Blick in seine ärgerlich funkelnden Augen sagte sie: „Es scheint, du willst, daß sie aus ist.“

„Du bist ’ne dumme, empfindliche Person, weißt du das?“

„Möglich. Aber such’ dir jemand, der dir vorliest, wenn du es so treibst wie heute. Ich glaube nicht, daß es ein andrer so lange aushält wie ich.“

„Du brauchst mir überhaupt nicht mehr vorzulesen, wenn du dich so albern anstellen willst!“

„Wie du wünschest. Ich hab’ es ja nicht mir, sondern dir zu Gefallen gethan.“

„Ach Gott, ja! Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Der Gerechte erbarmt sich seines Viehes! Besonders Ludwig Thomassens hochgebildete Gattin. Wolltest mich belehren was? Erziehen. Meinen verrotteten Geschmack ausbessern. Bin dir nicht fein genug in meinen litterarischen Anschauungen. Möchtest wohl auch gern meinen schlechten kaufmännischen Stil in die Mache nehmen, ja? Neuneinhalben Fehler. Mit Bedauern gelesen. Sechse runter. ’ne Stunde nachbleiben. Könnte dir passen!“

Mit einem schwachen Lächeln ging Hanna über diese letzte Anklage hinweg.

„Ich weiß ja noch immer nicht, was in der Litteratur dir eigentlich gefällt,“ bemerkte sie. „Nichts von dem, was ich dir bis jetzt vorgelesen habe, war dir recht.“

„Ne. Konnte mir auch nicht gefallen. Ist kein Saft und keine Kraft drin.“

„So?“ sagte Hanna sehr verwundert, mit einem raschen Seitenblick auf Anzengruber. „Und was müßte es denn schließlich für dich sein?“

„Na eben – was saftiges. Wo man doch noch sein Vergnügen dran haben kann.“

„Ach so,“ erwiderte Hanna eiskalt. „Nun, das lies dann nur für dich allein.“

„Kann ich, prüde Gans du!“ Sie nickte ernsthaft „Prüde – in deinem Sinn – hoff’ ich immer zu bleiben – –.“

Mit dieser Klarlegung hatte ein neuer Abschnitt seine Erledigung gefunden, hatte sich ein neuer Riß zwischen ihnen aufgethan. Wieder gab es nun einen Punkt mehr, über den nicht mehr gesprochen werden durfte sollten nicht Bitterkeiten hin und wider sprühen.

Allein gelassen, hatte sich Hanna aufs neue mit heftigen Selbstanklagen zerquält. An ihr war es, das Hereinbrechen von Streitigkeiten zu verhüten, da sie doch nun schon aus Erfahrung wissen konnte, daß Ludwig, einmal aufgereizt seiner bösen Laune keinen Zügel anlegte. Aendern würde sie seinen Charakter nicht mehr, das wußte sie nicht erst seit heute und gestern. Es galt [682] nur, seinen Zacken und Kanten auszuweichen. Eine Verteidigung ihrer selbst war unter allen Umständen zwecklos. Er fühlte sich stets im Recht, und in diesem Recht gröblich verletzt. Die Möglichkeit, daß er Fehler begehen könne, war ausgeschlossen. Also Geduld, Geduld und immer Geduld, war die Lösung. Schweigen oder Ablenkung die einzige richtige Antwort auf seine Angriffe.

Da sie in der wichtigsten ihrer Lebensfragen zweierlei Meinung waren, da sie seine Leidenschaft nicht erwiderte, konnte nie und nimmer Frieden zwischen ihnen herrschen, nur Waffenstillstand, den nach Thunlichkeit zu verlängern das Bestreben des Besonneneren von ihnen beiden sein mußte, also das ihre! Alle Gegensätze, durch Geburt ererbt, durch Erziehung und Lebensweise herangebildet, hätten sich ausgleichen lassen, wenn sie sich in dem einen entscheidenden Punkte begegnet wären. Nun wurde gerade er zur Ursache alles Elends. Aus dem Ingrimm darüber, daß die Leidenschaft zu der Frau, deren zarte Schönheit seine robuste Natur entflammte, unerwidert blieb, entsprang die trübe Quelle seines Hasses gegen alles an ihr, was seiner Eigenart zuwiderlief. Ein heiteres, durch keine Mißklänge gestörtes Liebesleben würde, was ihm an sympathischen Eigenschaften verliehen war, zum frohen Wachstum gebracht haben. In dem dunstigen Schatten aber seines immer wachsenden Mißmuts, seiner Enttäuschung, seiner Erbitterung, seiner Eifersucht zumal auf jedes, was sie außer ihm wohl lieben mochte, trieben alle bösen Knospen Wucherblüten. Hanna wußte dies wohl; sie sah dem Wachsen dieser schlimmen Saat mit Schrecken zu. Aber so ängstlich sie auch bemüht war, seinen vielen kleinen Eigenheiten gerecht zu werden, um des lieben Friedens willen seinen Schrullen nachzugeben, die liebevolle Hingebung, die er von ihr zu fordern ein Recht hatte, blieb sie ihm doch schuldig.

Mit dem Tode der Mutter waren alle guten Geister von ihr gewichen. Die Mahnung der Vielgeliebten an ihr einsames Kind war noch immer kein rechter Talisman geworden. Es schien fast, als sollte sie es überhaupt nie werden, als sei der Tautropfen dieses Himmelsgrußes auf ihren von Leiden fieberheißen Lippen alsbald wieder vertrocknet. Hanna empfand es mit tiefem Kummer und zugleich mit schmerzlicher Scham. Sie hatte ja den redlichsten Willen gehabt, der sanften Stimme zu gehorchen: „Sei gegen deinen Mann immer so, als wenn ich noch da wäre!“ – Das aber war es eben. Gerade das konnte sie nicht. Gerade das Andenken der Mutter hatte er rücksichtslos verletzt, indem er all die armen Erinnerungszeichen aus dem Wege räumte, kaum daß die Tote unter der Erde lag. Und gerade damals hätte er es noch in der Hand gehabt, sie sich zu gewinnen, wenn er mit Sanftmut und Gewährenlassen an ihrem Kummer teilgenommen hätte. Aber was ihr das Herz bewegte – er fragte nicht danach, oder vielmehr, er schwieg es tot, weil es für ihn nicht leben sollte, weil seine Eifersucht sogar schon das Andenken der Toten zu hassen und zu verfolgen begonnen hatte.

[693]
26.

Langsam, auf leises Sohlen, schlich die Zeit immer tiefer in den Winter hinein. Der Februar schien es diesmal noch ernsthafter vorzuhaben als sein größerer, gewichtigerer Bruder, der zum Beginn des neuen Jahres klirrenden Frost als Ablösung der allzulange andauernden Novemberstürme über das triefende, aufgeweichte Land geschickt hatte. Endlich war Schnee gefallen, tagelang, ununterbrochen, bald feingepulvert, bald in großen, weichen Flocken, zuweilen in ruhelos durcheinanderstäubenden, blendenden Wirbeln, meist aber sacht als unabsehbare, unendliche Schar taumelnd niedersinkender weißer Sternchen. Schweigsam, lind und schonungsvoll, nicht rauschend, rieselnd und plätschernd wie der aufdringliche Regen. Zu weichen Polstern gebettet lag er in den Hausecken, in Nischen und windgeschützten Winkeln, breitete sich schimmernd über die Rasenflächen, lag in schweren Massen auf Bäumen und Büschen. Als die Welt endlich weiß genug war, kam die bleichgewordene Wintersonne aus ihrem Wolkenversteck hervor. Mit ihrem kalten, aber strahlenden Lächeln scheuchte sie die grauen Dunstschleier hinweg, weiter und weiter, bis sie den zartblauen Himmel wieder für sich allein hatte. Blendend, leuchtend, wenn auch nicht lebenspendend lag nun ihr funkelnder Glanz auf der glitzernd weißen Herrlichkeit.

Hanna warf noch einen bewundernden Blick auf diese helle Pracht, ehe sie die Hausthür schloß. Sie kam durch den Park aus dem Gärtnerhäuschen zurück wo sie sich nach dem kleinen Jungen des Gärtners umgesehen hatte, der mit einem gebrochnen Knöchel im Bett lag. Schon seit acht Tagen, aber gestern abend erst hatte sie es erfahren. Sie werde nun jeden Tag kommen, hatte sie den Leuten gesagt, um achtzugeben daß nichts versäumt werde. Lehnert solle nur einen Weg für sie freifegen, einen kurzen Richtweg; ihr Kleidersaum war in dem tiefen Schnee heute ganz naß geworden, trotz aller Vorsicht. Das Fritzchen war mit dieser Anordnung sehr einverstanden. Die beiden Apfelsinen auf seiner Bettdecke lachten ihn an, und Mutter hatte gesagt, das gebratene Hühnchen wäre ausgezeichnet – und morgen sollte er ein Bilderbuch bekommen.

Wenn's nur recht lange dauern möchte mit dem eingegipsten Bein!

Hanna entledigte sich des Mantels und der Pelzstiefel, in die sie mit ihren kleinen Hausschuhen geschlüpft war, that die große, kleidartige Küchenschürze an und begab sich hinunter zu Pauline.

Es galt heute einer spanischen Escabescia, einem sehr verschmitzten Gericht von verschiedenem Geflügel das hoffentlich ebenso „interessant“ ausfiel wie die italienische Minestra von vorgestern abend. Die indische Mullagatavny-Suppe, die gleichfalls auf dem heutigen Programm stand, war schon erprobt und gutgeheißen worden.

„Aber der neue Türk’, gnä' Frau – wie heißt er doch? es klingt so nach Levy – der will nicht steif werden!“ klagte Pauline.

„Das Mahallebi,“ sagte Hanna lächelnd. „So? Nicht steif? Das ist aber dumm! Da können wir es ja heute nicht bringen! Lassen Sie doch sehen!“

„Hier, gnä' Frau. So was Verrücktes von einem [694] Flammeri ist mir aber auch meiner Lebtag nicht vorgekommen. Der kann ja nicht werden!“

„Das liegt dann jedenfalls an uns, wir machen’s noch nicht ordentlich. In der Türkei ist die Geschichte sehr beliebt. Lassen wir es also einstweilen noch stehen, es wird sich dann schon ausweisen, ob es überhaupt mißraten ist, oder ob es nur länger Zeit braucht, als wir dachten. Und heute, Gott, wissen Sie, wir könnten ja wieder einmal die polnischen Nalesniki hernehmen. Vor vier Wochen hatten wir sie das letzte Mal.“

„Das waren doch diese Art Eierkuchens.“

„Ganz recht. Die sind schnell gemacht. Uebrigens. Hat Borchardt die beiden Sorten Wein geschickt?“

„Jawohl, sie stehen schon drinnen.“

„Der Herr will den einen, den sicilianischen, heute mittag probieren.“

Ein wichtiges Nebenstudium bildete natürlich die Bestimmung der den fremden Gerichten anzupassenden Getränke. Im allgemeinen erhielten die feurigen Weine des Südens den Vorzug vor den Rheinländern und Franzosen, wenn auch hier Irrtümer und Enttäuschungen nicht ausblieben. Ludwig hatte sich neulich stundenlang „gebost“, daß der Samoswein, der an und für sich doch eine feine Sache war, so ganz und gar nicht zu der Zaja, der griechischen Pastete, stimmen wollte. Das eine hatte das andre einfach umgebracht, und ehe er diese Neuheit einer nochmaligen Probe unterwarf, mußte längere Zeit vergehen, um ihn diesen Mißerfolg vergessen zu machen.

„Wenn gnä’ Frau aber die ganze Zeit hier unten bleiben wollen, dann müssen gnä’ Frau durchaus was zu sich nehmen. Einen Schluck Tokayer und einen Mundvoll zu essen. Es sind noch von den Kolombijntjes da – oder wie sie heißen, – von den kleinen holländischen Kuchchen. Oder, wenn die zu süß sind, ich könnt’ ja von dem Herrn seinem Frühstücksgebäck schnell welche auf der Platte warm machen. Gnä' Frau werden sonst flau.“

„Bitt’ schön!“

„Von den amerikanischen Muffins. Ja, geben Sie her, das ist ein guter Gedanke. Uebrigens machen Sie die jetzt vorzüglich. Der Herr war heute früh entzückt.“

„Ja, seit wir die richtige Pfanne dazu haben. Vorher rannten sie mir immer zu sehr auseinander.“

Ludwig hatte jetzt schon fast eine Woche lang keine eigentliche Gelegenheit gehabt, sich über seine Frau zu ärgern. Er wunderte sich. Es fehlte ihm sogar beinahe etwas, es war ihm schon zur Gewohnheit geworden, ihre vielerlei Mängel zu beklagen, seiner Enttäuschung über sie Luft zu machen.

„Du mußt schwer krank sein,“ hatte er ihr gestern gesagt und auf ihr erstauntes Warum „Du bist so viel netter in den letzten Tagen. Vielleicht ist das eine schlimme Vorbedeutung. Vielleicht stirbst du mir bald.“

Dann wäre uns beiden geholfen, lag ihr schon auf der Zunge, zu antworten, aber sie unterdrückte es noch und erwiderte nur mit einem schwachen Lächeln: „Ich merke noch nichts.“

Also mehr verlangte er nicht. Mit dieser Art von zusammenleben war er zufrieden. Daß sie da mit freundlichem Gesicht – beileibe mit keinem andern, wenn sie nicht die Frage gewärtigen wollte. Maulst du schon wieder? – ihm gegenüber saß, sich über Tagesneuigkeiten unterhielt und sich Börsenwitze erzählen ließ – das genügte ihm. Aber gewiß. Was sollte man auch anderes thun. Und warum auch sollte sie nicht sanft und freundlich sein in diesem sorgenlosen Leben, das sie mit Pracht und Herrlichkeit umgab? Warum nicht vergnügt sein, da sie sich kaufen konnte, was sie nur immer wollte, da ihr kein Wunsch, wenn er mit Geld zu befriedigen war, unerfüllt blieb. Kein so arg mühseliges Tagewerk, fürwahr, sich schön zu kleiden, gut zu essen und nichts zu thun zu haben! Schlimm, daß sie das alles nicht genug zu würdigen wußte! Das große Los war wieder einmal an den Unrechten gekommen. Mit etwas mehr Leichtsinn im Blut, mit etwas mehr Sympathie für seine Art zu leben, mit etwas weniger Nachdenken hinter der Stirn, mit etwas weniger Sehnsucht im Herzen nach Licht und Wahrhaftigkeit und Ernst, und ohne das Grab da draußen – wie lustig hätte sie ihr Leben genießen können! Nun schlich sie aus der einen Einöde in die andere. Aus der Einöde des Verlassenseins, in der ihr das unstillbare Heimweh nach der Mutter das Herz zerfraß, in die Einöde der Seelenfremde, die, ohne Wiederhall auch des flehentlichsten Rufes nach Verständnis, ihr allmählich das Hirn einschläfern mußte! Wenn sie nur schon ganz stumpf wäre! Wenn sie nur schon gänzlich eingekapselt wäre in Gleichgültigkeit, so daß ihr nichts mehr wehe thäte! Eines schönen Tages mochte sie ja wohl aufwachen und von keiner unbeantworteten Frage, von keinem Kummer mehr etwas wissen. Das einzig noch erstrebenswerte Ziel! Aber wie lange noch bis dahin!

„Hast du Lust, nach Tische spazieren zu fahren? Ich habe schon bestellt, daß der Schlitten eingespannt wird. Es ist famose Bahn. Gewiß.“

Sie hatte keine Lust, ihr war bange vor der bitterlichen Kälte. Aber das hatte nichts zu sagen, da Ludwig die Ausfahrt wünschte. Erlassen wäre sie ihr doch nicht worden. Es hätte nur ein kleines Scharmützel gegeben über Luftscheu und Verweichlichung, und schließlich einen jener schon unvermeidlich gewordnen Ausfälle gegen die erbärmliche, saft- und kraftlose Erziehung, der all diese vielen Jammerlappigkeiten zu verdanken seien. Ludwig, in der Machtfülle kerniger, fast brutaler, unerschütterlicher Gesundheit, war noch nie auf den Gedanken gekommen, die starke Verschiedenheit ihrer beider Naturen in Rechnung zu ziehen. Er, ein Kerl wie ein Eichbaum, wie er selbst sich voll Behagen nannte, ein Kerl, bestimmt, in Herrlichkeit und Freuden hundert Jahre alt zu werden – er wußte nichts von Witterungsbeschwernissen, ihn erdrückte nicht die glühendste, gnadenloseste Julisonne, ihn focht keine noch so starre Kälte an. Die sehr viel zartere Bildung seiner Frau, der besonders die Winterszeit keine Freuden brachte, forderte nicht seine Schonung, sondern nur seinen Spott über ihre „alberne Pimpelei“ heraus. Dieser Spott blieb gutlaunig und ungefährlich, so lange sie ihn mit Sanftmut hinnahm und sich allen Anordnungen ihres Herrn und Gebieters einwandslos fügte; jeder Versuch aber, eine persönliche Stimmung geltend machen zu wollen, scheiterte an Ludwigs Hartnäckigkeit, die nicht litt, von Weibern regiert zu werden. Schon nach den ersten paar zaghaften Wörtchen der Einwendung spürte er die Bitternis des Widerstandes und kehrte im Nu alle Stacheln nach außen. Sein Wille war nun einmal oberstes Gesetz und hatte zu geschehen – im Guten oder im Bösen.

Also lieber im Guten. Lieber mit guter Miene eine Stunde in dem schneidenden kalten Ostwind spazierenfahren, seine gnädige Laune zur Seite, als „trotz alledem“ und die ganze Zeit über von seinen scharfen Worten geritzt und gestochen werden! Er fand es herrlich, sich einmal tüchtig durchfrieren zu lassen, und konnte nicht oft genug betonen, wie gesund ihr das sei, wenn er auch sah, daß der Frost ihr Thränen in die Augen trieb. Holte sie sich bei solcher Gelegenheit eine Erkältung, so war natürlich nicht die harmlose Ausfahrt daran schuld, sondern eine ihrer persönlichen Dummheiten, die dann dem armen Mann in die Schuhe geschoben werden sollten.

August hatte seine Herrin erst sorgsam mit einem warmen Plaid bis über die Kniee umhüllt, ehe er die große Pelzdecke über sie und den Herrn ausbreitete. Ludwig griff ungeduldig zu. „So machen Sie doch vorwärts! Geben Sie her das Dings! Wie lange soll denn die Wühlerei noch dauernd! Nach dem Nordpol fahren wir heute noch nicht.“

August verzog keine Miene seines ehrerbietig gleichgültigen Gesichts, sondern ordnete nur ruhig, ohne sich mehr zu beeilen, mit einigen Rucken die von Ludwig schief gezogene Decke.

„Vorwärts jetzt!“

Der Schlitten schoß zur Einfahrt hinaus. Die beiden Rappen waren anfangs noch etwas nervös durch den ungewohnten Schellenbehang, aber Emil hatte sie gut in der Faust, und schon nach wenigen Minuten trabten sie im eitlen Bewußtsein ihrer heute besonders geschmückten Schönheit dahin, als gälte es, der ganzen übrigen Pferdewelt zu beweisen, daß ihnen keiner über sei.

Wirklich durfte es sowohl Gespann wie Schlitten getrost mit sämtlichen Nebenbuhlern aufnehmen, die im Tiergarten ihre Wege kreuzten. Ludwig musterte mit Kennermiene alles, was vorbeifuhr. Sehr zahlreich war die Gegnerschaft übrigens heute nicht. Der Wind pfiff erbarmungslos und scheuchte auch die meisten Spaziergänger ins warme Haus. Hier und da grüßten Bekannte. Bekannte von Ludwig, die Hanna noch fremd waren.

[695] „Nächste Woche machen wir Besuche,“ sagte er jetzt ganz unvermittelt.

Hanna sah ihn unruhig an. „Schon? Darf ich nicht diesen Winter noch –.“

„Nein,“ unterbrach er sie. „Ein halbes Jahr ist genug. Ich habe dieses Klosterleben nun satt!“

„Aber ich passe wirklich noch nicht in Gesellschaft, Ludwig. Was soll ich unter fremden Leuten?“

„Nett sein, liebenswürdig sein, dich unterhalten! Das wird dir doch nicht zu schwer fallen? Du bist ja direkt gebildet. Bist ja nicht so ein Stoffel wie ich. Und ich mach’s doch.“

Was willst du mit diesem komischen „direkt?“ hatte sie fragen wollen, sie ließ es aber sein – aus Vorsicht. „Wer nennt dich einen Stoffel?“ fragte sie statt dessen.

„Du natürlich! Nicht wörtlich. Dazu bist du ja zu klug. Auch zu wohlerzogen. Aber bildlich. Mit Leidensmienen und unterdrückten Seufzern.“

„Was du für eine Phantasie hast,“ unterbrach ihn Hanna. Sie sah ihn ängstlich von der Seite an. Nur keine Scene wieder! Diese ruhigen Tage der letzten Woche hatten ihr so gut gethan, hatten ihre gequälten Nerven ausruhen lassen. Nur keine neuen Bitterkeiten. Ihn nicht reizen. „Nicht von weitem sind mir solche Gedanken gekommen,“ setzte sie darum noch sanft hinzu.

Er lachte einmal kurz auf und nach einer Pause, die ihr endlos dünkte, weil sie nichts zu sagen wußte, sprach er weiter: „Du mußt mich doch für äußerst dämlich halten, daß du meinst, ich merkte nicht, wie du dich mir stets überlegen fühlst. Und daß du meinst, das wurmte mich nicht!“

„Aber bester Ludwig –“

„Halt den Mund, rede dich nicht heraus, damit beleidigst du mich nur von neuem. Bilde dir übrigens nicht ein, ich vergäße je die kleinste Kränkung, die mir angethan worden ist. Ich vergesse nichts, und wenn es zwanzig Jahre alt werden sollte. Wie eingesalzen liegt das hier drinnen.“ – Er klopfte mit der Faust auf seine Brust. – „Eingesalzen. Also wohlerhalten. Jeder Blick. Jedes Wort.“

„Wie kann man nur so sein,“ sagte Hanna traurig. „Wie willst du denn da verzeihen?“

„Will ich denn? Ich denke nicht dran. Ich vergesse nichts und ich verzeihe auch nichts.“

„Das ist so schrecklich! Du verzeihst nichts?“

„Nein, ich vergebe manchmal. Lächle nicht so barmherzig, als wenn du sagen wolltest Das ist ja dasselbe. Es ist nicht dasselbe. Für mich nicht. Ich vergebe’ aus gesellschaftlichen Rücksichten. Aus Klugheit. Ich lasse es gut sein. Ich rede nicht mehr drüber. Aber damit hab’ ich nichts vergessen und also auch nichts verziehen. Ich warte nur meine Zeit ab. Sie kommt auch.“

Hanna schwieg ein Weilchen. Sie schüttelte dann den Kopf. „Wie kann man nur so sein,“ sagte sie leise vor sich hin. Und noch leise, beklommen „Wie mag es da zwischen uns beiden aussehen?“

„Bunt,“ sagte er finster lächelnd. „Nicht sehr behaglich. Anders, als ich mir’s gedacht habe, als ich mich mit dir verlobte.“

„Ich habe dich arg enttäuscht, nicht? Ich bin ganz anders, als du gedacht hast?“ Sie sah ihn traurig fragend an.

„Ob du mich enttäuscht hast!“ gab er zurück. „Gehörig. Enttäuscht ist übrigens gut.“ Er schwieg einen Augenblick. „Ja, was ich sagen wollte: Manchmal, wenn ich nicht gerade verliebt war, hab’ ich dich schon zu allen Teufeln gewünscht.“

Hanna mußte jetzt doch lächeln. „Aufrichtig bist du wenigstens.“

„Bin ich immer gewesen. Ich habe nie mit dir Verstecken gespielt. Hättest dir beizeiten an mir ein Muster nehmen sollen mein Kind. Dann wäre mir allerhand erspart geblieben.“

„Wie meinst du das? Was wirfst du mir vor?“

Er antwortete nicht gleich. Erst nach einem langen Blick in ihre Augen, den sie aushielt der ihr aber weh that, wie ein Schnitt warf er so hin, indem er sich wieder zurücklehnte: „Laß nur. Das ist Pökelfleisch.“

„Wie?“ fragte sie sehr erstaunt.

„Das liegt noch eingesalzen, tief unten im Faß. Hält sich. Wird schon eines Tages herausgeholt werden, wenn’s die richtige Zeit ist.“

Hanna sprach jetzt nicht mehr. Sie zitterte aber am ganzen Leib. Böser Mensch, dachte sie empört. Sie wäre gern von ihm weggerückt. Daß sie die Wärme seiner körperlichen Nähe fühlte, überlief sie in diesem Augenblick mit verstärktem Widerwillen. Sie rührte sich aber nicht; sie wagte es nicht. Er wäre imstande gewesen, unbekümmert um den Kutscher in heftige Schmähungen auszubrechen. Es war schon so nicht sicher, daß Emil nicht Bruchstücke der Unterhaltung aufgefangen habe.

Schon wieder also hatte das harmlos begonnene Gespräch eine streithafte Wendung genommen! Als wenn Frieden zwischen ihnen beiden unmöglich wäre! Sollte das immer so weiter gehen? Nie mehr sich sänftigen? Die Ruhe dieser letzten Tage deuchten sie jetzt wie die Stille vor dem Sturm. Sollte es nun noch schlimmer werden als vorher? Es schien fast so.

Das Gefühl der Qual und der Ohnmacht gegenüber dieser Qual stieg ihr bis zum Hals, würgte sie, benahm ihr fast den Atem. Saß sie nicht da neben ihm wie eine Sünderin? Was hatte sie ihm gethan? Aus was für einem erbärmlichen Seidenfädchen hatte er ihr da wieder einen Strick gedreht? Und sie sollte warten, bis es ihm belieben würde, sie zu richten? Sie fühlte, sie ertrug das nicht. Sie mußte ihn zum Sprechen bringen. Aber nicht hier im Schlitten.

Aus ihrem dumpfen Brüten aufschauend, sah sie, daß sie eben den Tiergarten verlassen hatten und durch die Hitzigstraße gegen den Kanal hin abbogen. Unter den Bäumen am Wasser war der Weg glatt gefegt.

„Wenn wir für ein Weilchen aussteigen,“ sagte sie bittend zu ihrem Mann, der nach seinem letzten großen Wort gleichmütig schweigend geraucht hatte. „Ich möchte mich gern etwas bewegen. Ich bin ganz steif.“

„Meinethalben.“

Sie gingen nun nebeneinander her, Emil mit seinem ungeduldig tänzelnden Gespann folgte in einiger Entfernung.

„Gieb den Arm,“ sagte Ludwig nach wenigen Schritten. „Was ist das für ein dummes Gependel?“

Sie hätte gern beide Hände im Muff behalten, aber sie gehorchte sofort.

„Ludwig,“ begann sie alsdann gepreßt, „ich bitte dich, sag’ mir, was du gegen mich auf dem Herzen hast. Sprich dich aus, diese Halbheit ertrag’ ich nicht.“

Er betrachtete sie mit einem kalten Lächeln. „Was verstehst du unter Halbheit?“

„Daß ich weiß, du wirfst mir etwas vor, aber nicht was es ist.“

„Weißt du’s wirklich nicht?“ fragte er, noch mit demselben Gesicht.

„Würd’ ich dich sonst fragen?“

„Na, es könnte ja auch sein, um Zeit zu gewinnen, um dir die Antwort zurechtzulegen. Besinne dich nur noch ein Weilchen, es wird dir schon einfallen.“

„Du siehst, Ludwig, wie mir zu Mute ist,“ sagte sie gepeinigt. „Sei großmütig, mach’ ein Ende!“

„Spottschlecht ist dir zu Mute, ja das sehe ich,“ bestätigte er nickend. „Dein Gewissen rührt sich. Angst hast du.“

„Angst nur vor diesem Unklaren. Ist das ein Wunder? So erbarm’ dich doch und sprich! Was hab’ ich dir gethan?“

Sie spürte jetzt in seinem Arm, daß es ihm plötzlich einen Ruck gab, und sah ihn ängstlich an. Ein unsinniges, böses Lächeln verzerrte sein geradeaus schauendes Gesicht.

„Na denn, meinetwegen,“ murmelte er. „Es lebe der Zufall! Ein Wink vom Schicksal offenbar. Er neigte sich dann zu ihr mit einem Ausdruck, vor dem sie erschrak.

„Sieh, wer da kommt,“ sagte er noch gedämpfter, und ohne den Blick von ihr zu lassen.

Fast hätte sie aufgeschrieen.

Rettenbacher war nur noch etwa zehn Schritte von ihnen entfernt. Mit leicht geneigtem Kopf gegen den scharfen Wind angehend, kam er daher, ohne die beiden zu bemerken.

Hanna fühlte, wie der Schreck sie rüttelte. So unvorbereitet, und gerade in diesem Augenblick traf sie die Ueberraschung [696] dieser Begegnung mit erschütternder Gewalt und zugleich mit der überzeugungsvollen Kraft einer unmittelbar drohenden Gefahr.

Ludwig, der mit seinem durch die Eifersucht verschärften Spürblicke ihr armes, fassungsloses Gesicht bewacht hatte, brach in ein mißtönendes Gelächter aus. Dadurch aufgeschreckt, hob Rettenbacher den Kopf. Es fuhr bei diesem unerwarteten Anblick auch über seine sonst stets so gutbewachten Züge ein leises Beben. Aber es verflog sogleich wieder, und schon hatte er mit ernster Höflichkeit den Hut gezogen und war grüßend, ohne den Schritt anzuhalten, an ihnen vorbeigegangen.

„Es lebe der Zufall,“ wiederholte Ludwig, der in offenbar absichtlicher Ungezogenheit kaum die Hutkrempe berührt hatte, mit einem neuen, kurzen Auflachen „Schöner hätte sich’s ja gar nicht treffen können. Das nennt man abgekürztes Verfahren. Konfrontation. Ueberrumpelung des Delinquenten. Famos! Mein Liebchen, was willst du noch mehr?“

Er war furchtbar erregt und so bleich, wie sein dunkles Gesicht nur werden konnte. Hanna schauerte zusammen vor dem wilden Blick, mit dem er sie anfunkelte.

„Was willst du von mir?“ fragte sie heiser, über und über zitternd.

„Lügnerin! Hab’ ich dich erwischt?“

„Was willst du von mir?“ wiederholte sie mit einem Rest von Stimme, der Mund war ihr trocken wie Papier.

„So laß doch die verdammte Komödie!“ fuhr er sie an. „Du siehst ja wohl, daß du dich verraten hast. Oder etwa nicht? Wie gerufen kam dein langer Laban eben des Weges daher. Den muß der Teufel geschickt haben. Ich wollt’ nur, du hättest im Augenblick dein eigenes Gesicht sehen können. Es war so eine Art beglaubigter Unterschrift zu dem in der Kirche bei unserer famosen Trauung. Zuckst du? Ja, zuck’ nur! Winde dich nur. Um ein halb Stündchen zu spät ist mir leider damals der Seifensieder aufgegangen.“

„Was – glaubst du von mir?“ Halb bewußtlos ging sie langsam an seiner Seite dahin.

„Was ich von dir glaube? Daß du mit dem Lehrersmann einig warst – vor meiner Zeit. Und daß dir der reiche Freier dann zwar überraschend, aber doch sehr gelegen kam. Und daß du dir deinen süßen Herzensfreund einstweilen warmgestellt hast. Und daß du geglaubt hast, dein Mann wäre ein Esel. Und daß du dich dabei eklig geschnitten hast –“

„Nein,“ sagte sie außer sich, jetzt ganz laut. „Das ist nicht wahr!“

„Was ist nicht wahr? Daß du ihn geliebt hast?“

Hanna schwieg, von einem neuen, heftigen Zittern ergriffen. Was hätte sie jetzt um den Mut zu einer Lüge gegeben.

„Du antwortest mir ja nicht,“ fuhr er höhnend fort. „Wird dir das Schwindeln plötzlich so schwer? Ich wiederhole dir, mein Kind, halte mich nur nicht für gar zu dämlich! Wenn ich auch nicht so gebildet bin wie du, Augen hab’ ich darum doch im Kopf. Etwas spät sind sie mir ja aufgegangen. Dafür aber gründlich! Mir machst du jetzt nichts mehr vor, verlaß dich drauf. Das eine Zugeständnis schließt übrigens alle andern ein –“

„Das ist nicht wahr,“ wiederholte sie leidenschaftlich; in der Erregung rüttelte sie an seinem Arm. „Du darfst das nicht glauben. Du bist schlecht, wenn du das glaubst. Ich habe nicht – es ist nichts geschehen – du bist schlecht, wenn du das von mir glaubst – –“

„Na weißt du, mein Haseken,“ unterbrach er sie scheinbar gemütlich, aber mit einem bösen Funkeln seiner erhitzten Augen, „den Unterschied, wer von uns beiden der schlechtere ist – den möcht’ ich Klavier spielen können. Ueber dein Schatzemännchen war ich mir bald im klaren. Wenn du dich auch die längste Zeit besser beherrscht hast – daß er in dich verschossen war, das konnte jedes Kind sehen.“

„Ich nicht!“ warf sie heftig dazwischen. „Ich habe es nicht gewußt!“

„Gotts Donner! Und das Gesicht, mit dem du ihm in der Kirche nachgesehen hast, als ihr Abschied nahmt?“

Hanna antwortete nicht. In einem Gefühl des Vergehens starrte sie vor sich hin.

„He?“ fragte er scharf, „wie war es damit?“

„Da sah ich es – zuerst,“ erwiderte sie tonlos. „Und da war es zu spät.“

„Ach du arme Seele! Und du verlangst, daß ich das glaube? Ein solcher Ochse bin ich nicht, kann ich dir schriftlich geben. Bei mir hast du verspielt, ein für allemal, das merke dir. Wer einmal lügt – du weißt doch? Konntest du mich belügen, als du meine Braut wurdest, so warst du auch zu allem anderen im Stande. Daß ich dir infolgedessen gehörig auf den Dienst passe, ist wohl kein Wunder. Oder ja?“

Hanna ließ mutlos den Kopf sinken. An dieser Mauer mußte sie sich ja die Stirne blutig stoßen. Sich noch weiter verteidigen? Ihr ekelte davor. Und ihm in dieser Verfassung sagen es war für die Mutter, daß ich’s that – wie wäre das möglich gewesen! Die arme Mutter, der er ja schon nachspottete, die ja im Grabe keine Ruhe vor seiner Mißgunst hatte!

Eine Weile blieb es nun still zwischen ihnen.

Ludwig hatte seine zerkaute, zerbissene Cigarre weggeworfen. Von Zeit zu Zeit schoß er einen schrägen Seitenblick auf seine Frau hinunter, die schleppenden Schrittes, mit todmüdem, erloschenem Gesicht neben ihm herging.

Endlich erhob sie die Augen wieder zu ihm, traurige, vorwurfsvolle Augen. „Also mit solchen abscheulichen Gedanken konntest du all diese Zeit, all diese Monate über neben mir hergehen?

„Ein Vergnügen war es nicht, kann ich dir sagen. Oder dachtest du?“

„Warum in aller Welt klagst du mich denn erst heute an?“

„Rechenschaft bin ich dir ja wohl nicht schuldig, wie? Sei froh, wenn ich nett gegen dich bin, da du es so wenig verdienst. Ohne diesen famosen Zufall hätt’ ich vielleicht auch heute noch nicht gesprochen.“

„Das hättest du fertig gebracht? Noch wer weiß wie lange?“

„Gewiß hätt’ ich das. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. So was muß man können.“

„Meinst du? Mir scheint das mörderisch. Und jetzt? Nachdem du dich ausgesprochen hast? Wie denkst du dir die nächste Zukunft? Da du ja doch bei deinem abscheulichen Glauben von mir beharrst?“

„Das hängt ganz von deinem Betragen ab. Benimmst du dich anständig, ärgerst mich nicht, so wirst du dich auch über mich nicht zu beklagen haben.“

Sie starrte ihn an. „Du glaubst, wir könnten zusammenbleiben? Nach diesem? Nach dem, was du mir heute gesagt hast?“

„Scheint doch so,“ antwortete er mit einem rauhen Lachen. „Auf Abbruch hab’ ich nicht geheiratet.“

„Und du glaubst, ich bliebe? Du glaubst, nach der Schmach, die du mir angethan hast, ich lebte weiter mit dir?“

Er streifte sie mit einem düster glühenden Blick. „Wirst du wohl müssen. Ich habe dich, und ich halte dich. Nie geb’ ich dich wieder her!“

Hanna schüttelte außer sich den Kopf. „Das kannst du nicht thun! Das darfst du nicht! Mit einer Frau, der man so mißtraut, bleibt man nicht zusammen. Und ich ertrage dieses Leben nicht!“

„Beruhige dich. Und ertrage es nur. Ich muß es ja auch ertragen. Denkst du, es macht mir Vergnügen? Uebrigens bist du einstweilen noch gut genug dabei weggekommen. Den hochdramatischen Gedanken an Scheidung steck’ nur gleich auf. Das giebt’s nicht. Nie! Darauf kannst du Gift nehmen. Und schmeiß' nicht immer gleich mit großen Worten um dich. Was hat mein sogenannter Glaube an dich mit meiner Liebe zu schaffen? Nicht die Bohne. Man kann sogar wahnsinnig lieben, ohne einen Schatten von Vertrauen.“

Sie hatten jetzt beinahe die Potsdamer Brücke erreicht. Ludwig winkte den Schlitten heran. Mechanisch, halb betäubt, gehorchte Hanna seiner Aufforderung, einzusteigen.

Zehn Minuten später waren sie zu Hause.

[709]
27.

Aus dem Besuchemachen wurde fürs erste noch nichts. Hanna erkrankte. Schon einige Stunden nach der Ausfahrt stellte sich die Unbehaglichkeit eines leichten Fiebers ein. Da Ludwig zu einem seiner regelmäßigen Skate ausgegangen war und nicht zum Abendbrot erwartet wurde, so konnte sich Hanna den Luxus gestatten, schon um acht Uhr zu Bett zu gehen. Schauernd, mit frierenden Gliedern, aber heißem Kopf, duckte sie sich in die Kissen. Das rasch wachsende Gefühl der körperlichen Elendigkeit umschleierte die schmerzhafte Schärfe der seelischen Leiden. Wie Nebel, der die Umrisse der Gestalten verwischt, den Stimmenschall abdämpft, so lag die Fieberwolke über ihrem armen, gequälten Kopf, und durch das sausende Hämmern der Pulsschläge hindurch hörte sie nur wie in der Ferne den Klang der verhaßten Stimme: Ich habe dich und ich halte dich, nie geb’ ich dich wieder her.

Atembeschwerden begannen sie zu ängstigen, dazu kam ein trockener Husten, erst in kurzen, vereinzelten Stößen, dann in heftigeren Anfällen. Immer wieder scheuchte er den leichten, schwebenden Schlummer auf, der ihr rastlos arbeitendes Hirn in traumreiche Betäubung hüllen wollte, verscheuchte ihn endlich ganz. Ludwig, der spät in der Nacht heimgekommen war und sich niedergelegt hatte, ohne mit einem Wort von ihr Notiz genommen zu haben, warf sich ungeduldig seufzend in seinem Bett hin und her, so oft er von den dumpfen Tönen geweckt wurde, die unter der heraufgezognen Decke noch immer laut genug hervorklangen. Hanna stand endlich auf – es war kurz nach Vier – und schlich in ihr Ankleidezimmer wo sie sich, in ihren Pelz gehüllt, auf der Chaiselongue zusammenkauerte. Ruhe fand sie so zwar nicht, aber sie störte den Mann nicht mehr, und das war vorläufig die Hauptsache.

Ludwig holte das Versäumte reichlich nach und schlief bis in den hellen Morgen. Er erstaunte sehr, als er beim Erwachen das Bett neben sich leer fand.

Am Frühstückstisch traf er seine Frau wieder, wo sie ihm bleich, mit dunkelumschatteten, auch etwas geröteten Augen entgegensah.

„Nanu? Was ist denn mit dir los?“ fragte er, auf das seidene Tuch deutend, das sie um Nacken und Schultern geschlungen hatte.

Sie zog es fröstelnd fester.

„Ich bin etwas erkältet,“ antwortete sie mit heisrer Stimme. „Ich dachte, du wüßtest es; mit meinem Husten hab’ ich dich ja sehr gestört.“

[710] „Richtig, das stimmt,“ gab er zu. „Besonders zu Anfang hast du dich recht wenig beherrscht. Frauen sind ja darin unglaublich.“

Er erwartete ihre Verteidigung, es kam aber keine. Mit unbeweglichem Gesicht sah sie an ihm vorbei.

„Jetzt ist dir aber doch wohl besser?“

Sie nickte; ein heftiger Hustenanfall strafte sie jedoch in dem selben Augenblick Lügen.

„Na, na!“ wehrte er, horchte aber dann doch auf die rauhen, harschen Töne aus der offenbar schon wunden Kehle.

„Das ist ja recht nett. Weiß der Teufel, wo du dir das wieder geholt haben magst.“

Sie antwortete nicht; schweratmend, mit schmerzlich verzogenem Gesicht lehnte sie in ihrem Sessel.

Sie dauerte ihn aber doch, gar zu jämmerlich sah sie aus.

„Thut der Hals dir weh?“ fragte er mitleidig.

Sie nickte wieder, diesmal glaubwürdiger als zuvor.

„Hm,“ machte er „Armes kleines Tier. Er trat näher auf sie zu, anstatt sich zu Tisch zu setzen. „Was thut man da? August kann ja meinetwegen an Meinhardt telefonieren, er soll kommen und dir was verschreiben.“

„Nicht nötig“, wehrte Hanna ab, der Spottreden eingedenk, die ihr ihre „Pimpelei“ schon eingetragen hatte.

„Quatsche nicht, mein Kind. Du hustest ja wie ein alter Gaul. Denkst du, ich wollte mir noch mal eine Nacht um die Ohren schlagen? Aber nicht allein deshalb, wie deine elegischen Mundwinkel eben andeuten, sondern auch, weil du mir wirklich leid thust, weil es mir wirklich nötig erscheint. Siehst ja förmlich angegriffen aus. Na, komm’ her, ich werd’ dir einstweilen zum Trost einen Kuß geben.“

Sie hatte nicht zu ihm aufgesehen während er sprach, sonst wäre sie jetzt nicht so erschrocken über diesen Schluß seiner Anrede. War denn das möglich? Nach dem, was gestern zwischen ihnen geschehen war? Sie streckte abwehrend die Hand gegen ihn aus und lehnte sich weit zurück.

„Na? Was soll das? Halt’ den Schnabel her. Ach du heulst – i bewahre, ich bin nicht bange vor Ansteckung.“

„Laß mich,“ sagte sie mit ihrer heisern, in diesem Augenblick fast erloschenen Stimme. „Du sollst mich nicht mehr küssen. Du sollst mich nicht mehr anrühren.“

„Gotts Donner, was fällt dir ein?“

Sie sah ihn starr an. „Ich begreife dich nicht,“ erwiderte sie dann. Nach dem von gestern – Aber ich lerne von dir. Das von gestern vergesse ich niemals, verlaß dich darauf. Und darum – geh’ weg da von mir!“

„Du bist wohl toll?“ fuhr er auf.

„Noch nicht, Aber daß mein Kopf sehr gesund bleiben wird bei diesem Leben mit dir – das bezweifle ich.“

„Du bist nicht bei Trost,“ knurrte er ingrimmig, verbissen, nicht so heftig wie zuvor. Etwas in ihren Augen warnte ihn, war ihm unheimlich.

„Nein ich bin nicht bei Trost“, hauchte sie, kaum vernehmlich, „ganz und gar ohne Trost bin ich.“ Ein neuer Hustensturm nahm, was sie noch hätte sagen können, mit sich hinweg.

Ludwig ging im Zimmer auf und ab. Ihm war etwas schwül zu Mute. Sogar nach Reue. Ein sehr ungewohntes, sehr unbequemes Gefühl. Hatte ihn die Wut gestern doch zu weit geführt? Hatte er es doch zu grob gemacht? Daß der Satan aber auch gerade den Menschen daherführen mußte. Der unerwartete Anblick hatte ihm die Fassung vollständig geraubt. Und dann Hannas Gesicht bei der Begegnung –

Er trat rasch auf sie zu, die wieder still dasaß, den Kopf auf die Hand gestützt.

„Schwöre mir,“ sagte er dumpf, „daß zwischen euch nichts ist!“

Sie antwortete nicht gleich. Vor dem Blick, mit dem sie ihn ansah, zitterten ihm aber die Augenlider. Sie schüttelte dann den Kopf.

„Ich schwöre dir nichts. Seit ich dir am Altar Treue gelobt habe, schwöre ich dir nichts mehr. Für mich ist es nicht nötig. Für dich wäre ja alles, was ich noch sagen könnte, nutzlos.“

„Meinst du? Als ob ich dich nicht durchschaute. Du weichst mir nur aus. Du liebst ihn. Sage mir daß du ihn nicht liebst, so will ich dir auch alles andere glauben.“

„Ich antworte dir auf keine solche Frage mehr,“ erwiderte sie zitternd, mit einem angstlos ins Leere flüchtenden Blick. Was hätte sie darum gegeben, jetzt kaltblütig ober zornig Nein sagen zu können, nein, ich liebe ihn nicht. Vielleicht, wenn sie dazu imstande gewesen wäre, hätte sie seinen Argwohn noch verscheucht. Aber auch nur vielleicht. Kaum vielleicht. Ihr Schreck über den Angriff gestern, aus dem Hinterhalt, ihr entsetztes Schweigen hatten sie in seine Hand gegeben. Und sie hatte in demselben Augenblick gewußt, daß sie sich niemals von dieser Niederlage erholen werde, daß dieses Zugeständnis die Schlinge geworden sei, die, ihr über den Kopf geworfen, sie halten und schnüren werde, lebenslang. Das arme Körnchen Wahrheit in dem wüsten Knäuel schnöder Anklagen, ihre uneingestandene, sorgsam verhüllte, kummervolle Liebe zu Arnold sank schwer wie Blei in die Tiefe ihrer erschütterten Seele hinab, erdrückte den Mut zur Gegenwehr, erblickte die helle Flamme der Entrüstung über erlittenes Unrecht.

Sie fühlte den glühenden Blick seiner Augen, ohne ihn zu sehen; sie wand sich darunter wie in körperlicher Qual.

„Siehst du wohl, siehst du wohl,“ sagte er schneidend, nur mühsam beherrscht. Er ließ sich schwer in seinen Sessel fallen, ihr gegenüber am Tisch, und umklammerte mit beiden Händen die Seitenlehnen.

„Warum hast du mir das gethan, du –“ schrie er sie an, jetzt fast so heiser wie sie. „Warum hast du mich genommen, wenn du doch den andern liebtest!“

„Für die Mutter,“ schluchzte sie auf; sie drückte die Hände ins Gesicht und weinte bitterlich.

„Ah!“ sagte er erstaunt, als überraschte ihn diese Auskunft sehr. Mit einem rauhen, kurzen Auflachen fügte er dann hinzu; „Na, dann bist du aber – –“ er brach wieder ab. – Eklig reingefallen, hatte er sagen wollen. Ein dumpfes Gefühl warnte ihn vor dem Aussprechen dieser Rohheit. Die alte Frau war ja tot. Er wußte im Augenblick wieder nicht, ob leider oder gottlob! Seine Eifersucht hieb besinnungslos um sich, wußte kaum mehr, wen und was sie traf.

„Nur deshalb?“ fragte er nach einer Pause. „Für dich selber lag dir nichts dran? An meinem Gelde, meine ich. Aus dem hast du dir keinen Pfifferling gemacht, nein?“

Sie weinte heftiger, ohne zu antworten. Das Schluchzen reizte aber den wunden Hals, sie hustete zum Erbarmen, minutenlang.

„Trink’ doch was Heißes,“ sagte er ungeduldig, aber wider Willen mitleidig gestimmt. Er drehte selbst den Hahn an der Kaffeemaschine auf, unter dem schon eine Tasse bereit stand, that Zucker und Sahne dazu und schob ihr die volle Tasse hin.

„Vorwärts, trink’!“

Sie gehorchte, wenn auch ohne viel Erfolg; sie zwang auch das Weinen nieder.

„Entschuldige,“ murmelte sie abgebrochen „du hast ja noch gar nichts.“ Eifrig sorgte sie für ihn, von Hustenstößen unterbrochen, erschüttert. Nach einem finstern Blick in ihr verweintes, von diesen allerhand Leiden verstörtes, entstelltes Gesicht schwieg er jetzt still. Gewohntermaßen nahm nun auch das Frühstück seine Aufmerksamkeit in Anspruch, lenkte sie wohlthätig ab. Zum Glück befriedigte es ihn. Die kleinen Pastetchen, auf ihrer verdeckten Nickelplatte durch ein Spiritusflämmchen heiß erhalten, „befanden sich durchaus auf der Höhe“. Bisher war noch keine Gemütsbewegung imstande gewesen, Ludwigs gesunden Appetit zu beeinträchtigen. Wieder ein Vorteil, den er vor seiner Frau voraus hatte. Er redete ihr übrigens heute nicht zu, etwas zu genießen. Schweigend ließ er sie gewähren, bis nachdem sie ihn bedient hatte, nun wieder starr vor sich hinbrütete zuweilen von einem heftigen Frösteln erschüttert. Auch ohne wörtliche Bestätigung wußte er, daß ihm da eine Besiegte gegenübersaß, die von seiner Gnade abhing. Mit einem dumpfen Gefühl der Befriedigung machte sich nun aber ein anderes, ein suchendes, tastendes, ein unruhvolles Nachdenken, wie er zunächst über all diese Greulichkeiten zur Tagesordnung übergehen könne, ohne sich etwas zu vergeben. Daß sie so still und stumm dasaß, sich nicht rührte, sich nicht verteidigte, war für den Augenblick gut, aber nicht für alle Tage. Sie sollte wieder lebendig werden, sie sollte ihn lieben lernen! Teufel auch! Dieses Zurückweichen, dieses [711] „Weg da!“ wär ihm in die Glieder gefahren; es gab ihm noch nachträglich einen Ruck.

Er stand vom Tisch auf – er war ohnehin fertig – und begann wieder auf und ab zu gehen. Diese Stille im Zimmer, zwischen zwei lebendigen Menschen, diese seltsame Stille, in der es wie mit schweren Flügelschlägen zu sausen schien, wurde ihm immer unheimlicher – oder war dieser Ton nur in seinem Ohr, war es sein eigenes Blut, das so klang, wie das „Rauschen des Meeres“ in den großen Muscheln, an denen die Kinder horchen?

Das Eintreten des Dieners weckte ihn aus seinem Brüten.

„Ich muß jetzt fort,“ sagte er rasch, „es ist ohnehin später als sonst geworden. – August, telefonieren Sie an Sanitätsrat Meinhardt, die gnädige Frau sei erkältet, ich bäte um seinen Besuch im Lauf des Tages.“

„Sehr wohl!“

„Also adieu!“ Von der Thür aus winkte er seiner Frau mit der Hand. „Halt dich ruhig, pfleg’ dich. Zu Tische wirst du dann schon wieder muntrer sein.“

„Gewiß,“ versicherte Hanna nickend, des Dieners wegen mit einer Art von verbindlicher Abschiedsbewegung.

August schloß hinter seinem Herrn die Thür. Durch sie hindurch schickte er ihm ein spöttisches Lächeln nach. Eilfertig räumte er alsdann den Frühstückstisch ab. Zehn Uhr vorbei. Der Sanitätsrat konnte jeden Augenblick kommen. Zu telephonieren war nicht mehr nötig. Es war bereits geschehen, vor zwei Stunden. Nach Henriettes Bericht: Wie ein „Klümpchen Elend“ habe sie die arme Gnädige in der Sofaecke gefunden, ganz in sich zusammengekrochen unter dem Pelzmantel, bloß um „Ihn“ nicht zu stören – hatte er es laut Parlamentsbeschluß in der Küche auf seine Kappe genommen, den Doktor anzurufen nur mit der Anmerkung, der Herr Sanitätsrat mochte doch scheinbar von selbst kommen, wie zufällig, denn die gnädige Frau werde gewiß nicht um ihretwillen zu ihm schicken wollen. – Schon! Um zehn Uhr etwa würde er da sein.

… Sie brauchen es mit dem Telephonieren nicht so eilig zu machen, August. Nur, wenn der Herr Sanitätsrat heute doch gerade in unsere Gegend käme. Wichtig sei es nicht.

„Sehr wohl, gnädige Frau.“

Mit dem Theebrett in der Hand, that er einen Schritt gegen das Fenster hin.

„Eben biegt ein Wagen herein. So ein Zufall! Der Herr Sanitätsrat selbst. Als wenn er's geahnt hätte, daß gnädige Frau recht krank sind. Ich will nur schnell hinunter, aufmachen.

28.

„Eine recht anständige akute Bronchitis,“ erklärte der alte Herr, der auf der Treppe erst von August, dann von Henriette angefallen worden war und sich ihre Berichte hinters Ohr geschrieben hatte, nach sorgfältiger Untersuchung. „Wo haben Sie sich denn die geholt, meine liebe gnädige Frau?“

„Nun, die Herkunft, die wird ja wohl ziemlich gleichgültig sein,“ gab Hanna mit einem abwehrenden Lächeln zur Antwort. „Die Hauptsache ist, daß ich sie habe.“

„Nicht doch. Die Hauptsache ist, daß Sie sie wieder los werden. Und zu diesem Zweck werden Sie sich freundlichst sofort zu Bett verfügen und sich für die nächsten acht Tage nicht herausrühren.

„O, das geht nicht,“ sagte Hanna beinahe erschrocken. „Das würde meinem Manne sehr unbequem sein.“

„Ihr Mann ist augenblicklich Nebenperson und interessiert mich gar nicht,“ entgegnete der alte Herr mit seinem strengsten Doktorgesicht.

„Aber ich kann unmöglich – –“

„Sie werden bedingungslos parieren, meine verehrte gnädige Frau, oder ich lege augenblicklich meinen Kommandostab in diesem Hause nieder. Verstanden? Na, sehen Sie mich nur nicht so ängstlich an. Ich bin ja auf Sie nicht böse. Ich sehe nur – übrigens lassen wir das. Also Sie wollen doch gern von diesem garstigen Husten und von diesen Brustschmerzen befreit werden, nicht? Nun, dazu sind vor allen Dingen nasse Einwicklungen und gleichmäßige Bettruhe unbedingt nötig. Sonst kriegen wir das nicht. Etwas Ernstliches möchten Sie sich durch Widersetzlichkeit doch nicht zuziehen, nicht? Schon. Sie werden also nun die Güte haben, sich mit der Geschwindigkeit eines Mokkakäfers zu Bett zu legen, damit ich Ihrer Jungfer Bescheid zeigen kann. Sie nickt, sie ist schon brav. Zur Belohnung verschreib’ ich Ihnen dann auch noch eine Medizin.“

„O bitte! Daß ich nur in der Nacht nicht huste. Mein Mann verträgt es nicht, im Schlaf gestört zu werden.“

„Ja, was ich übrigens sagen wollte. Natürlich quartieren wir Sie aus. Patienten sollen nicht mit Gesunden die Räume teilen, wenn man’s so einrichten kann. Hier können wir uns das ja leisten.“

Ludwig erstaunte nicht wenig über die „Bescherung“, die er vorfand, als er zu Tische heimkam. Er mußte sich aber wohl oder übel in die vollendete Thatsache fügen, der Sanitätsrat, der seinen Mann seit vielen Jahren kannte, hatte ihm einen unmißverständlichen Mahnzettel zurückgelassen und eine Wiederholung seines Besuches für den Nachmittag angekündigt.

Gerade als wenn sie mit allen Mitteln vor mir geschützt werden müßte, brummte Ludwig in sich hinein.

Zu sehen bekam er seine Frau fürs erste nicht, auf seine ungeduldige Frage hieß es, sie schlafe. So setzte er sich denn allein zu Tisch. Es wollte ihm nicht gefallen. Er spürte eine starke Sehnsucht nach seinem lieblichen Gegenüber.

Es ist ja eigentlich eine Schande, wie ich dieses Weib liebe, dachte er. Förmlich unsinnig. Darum bin ich auch so wütend auf sie. Erschlagen möcht’ ich sie manchmal, wahrhaftig. Sie muß auch wieder fügsam werden – – es lief aufs neue, wie heute morgen, ein Schauer über ihn hin, als er an ihre starre Abwehr dachte. Sie muß wieder fügsam werden, wiederholte er fast laut, sonst nimmt das kein gutes Ende mit uns beiden. Uebrigens – er griff in seine Rocktasche – Donnerwetter, hab’ ich das verloren? Das wäre des Teufels. Aber nein, es muß ja im Pelz stecken Ich bin wohl schon halb dämlich.

Er pfiff den Diener wieder zurück, der eben die letzte Schüssel hinausgetragen hatte.

„Aus meinem Pelz – Brusttasche – das Päckchen in Seidenpapier. Und – schläft die gnädige Frau immer noch?“ Nein. Gerade habe die Henriette ausgerichtet, die gnädige Frau sei wach und bitte den Herrn um seinen Besuch.

„Wahres Glück“, murmelte Ludwig, der sich sofort erhob und hinausging. Aber immer nobel, sein! Bittet um meinen Besuch. Ich möchte mal zu ihr reinkommen – das wäre wohl – wieder nicht vornehm genug gewesen.

Die „Krankenstube“ lag sehr bequem, Thür an Thür mit Hannas Ankleidezimmer, am Ende des Korridors, nach dem Garten hinaus. Zur Aufnahme bevorzugten Logierbesuchs bestimmt, zum Beispiel der Breslauer Geschwister, war es schön und kostbar eingerichtet, reicher und eleganter als die übrigen Gastzimmer, die im Sollergeschoß lagen, und die zu Hannas stillem Mißfallen die leblose, unpersönliche Physiognomie gewöhnlicher Hotelräume trugen. Bisher war keiner von ihnen allen benutzt worden. Eggebrechts verschoben ihren ersten Besuch bis nach der „Haustrauer,“ bis „Madame“ wieder einigermaßen menschlich geworden sein würde. Wenn sie nach Berlin kämen, wollten sie sich „amüsieren“, nicht wie die Asketen umeinander herumsitzen. Thomas hätte seiner Frau diesen schwesterlichen Erguß lieber nicht zeigen sollen, unmöglich konnte sie sich nun auf die nähere Bekanntschaft mit der Schwägerin freuen.

„Was wollen Sie?“ fragte Ludwig, als ihm dicht vor der Thür Henriette entgegentrat.

„Ach, die gnädige Frau sollte eigentlich gar nicht sprechen, hat der Herr Sanitätsrat gesagt. Und wenn die gnädige Frau auch selbst nach dem Herrn geschickt hat – ich dürfte von Rechts wegen niemand ins Zimmer lassen.“

Für ihre kranke Herrin sofort ganz Mitleid, überwand das Mädchen die Scheu, die sie, wie alle Dienstboten im Hause, vor „ihm“ fühlte, sie hatte aber kein Glück mit ihrer Rolle als Cerberus.

„Warten Sie gefälligst bis Sie gefragt werden,“ schnauzte Ludwig sie an. „Im übrigen bleiben Sie hier draußen, bis ich Ihnen klingle.“

Hanna, die seine grobe Stimme gehört hatte, sah ihm ängstlich entgegen.

[712] „Na?“ sagte er, nachdem er die Thür ziemlich unsanft hatte ins Schloß fallen lassen. „Was machst du denn für Streiche? Meldest dich einfach krank?“

Er trat an ihr Bett und beugte sich über sie. Bis zum Kinn war sie zugedeckt, ihr heute morgen noch bleiches Gesicht war jetzt fieberich gerötet, in den Augen ein unruhiger Glanz.

„Du mußt schon entschuldigen,“ sagte sie fast tonlos – sie war noch heisrer geworden – „daß ich dich so vernachlässige.“

„Natürlich muß ich entschuldigen, was soll ich sonst anfangen? Bleibt mir ja nichts weiter übrig.“

„Gegen den Doktor war eben nichts zu machen. Ich mußte gehorchen.“

„Ja, wenn der sich auf die Hinterbeine setzt! Aber – steht dir ganz gut, die Krankheit. Niedlich siehst du aus mit so einem bißchen Fieber.“

Er stützte die Hände zu beiden Seiten auf ihr Kopfkissen und beugte sich tiefer zu ihr herab. Angstvoll sah sie ihn so nahe über sich. so groß, so breit und mächtig, und mit diesem Lächeln – –

„Bitte,“ hauchte sie, den Kopf zur Seite wendend, „mir ist so beklommen –“

„Ja, warum bist du auch so fürchterlich zugedeckt, da mußt du ja ersticken.“

Er griff nach ihrer Decke.

„Nicht – das will der Doktor so.“

„Lächerlich. Runter damit von Hand wenigstens gieb her. Ich hab –“

Aus der Rocktasche zog er das Päckchen, an einem Zipfel des Seidenpapiers anfassend, ließ er es sich auf der Bettdecke auswickeln und öffnete mit einem Fingerdruck die rotlederne Kapsel. Ein kostbares Armband lag darin.

„Sofort anzuprobieren. So heißt mein Rezept. He? Wie behagt das der kleinen Putzdocke?“

Er streifte ihren spitzenbesetzten Aermel in die Höhe und legte den juwelengeschmückten Reif um das zarte Gelenk. Es hätte ihr nichts geholfen, wenn sie sich dagegen gewehrt hätte, es hätte ihr nichts geholfen, wenn sie gesagt hätte: „Was soll ich mit dem Ding? Ich mache mir aus solchen Sachen gar nichts, du weißt das ja recht gut.“ Sie hielt schweigend still, zupfte nur sacht mit der freien Hand den emporgeschobenen Aermel herab.

„Na? Was ist das für ’ne leblose Miene? Wirst du gleich ein freundliches Gesicht machen?“

Es gelang ihr nun, zu lächeln, sie nickte ihm auch zu. Ein Hustenanfall ersparte ihr das Sprechen für den Augenblick. „Wär’ er nur schon wieder draußen,“ dachte sie. „Ich lieg’ hier so elend hilflos, kann nicht fortgehen. Warum hab’ ich ihn nur hereingerufen? Ja, um mich zu entschuldigen. Wär’ er nur schon weg!“

„Gieb zu,“ sagte Ludwig, wieder nahe über ihr, „daß du einen guten, netten, lieben Mann hast. Und bedank’ dich auch.“

„Gewiß bedank’ ich mich,“ flüsterte Hanna, nur auf das letzte antwortend. „Es ist sehr schön.“

„Das ist kein ordentlicher Dank“, unterbrach Ludwig, der wohl spürte, wie sie seinen Augen auswich. „Das macht man ganz anders. Ich muß es dir wahrhaftig zeigen. Und schnell drückte er seine Lippen auf ihren Mund.

Der Klang der Hausglocke scheuchte ihn auf. „Wahrscheinlich der olle Brummkater, der Meinhardt,“ sagte er verdrossen. „Da drück’ ich mich lieber hier heraus. Wenn er mich nachher sprechen will, ich bin drüben, rauche noch eins. Uebrigens eß ich heut’ abend bei Uhl, mit Rönneberg zusammen. Ich komme noch, dir Gute Nacht sagen. – –“

In ihrem stillglühenden Abendfieber lag Hanna allein. Sie wollte es so. Sie hatte das Mädchen hinausgeschickt, das nun im Nebenzimmer nähend saß, für jedes Klingelzeichen bereit.

Der Doktor war dagewesen, hatte die Einwicklung zu erneuern befohlen, über die unnötige Höhe der Temperatur und die Verschlimmerung des Hustens gezankt und dem zärtlichen Ehemann, der sich viel zu lange mit ihr unterhalten hatte, für die nächsten zwei Tage jeden Besuch des Krankenzimmers überhaupt verboten.

Neun Uhr vorbei. Ludwig ausgegangen. Alles still ringsum.

Sie hatte sich nach dieser Stille sehr gesehnt. Auch nach der Nacht und ihrer Dunkelheit. Nicht lange mehr, nachdem sie allein gelassen worden war, hatte sie die kleine elektrische Nachttischlampe, die mit ihrem rosenfarbenen Schirmchen das Zimmer in warme, weiche Dämmerung hüllte, brennen lassen. Mit ihren ruhelos weitoffenen Augen sah sie nun nichts mehr, sie hätte sich einbilden können, blind zu sein. Diese leblose Finsternis war ihr aber gerade recht. Hätte sie nur in ihr bleiben können. Hätte sie nur nie mehr an den hellen Tag herausgemußt. Sie sehnte sich sehr, heute nacht ein für allemal einzuschlafen. Wie dankbar wäre sie gewesen, wenn diese Erkältung etwas Ernstes, Entscheidendes geworden wäre, dem sie hätte erliegen müssen. Aber dieses kleine Katarrhfieber that ihr nichts, der Husten und die Heiserkeit verschwanden in einigen Tagen. Eine Woche weiter – und alles war wie sonst. Die Scham peinigte sie bis zum Gefühl von körperlichem Herzweh. Für Augenblicke ging ihr in dieser zwiefachen Nacht das Bewußtsein davon verloren, daß sie da in ihrem Bett lag. Sie glaubte sich niedergestürzt, niedergeworfen, am Boden liegend, mit Wunden bedeckt, mit ruhmlosen, brennenden, unheilbaren Wunden. Niemals, sie wußte es wohl, konnte nie mehr gesund werden, befreit werden von dieser Schmach. Sie mußte es hinnehmen, daß er sie heute küßte und morgen beschimpfte. Um ihrer einen Lüge willen mußte sie es hinnehmen. Warum nur war ihr damals, als sie ihren Opferweg beschritt, diese Lüge nicht wie ein Unrecht erschienen? Warum bedrückte sie sie jetzt, als sei sie ein Verbrechen? War es jener Augenblick in der Kirche, wo Arnold sich verriet und die Erkenntnis ihres Verlustes sie überwältigte – war es jener Augenblick, der sie und ihn zu gemeinsamer Trauer verkettete und dann für immer trennte – war er es, der sie erst zur Sünderin gemacht hatte? Vielleicht, wenn Ludwig arglos und gütig geblieben wäre, daß sich dann die verschwiegene, sorgsam verhehlte Wunde langsam ausgeblutet und sacht geschlossen hätte. Aber er war schon damals nicht arglos gewesen.

Der Schmerzensruf der armen Königstochter in Grimms Märchen fiel ihr ein ‚Wenn das meine Mutter wüßte, das Herz im Leib thät ihr zerspringen!'

Wie gut, daß sie tot war. An diesem wäre ihr armes Herz in Stücke gegangen. Wie gut, daß sie nicht wissen konnte, wie tief begraben auch ihre liebe, unsterbliche Seele lag. Der Talisman war zersplittert. Aus seinen armen Scherben fügte sich ihr kein neuer Trost, kein neuer Schutz zusammen.

Es geht nicht, Mutter. – Sie faltete ihre heißen, zitternden Hände. Es ist nichts damit. Du hast mir zu viel zugetraut. Du hättest dableiben müssen. Lebendig hättest du mir geholfen. Ich weiß ja nun doch, daß es dich nicht freut, wenn ich oben bleibe, daß es dich nicht kränkt, wenn ich zu Grunde gehe. Ich kann mich doch nicht selber anlügen. Niemals seh’ ich dich wieder. Und niemals mehr kann ich sagen: Sieh', Mutter, so traurig bin ich. Ganz und gar – – in ihrem fieberischen, schmerzlichen Sinnen kamen ihr gedruckte Buchstaben vor die Augen. Ganz und gar bin ich – wo war das gewesen? Aber ja. Goethe. In den Sprüchen. Das war für mich: Ganz und gar bin ich ein armer Wicht. Meine Träume sind nicht wahr und meine Gedanken geraten nicht. – Wär’ ich auch tot. Nur die Toten sind glücklich. – – –

Eine Woche später war die Bronchitis beseitigt, Hanna aus dem eigentlichen Krankenzimmer entlassen. Doch betrachtete der Doktor sie andauernd mit starkem Mißfallen. Dem Grund ihrer allgemeinen, tiefen „Depression“, die in gar keinem Verhältnis zu der oberflächlich verlaufenen Erkältungskrankheit stand, konnte er nicht auf die Spur kommen. Etwas aber mußte geschehen, um dieser zunehmenden Mattheit, die jedes vitale Interesse verleugnete, entgegenzuarbeiten. Eine Reise blieb das beste Auskunftsmittel. Eine Reise nach dem Süden. Die aufgeschobene Hochzeitsreise.

Ludwig war mit diesem Vorschlag des Doktors sehr einverstanden. Er erhoffte allerlei von dem ungestörten Zusammensein dort unterwegs.

So dauerte es denn auch nicht lange mit den Vorbereitungen.

Anfang März waren sie schon in Verona.

[725]
29.

In dem langen, oberen Korridor des Gymnasiums ging Heinrich Günther wartend auf und ab. Der Unterricht mußte nun gleich zu Ende sein. Rettenbacher hatte ihm in der großen Pause sagen lassen, er möchte ihn um Zwölf an seiner Klasse abholen. Die Zeit von Elf an hatte er sich im Konferenzzimmer mit Lesen vertrieben. Er versäumte ja nichts, wenn er auch eine Stunde später heimkam. Rettenbacher bat so selten um etwas, daß er ihm den kleinen Gefallen nicht hatte versagen wollen. Offenbar wollte er ihm etwas Besonderes mitteilen.

Noch war alles ruhig in dem großen Gebäude. Aus den Klassenzimmern nur hörte man zuweilen die Stimmen der Lehrer, die Antworten der Schüler. Zu den auf den Hof gehenden Fenstern schien die heiße, grelle Julimittagssonne herein und warf, abwechselnd mit den dunklen Schatten der Pfeiler, blendende Streifen auf den Cementboden und an den Wänden gegenüber hin auf Wolken von Sonnenstäubchen tanzten in der glühenden Helligkeit gelangweilte Fliegen surrten ab und zu, bolzten gegen die Fensterscheiben. – –

Günther begann zu gähnen und sah zum vierten mal nach der Uhr. Sie ging wohl vor?

Nein. Jetzt schmetterte drunten die große Schulglocke los, und nur wenige Augenblicke später sprangen die Klassenthüren auf, wie Klappen an einem Behälter, die dem Druck einer inwendig gegenstauenden Masse berstend nachgeben müssen, und entließen den dichten Schwarm der durcheinander lärmenden, schwatzenden, lachenden befreiten Schüler.

Der Strom ergoß sich die Treppe hinunter, empfing vom obersten Stock her den gemäßigter niederflutenden Nachschub aus Prima und Sekunda, vereinigte sich weiter unten mit dem quirlenden Wellengewimmel der Kleinen und schäumte in breitem Katarakt zum Thore hinaus.

Günther war zur Seite getreten, um den Strudel vorbeizulassen. Ganz am Ende des Korridors, aus der letzten Thür heraus, trat jetzt Rettenbacher an der Seite des Direktors, der offenbar beim Unterricht hospitiert hatte. Langsam, tief im Gespräch, kamen die beiden Männer den Gang herauf. Aus dem Sonnenstreifen, der Arnolds Blondhaar leicht vergoldete, tauchten sie in den Schatten und wieder heraus ins Licht.

Die kräftige, breitschulterige Gestalt des Schulmonarchen mit dem machtvollen, von schwarzer Mähne umwallten Kopf erschien, obwohl sie den schlanken Wuchs des jüngeren Mannes an Höhe nicht erreichte, doch bedeutender und größer als sein Begleiter. Rettenbacher schritt mit der leichtgeneigten Kopfhaltung des ehrerbietig aufmerksamen Zuhörers neben seinem Vorgesetzten her.

Sie hatten jetzt Günther und das Ende des Ganges erreicht und blieben stehen.

„Also, wie gesagt,“ fuhr der Direktor nach kurzer Begrüßung des Wartenden wieder zu Rettenbacher gewandt fort, „Sie haben meine volle Zustimmung. Machen Sie den Plan nur recht schön. [726] An mir soll es geeigneten Augenblicks nicht fehlen. Sie wissen, daß ich mich gern zu den Neuerern zähle, daß ich mit Vergnügen an rostig gewordenen Stangen rüttle. Ich kann auch nicht glauben, daß Ihre Schrift nicht auch an entscheidender Stelle wirken sollte. Lassen wir ihr nur Zeit. Warten wir’s nur ab. Einstweilen gratuliere ich Ihnen zu dem Erfolg, so weit er schon sichtbar geworden ist!

Mit seinem warmen Blick voll Energie und Güte drückte er dem jungen Mann die Hand.

Am Fuß der Treppe angekommen, die sie dann gemeinsam hinuntergeschritten waren, verabschiedete sich der Direktor von den beiden Herren und trat in sein Privatzimmer.

„Kommen Sie flink,“ sagte Rettenbacher. „Wir müssen uns jetzt ein bißchen dranhalten, daß wir die Bahn noch erreichen.“

„Wieso?“ fragte Günther. „Was haben Sie vor im wilden Grimme? Was soll ich auf Ihrer Bahn? Ich gehe jetzt nach Hause, wie Sie wissen.“

„Das thun Sie nicht, wenn Sie ein bißchen nett sind. Sie kommen mit mir hinaus und essen bei uns. Ich hab’ der Grete gesagt, ich brächte Sie mit, tot oder lebendig.“

„Das ist nicht übel. Warum haben Sie mir denn von dieser großartigen Einladung kein Sterbenswörtchen vorher sagen lassen?“

„Ja, hat es denn der Junge, den ich Ihnen geschickt habe, nicht ausgerichtet? Aber freilich, es war mein Freund Leonhardt, der hat wohl die Hälfte seines Auftrags unterwegs verschwitzt. Na, es thut nichts, kommen Sie nur mit! Oder versäumen Sie etwas, haben Sie sich mit jemand verabredet?“

„Nein, das nicht, und ob ich nun in meinem ollen Restaurant esse oder bei Ihnen, das ist – – , so wollt’ ich's ja nicht sagen. Es ist mir gar nicht einerlei, sondern ich komme gern mit. Also basta! Sie müssen mir aber Wasser zum Händewaschen geben und mir den Schulstaub abbürsten helfen.“

„Soll geschehen.“

Sie waren auf den Hof hinausgetreten. Rettenbacher sah sich suchend um.

„Jetzt bin ich nur gespannt, ob mir der Hans durchgebrannt sein wird. Nein, da steht er. Natürlich schon kochend vor Ungeduld. Hans! Hierher, mein Junge!“ Der Gerufene, der sich die Wartezeit damit vertrieben hatte, eine schadhafte Stelle in der Mosaikpflasterung mit seinem Saebelabsatz zu vergrößern, drehte sich herum und kam schnell auf die beiden Herren zugelaufen.

„Großer, wo steckst du?“ fragte er laut, vorwurfsvoll, mit seiner „Kirchglockenstimme“.

„In meiner Haut, wie du siehst“, antwortete der Bruder gleichmütig. „Aber du scheinst mir aus deiner schon wieder herausgefahren zu sein, was?“

„Wenn ich aber auch hier stehen muß in der Sonne wie ein Pfahl!“

„Ich habe ja nicht verlangt, daß du hier in der Sonne stehen sollst, und auch nicht wie ein Pfahl. Warum hast du nicht unterm Thorbogen gewartet? Aber mach’ nur jetzt, nimm deine Beine in die Hand, wir müssen uns eilen. Herr Günther kommt mit uns hinaus.

„Famos!“ rief der Junge. „Ich werd’ nur vorausrennen und die Dampfbahn festhalten.

Im Nu war er davon, zum Einfahrtsthor hinaus und die Straße hinunter. Günther sah ihm lachend nach.

„Macht mir Spaß, der Bengel. Wie er übrigens wächst, das ist schon fabelhaft. Kein Mensch glaubt, daß er erst elf Jahre alt ist. Wie Sie den noch bis zur Konfirmation in kurzen Hosen behalten wollen, ist mir schleierhaft. Er kommt mir immer vor wie einer aus der alten Germanenzeit, ich könnt’ ihn mir ganz gut denken mit Sandalen von Baumrinde und mit einem Bärenfell um die Lenden.“

„Er würde jedenfalls gegen diese Art von Garderobe nichts einzuwenden haben,“ sagte Arnold lächelnd. „Er hat immer noch viel zu viel an, findet er. Nun ja, so wie zu Hause auf dem Dorf kann ich ihn hier nicht mehr herumrennen lassen, das ist sicher. Es thut mir leid genug, seine schönen, noch unverdorbnen, klassischen, braungebrannten Füße dauernd in Schuhe stecken zu müssen. Aber sein Kopf und was darin steckt, ist auch was wert und die Geschichte hier an der Schule darf’ ich mir doch nicht für ihn entgehen lassen. Seit die Grete da ist, hat er's ja auch wieder besser. Es war doch eine tolle Sache, Vater und Mutter für den kleinen Schlagetot zu spielen. Ist mir manchmal ganz schwül dabei geworden. Ich kann ja allerlei, aber es giebt doch eine ganz erkleckliche Masse Dinge, zu denen man nur ein Frauenzimmer gebrauchen kann. Wenigstens, was die Kinderpflege angeht. Na, Sie haben ja unsere Wirtschaft dazumal gesehen. Ich atmete auf, als mir die Mutter den Vorschlag mit der Grete machte. Wenn's ihr recht wär, mir könnte es schon gefallen!

Sie hatten jetzt den Nollendorfplatz und die Station der Dampfstraßenbahn erreicht und stiegen schnell in den eben nach Friedenau abfahrenden Wagen, der fast leer war. Hans stand natürlich längst droben und versicherte, daß sie es nur ihm verdanken, noch mitgenommen worden zu fein. Er schleuderte nun seinen Ranzen auf die Bank neben Arnold, mit einem begleitenden Bittblitz aus seinen blauen Augen, und schoß hinaus auf die Plattform zu seinem „Freund“, dem Schaffner.

Günther nahm den Hut ab und trocknete sich die feuchte Stirn.

„Puh! Heiß! Wir sind aber auch gerannt! – Ja, was ich übrigens sagen wollte, Magisterchen das mit Ihrem Buch, das ist famos! Ich freu’ mich wie ein Schneesieder, daß Sie solchen Erfolg damit haben.“

„Freuen sich die Schneesieder so besonders?“ fragte Rettenbacher lächelnd.

„Kolossal, sag’ ich Ihnen. Ich habe zwar noch keinen gesehen, aber man weiß es durch Ueberlieferungen seit mehr als hundert Jahren.“

„O, dann freilich! – Also mein ,Buch’. Ein anspruchsvoller Name für das Schriftchen. Ja, es geht ihm gut. Ich bin selber überrascht. Ich hatte gar nicht gedacht, daß sich so viele Leute für dieses Thema genügend interessierten. Zwar, ob es zunächst irgend einen praktischen Erfolg haben wird, steht noch sehr dahin. Solche an Kopf und Herz gesunde Männer wie unser Direktor sind erbärmlich dünn gesät, wie Sie wissen. Und gerade die braucht man, um mit Neuerungen durchzukommen. Aber wenn auch sein Beispiel die übrigen Herren mit Vorwissen – es ist noch sehr die Frage, ob es gelingt, die maßgebenden Behörden so weit aufzustacheln, daß sie die Sache in Erwägung ziehen. Die Kutsche zuckelt ja so gemütlich in alten, ausgefahrenen Geleisen. Ohne Befehl von oben herab kriegen wir das nicht. Der Einzelne, und wenn er auch der Unsere ist, richtet nichts aus. Um ein einziges Beispiel zu wählen: nur wenn es befohlen würde, daß der Gymnasiast bis zum Abiturium den Ranzen zu tragen habe, könnte man es erreichen, diese Mappen los zu werden, die sie unter den Arm nehmen. Diese ungesunde, und obendrein unbequeme Schlepperei! Gerade in den höheren Klassen, wo sie so viel mehr Bücher brauchen, machen sie es sich so unnötig schwer. Der Ranzen müßte nur, wie noch einiges andere meines Ideals, die vorschriftsmäßige Schultracht sein, dann sollten Sie einmal sehen, wie gemütlich Sekundaner und Primaner damit angegangen kämen. Nur, weil es alle thun –“

„Sehr richtig“, pflichtete Günther eifrig bei. „Hammelherde.“

„Ueberrascht bin ich aber von dem Verständnis, dem ich im Publikum begegne. Ich werde Ihnen nachher ein paar hübsche Briefe zeigen, die ich bekommen habe. Mein Verleger hat sie mir geschickt. Einer von der Mutter meines Leonhardt. Sie wissen, dem ich eine Zeit lang Privatstunden geben mußte, weil er das Bein gebrochen hatte. Sie schreibt, ich hätte ja so recht, und sie würde auch gern all meinen Ratschlägen folgen, aber sie könne nicht gegen den Strom anschwimmen. Bis zur Konfirmation habe sie ihren Jungen im Matrosenanzug und bloßem Hals gehen lassen, dann sei es nicht mehr möglich gewesen. Schon vorher sei er in seiner Klasse immer als ‚verrückt’ aufgefallen; dann aber hätte sie seinen Bitten nachgegeben und ihn gekleidet wie die andern auch. Sie sehen, auch die Vernünftigen [727] müssen dem Leithammel folgen, solange der Leithammel nicht von kräftiger Hand auf den richtigen Weg gestaucht wird, rennen sie alle in der Richtung, wie der Wind bläst, und wenn’s ins offene Wasser hineinginge. Nun, solche Dinge machen ihren Weg eben sehr langsam. Ich habe Geduld, bin schon froh, nur überhaupt zu Worte gekommen zu sein.“

„Ja und Magisterchen, – Sie nehmen die Frage nicht übel – es ist Teilnahme, es ist nicht Zudringlichkeit – bringt’s denn was?“

Er machte die Gebärde des Geldzählens. Rettenbacher nickte lächelnd.

„Es bringt. Auch das – denken Sie nur! Hätten Sie mir dergleichen zugetraut? Einen ganz netten Batzen werde ich schließlich einnehmen. Und nicht genug damit, die Leute von der Druckerschwärze fangen an, mich als litterarische Persönlichkeit in Betracht zu ziehen. Ich habe – halten Sie sich fest, fallen Sie nicht von der Bank – von zwei großen Zeitschriften Anfragen bekommen, wegen Veröffentlichung von Aufsätzen, die in das Schulfach schlagen. Wie finden Sie das?“

„Ich sage nur ein Wort: Schneesieder!“

Und mit einem vergnügten Hieb in die Luft: „Magisterchen, alter Kronensohn, Sie werden noch ein Kapitalist, sollen Sie mal sehen!“

„Wenigstens hat es den Anschein, als ob mein krankes Portemonnaie noch einmal bessere Tage sehen sollte. – Zeit wär’s.“

„Wahrhaftig, Sie armes Luderchen, Sie famoses. Wollte Gott, die Sache hätte schon ein paar Jahre früher angefangen! Und mit echt Güntherischer Geschicklichkeit sagte er nach einer kurzen Pause: „Morgen ist Hannichens Hochzeitstag.“

„Ich weiß,“ antwortete Rettenbacher nach einem flüchtigen Zucken seines still und ernst gewordenen Gesichts.

„Schon der vierte,“ fuhr Günther fort. „Oder vielmehr der fünfte. Das viertemal, daß sich’s jährt. Gott, wie die Zeit vergeht. Und wie man sich auseinanderlebt. Wer uns das vorausgesagt hätte, daß uns das Hannichen so fremd werden würde, daß wir nicht mehr wüßten: ist sie gerade in Berlin, oder nicht. Oder haben Sie sie kürzlich gesehen? Nein. – Sie wissen ja, daß ich sie nie sehe. „Zufällig meint’ ich. Könnte ja mal vorkommen. Ich seh’ sie ja auch nicht. Hab’s aufgegeben. Man wird ja nie angenommen. An die zwölfmal hab’ ich’s versucht – immer derselbe Bescheid: unwohl, ausgefahren, verreist. Ich kam mir schließlich ganz affenhaft vor bei diesen dämlichen Antworten. Ob sie denn denken, man merkt das nicht? Daß Hanna was dafür kann, halt’ ich für ausgeschlossen. Sie wird einfach drunter durch sein. Im Vertrauen: ich glaube, der Mann ist ein Vieh.“

Rettenbacher sah ihn finster fragend an.

„– – Da wir nun doch einmal davon reden,“ sprach Günther nach einem verlegenen Räuspern weiter. „Ich habe das Thema sonst immer vermieden, aus – na aus – einerlei. Ein Vieh, nach allem, was ich so höre. Ganz Genaues weiß ich zwar nicht, ich verkehre ja nicht in seinen Kreisen aber es sickert doch so einiges durch. Er soll sie mit seiner blödsinnigen Eifersucht rein zu Schanden machen. Hannichen, dieses treue ehrenfeste Ding! Dazu ein Tyrann, ein grober, ungeschliffener. Vor andern Leuten schnauzt er sie gelegentlich an wie ein Dienstmädchen, hör’ ich. Sein Geschäft hat er aufgegeben, lebt nur von seinen Renten. Kunststück, von solchen Renten lebt’ ich auch! Aber ein Mann ohne Beruf, ohne Thätigkeit – können Sie sich so was denken? Mit – na, wie alt kann er sein – höchstens fünf-, sechsundvierzig. Ein Skandal! Große Reisen sollen sie machen. Für drei, vier Monate, einmal waren sie glaub’ ich, ein halbes Jahr lang unterwegs. Die kleine Imhoff, aus unserem Chor, wissen Sie die sieht sie manchmal, aber auch nicht oft. Von der höre ich doch zuweilen ein Wort über das arme Ding. Vor kurzem fragte ich sie auch, aber da wußte sie schon längere Zeit nichts Neues mehr, nur, daß es mit Hannas Gesundheit nicht großartig stünde und daß sie zu einer Nordlandsreise abgefahren wären. Das ist ja jetzt modern. Ich trug ihr Grüße auf, damit sie doch sieht, daß man noch an sie denkt. Den Pastor besucht sie zuweilen, wenn mir recht ist, aber nur in sehr langen Pausen.

Erdmann geht nicht hin; er wird, glaub’ ich, ebenfalls abgefertigt wie ich. Scheint niemand von der früheren Zeit her zu dulden, der gnädige Herr, wenigstens, was uns Mannsleute angeht. Ich fürchte, ich fürchte, dem armen kleinen Ding kommt sein Reichtum teuer zu stehen.“

„Das fürchte ich auch,“ sagte Rettenbacher, düster vor sich niederblickend.

„Ich hab’ mir schon manchmal gedacht,“ fuhr Günther nach einer Pause nachdenklichen Sinnens fort, „warum ist die unglückliche Frau, die Mutter, nicht ein halbes Jahr früher gestorben, wenn sie doch nicht zu retten war? Dann wäre manches anders gekommen, bin ich überzeugt.“

Rettenbacher schwieg. Er sah starr geradeaus und drückte die Lippen fest zusammen.

„Fregestraße!“ rief der Schaffner.

Sie stiegen aus. Hans rannte davon, um als der erste oben zu sein und den Gast anzumelden.

30.

„Warum haben Sie mich denn übrigens ausgerechnet gerade heute mitgeschleift?“ fragte Günther, während sie die Treppe zu Rettenbachers Wohnung hinaufgingen.

Arnold schüttelte lächelnd den Kopf.

„Dieser Leonhardt muß seine Botschaft ja meisterlich ausgerichtet haben. Also, die Grete hat Geburtstag und den wollte ich gern ein bißchen feierlich begehen. Es ist der erste hier bei mir und weil ich fürchtete, sie möchte mir am Ende weinerlich werden, habe ich Sie als – –“

„Hanswurst“ engagiert, vollendete Günther, da Rettenbacher nach dem Wort suchte.

„Wenn Sie wollen, ja, lieber Freund. Ich bin leider nicht sonderlich geschickt in der Kunst, einen Menschen aufzuheitern. Die Musikanten aber sollen das von alters her verstanden haben. Und daß sie Sie gern sieht, weiß ich.“

„Schön, Magisterchen, ich stimme also meine Leier. Uebrigens find’ ich, daß sich Frau Zöllner in diesem Jahr schon ganz nett mit Ihnen eingelebt hat. Weinerlich kommt sie mir eigentlich nicht vor.“

„Nu nein. Aber wie die Frauen schon sind – an bestimmten Tagen, da faßt sie die Wehmut härter an, und dem wollte ich vorbeugen.“

Er schloß jetzt seine Flurthür auf.

Grete kam ihnen entgegen, ihr dickes Bübchen an der Hand, Sie errötete über das ganze frische, runde Gesicht, als sie den Gast begrüßte. „Das ist aber schön von Ihnen, Herr Günther, daß Sie uns die Ehre geben.“

Sie wandte sich dann gleich zu ihrem Bruder. „Noldichen, du guter Kerl, ich dank’ dir auch für das schöne Kleid. Ich war doch so überrascht. Und zu Günther, während sie ins Wohnzimmer traten: „Er hat mir’s nämlich eingewickelt, mit ’ne riesig großen Adresse darauf, in seiner Stube auf den Tisch gelegt. Da fand ich’s denn beim Aufräumen, wie er schon längst über alle Berge war. So ist er. Macht sich ganz dumm davon und sagt kein Wort. Na warte, du!“

Sie nahm ihn beim Kopf und küßte ihn herzlich.

„Also, hat es deinen Beifall,“ sagte Rettenbacher. „Das ist mir lieb. Denn umtauschen läßt es sich nicht, wie etwa eine Kaffeekanne. Ich kaufte es in der Potsdamerstraße und sagte dem Jüngling, es wäre für eine Frau von praktischen Grundsätzen, und es müßte sich waschen lassen, ohne etwa dabei zusammenzuschnurren. Da pries er mir die schwarzweiß gestreifte Sache so leidenschaftlich an, daß ich nicht den Mut hatte, zu sagen, ich fände sie etwas zebrahaft. Er hat also recht gehabt. Hoffentlich ist es genug?“

„Ja natürlich. Sehen Sie an, Herr Günther, was ich für’n nobeln Bruder habe. So, da geht er ab, das kann er nicht vertragen. Du!“ rief sie dem Flüchtling nach, „wir essen aber gleich! – Und diesen Spitzenkragen“ fuhr sie eifrig fort, „den hat mir unsere Meta geschenkt. Ganz früh, ehe sie abfuhr. Zu Mittag kann sie ja leider nie da sein. Der weite Weg heraus, wissen Sie. Ist er nicht fein, der Kragen? Die Zuthaten hat sie umsonst von ihrer Prinzipalin bekommen, lauter Restchen, aber gemacht hat sie ihn ganz allein. Sagen Sie bloß, ob er nicht wundervoll ist.“

[728] „Famos,“ sagte Günther, „fürstlich. Und die mächtige Siegellackstange da, die sieht doch ganz nach Hansel aus.“

„Ist auch von ihm. Hat er sich pfennigweise zusammengespart. Ein anständiger Bengel.“ Sie packte ihn, der strahlend daneben stand, zärtlich bei seinem Kraushaar. „Kriegt auch das größte Stück vom Kalbsbraten. Und die Mutter hat wieder Strümpfe gestrickt, für mich und den Kleinen. Und alle Kinder zu Hause haben so schöne Briefe geschrieben. Das ist doch ein anderer Geburtstag als vor’m Jahr.“

„Aber beste Frau Zöllner, darüber brauchen Sie doch nicht zu weinen!“

„Nee, ich weine ja auch nicht,“ sagte sie lächelnd, sich mit dem Handrücken über die Augen fahrend. „Ich freu’ mich bloß. Sehen Sie, wenn der Arnold nicht wär’ – – Hans, mein guter Junge, geh’, guck’ nach dem Fränzchen, er könnt’ mir in der Schlafstube die Wasserkanne herunterreißen; wenn der Arnold nicht wär’, dann säß' ich noch heute daheim und grämte mir die Augen aus dem Kopf. Es war doch ’ne schwere Zeit für mich, vergang’nen Sommer, wissen Sie! Alleine auf meinem Hof bleiben, wie mein guter Mann tot war, das konnt’ ich nicht; so mußt’ ich ihn verkaufen. Wenn man aber schon so seine eigne Häuslichkeit gehabt hat und soll dann wieder im alten Rest unterkriechen, das ist immer schlimm, auch bei den besten Eltern. Da war denn der Bruder wieder der Kluge, der Rat wußte. Nun hab’ ich doch wieder ’ne Häuslichkeit, wo ich schaffen kann und wo ich was vor mich bringe. Und ihm kann ich das Leben auch behaglicher machen, als er’s früher gehabt hat.“

„Und er thut immer, als wenn Sie ganz allein ihm und dem Hans zu Gefallen, hierhergekommen wären.“

„Na ja, das sieht ihm ähnlich, dem Heimtücker! Er will ja auch nie, daß ich außer der Miete nur einen Groschen von meinem eignen Geld in die Wirtschaft stecke. Was ich übrig behalte, soll ich nach der Sparkasse tragen für böse Zeiten, und weil doch mein Kleinerchen auch immer größer wird. Sprünge kann er ja noch nicht gerade machen, sagt er, aber es steht doch immer besser jetzt und wenn ich ihm seinen Haushalt nur sparsam führe, mehr verlangt er nicht von mir, sagt er. Aber, du lieber Gott, was versteht ein Mannsbild von solchen Sachen! Kann er mir in jede Tüte und in jeden Topf reingucken? Kann er mir’s nachweisen, wenn ich gelegentlich ein Pfündchen Zucker mitbringe und gelegentlich ein Pfündchen Mehl und es ihm nicht aufschreibe? Wenn er ein nobler Kerl ist – ich will mich auch nicht lumpen lassen! Und wie ich neulich grade dazukam, daß die Meta frischen Thee in die Büchse schüttete, da haben wir uns bloß angesehen und haben leise gelacht. Eigentlich wollt’ ich mit ihr schimpfen. Sie von ihren paar Groschen. Aber recht hat sie doch. Jeder wie er’s kann. Bloß merken darf er das nie. Daß Sie uns nicht verraten, Herr Günther! – Jemine; ich weiß überhaupt gar nicht, wie ich dazu komme, Ihnen das alles zu erzählen!“

Sie war über und über glühend rot geworden.

„Lassen Sie’s gut sein, Frau Zöllner,“ beruhigte sie der Musiker, vergnügt lachend. „Mein Name ist Hase, ich weiß von nichts.“

„Na, dann werd’ ich nur jetzt die Suppe anrichten. Grete war an den schon längst fertig gedeckten Tisch getreten und rückte noch einmal an Tellern und Bestecken herum. „Sie könnten am Ende den Bruder holen.“

„Kann ich. Ich mache mich auch gleich noch ein bißchen schön bei ihm. Sehen Sie mal; mit den Händen habe ich Ihnen gratuliert.“

Rettenbachers Zimmer war bis auf die kleinsten Einzelheiten das wohlbekannte aus der Linkstraße, nur daß Hansens Bett noch darin hatte Platz finden müssen.

Vom Schreibtisch her winkte Arnold dem eintretenden Günther mit einem eben geöffneten Brief. Sein ernstes Gesicht war ganz von Freude erhellt. Es hatte auch wieder Farbe, die ihm während des letzten Gespräches auf der Dampfbahn abhanden gekommen war.

„Hier! Lesen Sie!“ rief er, dem Gast das Blatt hinreichend.

Günther las laut. „Herrn Oberlehrer Doktor Arnold Rettenbacher, Friedenau, Berlin.

     Sehr verehrter Herr Doktor!

Gestatten Sie mir die angenehme Mitteilung, daß eine zweite Auflage Ihrer ,Gesundheitspflege in der Schule’ notwendig geworden ist. Ich erlaube mir, Ihnen herzlich zu diesem Erfolg zu gratulieren. Etwaige Zusätze oder Striche wollen Sie gefälligst in beifolgendem Exemplar vornehmen und mir dieses dann baldmöglichst zusenden.

Hochachtungsvoll und ergebenst – – –     

„Hurra!“ schrie Günther seelenvergnügt. „So muß es kommen! Magisterchen, Sie sind ein Satansbraten! Gratuliere, gratuliere! Gott bewahre, freu’ ich mich! Weiß es denn die Grete – ich meine, weiß es denn Frau Zöllner schon?“

„Nein, wie sollte sie? Ich habe den Brief eben erst beim Heimkommen vorgefunden.“

„Nun, dann kommen Sie aber schleunigst! Ich sollt’ Sie ohnehin zu Tisch rufen – –“

Gerade während des Nachtischs brachte der Postbote noch einen Brief mit dem Poststempel Weißenfels.

„Vom Vater?“ sagte Rettenbacher erstaunt. „Der tausendblättrige Geburtstagsbrief ist doch schon heute früh gekommen. Was kann denn das nur noch sein? Hoffentlich nichts Schlimmes.“ Aber nach dem ersten raschen Durchfliegen rief er fröhlich: „Nein, sogar etwas sehr Gutes! Unser Lieschen ist Braut! Hört zu, schreit nicht so durcheinander, laßt mich vorlesen!“

     Lieber Sohn!

Eine erfreuliche Nachricht soll man nicht aufschieben und so ergreife ich die Feder – –

„Ergreife ich die Feder – das steht doch in jedem Brief vom Vater,“ rief Hans übermütig dazwischen.

„Halt deinen frechen Schnabel, du Naseweis,“ verwies ihn der große Bruder streng. „Lern’ erst selber ordentlich Briefe schreiben. Also – “

„die Feder, obwohl erst heute vormittag der große Geburtstagsbrief an Deine Schwester abgegangen ist. Aber dazumalen war eben die Neuigkeit noch nicht passiert. So erfahret denn, daß vor einer Stunde unser gutes Lieschen Verlobung gefeiert hat mit dem jungen Pastor Winkelmann. Grete wird ihn ja noch kennen von der Zeit her, wo er Hilfsprediger gewesen ist bei unserm alten Herrn Pfarrer. Nun hat er schon selber seine Herde in Zella St.Blasii und ist wohl zu hoffen, daß es eine hübsche, einträgliche Stelle sein wird. So hat uns der liebe Gott wieder einer Sorge um die Zukunft enthoben. Zu Weihnachten soll schon die Hochzeit gefeiert werden, wir haben nichts dawider, denn warum sollen sie noch lange warten, wenn doch das Nestlein schon bereitet ist.

Es herrschet eitel Freude im ganzen Hause und Deine Mutter geht herum und weiß nicht, ob sie weint oder lacht, aber die Augen sind ihr noch kaum trocken geworden. Die Regine ist gar stolz, daß sie diesmal schon Brautjungfer wird sein können, und der Franz will sich mit Gewalt erkundigen, ob er nicht wird dürfen Trauzeuge sein, wo er doch diesen Herbst schon eingesegnet wird.

Ich muß schließen lieber Sohn, denn es liegt mir noch ob, an Euren Bruder Ernst zu schreiben damit er auch recht bald die freudige Nachricht erhalte.

Die Liese läßt der Grete einen Extragruß bestellen und sie soll nicht weinen – –

– – Sie thut’s aber doch,“ sagte Rettenbacher mit einem lächenden, freundlich vorwurfsvollen Blick auf die junge Frau, die ihr Gesicht in die aufgestützten Hände gelegt hatte und sacht in sich hineinschluchzte.

„Ich meine schon, sie macht’s wie die Mutter,“ sagte Hans verständnisvoll.

[741]
31.

Wo war der Sommer geblieben? Mitte September und schon so viel welkes Laub? Durfte man sich denn etwa in vier Wochen auf Schnee gefaßt machen? Die heutige Temperatur regte wahrhaftig schon mehr zum Marschieren an, als daß sie zum behaglichen Schlendern oder gar zum Ausruhen eingeladen hätte.

Heinrich Günther schob mit der Stiefelspitze eine dünne Schicht gelber zusammengerollter Blätter vor sich her. Hier tiefer drinnen im Tiergarten, auf den stilleren Wegen hatten sie’s nicht so eilig mit dem Fegen. Die einzelnen Spaziergänger, die sich abseits von der eleganten Promenade verloren, machten diese Ansprüche auch nicht. Er, Günther, gewiß nicht. Selten genug vergönnte er sich zumal so einen kleinen gemütlichen Bummel, nur spazierschlenderns halber.

Heute nachmittag aber hatte er einer neuen Schülerin die erste Gesangstunde gegeben; einer aus dem Tiergartenviertel, einer jungen Dame von mäßigem Talent, aber viel Ehrgeiz und noch viel mehr Geld, die famos zahlte und ihn in ihrem Bekanntenkreis „empfehlen“ wollte. Er mußte lachen, wenn er sich die gönnerhaften Gesichter von Mutter und Tochter ins Gedächtnis zurückrief. Als Erfrischung nach dem Aufenthalt in dem parfumdurchdufteten Palästchen hatte er sich eine Stunde Tiergarten verordnet, gedachte auch, sich an dem Vogelgezwitscher von der gelinden Tortur der stets um einen kleinen Viertelton zu tief gestellten flachen Mädchenstimme zu erholen. Aber er hatte die Rechnung ohne die Jahreszeit gemacht. Die gefiederten Herrn Sänger waren still, sogar die Amsel hatte sich bereits längst für ermüdet erklärt, und wohl oder übel mußte er sich mit dem kreuzfidelen aber unmelodischen Spatzengeschrei zufrieden geben, das unerbeten von Busch und Baum herab tönte.

Unversehens war er nach einiger Zeit auf den Seitenwegen wieder in die große, belebte vordere Allee geraten. Elegante Spaziergänger begegneten ihm, holten ihn ein; spielende, von ihren Bonnen ausgeführte Kinder trieben ihr Wesen mit Ball und Reifen. Die Sonne malte helle Streifen und Kringel durch das schon dünner werdende Laub auf den glatten, breiten Weg.

Da stand wenige Schritte von ihm – nein, sie konnte es nicht sein – doch –

„Alle guten Geister!“ sagte er halblaut vor sich hin. „Ist denn so was möglich?“

Hanna sah ihn nicht. Sie stand ganz verloren in den Anblick eines kleinen Kindes, das, kaum über die ersten Tappelschrittchen hinaus, an der Hand seiner Führerin langsam, aber wichtig und eifrig seinem davongelaufenen Ball nachging. Günther konnte die Freundin ungestört betrachten, und sein ehrliches Herz schwoll ihm in der Brust bei dem unerwarteten Anblick. Als ob nicht vier, sondern zehn, fünfzehn Jahre vergangen wären, seit er sie zuletzt gesehen hatte, so verändert sah sie aus. Vor allem [742] das arme Gesicht, das gänzlich farblose, wie schmal war es geworden, gleichsam gestreckter, länger, an den bläulich schimmernden Schläfen eingesunken, um den festgeschlossenen Mund ein fremder Zug. Was war aus dieser zarten, lieblichen Blüte geworden! Ihre Augen konnte er nicht sehen, da sie den Blick zur Seite auf das kleine Kind gerichtet hielt, dessen reizend ungeschickten Bewegungen sie mit einer seltsamen, beinahe finsteren Aufmerksamkeit folgte.

Ich muß sie anreden, dachte Günther, dem wehmütig sorgenvoll zu Sinne war. Er trat langsam auf sie zu, mit dem unklaren Gefühl, vorsichtig sein zu müssen, damit sie nicht erschrecke.

„Hannichen,“ sagte er halblaut, nahe vor ihr stehen bleibend.

Sie fuhr nun wirklich heftig erschrocken zusammen und wandte den Kopf. Jählings schoß helle Glut in ihr bleiches Gesicht und sank langsam wieder hinab.

„Güntherchen“, stammelte sie mit versagender Stimme und streckte ihm die Hand hin. Er nahm sie und drückte sie stark, durch den Handschuh fühlte er, wie kalt sie war.

„Wie geht’s Ihnen?“ fragte er bekümmert, verwirrt.

Sie antwortete nicht gleich. Mit einem Ausdruck scheuer Freude sah sie ihn an.

„Gutes, kleines Güntherchen,“ sagte sie dann leise, es lief dabei ein schwaches Lächeln um ihren Mund. „Sie sehen so aus, als wenn Sie noch ganz der Alte wären.“

„Bin ich auch,“ betonte er stark, er räusperte sich dann, um eine unbequeme Rauheit der Stimme zu verscheuchen „Aber wie es Ihnen geht, hab’ ich Sie gefragt, Hannichen.“

Ueber ihre schönen grauen Augen, in denen eben noch der Abglanz längst vergangener freundlicher Erinnerungen geleuchtet hatte, sank ein Schleier nieder; ihr Gesicht wurde still und kalt.

„Wie es mir geht?“ wiederholte sie gleichgültig. „Gut; wie denn sonst?“

„Na ja, danach sehen Sie mir auch gerade aus. Hannichen, reden Sie keine Sachen! Daß Sie krank sind, das kann Ihnen jeder Mensch auf dreißig Schritte Entfernung ansehen. Also, wo fehlt’s, was ist los?“

„Nichts ist los,“ versicherte sie mit einem nervösen Stirnrunzeln, „gar nichts. Ich war nicht ganz gesund, früher, aber das ist längst überstanden, ich bin jetzt vollkommen erholt.

„Wann sind Sie denn krank gewesen?“

„O – vor langer Zeit. Vor anderthalb Jahren.“

„Und dann sehen Sie heute so aus? Na, erlauben Sie –“

„Bitte,“ unterbrach sie rasch, „geben Sie dies Thema auf, es ist ganz zwecklos, darüber zu reden. Ich bin gesund und damit gut.“

Nach einem raschen Blick in der Richtung, von wo sie gekommen war, und nach einem Zögern, das in einem tiefern Atemzug endete, wies sie mit dem Schirmgriff den Weg hinunter und sagte entschlossen „Begleiten Sie mich noch eine Strecke! Oder haben Sie keine Zeit?“

„Aber selbstverständlich, Hannichen, was denken Sie denn? Wo ich Sie doch so endlos lange nicht gesehen habe! Mir zittert ja das Herz wie verrückt.“

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie mit sanftem Lächeln. „Sie sind wirklich noch der Alte. Ein anderer würde nicht mehr so freundlich gegen mich sein, nachdem – –“

„Ach, lassen Sie doch das, reden wir nicht davon. An Ihnen, Hannichen, zweifelt ja niemand, der Sie kennt“.

Sie nickte ihm nur schweigend, aber sichtlich dankbar zu.

„Erzählen Sie,“ sagte sie dann rasch, mit unklarer Stimme,. die plötzlich heiser zu werden schien. „Erzählen Sie.“

„Was denn, Hannichen?“

„Von allem, allem, was in dieser langen Zeit – in diesen Jahren – bitte!“

„Mit Vergnügen. Da wäre also – aber wie ist mir denn? So ganz ohne Nachricht können Sie doch nicht sein? Den Pastor sehen Sie doch zuweilen?“

„Selten. Sehr selten. Jetzt schon lange nicht mehr. Ich habe – kein sehr gutes Gewissen ihm gegenüber. Lassen Sie ihn. Ich weiß nichts. Erzählen Sie!“

Günther sah sie betroffen an. Diese rauhe Stimme und dieses blasse Gesicht mit den trockenen, bebenden Lippen, die wie verdurstet aussahen, diese geradeaus in irgend eine Ferne gerichteten, erst noch matten, jetzt wieder fieberisch glühenden Augen! Ach du lieber Gott, dachte er bekümmert.

„Ja, wo fang’ ich an,“ besann er sich laut, „wovon erzähl’ ich zuerst?“

„Der Chor zum Beispiel,“ sagte sie, noch in demselben heiseren, abgerissenen Ton. „Was singen Sie jetzt?“

„O, herrliche Sachen! Die Flügel sind uns in den Jahren gewachsen, sag’ ich Ihnen. Wir haben eigentlich vor nichts mehr Bange. An die schwierigsten Dinge gehen wir heran ohne Herzklopfen – als höchstens vor Freude. Sie hätten die Motette von Bach hören sollen, die wir dieses Frühjahr in unserem Wohlthätigkeitskonzert gesungen haben. Die große, wissen Sie, ‚Jesu, meine Freude.’ Ging famos! Mühe genug hat’s freilich gekostet mit der Einstudierung. Besonders der achte Satz mit dem figurierten Tenor. Sie erinnern sich doch? ‚Gute Nacht, o Wesen‘ –“

„Ob ich mich erinnere!“

„Und dann das ‚Salvum fac regem‘ von Becker.“

„Komponiert er noch so fleißig?“

„Noch? Wissen Sie das nicht? Hören Sie denn nichts?“

„Nein, ich höre nichts und weiß nichts. Erzählen Sie nur!“

Günther schüttelte den Kopf. „Becker,” fuhr er dann fort. „Ob er noch komponiert? Und wie! Das ist ein Kerl! Eine Musikseele von Himmelsgnaden. Den hat der liebe Gott aufs Herz geküßt. Das ‚Salvum‘ ist einfach großartig. Ein Doppelchor. Verlangt eigentlich einen ganzen Haufen Stimmen. Aber uns schreckt nichts mehr, als ob wir mindestens über hundert verfügten. Und sind doch nur unserer vierundfünfzig.“

„Also doch sehr gewachsen.“

„Sehr? In vier Jahren? Na, wissen Sie. Da sehen Sie sich mal andere Chöre an, die ihre Männerstimmen bezahlen können. Mit unsern freiwilligen Mitgliedern fristen wir denn doch nur kümmerlich unser Leben. Vierundfünfzig, na ja, es ist immerhin, gegen den Anfang gehalten, schon ganz nett. Schade nur, daß doch immer auch wieder für neue, die eintreten, gelegentlich alte abgehen. Dadurch wächst man so langsam. Wir wären sonst schon bedeutend mehr. Aber Sie haben recht, gegen die erste Zeit ist es ein hübscher Zuwachs. Gott, Sie haben ja noch geholfen, das Kind aus der Taufe zu heben. Quälen haben wir uns müssen, was? Insofern stehen wir ja jetzt glänzend da. Einen Tenor hab’ ich letzthin dazugekriegt – fein, sag’ ich Ihnen! Den sollten Sie mal in Mendelssohns Psalm hören: ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!‘ Der zweite Baß steht jetzt famos. Da sind kürzlich zwei abgrundtiefe Kerle eingetreten, die reinen Orgeln. Den ersten Baß führt nach wie vor der Rettenbacher mit seinem himmlischen Baryton.“

„Ist seine Stimme noch so schön wie früher?“ Hanna sprach es nur mühsam, die Kehle war ihr zugeschnürt. Das erste Mal, daß sie wieder von ihm sprach.

„Noch so schön? Viel schöner! Den hätt’ ich dem Stockhausen als Schüler gegönnt. Das wär’ so ein Material gewesen für seine herrliche Kunst. Ich thu mir auch nicht wenig auf ihn zugute. Und der Pastor, neulich, nach der Kirche, hat er den Rettenbacher umarmt und geküßt.“

„Was hatte er denn gesungen?“

„Den Bach: ‚In deine Hände befehl’ ich meinen Geist‘. Sie sollten hinkommen, Hannichen, und zuhören!“

Hanna antwortete nicht gleich.

„Glauben Sie, ich wäre nicht schon längst gekommen, wenn ich könnte?“ fragte sie dann leise. „Reden Sie davon nicht! Wie steht es mit den Frauenstimmen?“

„Gut. Der Alt ist sogar famos. Der Sopran – na, der hat sich lange Zeit nicht von seinem Verluste erholen können. Gerade, als wenn den andern die Courage ausgegangen wäre. Es war mir doch mächtig hart, Hannichen, Sie hergeben zu müssen.“

„So?“ sagte sie tonlos.

„Ja, mächtig hart, einfach scheußlich hart! Ich habe mich nur niemals zu Ihnen darüber aussprechen können. Was macht denn nun unser liebes Drosselstimmchen?“

„Nichts. Ich singe nicht mehr. Die Stimme ist weg.“

„Nein!“ sagte er erschrocken.

[743] „Weiter erzählen,“ bat sie ängstlich. „Mich nach nichts fragen, ja? Bitte!“

Er seufzte. „Na gut. Der Sopran also. Da drin haben wir seit einiger Zeit – Sie werden staunen – Grete und Meta Rettenbacher. Und auf ihren fragenden, gespannten Blick: „Grete Zöllner wollt’ ich sagen, Rettenbachers Schwester, die älteste nach ihm, wissen Sie. Der ist vor bald zwei Jahren der Mann gestorben, und nun führt sie dem Bruder die Wirtschaft. Den Hans hatte er schon vorher ganz zu sich genommen, den Eltern von der Tasche herunter. Er geht umsonst bei uns in die Schule. Eine Freistelle, verstehen Sie. Die Meta hat Putzmachen und solche Sachen gelernt, wohnt auch bei ihm. Eine ganze Kolonie Rettenbachers.“

„Also hat seine Lage sich jetzt gebessert?“ Hannas Stimme hatte die krankhafte Rauheit verloren, die stärkste Erregung schien überwunden. Sie hatte auch ihr Gesicht wieder in der Gewalt.

„Sehr gebessert,“ bestätigte Günther freudig. „Es geht aufwärts mit ihm. Seit bald drei Jahren Oberlehrer, höheres Gehalt! Dazu die vielen Privatstunden. Das heißt, die wird er sich nach und nach nun doch wohl abwimmeln müssen. Seine schriftstellerische Thätigkeit ist doch wichtiger, bringt auch mehr ein. Von seinem Buch wissen Sie nichts? Müssen Sie lesen! ,Gesundheitspflege in der Schule’. Eine feine Nummer, sag’ ich Ihnen! Hat Aufsehen gemacht, man wird aufmerksam auf ihn. Die Zeitungen strecken schon die Fühlhörner nach ihm aus. Einfach diebisch freu’ ich mich. Der beißt sich durch, sollen Sie mal sehen. In ein paar Jahren ist der ein gemachter Mann. Wer hätte das früher gedacht! Famos, was? Zum Radschlagen.“

„Ja, sagte Hanna weich, „mit einem Schimmer ihres Mädchenlächelns setzte sie hinzu: „Radschlagen thu’ ich nun zwar nicht gerade – aber ich freu’ mich sehr, sehr. Wollen Sie ihm sagen, daß ich mich sehr freue?“

„Will ich, Hannichen. Gerne. Soll er Ihnen sein Buch schicken?“

„Nein,“ wehrte sie ängstlich. „Nicht schicken. Ich kaufe es mir. Da –“ sie zog ein elegantes, kleines Büchelchen hervor – „schreiben Sie mir Titel und Verlag genau hier hinein.“

„Sie wollen nur ein Autogramm von mir haben, wie ich merke,“ sagte Günther lächelnd. „Aufschreiben? bei Ihrem Gedächtnis?“

„Nur zu, schreiben Sie,“ entgegnete Hanna müde, ohne ihn anzusehen. „Es ist mit meinem Gedächtnis nicht so weit her.“

Er that nun, wie ihm anbefohlen war, und gab mit einem erneuten Sorgenblick in ihr armes, verhärmtes Gesicht das Buch zurück. Sie schien seine forschenden Augen unangenehm zu empfinden, denn sie drehte den Kopf zur Seite.

„Sagten Sie nicht,“ begann sie hastig aufs neue zu fragen; „von seinen – von Rettenbachers Geschwistern? Grete. Also Witwe? Hat sie den Mann gern gehabt? Grämt sie sich?“

„Gott – ich glaube, eine Leidenschaft war’s gerade nicht. Er war gut zu ihr, ja. Sie hat ihn ehrlich und ordnungsmäßig ein Jahr lang betrauert und nun – nun, das Leben ist noch lang, sie ist kaum dreißig, vielleicht noch nicht einmal, und sie ist ein frisches, gesundes Weibchen. Würden Sie’s ihr verdenken wenn sie ihrem Jungen gelegentlich einen neuen Vater gäbe?“

„Nein. Gewiß nicht. Warum?“ Hanna sah starr geradeaus. „Das muß jeder mit sich selbst abmachen, das geht niemand etwas an, auch darf niemand darüber urteilen. Der eine kann’s, der andere nicht. Der eine hat noch den Mut, der andere nicht.“

„Na ja. Noch ist es ja auch nicht so weit. Ich meinte nur.“

„Erhält denn nun Rettenbacher sie ganz, die Grete samt ihrem Kind?“

„I wo, das kann er nicht, kein Gedanke. Er hat ja den Hans schon gänzlich übernommen. Nein, sie hat ja doch ihr kleines Erbe aus dem Nachlaß ihres Seligen. Das thäte sie nicht, das wäre auch gar nicht Rettenbacherisch! Sie bezahlt die halbe Miete, und für Bekleidung und dergleichen für sie und das Kind darf er keinen Heller ausgeben. Sie führt ihm den Haushalt sehr sparsam und vernünftig. Es sieht nett bei ihnen aus.“

Hanna setzte zum Sprechen an. „Wo wohnt er?“ wollte sie fragen, aber sie ließ es sein. Lieber gar nicht wissen.

„Er wohnt natürlich nicht mehr in seiner alten Klause“, berichtete Günther von selbst weiter. „Als die Grete kam, zog er nach Friedenau, dort sind die Wohnungen beträchtlich billiger. Ein behagliches Residenzchen haben sie sich gebaut. Klein, aber fein. Zwei Schlafstuben, eine Wohnstube. Das heißt, er – na, seine Bude sollten Sie eigentlich kennen!“

„Hat er noch seine Einrichtung – von damals?“

„Selbstverständlich. Meinte ich eben. Bis auf den Nagel an der Wand. Und in der Wohnstube die Hängelampe über dem Tisch, das wäre auch eine alte Bekannte ich glaube, noch mit dem ersten Cylinder. Sonst ist es Gretens Hausrat.“

„Nun und Meta? Das ist aber doch die dritte?“

„Stimmt. Lieschen hat sich diesen Sommer verlobt. Ich glaube, die war mit ihrem kleinen Pfarrer schon so ein Stücker fünf, sechs Jahre einig. Na, nun sind sie ja soweit. Meta, das ist ein fixes Mädel, trotz ihrer Jugend. Neunzehn, zwanzig, so was. Wird nicht lange dauern, so verdient sie sich ganz alleine ihr Brot. Ihre Prinzipalin vertraut ihr schon ganz verschmitzte Sachen an. Neulich abends kam sie mit so einem netten kleinen Ding mit Hut nach Hause, das sollte sie noch vor dem Schlafengehen fertig machen, weil’s Eile hatte. Ich sage Ihnen, es sah nach was aus. Ich verstehe zwar nichts davon, aber die Grete meinte, es könnte sich entschieden sehen lassen. Das kriegt sie schon extra bezahlt. Den Stolz hätten Sie sehen sollen. Weil sie durchaus darauf besteht, hat ihr der Bruder erlaubt, daß sie ihm die Woche zwei Mark und fünfzig Pfennig Pension zahlt. Mittag ißt sie nämlich in der Stadt. Eine tolle Wirtschaft, sag’ ich Ihnen. Ich könnt’ mich manchmal krank lachen. Wie die Kampfhähne gehen sie zuweilen aufeinander los. Und warum? Bloß weil einer immer noch stolzer ist als der andre und sich ‚nichts schenken lassen will‘. Der Hans phantasiert auch schon herum, er würde den Sextanern Nachhilfestunde geben, wenn er erst in Sekunda wäre, und zählt schon jetzt alles auf, was er sich von seinem ‚Verdienst‘ kaufen kann und wie er den Bruder ‚entlasten‘ will. Aber verstehen Sie wohl – Sie müssen sich das alles nun nicht etwa duckmäuserisch vorstellen und knickerig und ‚ungefreut‘ – so sagt unser neuer Bassist, ein Schweizer –“

„Nein, nein,“ sagte Hanna leise und rasch, „‚ungefreut‘ stell’ ich mir das nicht vor. Vielmehr sehr schön, sehr beglückend. Und wie geht’s den Alten daheim?“

„O, ganz nett. Aus den eigentlichen Sorgen sind sie ja nun raus. Die Schule ist vergrößert worden, also sind auch die Einnahmen gewachsen. So elend zu schuften braucht die arme Frau nicht mehr. Grete, Hans und Liese versorgt, Meta kaum noch zu spüren. Ernst als Forstgehilfe aus dem Haus und von der Tasche herunter. Der Graf läßt ihn lernen und wird ihm auch Empfehlungen geben, wenn er fertig ist. Bleiben also eigentlich nur noch drei. Doch tausendmal besser als in früheren Zeiten, was? Und daß es wieder schlechter werden könnte, brauchen wir nun wohl nicht mehr zu befürchten.“

„Ich bin sehr, sehr froh über das alles,“ sagte Hanna mit einem tiefen Aufatmen. „Ich hatte es mir nicht so vorgestellt. Nun, und Sie, altes Güntherchen? Im Aussehen haben Sie sich gar nicht verändert. Bis auf die paar weißen Haare da im Bart.“

„Hab’ ich schon wieder welche?“ fragte Günther komisch empört. „Erst vor vierzehn Tagen hat mir die Grete zwei ausgezupft. Sie findet, es stört den Gesamteindruck, ich sähe noch nicht danach aus, als ob ich schon weiße Haare kriegen könnte.

„So? Findet die Grete?“ In ihrem weichen, leis schelmischen Lächeln, dem ein Hauch von Wehmut den Glanz wegnahm, war etwas, das ihn ergriff.

„Gutes Hannichen,“ sagte er bittend, „ich hab’ Ihnen nun so ausführlich den ganzen Roman vorgebetet. Sie wissen nun alles. Lassen Sie uns jetzt endlich auch von Ihnen reden. Wie leben Sie?“

„O angenehm, sorgenlos,“ antwortete sie kalt, gleichgültig und schwieg wieder. Aus ihrer Stimme, aus ihrem Gesicht war alle Weichheit weg. Der zarte Farbenschimmer, der während des aufmerksamen Zuhörens allmählich ihre blassen Wangen belebt hatte, erlosch; um ihre Lippen, zog sich wieder der schmerzhaft bittre Zug, der ihm beim erstes Anblick schon so peinlich aufgefallen war.

[744] „Hannichen“, sagte er traurig, „so behandeln Sie einen alten, treuen Freund?“ ‚Angenehm, sorgenlos‘ – das ist alles, was Sie mir zu erzählen haben? Das hätt’ ich nicht von Ihnen gedacht. Womit hab’ ich solche Antwort verdient?“

„Ich versichre Sie, daß es wirklich alles ist, was sich überhaupt von mir erzählen läßt,“ versetzte sie hastig, gequält „Thun Sie mir die Liebe und lassen Sie das Fragen nach mir ganz sein. Ich erlebe wirklich nichts, was des Berichtes wert wäre.“

„Nur eine einzige Frage noch, Hannichen – werden Sie nicht böse – Kinder haben Sie nicht?“

„Nein“, antwortete sie hart. So hart und rauh, daß er erschrak.

„Ich dachte es schon beinahe,“ sagte er schüchtern „Ich habe immer eifrig die Familienanzeigen studiert, aber –“

„Nach mir?“ unterbrach sie in demselben Ton „Das lassen Sie nur sein. Das hat keinen Sinn.“

Ein paar Minuten gingen sie nun schweigend nebeneinander her.

Günther war tief betrübt. Das ist ja ein unglückseliges Geschöpf, dachte er. Und ingrimmig kalt lächelnd sterben sehen könnt’ ich den Kerl! Was hat er aus ihr gemacht, heiliges Donnerwetter!

„Wissen Sie, daß ich etwa ein dutzendmal bei Ihnen war, ohne Sie zu treffen?“ fragte er endlich.

Sie sah ihn traurig an.

„Ich wußte es nicht, aber ich kann’s mir denken,“ erwiderte sie. „Es ist anders gekommen, als ich früher hoffte. Verzeihen Sie mir meine Feigheit, um unserer ehemaligen Freundschaft willen.“

Ehemalige Freundschaft?“ wiederholte er gedehnt „Wie kommen Sie mir vor, Hannichen. Sind Sie des Deubels? – entschuldigen Sie. Ich war Ihr Freund, ich bin Ihr Freund und ich bleibe Ihr Freund, wenn Sie es noch nicht wissen. Abwendig könnte mich von Ihnen nichts auf der Welt machen, merken Sie sich das! Sie haben kein Vertrauen zu mir, das thut mir weh. aber ich kann’s Ihnen nicht abzwingen. Deshalb aber denk’ ich doch nicht um einen Deut unfreundlicher von Ihnen. Was Sie auch thun, ob ich’s verstehe oder nicht, ich denke immer an den Herzeskern tief in Ihnen drinnen, und den – den kenn’ ich doch, der ist von lauterem Gold.“

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie weich und gab ihm die Hand. Sie waren stehen geblieben. „Das waren gute Worte, wohlthuende Worte, das vergess’ ich Ihnen nicht. Und damit wollen wir scheiden. Ich muß nach Haus, und zwar ziemlich schnell. Ganz ohne es zu merken, bin ich so weit hinunter gegangen.“

„Gutes, liebes Hannichen – er hielt ihre Hand noch fest und streichelte sie zärtlich. „Ich begleite Sie zurück, ja?“

„O nein,“ wehrte sie verlegen. „Das lassen Sie nur. Ich habe Ihre Zeit schon übermäßig ausgenutzt. Trennen wir uns nur hier. Also ich dank’ Ihnen vieltausendmal. Und wenn wir uns auch nicht mehr wiedersehen –“

Günther, der die Allee hinaufgeblickt hatte, ließ plötzlich erschrocken ihre Hand los und trat einen Schritt zurück.

„O verflucht,“ sagte er halblaut.

„Was haben Sie?“

„Da steht Ihr Mann –“


32.

„Welche Ueberraschung,“ sagte Ludwig Thomas, indem er die wenigen Schritte näher trat und mit gemacht steifer Höflichkeit den Hut lüftete. Seine funkelnden Augen gingen unstet zwischen seiner Frau und Günther hin und her.

„Wie blaß du plötzlich geworden bist, mein Kind. Gerade hab’ ich mich so herzlich an deinen rosigen Farben gefreut. Was hat dich denn so erschreckt? Und Sie, Herr – Musikdirektor, scheinen so großartig im Zuge. Schien meiner Frau ja auch mächtig zu gefallen. Fahren Sie doch fort, bitte, ich höre gern zu“.

Der arme Günther war in Sachen der Geistesgegenwart seither nicht rascher geworden auch zerdrückte der stille Ingrimm über Ludwigs „lächelnde Satansmiene“ ihm die Worte im Munde. Er murmelte etwas von „schon verabschiedet“ und „sehr schätzbar,“ und da Hanna, die ganz erstarrt dastand, ihm mit keinem Wort zu Hilfe kam, so machte er eilig seine ungeschickteste Verbeugung, den Schlapphut in der Hand.

„Ach, richten Sie doch eine Empfehlung an Ihren werten Freund Rettenbacher aus“, sagte Thomas, als Günther schon eine Bewegung zum Gehen gemacht hatte. „Und wenn er fragen sollte, wie ich mich befinde, so beruhigen Sie ihn nur, es ginge mir ausgezeichnet, besser als je zuvor. Ich wäre gesund wie ein Fisch im Wasser und gedächte, so ungefähr neunzig Jahre alt zu werden. Das wird ihm Freude machen, denk’ ich, was?“

„Gewiß,“ murmelte Günther unsicher und verwirrt, nach einem Blick in Ludwigs Gesicht schien ihm dann plötzlich erst der eigentliche Sinn dieser unerbetenen Mitteilung aufzugehen. Er wurde flammendrot.

„Ich danke schön,“ sagte er laut und drückte seinen Hut fest auf den Kopf. Er hatte eigentlich ganz etwas andres sagen wollen, aber er merkte es nicht. Mit blitzenden Augen sah er an dem immer noch lächelnden, kraftvoll blühenden großen Mann auf und nieder, von ihm auf die arme Frau, die so schattenhaft daneben stand, als wenn er ihr die Lebenskraft, deren er sich rühmte, ausgesogen hätte, und die mit den angstvollen Blicken zu bitten schien: reize ihn nicht!

„Menschenkenner!“ sagte Günther endlich mit der verächtlichsten Betonung, die ihm zu Gebote stand, drehte sich um und ging schnell seiner Wege.

„Richtig kuriert, beide Beine ab!“ rief Ludwig etwas gedämpft hinter ihm her. Er betrachtete dann vorläufig schweigend seine Frau, die in der nervösen Qual dieser Vorbereitung einer „Scene“ leise zitternd dastand. Immer noch ohne zu sprechen, bot er ihr den Arm, den sie annahm. Zwei, drei Minuten lang gingen sie so nebeneinander her. Die dunkle Seide ihres vornehm schönen Gewandes rauschte sacht, in vielen Pünktchen flimmerten im Sonnenschein die Perlen auf den schwarzen Spitzen ihres Kragens. Für achtlos Vorübergehende an der Seite ihres mit ausgesuchter Eleganz gekleideten Kavaliers trotz ihrer tiefen Blässe eine durchaus harmonische Erscheinung.

„Das war erwischt,“ sagte Thomas endlich kalt, in jenem verhaltenen Ton, den sie als Vorläufer eines der von der Eifersucht diktierten Wutausbrüche nun schon kannte und fürchten gelernt hatte. „Heiliges Kreuzbombenelement, das war erwischt! Du fängst an, unvorsichtig zu werden, mein teures Kind. Auf der belebtesten Promenade an der Tiergartenstraße giebt man sich doch kein Rendezvous.“

„Nein, nicht wahr?“ bemerkte sie ruhig, „das find’ ich auch.“

„Sei gefälligst nicht impertinent,“ schnauzte er sie an. „Schön hab’ ich euch da ertappt. Was sagst du dazu?“

Hanna sagte gar nichts. Mit gerunzelter Stirn und zusammengepreßtem Mund schaute sie starr geradeaus.

Er sah mit einem schrägen Blick auf sie nieder.

„Geruhst du zu hören?“

Sie nickte.

„So geruhe auch, Notiz zu nehmen von dem, was ich sage, ja?“

„Was soll ich erst antworten, Ludwig?“ fragte sie müde. „Es ist ja immer dasselbe.“

„Das stimmt,“ entgegnete er hohnvoll. „Was nämlich deine geehrten Erwiderungen betrifft. Immer dasselbe, das heißt: nie die Wahrheit.“

Ihre Hand zitterte auf seinem Arm, sie machte eine Bewegung, sie ihm zu entziehen, aber mit einem Ruck, der der Wirkung eines Schlages gleichkam, drückte er sie fester heran.

„Untersteh’ dich,“ sagte er heftig und laut, „dich hier auf offener Straße wie eine ungezogene Göre zu betragen.“

„Die Leute werden schon auf unser Gespräch aufmerksam,“ hauchte sie ängstlich, da ein Vorübergehender, der sie überholt hatte, den Kopf nach ihnen wendete.

„So benimm dich anständig. Du allein bist schuld.“ Und nach einer Pause: „Schade, daß ich euch dazwischen kam, was? Hättet ihr mich nur eher bemerkt. Ich ging nämlich schon eine ganze Weile hinter euch her und freute mich höllisch an dem Eifer, mit dem ihr in eure Unterhaltung vertieft wart. So kann ich’s freilich nicht. Für mich hast du bloß deine verdammte Leidensmiene, das Augenstrahlen, das Lächeln wird für die [746] andern verspart. Ich hätte wohl hören mögen, was der Musikante da an dich hingeredet hat – nur um zu lernen, wie man’s machen muß, um dich so zu sehen.“

Hanna atmete tief auf.

„Ich will dir’s sagen, gieb acht. Er sagte, er bliebe mein Freund, trotz der Feigheit, mit der ich ihn unverdientermaßen habe fallen lassen. Er bliebe mein Freund, auch wenn er nicht verstünde, warum ich es thäte, denn er hätte Vertrauen zu mir. Das, siehst du, hat mich beglückt, das hat mich bewegt. Vertrauen! Ich bin das ja nicht mehr gewöhnt. Er hat Vertrauen zu mir, obwohl er’s nicht brauchte, denn ich habe ihn nicht danach behandelt. Unbedingtes Vertrauen. Du nicht, Du niemals.“

„Ich weiß auch warum.“

„Ludwig!“ rief sie gepeinigt.

„Die Leute werden schon auf unser Gespräch aufmerksam,“ sagte er spöttisch, obwohl in der That niemand in der Nähe war. „Gestatte, daß ich dich citiere. Vorhin war ich dir zu laut. Jetzt schreist du selber wie gestochen.“

„So laß uns schweigen – was ja überhaupt das beste wäre.“

„I, fällt mir ein! Seit wann laß ich mir denn von dir den Mund verbieten. Mäßige dich gefälligst, dann wird sich kein Mensch um uns kümmern. Ich gebe den Leuten niemals Veranlassung, zu glauben, daß wir nicht wie die Turteltauben leben. Um also auf deinen geschmackvollen Ausfall gegen mich zurückzukommen. Vertrauen. Für wie dämlich hältst du mich denn eigentlich, daß du glaubst, ich ließe mir einreden, ihr hättet euch da unversehens getroffen?“

„Ich halte dich nicht für dämlich. Wenn ich die Absicht hätte, dich zu hintergehen, müßte ich es klüger anfangen. Wir sind uns in aller Wirklichkeit zufällig begegnet. Nachdem ich dir das dieses eine Mal versichert habe, werde ich es kein zweites Mal mehr thun. Glaub’ es, ober glaub’ es nicht.“

Sie zitterte am ganzen Leib, aber sie sprach nun vollkommen ruhig, fast kalt. Doch eben diese Ruhe verdroß ihn.

„Nett von dir, daß du mir doch wenigstens die Wahl lässest,“ sagte er beißend. „Also ganz zufällig. Und – wie oft sich dieser Zufall schon wiederholt hat, das wirst du bei deiner rührenden Wahrheitsliebe nicht mehr feststellen können?“

„Doch. Sehr leicht. Wir begegneten uns heute zum ersten mal nach ungefähr vier Jahren.

„Potz Henker! Und du verlangst, daß ich das glaube?“

„Gewiß, verlang’ ich das. Aber vergeblich, wie ich wohl weiß.“

„Gut, daß du dir dessen bewußt bist. Vergiß es nur nicht.“

„Ich vergesse es nicht. Du sorgst schon dafür. Daß ich auch nicht müde werde, mich immer noch zu verteidigen! Eigentlich bin ich es ja auch müde. Gründlich müde.“

Er betrachtete sie mit finsterm Blicke von der Seite, während sie nun wortlos nebeneinander weitergingen. Er schien vergessen zu haben, daß er ihr die letzte Erwiderung überlassen hatte, die sonst durchaus seine Sache war; daß er sie diesmal nicht zum Schweigen gebracht hatte, wie es sich gehörte, sondern selbst verstummt war. Der Ausdruck tiefer peinvoller Erschöpfung in ihrem farblosen Gesicht fiel ihm auf, heute mehr als sonst. Schlecht sah sie aus, miserabel, nicht nur krank, sondern auch gealtert, geradezu verblüht. Diese lange Sommerreise war also wieder für die Katz’ gewesen! Warum er nur immer mit ihr in der Welt herumkutschierte, wenn sie ebenso heimkommen wollte, wie sie gegangen war … weder Schwefel, noch Eisen, weder Sole, noch Seebad wollte helfen. Im Gebirge wie am Meeresstrand dasselbe Gesicht. Unsummen hatte er schon verplempert auf diesen Reisen für nichts und wieder nichts. Nicht, daß ihn das Geld reute. „Gnietschig“ war er nicht. Er hatte noch nie einem verjuxten Thaler nachgejammert. Auch keinem verjuxten Tausender. Aber gehabt haben wollte er etwas von dem Mammon, wenn er ihn los war, gelohnt mußte es sich haben! Na ja, sie hatte eine Menge hübsche Dinge gesehen, hatten sich Sachen geleistet, die sich eben nur die ganz Reichen herausnehmen durften. Aber den eigentlichen Zweck, die Auffrischung, die Verjüngung dieser blassen Person da – der blieb unerfüllt. Andre Frauen kamen doch mit roten Backen heim, die nicht halb so lange unterwegs gewesen waren und sich nichts träumen lassen konnten von Nordlandsfahrten und italienischen Seen und Insel Wight und Sicilien und Kairo. Jede andre Frau wäre überhaupt quietschvergnügt gewesen, einen Kerl wie Ludwig Thomas zum Mann bekommen zu haben! Bloß die werte Seinige, die trug ihre Ehe wie ein Kreuz! Als ob nicht vielmehr er zu bedauern gewesen wäre, sein Herz an diese Schneejungfrau gehängt zu haben, die ihm nun noch obendrein langsam zwischen den Fingern zerrann. Besonders seit anderthalb Jahren, seit der verflixten Geschichte, war sie höllisch zusammengerasselt; hatte sich vielmehr immer noch nicht wieder erholt, war immer noch beinahe dasselbe Gespenst von Jammerhaftigkeit, als das sie von dem Krankenlager damals aufgestanden war.

Ein Elend, mit so einem Waschlappen behaftet zu sein! Ein einziger Ruck, und sie lag da. Gott bewahre, andre Frauen rappelten sich doch nach so einer Sache wieder auf und thaten nicht dergleichen, als wenn es damit nun ein für alle mal aus sein müßte. Eine schöne Zukunft! Das Geschlecht der Thomasse am Aussterben. Stand ja nur noch auf seinen zwei Augen. Was hatte er nun von dieser Ehe, auf die er so wütend versessen gewesen war! Enttäuschungen nach allen Himmelsrichtungen. Anders, anders, anders hatte er sich die Geschichte gedacht! Zwar – in ihrem Betragen hatte sie sich im Laufe der Zeiten im großen und ganzen einigermaßen gebessert. Sein Verdienst! Mühe genug hatte ihn die Erziehung der Frau Eheliebsten gekostet. Das Aufmucken wenigstens hatte er ihr gründlich abgewöhnt. Den Mund zu halten, hatte sie nach und nach gelernt. Höchste Zeit! Bloß so ein Scharmützel, wie eben das letzte, das lieferte sie ihm noch zuweilen. Das Schuldbewußtsein, das andre stumm machte, das schärfte ihr die Zunge. Mochte wohl die Angst sein. Denn wenn er ihr einmal auf die Schliche kommen würde – wehe ihr! Wehe ihnen allen beiden! Verfluchter Kerl, dieser Zwischenträger. Denn das war er, darauf wollte er getrost Gift nehmen. Der Teufel mochte wissen, was sie einander da wieder alles auszurichten hatten. Zufällig! Und zum erstenmal! Vorzüglich! Hätte er sich nur näher heranmachen können um zuzuhören. Aber wartet nur, ihr Kanaillen, euch werd’ ich’s besorgen. Wundern sollt ihr euch noch, daß euch die Augen übergehen!

[757]
33.

„Hast du Nachricht aus Breslau?“ fragte Hanna ihren Mann, als sie nach dem Heimweg vom Tiergarten ins Haus eintraten. Sie wußte aus Erfahrung, daß nicht Weiterschweigen, sondern Weitersprechen, aber von ganz anderen Dingen ihre nächstliegende Aufgabe war.

„Ob ich was?“ Er mußte sich einen Augenblick besinnen; so war er von seinen brütenden Gedanken benommen.

„Hat deine Schwester geschrieben?“

„Ja. Jawohl. Also erst Sonnabend. Sie wollen alle zusammen reisen und Linchen ist noch nicht soweit. Daß nur ja nichts vergessen wird in den Zimmern!“

„Sie sind schon bereit.“

„Teppiche gelegt? Betten bezogen?“

„Gewiß. Alles. Es fehlt nur noch das frische Wasser.“

„Na, ich werde mich jedenfalls erst noch selbst überzeugen.“

„Bitte,“ sagte Hanna gleichgültig. Sie hatte das vorhergewußt.

„Bestelle übrigens Blumen. Nein, laß nur, ich werde es lieber selbst thun. Meinem Geschmack trau’ ich denn doch mehr.“

„Wie du willst.“

„Wie du willst,“ ahmte er übertrieben gedehnt ihre leise Stimme nach. „Das klingt wie ein Täubchen von Sanftmut. Und dabei ärgerst du dich schmählich im stillen, daß ich mich in solchen Dingen nicht auch noch von dir bevormunden lassen will.“

Hanna lächelte schwach. Vor drei, vier Jahren hätte sie sich eifrig und wahrscheinlich gereizt verteidigt.

„Es ist mir sehr angenehm,“ sagte sie nun ruhig, daß du mir die Blumenbesorgung abnimmst. Du hast das immer viel besser verstanden als ich.“

Zu ihrem Erstaunen antwortete er nicht; sie hatte noch eine kleine Bosheit als Punkt und Absatz erwartet.

Mitten auf der Treppe zum oberen Stock hielt er an, mit einer seltsam flackernden Röte im Gesicht und legte sich die Faust auf die Brust. „Was soll denn das heißen?“ sagte er verwirrt. „Das ist nun schon das zweite Mal.“

„Was denn?“ fragte Hanna betroffen.

„Herzklopfen. Gestern auch. Beim Treppen steigen.“

„Es wird nichts sein,“ begütigte Hanna. „Ein Zufall. Es giebt sich auch wohl schon?“ schloß sie, da seine natürliche Farbe zurückkehrte und er die Hand sinken ließ.

„Scheint. – Ja,“ sagte er nach einer Pause aufmerksamer Selbstbeobachtung, er stieg dann langsam und bedächtig weiter hinauf. Oben angekommen, atmete er tief.

„Schon wieder“, murmelte er.

„Aber nicht arg?“

[758] „Nein nicht arg,“ antwortete er gereizt. „Einen Herzkrampf hab' ich noch nicht, wie du siehst. Mach’ doch nur nicht so fromme Augen. Brauchst keine Teilnahme zu heucheln.“

„Das brauch' ich wirklich nicht, denn ich habe sie.“

„Ei was. Und eben sagtest du noch, es wird nichts sein, ein Zufall. Also wozu stellst du dich denn jetzt besorgt?“

„Soll ich an Meinhardt telefonieren?“

„Lächerlich. Meinhardt! Weiter hätte mir gar nichts gefehlt. Der olle Schlummerkopp ist ja zu nichts Ernsthaftem mehr zu gebrauchen. Laß mich jetzt mit deinem Kamillentheegesicht in Frieden. Morgen – wenn sich das noch einmal wiederholt – konsultier' ich eine Autorität.“

Nach einer Stunde kam er zu ihr ins Zimmer, wo sie mit einer Näherei beschäftigt am Fenster saß. Er warf ihr einen Brief in den Schoß, einen schon geöffneten Brief. Sie bemerkte das nicht gleich und nahm die Schere, um ihn aufzuschneiden Mit seinen wachsamen Augen sah er ihr Stirnrunzeln und daß sie die Zähne auf die Unterlippe drückte. „Ich hab' ihn aus Versehen mit aufgerissen,“ warf er leicht hin. „Er kam zusammen mit mehreren anderen für mich, so achtete ich nicht drauf.“

„Ich weiß“, sagte sie kalt, ohne ihn anzusehen, nahm den Brief aus dem Umschlag und las. Diese „Versehen“ hatten sich schon oft wiederholt und den Reiz der Neuheit verloren.

„Was will denn die Imhoff?“ fragte Ludwig, auf den Brief deutend.

Hanna erhob jetzt die Augen zu ihm. „Du hast ihn ja gelesen“ erwiderte sie ruhig, ohne Schärfe, überhaupt ohne Ausdruck in der Stimme. „Also weißt du was darin steht.“

„Nur flüchtig, natürlich. Ich sah ja – übrigens wirst du dir ja solche Briefe, die ich nicht sehen soll, nicht ins Haus schicken lassen.“

„Ich weiß wirklich noch nicht, was ich thun würde, wenn ich solche Briefe bekäme“, antwortete sie unbewegt. „Bis es so weit kommt, wollen wir uns den Kopf nicht darüber zerbrechen.“

„Ja ja, ich weiß schon, du bist die harmloseste Frau von Berlin. – Für welchen von deinen appetitlichen Schützlinge wird denn das?“ fragte er nach einer Pause, da sie, ohne nochmals zu antworten, ihre Arbeit an dem rotwollenen Kinderkleidchen wieder aufgenommen.

„Für die kleine Anna von Baumanns. Unser Klempner.

„Donnerwetter, elegant! Mit schwarzen Borten!“

„Es soll auch ein Geburtstagskleid werden.

„Und das hier? Er erwischte von dem aufgeschichteten Stapel ein ganz kleines Kinderhemdchen am Aermel. Sie nahm es ihm sacht aus der Hand und legte es wieder glatt zusammen.

„Da ist diese arme Obstfrau“, sagte sie mit leichtem Erröten „da am Kanal, von der ich manchmal kaufe. In ein paar Wochen erwartet sie ihr Fünftes. Sie weiß sich nicht zu lassen vor Sorgen, der Mann trinkt. Ich hab' ihr versprochen: ich geb' ihr die kleine Aussteuer. Etwas Rechtes hat sie nie gehabt. Du solltest nur sehen, wie sie sich freut.“

„Kunststück! Wird dich auch wieder gehörig ausnutzen.“

„Darauf laß ich es ankommen. Wenn man den Gedanken an die Spitze stellen wollte, verginge einem die Freude am Schenken im ersten Atemzug.“

„Aber wozu diese Kellerassel mit aller Gewalt Spitzen an den Hemden haben muß, das seh' ich denn doch nicht ein.“

„Es sind ganz schmale – sieh' – Leinen, sehr haltbar, und machen in der Wäsche nicht die geringsten Umstände. Ich weiß nicht, warum die Sachen, die man den armen Menschen giebt, nicht auch ein bißchen hübsch sein sollen, außer daß sie nützlich sind.

„Das ist wieder eine von deinen sentimentalen Schrullen. Du bist überhaupt verrückt. Als ob dem Bettelpack auch nur soviel an der Schönheit gelegen wäre. Was versteht der Bauer von Gurkensalat?“

„Vielleicht doch mehr, als du denkst.“

„Sei so gut, mein Kind, und überhebe dich nicht. Ich kenne die Welt besser als du. Mir ist in meinem Leben genug Gesindel über den Weg gelaufen. Nur nicht unpraktisch werden vor lauter Idealität. Warum willst du einem verhungerten Straßenkehrer den leeren Magen mit Gänseleberpastete anfüllen, wenn eine Knackwurscht dieselben Dienste thut?“

„Da hast du gewiß recht.“

„Hab' ich überhaupt immer!“

„Ich wollte damit nur sagen so weit geht meine Verrücktheit nicht. Aehnliche Dinge, wie dein Beispiel, hab' ich nie gemacht. Ich finde aber … wenn ich durch eine kleine, noch obendrein wohlfeile Verzierung ein Geschenk hübscher machen kann, das ich zum Beispiel einer armen Mutter bringe, so muß ich das thun, so gehört das mit dazu.“

„Meinetwegen. Wenn der Geist dich treibt! Wundere dich aber dann auch nicht, wenn sie dein hübsches Geschenk' aufs Leihamt tragen, sowie du den Rücken gewendet hast.“

„Bis jetzt ist das noch nicht geschehen; ich habe mich noch immer davon überzeugen können.“

„Wie gesagt meinetwegen. Bloß – warum kaufst du das Zeugs nicht fertig? Eine Zeit verthust du mit der Stichelei an den Sachen –“

„Ich hab' ja so viel Zeit. Und es macht mir Freude, selber die Finger dafür zu rühren, viel mehr, als wenn ich etwas fertig im Laden kaufe. Ich thue das ja auch. Wie oft braucht man etwas rasch. Und Lebensmittel zumal lassen sich nicht nähen, noch sticken, auch Holz und Kohlen nicht.“

„Und wozu du immer alles selbst besorgen und hinschleppen mußt. Aufspielerei –“

„Immer thu' ich es gar nicht. Lange nicht immer. Aber ich thu es gern. Ich will die Menschen auch kennen, denen ich helfe oder Freude mache. Verstehst du das nicht?“

„Nee,“ sagte er mit einem kleinen Schauder. „Sonderbare Schwärmerei, in den muffigen Spelunken herumzukriechen.“

„Aber du hast es mir damals erlaubt, erinnere dich.“

„Ja doch. Poche nur nicht gleich so auf dem Wort herum. Und erinnere du dich gefälligst auch, daß du mir versprochen hast, niemals in ein Haus zu gehen, in dem eine ansteckende Krankheit herrscht. Daß du dich immer sorgfältig erkundigst!“

„Aber selbstverständlich.“

Er wandte sich zur Thür, auf der Schwelle blieb er stehen.

„Uebrigens fragst du mit keinem Wort, wie mir's geht. Recht teilnahmvoll, muß ich sagen.“

„Du hattest mich vorhin ersucht, dich vorläufig in Frieden zu lassen. Aber es scheint, dir ist wieder ganz wohl?“

„Unwohl war mir überhaupt nicht, bloß ängstlich. Du sahest mich wohl schon auf dem Siechbett, ja? Machte dir wohl Spaß, wenn ich auch mal krumm liegen müßte?“

„Was soll man darauf antworten?“

„Nichts, natürlich, wenn dir keine freundliche Silbe einfällt. An eine pantomimische Andeutung deines Wohlwollens bin ich ja sowieso nicht gewöhnt.“ Und als sie sich mit unbeweglichem Gesicht tiefer auf ihre Arbeit neigte, „Du wirst's noch einmal bereuen wenn ich erst in der Grube liege.“

Hanna lächelte bitter. „Das mit dem in der Grube liegen wird sich wohl in umgekehrter Reihenfolge abspielen. Du brauchst nicht zu fürchten, daß ich dich überleben werde.“

„Aber passen würde es dir, was? wenn ich gnädigst abschnurrte und dich als reiche, junge Witwe übrig ließe, und du dann das vergoldete Pfötchen wieder frei hättest?“

Er kam von der Thür zurück, die Hände in den Hosentaschen, stellte er sich breitbeinig vor sie hin. „Würdest du wohl das Trauerjahr aushalten, wenn du mich glücklich los wärest?“

Sie lehnte sich zurück und sah ihm voll in die feindselig glitzernden Augen. „Wer dich zum Mann gehabt hat, Ludwig, der sehnt sich nach keiner zweiten Ehe mehr.“

Er lachte laut auf, so schallend und häßlich, daß Hanna nervös gequält die Schultern zusammenzog. „Ausgezeichnet! rief er und drehte sich, wie in hellem Vergnügen, auf dem Absatz hin und her. „So viel Esprit hätt' ich dir gar nicht zugetraut. Das Orakel zu Delphi ist ja der reine Waisenknabe gegen dich. – Na, beruhige dich,“ fuhr er fort, und seine Stimme bekam plötzlich einen heisern, dumpfen Klang. „Sollte ich wirklich das Pech haben, vor dir ins Gras beißen zu müssen, so wird deine Trauer um meinen Verlust aufrichtig sein. Verlaß' dich drauf! Dafür hab' ich gesorgt!“

34.
„Liebe, böse Hanna!

Es kann doch nicht im Ernst Dein Wille sein, daß wir uns auseinanderleben sollen. Weißt Du, wann wir uns zum letzten mal gesehen haben? Vor dreiviertel Jahren. Denn die fünf [759] Minuten, die Du an meinem Bett gesessen hast, nachdem der Kleine geboren war, kann ich unmöglich mitrechnen. Jetzt ist Düttila acht Monate alt und Du weißt noch nicht, wie er aussieht. Das kleine, verquatschte Ding von damals, acht Tage lang, schlafend, immer schlafend, bis an die Nasenspitze zugedeckt, das gilt schon lange nicht mehr. Ich weiß ja, daß man mit Dir nicht so streng rechnen darf. Aber es thut mir doch beinahe ein bißchen weh, daß Du es übers Herz bringst, Dich so lange nicht um uns zu kümmern. Von einem Bekannten, der Deinen Mann gesprochen hat, hörte ich, daß Du schon seit drei Wochen von der Reise zurück bist. Solltest Du wirklich noch kein halbes Stündchen für uns übrig gehabt haben? Ich könnte ja mit Dir schmollen und sagen: laß sie laufen. Aber das will ich eben nicht. So schelte ich Dich lieber aus. Du weißt ja, wie es gemeint ist. Ich kenne Dich doch nun schon so viele Jahre, und wenn auch immer Lücken dazwischen gewesen sind, und wenn ich auch in letzter Zeit wenig Herzensfreude. an Dir gehabt habe – wofür Du ja nichts kannst – Treulosigkeit wäre das allerletzte, was ich Dir zutraute! Fühlst Du Dich zu wenig wohl, um zu mir zu kommen, so will ich Dich gern besuchen; obwohl Du weißt, daß ich es immer viel gemütlicher finde, wenn Du bei mir bist. Hier haben wir ja doch vor allen Dingen die Kinder! Von Düttila sage ich Dir absichtlich nichts. Du sollst ihn selber sehen. Heidi hat Dich noch nicht vergessen, wenigstens kennt er recht gut Dein Bild im Album. Ist das nicht lieb von dem kleinen Kerl? Schade, daß Du sein Entzücken über die drei Lichtchen auf seiner kleinen Geburtstagstorte neulich nicht hast sehen können. Aber Du warst noch verreist, sonst hätte ich Dich feierlich eingeladen. Er sagt übrigens jetzt schon lange nicht mehr ‚Tananna‘, sondern ganz ordentlich ‚Tante Hanna‘. Du wirst Dich überhaupt wundern, wie er sich entwickelt hat. Otto läßt Dich herzlich grüßen. Er hat sehr viel zu thun, worüber er seelenvergnügt ist. Heidi will auch immer ‚Maschinen malen‘ wie Papa, aber seine Räder werden Eier und seine Schornsteine fallen um.

Nun höre ich auf. Ich wollte Dir fünf Scheltworte schreiben, und nun ist ein fünf Seiten langer Schwatzbrief daraus geworden. Otto würde sagen: Dafür bist du eben ein Frauenzimmerchen. Also nun sei nett und lieb und komm' und zwar bald! Wir sehnen uns alle nach Dir.“

Deine treue, alte Helene“     

„Gutes, kleines Ding,“ sagte Hanna leise vor sich hin und schob den Brief, den sie noch einmal – jetzt erst in Ruhe – gelesen hatte, in den Umschlag zurück. Müde stützte sie den Arm auf den Schreibtisch, an dem sie saß, und legte die Stirn in die Hand.

Ob es mein Wille ist, daß wir uns auseinanderleben sollen? Freilich ist es mein Wille, schon lange. Nur, daß ich ihn nicht durchsetze bei dir, daß ich gegen deine sanfte, zähe Treue nicht aufkomme. Ich kann dir ja auch den Grund nicht sagen. Ich muß auf meiner Schattenseite bleiben, wenn ich mir die nötige Ruhe bewahren will. In deinem warmen Sonnenschein wird mir sonst unsinnig zu Mute. Er tröstet nicht, er thut weh. Er wärmt nicht, er zündet Fieber in mir an, er macht mich krank. Ich darf auch deine Kinder nicht sehen. Von Heidis süßem Stimmchen zittert mir das Herz. Tagelang, wochenlang werd' ich seine schimmernden Augen nicht los. Das geht ja nicht, das geht ja nicht. Und nun ist da noch eines, das auf dem Kissen liegt und strampelt mit seinen runden Beinchen, und so weiche Haut hat wie ein Blumenblatt, und das jubelt und kräht, und mich mit seinen Händchen ins Gesicht patscht, wenn ich mich darüber beuge – –

Sie legte den Kopf auf die verschlungenen Arme und weinte bitterlich. Aber nicht lange. Sie war es schon sehr gewohnt, sich zu beherrschen. Also dann morgen, schloß sie, traurig ergeben. Auf diesen Brief kann ich nichts anderes thun.

Sie zog nun mit einiger Hast das Wirtschaftsbuch heran, das ihr Pauline bereit gelegt hatte, und vertiefte sich, vor sich selber flüchtend, in den Kostenüberschlag der letzten Woche. Damit fertig, begann sie mit der Durchsicht eines Stapels kleiner blauer Hefte, die sie einzeln aus dem geöffneten Seitenfach des Schreibtisches nahm. Sie enthielten die sorgsam verzeichneten Personalien ihrer sämtlichen Schützlinge. Im Lauf der Jahre hatte sie ihre Armenpflege, die damals gelegentlich des gebrochenen Knöchels von Gärtnerfritzchen ihren harmlosen Anfang nahm, planmäßig geordnet. In einem Adreßbüchelchen, das stets zu oberst liegen mußte, befand sich das Wohnungsregister. Jeder einzelne der Klienten, oder er mit seiner Familie, war in einem besondern Heft mit ausführlichem Nationale eingetragen. Der Name auf dem Deckel verhalf zur alphabetischen Ordnung, Geburts-, Krankheits-, Sterbefälle wurden treulich vermerkt ebenso das Datum und die Art der jeweilig empfangenen Unterstützung, die häufiger in sorgsam ausgewählten Gebrauchsgegenständen und Lebensmitteln als in barem Gelde bestand. Ein anderes Fach des Schreibtisches enthielt den nun schon recht ansehnlichen Packen von Sparkassenbüchern, deren jedes Kind ihrer „Bettelfreundschaft“, wie Ludwig sie liebevoll bezeichnete, eines besaß und die zweimal im Jahr, zu Weihnachten und zum Geburtstag des kleinen Eigentümers, ihre bestimmte neue Zuzahlung bekamen. Dadurch daß Hanna die Bücher selbst in Verwahrung behielt, schützte sie die Leute vor der Versuchung, zur unrechten Zeit Gebrauch von dem Gelde zu machen, das bestimmt war, bis zur Konfirmation anzuwachsen um dann beim Eintritt in Lehre oder Dienst die nötigen Anschaffungen zu erleichtern.

In dieser planmäßigen, ausführlichen und intimen Art der Armenpflege strebte Hannas empfindliches und stets gequältes Gewissen sich zu entlasten. Durch die persönliche Bekanntschaft mit den einzelnen Verstoßenen des Geschicks, durch die unmittelbare Teilnahme an ihren Kümmernissen suchte sie dem Schuldbewußtsein das sie mit ihrer Geldheirat auf sich genommen hatte, ein Gegengewicht zu bieten. Mit der Zeichnung großer Summen in öffentlichen Sammellisten fühlte sie sich persönlich nicht losgekauft von der Verpflichtung, die der Beste dem Reichen auferlegt. Nach dieser Richtung that ja auch Ludwig, „ihr Geldsachen immer nobel, in großem Umfange das Seinige. Ueber ihre „verrückte und sentimentale Art“, die Sache anzufassen, spottete er zwar unausgesetzt, ließ sie aber gewähren, da sie keine ihrer sonstigen Verpflichtungen darüber versäumte. Daß sie sich, in ihrer unbesiegbaren Scheu vor fremden Menschen, standhaft weigerte, irgend einer gemeinnützigen Vereinigung beizutreten, fand natürlich seine Billigung, er hätte ihr andernfalls nichts dergleichen erlaubt. Wofür sie den Ueberschuß ihres reichen Taschengeldes verwendete, interessierte ihn nicht, so lange er an ihrer persönlichen Eleganz nichts auszusetzen fand. Von irgend einer Teilnahme an dem, was sie that, war freilich nicht die Rede, aber sie erfuhr hierin wenigstens keinen Eingriff. Die wehmütige Freude an der Linderung fremder Not war die einzige, die er ihr noch nicht verdorben hatte.

Hanna war mit der Durchsicht fertig. Mehreres hatte sie noch einzutragen gehabt nach der Reise. In ihrem kleinen Notizbuch standen die Anschaffungen und Bestellungen vermerkt, die nötig geworden waren und die in den nächsten Tagen, noch vor dem Breslauer Besuch, erledigt werden mußten.

Zögernd blätterte sie zurück bis zu der Seite, auf der Günther heute den Buchtitel aufgeschrieben hatte. Sie betrachtete den Namen, den sie nun seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, sie sprach ihn laut vor sich hin, Arnold Rettenbacher. – Es erging ihr seltsam. Von dem wehen, heißen Zucken, das früher durch sie hingegangen war, wenn sie an den verlorenen Freund gedacht hatte, verspürte sie heute nichts mehr. Nur wie ein „Traum geliebter Schmerzen“ klang leise ein Ton in der Tiefe ihrer Seele auf, ein Ruf, ein fragender. Sie horchte auf ihn mit dem bittern Lächeln leidvoller Verwunderung. So fern war das schon? So ganz dahinten im Dämmer? So tief verschüttet? Wer hatte das gethan? Die Zeit! Das Leben! Die Zeit mit ihrem stäubenden Flugsand, der sacht in alle Fugen dringt, allmählich Schicht auf Schichten häufend, Grabhügel wölbend. Das Leben, das nicht fragt: Bist du müde? thut's noch weh von gestern? das frische Wunden unweit brennender Narbe reißt, das immer neue Lasten häuft auf mattgebeugte Schultern, das tröstend sagt: Sieh doch, wie stark du bist, das alles trägst du, auch dies, und dies noch. Und sinkst noch nicht zusammen. Noch lange nicht. Und über das von damals – weißt du noch? – hast du so bitterlich geweint. Das thätest du heute nicht mehr. – –

Nein, über das von damals heute nicht mehr.

So alt also war sie in diesen fünf Jahren schon geworden. Was sie heute gepackt und geschüttelt hatte, als sie mit Günther sprach, war nicht das Zittern schwer bekämpfter Schmerzen gewesen, sie wußte es wohl. Nur wie durch ein aufgesprungenes Thor [760] war die Flut der Erinnerungen über sie hingestürzt, von brausenden Orgeltönen getragen, von singenden klingenden Menschenstimmen begleitet. Und nur die Angst, es möchte wieder über sie kommen wie einstmals, hatte sie zittern gemacht. Es war nicht über sie gekommen, und sie hatte zu zittern aufgehört. Sie war ruhig geworden. Sie war es auch jetzt. Die vielgeliebte Stimme aus der Tiefe, aus dem fremdgewordenen Damals that ihr heute kein Leid mehr an – Sie schloß das Notizbuch und legte es weg.

Zurückgelehnt, mit geschlossenen Augen saß sie eine Zeit lang still, die Hände im Schoß gefaltet. Vor ihr, auf der geöffneten Schreibmappe, lag ein frisches Briefblatt. An den Pastor Erdmann wollte sie schreiben, ihm sagen, daß sie dann und wann zu ihm käme, endlich wieder einmal. Wollte sie? Mit gerunzelter Stirn schüttelte sie den Kopf und drückte die verschlungenen Finger fester zusammen, ohne sich von der Lehne wegzurühren. Spiegelfechtereien. Warum log sie sich das selber vor? Sie wußte ja, daß sie nicht schreiben würde, daß sie nicht zu ihm gehen würde, gar nicht mehr, überhaupt nicht mehr. Wann hatte sie ihn zuletzt gesehen? Wohl vor zwei Jahren? Vor länger als zwei Jahren. Noch ehe jener Schrecken über sie gekommen war. Der kalte, schmerzhafte Schrecken, daß dieser Bund, diese Ehe gesegnet sein sollte, daß ein lebendiges Zeugnis ihrer Erniedrigung aufwachsen sie mit Augen ansehen, mit vernehmlicher Stimme zu ihr sprechen sollte. Mit seinen Augen vielleicht, mit seiner Stimme, ein Abbild von ihm, eine Wiederholung von ihm. O Jammer, o Schmach und Scham! Aus dieser Ehe ein Kind! – – Wie lange währte wohl das Grauen damals, das sie ruhelos umtrieb? das ihr den Atem hemmte, den Mund austrocknete? – – Nicht gar lange, dünkte ihr jetzt. Nur, bis mit der Gewißheit ein Sturm, wie Frühlingswehen über ihre eingefrorene arme Seele kam. Ein Kind! Kein Zeuge meines Elends, ein Trost in meinem Elend! Nicht Schmach mehr, sondern Sühnung! Nicht Scham und Jammer, sondern Heilung, Glück! Ein Kind! Mein Kind! –

Hanna, in ihrem Sessel lehnend, zitterte am ganzen Leib; aus den geschlossenen Augen rannen Thränen über das blasse, schmale Gesicht. Wußte sie noch so gut die heilig süße Wonne jener Tage? – Ach, allzugut! Zum Nievergessen! Tief in ihrem Herzen, ungesehen, unlöschbar, brannte die kleine zehrende Flamme der Sehnsucht nach diesem kurzen Traum von Glück. – Und er? – Das war doch wohl Vaterfreude, die ihm aus den Augen sah, damals? die ihn sanfter machte? Es sollte also doch wohl noch gut werden mit ihnen beiden? Ein kleiner Cherub – man mußte ihm nur Zeit lassen – spann feine, lichte Fäden zwischen ihnen. Er küßte auch heimlich die Splitter des zerbrochenen Talismans, und siehe. – sie fügten sich zusammen, goldig im Frührot glänzend, von Tauperlen überschimmert, begann der neue Tag. – Er erlebte seinen Mittag nicht; überlebte kaum seine erste Stunde. Nebel krochen daher, kämpften mit dem hellen Freudenschein, drückten ihn nieder, fraßen ihn auf. Leiden, Leiden, Schmerzen, lange Finsternisse. Frost im Blütenbaum, Tod im Hoffnungsfrühlingl In grauer, kühler Dämmerung that der andere neue, der altgewohnte Tag die Augen auf.

Die wache Träumerin im Schreibtischsessel öffnete die brennenden Augen und starrte ins Leere. Der Doktor hatte gut reden gehabt mit seinen Tröstungen. Auf die gab sie nichts mehr, die kannte sie, diese barmherzigen ärztlichen Lügen. – Ob sie ihm etwas gegolten hatten, dem Mann, der mit düster funkelnden Augen damals am Fußende ihres Bettes stand und dem noch kein gutes, warmes Wort über die Lippen gegangen war, seit der Jammer sie gepackt und niedergeworfen hatte? Er grollte heftig mit ihr, die ihn um die schöne Hoffnung betrogen hatte.

Hanna war nun wieder ganz wach und richtete sich auf. Vor diesem Kapitel ihrer Erinnerungen schlug sie das Buch zu. In einem fröstelnden Schauer, der ihr über den Nacken hinunterlief, sah sie sich in ihrem Zimmer um, dessen bunte Stoffe und glänzende Goldverzierungen im Abenddämmer zu verschwimmen begannen. Noch lag das weiße Briefblatt auf der offenen Schreibmappe. Sie schob es weg. Nein. Nicht mehr schreiben. Nicht mehr hingehen. Sie hatte schon lange nichts mehr zu erzählen. Ein Tag glich dem andern, ein Monat, ein Jahr dem andern. Nur daß Schnee und Frühlingsblumen, Sonnenglut und Herbstnebel in ihnen wechselten – Um ihre schönen Reisen wurde sie viel beneidet. Sie hätte sie mit Freuden hingegeben für die sichere Gewähr eines stillen Plätzchens, wo sie allein gewesen wäre. Auf der ganzen weiten Welt wünschte sie sich nichts mehr als dieses stille, einsame Plätzchen. – Ja doch, es war schöner draußen, unterwegs. Die Sonne ging herrlicher auf im Hochgebirge als in Berlin. Ihr Scheiden am Abend, wenn der glühende Ball weit drüben, am Rande der Welt, im Meer versank, löste mit seinem über die Kräuselwellen hinschimmernden Gruß ihr gefesseltes Herz zu raschern Schlägen als daheim. – – Ihr Tagewerk blieb allerorten und vom Morgen bis zum Abend das gleiche: Verlernen, sie selbst zu sein. Sie hatte es in dieser Wissenschaft schon weiter gebracht, als es ihr anfangs möglich erschienen war. Ein frisches Zweiglein nach dem andern hatte die gefräßige Heckenschere abgestutzt. Mit der Zeit mochte aus dem lebenskräftigen, sonnenfrohen Baum noch die anständigste, glatteste, undurchsichtigste Pyramide werden, bei der kein Blättchen weiter hervorstand, als es der Gärtner erlaubte.

Ein solcher Baum erzählt nichts mehr, er verstummt. Seine starrgewordenen Zweige rauschen nicht mehr, seine Blätter, die ängstlich, dichtgedrängt beieinandersitzen – viele, viele mitten durchgeschnitten – verlernen selbst das Flüstern. Für den achtlos Vorübergehenden sieht so ein kunstgerecht verstümmeltes, unpersönliches Gewächs langweilig aus, für den Wachsamen, der davor stehen bleibt und mit warmen Augen in das reglose Blätterdickicht hineinschaut – unaussprechlich traurig.

Hanna Wasenius hatte schon recht gut gelernt zu schweigen. In ihrem stillgewordenen Gesicht stand nicht viel mehr zu lesen als die höfliche Antwort auf die Fragen des täglichen Lebens, als die Aufmerksamkeit auf das, was von ihr verlangt wurde, um das Wohlergehen und die gute Laune ihres Gebieters möglichst ungetrübt zu erhalten. Um ihr Pflichtversäumnisse vorzuwerfen, bedurfte es schon eines erklecklichen Aufwandes von galliger Stimmung, der dann freilich jedes Mittel recht war. Der große, anspruchsvolle Haushalt, in dem die Partei der Dienenden der der Herrschenden um mehr als das dreifache überlegen war, ging bis auf das kleinste Rädchen seines vielfältigen Getriebes in ungestörter Ordnung, eine Annehmlichkeit, die erst mit der Regentschaft der jungen Herrin begonnen hatte. Wirtschafterinnen sowohl wie andre Untergebene hatten bis dahin fleißig gewechselt, und länger als ein halbes Jahr hatte auch der hohe Lohn keinen Dienstboten unter Ludwigs launischem Scepter gehalten. „Die anständige Art, wie sie mit einem umgeht, und daß sie nie grob und nie ungerecht ist,“ erreichte jetzt, was dem Geld allein nicht hatte gelingen wollen. Sogar Henriette mit der feinen Herkunft hatte sich an ihre „unschicke“ Herrin gewöhnt, Pauline würde ihr das Gegenteil auch arg eingetränkt haben. Ihr aus Küchenfeuer gewobener Glorienschein halte sich zu einem wehmütigen Strahlenkranz ausgewachsen, aber mit anerkennenswerter Dankbarkeit teilte sie nach wie vor den Ruhm, den die auserlesenen und stets mit Ueberraschungen verbrämten Gastmähler des Hauses Thomas genossen, zwischen sich und ihrer lieben Gnädigen.

Ring auf Ring schloß das Werden und Vergehen der Jahre.

Das wehende Laub der kleinen Traueresche streichelte sacht das Grab der stillen Frau, deren blasser Schatten bis auf den Hauch der Erinnerung versunken schien. Der verschwiegene Winkel, in den er sich geflüchtet hatte, um von dort, durch den Klageruf unverlöschbarer Sehnsucht wachgehalten, aus großen schlaflosen Augen in das blühende Leben herüberzuschauen, war eng umhegt und so dicht übersponnen von dem zarten, aber unzerreißbaren Rankengeflecht des Stolzes und des festen Willens, daß keines Menschen Fuß mehr den Pfad dorthin gefunden hätte. Es suchte ihn freilich auch keiner. Außer ihrem Kind war niemand da, dem sie gefehlt hätte. Längst schon war jede Spur ihrer Anwesenheit im Hause verwischt,.Während der ersten Reise, die Thomas mit seiner Frau unternommen hatte, waren die Aufräumungsarbeiten besorgt worden. Ehe die Herrschaften zurückkehrten, müßte alles wieder in der früheren Ordnung sein, hatte Ludwigs Befehl gelautet. Hanna war ohne Ahnung, daß, während sie sich in Italien auf allerhöchsten Befehl erholte und sich genau nach Vorschrift „amüsierte“, in den Zimmern der Mutter die Scheuerfrauen wüteten und mit Besen und Putzlappen den letzten Hauch der armen Seele zum Fenster hinausjagten. August hatte mit äußerster Strenge die sorgfältige [762] Verpackung und Verwahrung der Möbel, die in diese Räume gehört hatten, überwacht. Die Wiedereinrichtung des Billardzimmers und des japanischen Salons aber hatte er völlig dem dazu bestellten Dekorateur überlassen, um damit zu bezeigen, daß er mit dieser Sache weiter nichts zu schaffen haben wollte. Mehr zu thun, um seine Teilnahme für die gnädige Frau zu beweisen war ihm nicht Gelegenheit geworden.

Hanna war zu gerecht, um sich nicht zu sagen, daß eine Aenderung in diesem Sinn unumgänglich gewesen sei. Nur hatte sie erwartet, sie selbst und unbeeinflußt bewerkstelligen zu können und zu diesem Behuf den immer noch verweigerten Schlüssel zum Sterbezimmer ausgeliefert zu bekommen. Ihren heißen, tiefen Schrecken bei der Heimkunft hatte sie so gut zu verbergen gewußt, daß sich Ludwig seine wohlvorbereitete Standrede über krankhaftes Sichgehenlassen füglich hätte sparen können. Daß er sie doch hielt, geschah nur, um seiner Frau zu zeigen, wie gut er darauf vorbereitet gewesen sei, sie renitent und albern zu finden, und daß sie nur ja nicht glauben solle, er durchschaue sie nicht.

Seitdem hatten Schwärme von lustigen Leuten diese und die andern Gesellschaftszimmer mit Lachen und Schwatzen erfüllt. Hanna vermied es ängstlich, bei solchen Gelegenheiten die verwandelten Räume zu betreten. Nur manchmal, zu stillen Stunden, wenn ihr Mann nicht daheim war, dann ging sie leise, leise dort hinein, setzte sich an der Stelle, wo das Bett der Mutter gestanden hatte, auf den langen Lederdiwan – und schloß die Augen.

[773]
35.

Helene Imhoff ging eben über den Vorplatz, als es klingelte, darum öffnete sie gleich selber. „Hanna,“ rief sie freudig überrascht, du oder dein Geist?“. „Nur ich. Du bist doch zu Hause?“

„Und wie! Du liebe Gute, wie freu’ ich mich nach so langer, langer Zeit einmal wieder! Und so schnell bist du auf meinen Zankbrief gekommen!“

„Ich wollte schon gestern gleich, weil ich mich so sehr schämte. Aber mein Mann war nicht wohl und wir sind beim Arzt gewesen.“

„Dein Mann – unwohl? Das klingt wie ein Witz. Was fehlt ihm denn?“

[774] „Er klagte über Herzklopfen und Angstgefühle und der gleichen. Es scheint nach der Untersuchung eine beginnende Herzverfettung zu sein.“

„Ach geh!“

„Ja, und ihm fällt jetzt ein, daß er diese Pulsunruhe schon mehrmals, vor Wochen schon, vorübergehend gespürt hat. In den letzten Tagen nahm es zu. So haben wir denn einen ‚Spezialisten‘ konsultiert.

„Ist denn euer Hausarzt – – wart’, ich hänge das hier auf, gieb her, soll ich dir den Schleier aufbinden?“

„Danke, danke.“

„Ist denn euer Hausarzt nicht mehr zuverlässig?“

„O, nach meiner Meinung schon. Ich wünschte mir keinen bessern. Aber mein Mann bekam plötzlich große Angst und traute unserem alten Herrn nicht mehr. Das ist Ansichtssache, dagegen läßt sich nichts sagen. Meinhardt nahm es auch nicht im mindesten übel, dazu ist er zu klug und zu gütig. Zu meinem stillen Vergnügen brachte dann aber das große Tier mit seiner Diagnose auch nicht mehr heraus als unser gewöhnlicher Doktor. Doch nun glaubt Ludwig wenigstens daran und wird sich der vorgeschriebenen Kur unterziehen, während er Meinhardt vorher nur einfach ins Gesicht gelacht hatte. Ja, es ist mit dem Autoritätenglauben ein eigenes Ding.“

Sie waren mittlerweile schon in Helenens winziges Wohnzimmerchen eingetreten.

„Wie hübsch warm scheint die Sonne hier herein, das thut wohl,“ sagte Hanna, nach einem kleinen Frostschauer die Hände umeinander reibend.

„War dir denn kalt? Es ist doch herrliches Wetter. Wenigstens fand ich die Luft reizend, als ich heut' vormittag mit den Kindern aus war.“

„Das mag schon sein. Aber mich friert eigentlich immer. Ich brauche viel Sonnenwärme. Laß mich da am Fenster in dem Korbstuhl ein Weilchen sitzen, ja?“

„Gern. Aber drinnen im Kinderzimmer haben wir's ebenso sonnenwarm, da scheint sie gar zu zwei Fenstern herein.

Hanna saß schon und lehnte sich mit ineinandergeschobenen Armen fest an.

„Ein kleines Weilchen, ja?“ bat sie mit einem fast ängstlichen Streifblick auf die Thür, nach der Helene schon die Hand ausgestreckt hatte. „Komm, setz dich her zu mir! Du siehst vorzüglich aus, rosig und blühend.“

„Ich wollte, ich könnte dir das zurückgeben,“ erwiderte Helene, an der Freundin auf und absehend. Hier im hellen Licht erschien sie ihr erschreckend großäugig, schmal und bleich. „Dir sieht man’s nicht an, daß du erst kürzlich von einer langen Erholungsreise heimgekommen bist.“

„Gott, weißt du, mit unsern Reisen – – zum Erholen sind sie im Grunde nicht sehr geeignet. Wenigstens für mich nicht. Zu dem Zweck müßte ich ganz allein viele, viele Wochen lang in einem stillen Winkel sitzen – er brauchte nicht einmal überirdisch schön zu sein – und mich nicht vom Fleck rühren und thun, nur was mich freut.“

„Nun, das könntest du dir doch einmal einrichten.“

„Das könnte ich nicht. das wäre nichts für meinen Mann –“

„Ja also, dein Mann. Sag’ doch, ist es schlimm, das mit seinem Herzen?“

„Nein. Meinhardt versichert mich, daß von Besorgnis vorläufig keine Rede sei. Das Uebel ist noch ganz in seinen Anfängen entdeckt worden und kann mit Vernunft und Energie vollkommen beseitigt werden.“

„Ich kann auch gar nicht finden, daß er, was man so nennt, dick ist.

„Das ist er freilich nicht. Doch würde man bei seiner mächtigen, kraftvollen Gestalt eine stärkere Zunahme auch wohl nicht sehr bald sehen. Uebrigens kann eine solche Verfettung auch ganz örtlich auftreten, hab' ich mir sagen lassen. Aber Ludwigs Konstitution ist im allgemeinen so großartig, daß der Krankheitsstoff bald wieder ausgestoßen sein wird, sagt Meinhardt.“

„Daß er überhaupt krank werden kann, ist kaum zu glauben. Was hat er angestellt?“

„Gar nichts Besondres. Aber er lebt zu gut. Er ißt viel und sehr üppig, trinkt schwere Weine, raucht schwere Cigarren und so weiter. Das muß nun eingeschränkt werden. Flüssigkeitsentziehung, so eine Art Oertelscher Kur, weißt du. Dann alle Speisen leicht, reizlos. Keine pikanten Würzen mehr. Rauchen ist einstweilen ganz verboten.

„O! O! Fügt er sich in das alles?“

„Nicht gern. Er ist sogar sehr entrüstet. Aber er muß wohl. Wenigstens hoffe ich, daß es gelingen wird, ihn standhaft zu erhalten. Endlich soll er sich auch stark bewegen, spazieren, rennen. Das trifft mich am härtesten.“

„Wieso?“

„Ich muß mit. Er langweilt sich allein. Nun kann ich schon so, weil er soviel größer ist als ich, schlecht mit ihm Schritt halten. Wie das nun werden soll, wenn er erst tüchtig ausgreift, das weiß ich nicht.“

„Aber Hanna! Das sind ja Tollheiten! Das darfst du nicht thun. Das darf dein Arzt nicht erlauben.“

„Ich habe ja auch die Absicht, mich hinter ihm zu verschanzen. Hoffentlich hilft es. Im allgemeinen gilt bei uns aber des Herrn Wille als oberstes Gesetz.“

Helene wollte etwas erwidern, sie unterdrückte es aber nach einem Blick in Hannas Gesicht. Armes Tierchen, dachte sie. „Mach keine Geschichten,“ bat sie laut. „Du warst ja ganz atemlos vorhin von dem bißchen Treppensteigen. Solche Gewaltkuren verträgst du nicht. Was soll daraus werden?“

Hanna errötete in der peinlichen Empfindung, viel zu viel gesagt zu haben.

„Gut, gut, sei nur ruhig,“ sagte sie hastig, mit der Hand winkend. Sie stand dann auf. „Laß uns jetzt zu den Kindern gehen!“

Das war eine Aufforderung, die sich die kleine rosige Mutter nicht zweimal machen ließ! Sie hatte ohnehin nicht ruhig auf ihrem Stuhl gesessen, und ein Ohr war beständig auf der Lauer nach dem Nebenzimmer hin gewesen.

„Ja, komm,“ sagte sie erleichtert, „Düttila muß im Augenblick aufwachen. Mit seinen Schlafbäckchen mußt du ihn sehen -

„Was ich schon fragen wollte,“ unterbrach Hanna lächelnd und die Freundin noch einmal zurückhaltend „Düttila! Was ist denn das nun wieder für ein unglaublicher Name? Mit Heidi bin ich ja ganz einverstanden, er hat sich selbst so genannt, als er zu sprechen anfing, und es wird schon einmal Heinrich daraus werden. Aber was ist Düttila für eine Verquatschung? Und wie heißt der Junge in Wirklichkeit? Oder steht er so im Geburtsregister auf dem Standesamt?“

„Das nicht,“ erwiderte Helene mit einem zärtlich verlegenen Lächeln. „Wenn man den Schaden besieht, heißt er Otto. Nach Bismarck. Nur daß der von seiner Patenschaft nichts ahnt. So wenig wie vor fünfunddreißig Jahren, als mein Mann aus Verehrung für ihn so getauft wurde. Meine Schwiegermama hat es dem Fürsten damals zwar geschrieben, und eine Liebeserklärung dazu, aber was er dazu gesagt hat, wissen wir nicht, denn sie hat keinen Namen daruntergesetzt. Nun haben wir schon die zweite kleine Durchlaucht in der Familie. ‚Durchläuchting’ haben wir zu Anfang immer zu dem Kleinen gesagt. Und dann kam eben immer ein neuer Liebesname dazu, einer immer unverständlicher als der andere. Wer an Düttila schuld ist, kann nicht mehr festgestellt werden. Es thut ja auch nichts. Wenn er nur darauf hörte. Komm herein! Da ist Heidi.“

„O, wie ist er groß geworden!“

Der goldhaarige Bub’ war beim Eintritt der beiden Damen von seinem kleinen Stuhl aufgestanden und hatte sich langsam hinter das Kindertischchen, an dem er gerade spielte, zurückgezogen; von diesem Wall gedeckt, betrachtete er aus seinen übergroßen, meerblaustrahlenden Augen ernsthaft den Besuch.

„Heidi!“ rief seine Mutter, „kennst du die Tante nicht?“

„Nee,“ sagte Heidi energisch, mit tiefer Stimme.

„Es heißt ja Nein, du kleiner Straßenjunge. Aber was bist du für ein Dummer. Kennst Tante Hanna nicht mehr? Komm, gieb die Hand und ein Küßchen!“

Der Kleine machte ein sehr erstauntes, entschieden zweifelndes Gesicht. Er gehorchte zwar, kam heran und gab die Hand. Als Hanna ihn aber, sich niederkauernd, an sich ziehen [775] wollte, um ihn zu küssen, machte er sich steif und drehte den Kopf weg.

„Aber Heidi!“ sagte Helene verweisend, trotz Hannas stummer Abwehr. „Du wirst doch nicht unfreundlich sein? Es ist ja die liebe Tante Hanna, die du immer im Album suchen darfst. Geh, gieb ein schönes Küßchen.

Der Kleine drehte sich verlegen hin und her. Endlich sagte er beklommen, halblaut. „Ich hab’ ja noch Zeit!“

Beide Frauen mußten lachen.

„Er hat recht,“ sagte Hanna. „Quälen wir ihn nicht. Das kommt alles von selbst. Ich werde schon nach und nach wieder mit ihm bekannt werden. Schließlich ist es ja meine eigene Schuld. Laß. Kümmere dich nicht um uns.“

„Gut. Ich seh’ also schnell nach dem Paul. Setz’ dich derweilen. Wenn er noch schläft, bin ich in einer Minute wieder da, sonst in zehn.

Hanna wählte sich einen niedrigen Stuhl. Sie kannte ihn schon von früher her. Otto Imhoff hatte ihm ein großes Stück von den Beinen abgesägt. Man saß darauf wie auf einem Schemel, und doch angelehnt.

„Zeig' mir doch dein Bilderbuch, Heidibubi, ja?“ sagte sie dann. „Das hab' ich so furchtbar lange nicht gesehen, und es sind so schöne, lustige Tiere drin, das weiß ich noch.“

Der Bub’, der sie unverwandt betrachtet hatte, nickte, noch etwas zögernd; er kramte aber dann doch sein Buch aus der Schieblade des Tischchens.

„Soll Tante Hanna dich auf den Schoß nehmen?“

Heidi sah sie unschlüssig an, es schien ihm immer noch nicht recht geheuer in der unmittelbaren Nähe dieser Tante. Nach einem tiefen Atemzug sagte er, die kleinen Schultern hebend, mit ganz roten Wangen …

„Ich kann ja auch bei dir stehen –“

„Gewiß kannst du das. Dann gieb nur her das Buch. So. Klapp auf!“

Er öffnete es auf ihren Knieen, sichtlich erleichtert durch die Erhaltung seiner Selbständigkeit. Und nun blätterten sie. Da war die Muhkuh. Und das Knuffschwein. Und der große Hund.

„Ei, was macht denn der für ein Gesicht? Der will wohl seine Suppe nicht essen?“

„Hm,“ bestätigte Heidi, eifrig nickend. „Ein ganz brummiges Sicht macht er. So!“ Er runzelte die Stirn, warf das rosige Mäulchen auf und drückte das kleine Kinn aus Hälschen heran. Hanna betrachtete entzückt die reizende Grimasse.

„O du Süßes,“ murmelte sie ganz leise. Es stieg ihr heiß die Kehle hinauf. Sie hatte es ja gewußt, hatte sich davor gefürchtet. Aber sie nahm sich zusammen.

„Ei was,“ sagte sie rasch und heiter, die unsichere Stimme zwingend. „So brummig sieht er aus?“ Sie streichelte dem „brummigen Hund“ die seidenfeinen Locken, die an den Schläfen bis auf die Schultern niederfielen und in der Sonne leuchteten wie gesponnenes Gold. Heidi wischte die liebkosende Hand ab. Sie hatte seinen Gedankengang unterbrochen.

„Du, kuck aber mal diesen kleinen Hund an. Der is lieb, nich?“ sagte er.

„Jawohl, und da ist ja auch ein Bachstelzchen. siehst du, wie es mit seinem Schwänzchen wippt? Gleich wird es über das Wasser fliegen.“

„Und da is der eklige Wolf.“

„Mir scheint, das ist eine Hyäne.“

„Eine Chijäne?“ wiederholte Heidi verblüfft. „Neee!“ sagte er dann gedehnt und seiner Sache völlig sicher. „Das weißt du gar nich. Das is der Wolf, der frißt alle arme Bähschäfchen auf. Pfui, ekliger, böser Wolf!“

Er hieb mit seinem runden, dicken Fäustchen ein paarmal kräftig auf das Bild. Der Wolf schien das gewohnt zu sein, er trug schon deutliche Spuren früherer Züchtigungen. Dann schien dem Kind etwas anderes einzufallen; es sah Hanna forschend an.

„Is eine Chijäne auch bös?“ fragte es.

„O, noch viel böser. Die frißt alle Leute auf.“

„So? Alle? Dich auch?“

„Freilich. Das ist doch garstig von ihr, was?“

„Mich auch?“ fragte Heidi sehr nachdenklich weiter.

„Ich glaube, ich glaube, wenn eine herkäme, dann fräße sie am Ende gar auch unser Heidibubi auf. So bös ist sie. Aber wir lassen sie nicht herein.“

Ein paar Augenblicke stand der Kleine ganz beklommen da; mit seinen erstaunten, ernsthaften Augen sah er unverwandt in Hannas Gesicht. Endlich atmete er tief auf. „Wenn nu aber mal eine Chijäne kommt, die mich lieb hat?“

„Ja dann!“ rief Hanna, entzückt und hingerissen von der rührenden Logik dieser Frage. „Dann thut sie dir nichts, du lieber, kleiner Kerl!“

Sie hob ihn, der sich nicht mehr sträubte und nur eifrig das Buch festhielt, auf ihren Schoß und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.

Jetzt kam Helene mit ihrem Jüngsten herein.

„Aha,“ sagte sie erfreut, „schon wieder alles in Ordnung?“

„Er läßt sich wenigstens lieben,“ antwortete Hanna mit einem nochmaligen Kuß auf Heidis Stirn. Sacht ließ sie ihn dann zu Boden gleiten, während sie aufstand. „Seine Gegenwart verbietet mir, zu sagen, was ich von ihm denke,“ fügte sie, eine neue Rührung niederzwingend, heiter lächelnd hinzu. „Also da hätten wir ja die kleine Durchlaucht. Mein Gott, was ist das wieder für ein Riesenkind! Das will erst acht Monate alt sein? Unglaublich!“

„Ja, er steht seinen Mann,“ sagte Helene strahlend. Sie drückte ihren prachtvollen, blühenden Riesenjungen, der vor Lebensfreude mit Armen und Beinen hampelte, fest an sich. „Und was das schönste von allem ist, was meinst du, was er bekommt? Was er ißt und trinkt? Nur mich!“

„Wieder? Wie bei Heidi?“

„Noch besser. Den ich werd' es noch länger können. Ich esse aber auch mit wahrer Todesverachtung meine greuliche Hafersuppe in mich hinein und trinke Porter wie ein alter Zecher. Gieb nur acht, wie ich ihm schmecke.“

Sie hatte sich mittlerweile auf den niedrigen Stuhl gesetzt und einen andern für die Freundin ganz nahe herangezogen.

36.

„Ja, ja,“ sagte Hanna leise. Sie saß, den Arm um Heidi geschlungen, der, an ihr Knie gelehnt, tiefsinnig dem Brüderchen zusah, wie es sich da an seinem süßen Lebensquell wohlsein ließ. Sie saß und schaute auf dieses liebliche, sonnenbeschienene Bild von Mutter und Kind.

„Was ist dir?“ fragte Helene, erschrocken über das plötzlich von Thränen überströmte Gesicht der Freundin. „Verzeihe mir,“ sagte sie dann aber gleich sanft verstehend, demütig. Mit der freien Hand streichelte sie ihr den Arm. Am liebsten hätte sie sie ja um den Hals genommen und das arme Gesicht recht zärtlich geküßt. Aber Düttila war mit seiner Mahlzeit noch nicht fertig, er hätte eine solche Aenderung seines Programms jedenfalls sehr übel vermerkt. Die ungewohnte Zuschauerin kam seinen verwunderten, braunen Glanzaugen ohnehin schon merkwürdig genug vor. Auch Heidi ward aufs neue sehr beklommen zu Mute. Das Zittern, das er in Tante Hannas Arm fühlte, und daß sie, die mit einmal so arg zu weinen anfing, ihre Stirn an seinen Kopf lehnte, machte ihm bange. Er duckte sich und kroch aus der Umschlingung heraus. Fest an seine Mutter gelehnt, sah er zu, wie Tante Hanna ihr Taschentuch an die Augen drückte und sich zusammennahm. Das Wehweh schien vorbei zu gehen.

„Verzeih' mir, du Arme,“ wiederholte Helene leise.

„Was soll ich dir verzeihen?“ brachte Hanna mühsam heraus. Sie weinte nicht mehr; es lief aber ein nachträglicher, rüttelnder Schauder über sie hin.

„Ich möchte wirklich sagen, verzeih’ mir mein Glück. Zum wenigsten verzeih' mir, daß ich so vor dir damit geprahlt habe.“

„Wie sprichst du denn?“ wehrte Hanna mit einer matten Handbewegung; vornübergeneigt saß sie mit aufgestütztem Kopf, mit verdeckten Augen. „Rede nicht so. Du prahlst nicht. Du lebst Glück, warum sollte es da nicht sprechen? Ich vielmehr muß dich um Entschuldigung bitten wegen dieser kindischen Heulerei. Es ging so mit mir durch. Im allgemeinen bin [778] ich ein sehr gemäßigter Mensch. Aber dies – warum bin ich auch hergekommen Ich hab's ja im voraus gewußt, daß ich das nicht aushalte.“

„Aber liebes Herz!“ sagte Helene, lauter als bisher. Düttilas wegen hatte sie so lange mit gedämpfter Stimme gesprochen. Durchläuchting war auch sofort ganz Ohr; er stemmte die Füßchen an und drückte den Kopf ins Genick.

„Mmmmma –“ sagte er, um doch auch ein Wort mitzureden. Er war übrigens satt, sonst hätte er sich doch nicht so ganz ruhig unterbrechen lassen.

Helene, der das Herz vor Mitleid brannte, gab ihrem geliebten Dütt nur schnell einen Kuß auf sein milchfeuchtes Mäulchen. Dann nahm sie ihn, Heidi nach einem mitleidsvoll verstehenden Blick auf die Freundin loslassend, unter den Achseln auf ihrem Schoß in die Höhe und stand auf.

„Jetzt geht mein Ditzidatzi aber in seine Hürde und spielt mit dem lieben Ele, ja? Guck', da ist er schon.“ Sie drückte ihm den rotgesattelten tuchenen Elefanten in den Arm. „Und mein Heidi baut einen gräßlich hohen Turm und dann wirft er ihn um – plautz! – und dann fällt Mama vor Schreck an die Wand.“

„Hm, aber ganz furchtbar toll mußt du hinfallen.“

„Ganz furchtbar toll,“ versicherte Helene.

Düttila, in sein Gehege gesetzt, erwischte seinen grauen Freund, dem er beizeiten die Stoßzähne ausgebrochen hatte, am Rüssel und schlenkerte ihn daran hin und her, hieb auch mit ihm auf den überpolsterten Hürdenzaun.

„Mmmmm! Bummmm!“

Die Mama, die noch neben ihm knieen geblieben war, nickte ihm mit zärtlichem Lächeln zu; sie schaute dann aber schüchtern forschend zu Hanna hinüber. Die hatte den Kopf schon wieder aufgerichtet. Nur der Blick der trocknen, aber heißen Augen war noch irgendwo anders. Erst als Helene sich auf ihrem niedrigen Stuhl dicht neben sie kauerte und begann, ihr die im Schoß ruhenden eiskalten Hände zu streicheln, kehrte er mit einem leichten Zucken der Lider aus der öden Ferne, in die er sich verloren hatte, zurück.

„Wenn du dich einmal ganz aussprächest,“ sagte Helene, liebreich zuredend. „Ich glaube, du vergrübelst dich zu sehr. Fürchte nicht, ich würde dich nicht verstehen – weil ich glücklich bin.“

Es war hauptsächlich der gute, warme Ton dieser gedämpften Stimme, der Hanna wohlthat und für den sie der Freundin zu danken suchte, indem sie die streichelnde Hand in ihrer festhielt.

‚Aussprechen‘, dachte sie dann. ‚Daß Gott erbarm! Und verstehen? Du kleines Ding. Wie ginge das wohl zu?‘

„Ich danke dir,“ sagte sie leise. Und um die Eifrige nicht zu kränken: „So eigentlich auszusprechen giebt es da nichts, siehst du. Das bißchen, was da ist, hab' ich dir ja vorhin schon in Musik gesetzt. –“ Als Helene schwieg und vor sich niedersah, fuhr sie lebhafter fort: „Fühl’ du nur recht dein Glück. Jeden Tag, jede Stunde! Vergiß es nie. Was auf der Welt kann dir ernstlich wehthun, wenn die Zwei da gesund sind!“

„Was auf der Welt?“ wiederholte Helene mit tiefem Erröten. „Wenn Otto mich nicht mehr lieb hätte – oder mir stürbe. Ihn hab' ich doch auch lieb.“

„Sogar sehr, wie mir scheint,“ sagte Hanna, ihr sacht über die glühende Wange streichend. „Aber doch nur auch. Zu oberst stehen doch die Kinder.“

Helene schwieg einige Sekunden lang, verwirrt, beklommen. Daun erhob sie ihre blauen, feuchtgewordenen, rührend jungen Augen.

„Das mußt du nicht sagen, nur auch. Er nimmt den Kindern nichts, und sie nehmen ihm nichts. Das ist zweierlei Liebe. Beide stark. Um beide kann man bluten. So lieb, wie ich ihn habe – auch ohne die Kinder wäre ich namenlos glücklich mit ihm geworden.“

„Namenlos glücklich,“ sprach Hanna leise nach.

Sie wandte dann den Kopf zur Seite, preßte die Lippen zusammen. Unaussprechbare Fragen brannten ihr qualvoll auf der Zunge. Unaussprechbar und unlösbar. Unlösbar vor diesem Forum wenigstens. Diese Frau liebte ja ihren Mann. Von dem, was sie von ihrem Mann trennte, ahnte sie nichts. Es wäre eine Roheit gewesen, ihr davon zu sprechen. Es war überhaupt unmöglich, davon zu sprechen. Zu wem denn?

„Namenlos glücklich,“ wiederholte sie noch einmal, langsam mit dem düstern Blick zu Helene zurückkehrend. „Aber wenn du ihn verlörest, so oder so, und hättest die Kinder noch, so hättest du das Liebste und Köstlichste doch behalten, scheint mir.“

„Wenn er mir stürbe, so wäre ein Stück von meinem Herzen ab, trotz der Kinder.“

„Aber ohne die Kinder wäre dann vielleicht dein Herz ganz tot. Sie hielten dich am Leben fest, um ihretwillen müßtest du es lieben. Das ist's ja, was ich meine, siehst du. Wer Kinder. hat, kann nie ganz unglücklich werden. Sie entschädigen für alles. Auch wenn sie Sorgen machen. Sorge und Angst, auch wirklicher Kummer, so denk' ich mir, vertiefen die Liebe nur. Ist es nicht so? Sag' doch!“

„Ganz gewiß,“ entgegnete Helene, „das glaub' ich auch. Obwohl ich bisher nicht das eine, nicht das andre von ihnen erfahren habe. Ich meine, weder Sorge, noch Kummer.“

Eine Pause trat ein. Hanna starrte vor sich hin. In ihre Augen kam wieder ein heißer Glanz.

„Kennst du das,“ fragte sie halblaut, „daß einem derselbe Traum immer wieder kommt? Nicht jede Nacht, aber oft?“

„Nein,“ entgegnete Helene, „das könnt' ich nicht sagen.“

„Aber ich. Mir träumt, ich höre – –“ sie hielt inne mühsam atmend – – „mir träumt, ich höre zum erstenmal das kleine, kleine Stimmchen. Und von dieser unsinnigen Freude wach' ich auf – –“

Helene hob sich auf ihrem niedrigen Sitz in die Kniee und umschlang die Freundin fest mit beiden Armen.

„Du Aermste,“ murmelte sie erschüttert. Mit der Befangenheit und Scheu des unerfahrenen Gesunden sah sie ihr in das blasse Leidensgesicht: „Du Aermste,“ wiederholte sie mit erstickter Stimme.

Ein dröhnendes Gepolter und Gekrache – Heidis Turmeinsturz – unterbrach die dumpfe Stille.

Hanna fuhr erschrocken zusammen, aber Helene, mitten aus ihrer Ergriffenheit heraus, war sofort bei der Sache. Mit einem kleinen Schrei fiel sie erst rücklings gegen ihre Stuhllehne und dann gar noch – mit einiger Vorsicht – ganz vom Stuhl herunter.

Jubelnd kam Heidi angestürzt, um seiner furchtbar toll erschrockenen Mama auf die Beine zu helfen. Düttila kreischte hinter seinem Zaun vor allgemeiner Wonne. Das Zimmer war im Nu ganz erfüllt von Lachen Schreien und Lebensfreude.

Ueber Hanna kam diese plötzlich hereinbrechende heitere Luft wie ein erlösender unwiderstehlicher Zauber, wie eine mitreißende Musik. Sie lachte hell auf, so herzlich, wie sie seit langer Zeit nicht mehr hatte lachen können.

„Reizend ist das,“ sagte sie zu Helene, die, „ganz kaputt von diesem gräßlichen Bums, mühsam wieder auf ihrem Stuhl gelandet war und sich nun das verwirrte Haar glattstrich.

„Nicht wahr?“ sagte sie strahlend und sehr beglückt, als sie in Hannas gänzlich verwandeltes Gesicht sah. „Wir können es. Sie nahm Heidi beim Kopf und drückte ihn an sich. „Sag' mir, Bubi, bist du nun nicht mehr dumm? Kennst du nun die Tante Hanna wieder?“

„Hm,“ machte er nickend. „Nu kenn’ ich ihr wieder.“

„Und krieg' ich denn nun auch einen lieben Kuß von dir?“ fragte Hanna, sich zu ihm neigend. „Ganz von selbst?“

Zutraulich hielt er jetzt sein Kußmäulchen hin, schlang auch kräftig die Arme um Hannas Nacken, als sie ihn auf den Schoß hob. Er hatte es dann aber doch ziemlich eilig, wieder zu seinen Spielsachen zu kommen. Helene war indessen auf einige Minuten mit Durchläuchting zwecks notwendiger Kammerverhandlungen im Schlafzimmer verschwunden.

„Weißt du, du könntest mir den Schnitt von Heidis Schürze geben,“ sagte Hanna, als Mutter und Kind zurückkamen. „Sie scheint mir höchst zweckmäßig. Ich brauche so etwas für eine ganze Reihe von kleinen Gesellen aus meiner Keller- und Dachstubenpraxis. Mit den Zurüstungen für Weihnachten kann man nicht früh genug anfangen.“

[779] „Gern,“ sagte Helene, erfreut, daß Hanna sich wieder so hübsch beisammen hatte. „Du kannst ihn mitbekommen. ich hab' ihn hier in meiner Schneiderschieblade. Komm, wir setzen uns da an das Fenster.“ Und nach einem kleinen Zögern: „Ich hüte nämlich die Kinder immer selbst, sonst würde ich dich in das andere Zimmer führen. Aber zudem hat das Mädchen auch draußen zu thun mit Abwaschen –“

„Was auch ganz das Richtige ist,“ unterbrach Hanna. „Sie gehört zu ihren Kochtöpfen, du zu deinen Kindern. Sei unbesorgt, heute mach' ich dir keine Scene mehr.“

Helene, in der Furcht, durch ein wenn auch noch so gut gemeintes Wort zu verletzen streichelte die Freundin nur sacht an Wange und Kinn. Am Fenster saßen sie dann so, daß Helene den freien Blick auf das Schlachtfeld behielt. Ihre zärtlichen Augen wanderten fast beständig zwischen Hanna und den Kindern hin und her; die Näherei lag meistens im Schoß.

„Du hast wohl ganz viele Weihnachtstische zu bedenken?“

„O ja. Kinder giebt es dies Jahr einundvierzig.“

„Gott bewahre!“

„Nun, auf neunzehn Familien verteilt, ist es noch nicht einmal so arg. Freilich ungleich genug verteilt. Heidis Schürze wird mir bei neun oder zehn von meinen kleinen Spatzen zugute kommen.“

„Ich finde es so hübsch, wie du das alles machst und dir sorgfältig ausdenkst. Sie müssen dich ja schrecklich lieb haben deine armen Leute! Wenn ich nur mehr Zeit hätte, ich käme gar zu gern einmal mit auf so einen Besuch. Bringst du deine Weihnachtsbescherungen denn direkt in das Haus zu jedem einzelnen?“

„Nein, das wäre doch zu weitläufig. Ich habe mir von Ludwig ausgewirkt, daß sie einmal im Jahr zu mir, also in das Haus kommen dürfen. eben zu Weihnachten. Im Billardzimmer bescher’ ich ihnen. In dem Zimmer, in dem meine Mutter gestorben ist. Damit doch von Zeit zu Zeit etwas wie Liebe hineinkommt. Auch Freude, an der sie Freude gehabt hätte. Und Tannenduft, Weihnachtsduft, den sie so sehr liebte! Ich lasse den Baum immer noch ein paar Tage stehen, nachdem er geplündert worden ist. Und ich stecke Zweige in alle Gardinen und in jeden Winkel, hinter die Bilder und wo es nur irgend geht. Ein Weilchen bleibt der liebe Duft noch so haften – dann – –“

Mit heiser werdender Stimme brach sie ab. Auch Helene blieb stumm, sie beugte sich nur vor, um Hanna wieder zärtlich zu streicheln. Diesmal half kein Poltern über die Stille hinweg. Beide Kinder waren ausnahmsweise lautlos beschäftigt. Heidibubi hockte knieend vor seinem aufgeschlagenen Bilderbuch auf der Erde und betrachtete tiefsinnig den Wolf, der eine Chijäne hatte sein sollen, und Düttila bohrte seinen dicken, kleinen Zeigefinger so tief er konnte in das zackige Loch am Bauch seiner Gummimütze, der der große Bruder heute morgen die Quietschflöte ausgerissen hatte.

Hanna war es dann selbst, die der beklommenen Pause ein Ende machte. Sie zog die Uhr.

„In zehn Minuten etwa muß ich gehen.“

„O, wie schade. Es kann noch keine Stunde her sein, daß du gekommen bist. Ich wage freilich nicht, dir zuzureden; du bist ja nicht dein eigener Herr. Und Unpünktlichkeit verträgt kein Mann, auch meiner nicht! Aber Liebchen! Das versprich mir, daß du bald wiederkommst. Nicht erst nächstes Jahr.“

„So lange will ich gewiß nicht wieder warten, das kann ich dir ja wohl versprechen. Aber du mußt viel Nachsicht mit mir haben. Im Augenblick ist mir es ja, als käme ich gern bald wieder. Ich weiß aber nicht, wie lange das dauert. Als ich herkam, dacht’ ich. „Wäre es schon überstanden! Du bist mir nicht bös darum? Du verstehst’s?“

„Alles,“ sagte Helene weich. „Aber halte das Gefühl fest, das jetzt in dir ist. Es ist ganz gewiß gesund. Und – weißt du was? Nächste Woche schreib’ ich dir eine Zeile, um dich zu erinnern, und du antwortest mir dann: „Ja, morgen!“

Nächste Woche! Du lieber Gott! Für die nächsten fünf, sechs Wochen bin ich völlig dingfest gemacht und kann mich keinen Fußbreit selbständig rühren. Darum kam ich ja noch geschwind vorher zu dir. Uebermorgen kommen die Breslauer. Die Schwester meines Mannes, weißt du, mit beiden Töchtern und beiden Schwiegersöhnen, dem ganzen und dem halben. Das Brautpaar will die Ausstattung von A bis Z hier besorgen. Als wenn sie in Breslau auf dem Dorfe lebten. Natürlich muß Linchen auch mit dabei sein.“

„Das ist die Aelteste, schon Verheiratete?“

„Ja. Und da Linchen nicht ohne ihren Männe leben kann, kommt Männe auch mit. Der Schwiegervater und Chef hat ihn beurlaubt; ich glaube, er ist leicht zu entbehren. Seine Haupteigenschaft ist, daß er viel Geld in das Geschäft gebracht hat. Das giebt nun eine Zeit der Unruhe, der Regellosigkeit, der Abhetzung, vor der mir graut. Denn außer den Besorgungen, die endlos sein werden – Evchen ist schwer zu befriedigen – wird ein Amüsement das andere ablösen. Jeden Tag muß etwas ,los’ sein. Jeden Abend mehreres. Aus dem Theater in das Restaurant, aus dem Restaurant in das Cafe! Die halbe Nacht ist weg, ehe man sich umsieht. Morgens steht dann das Frühstück bis Elf auf dem Tisch. Tropfenweis kommen sie an, wie es ihnen paßt. Von Gemeinschaftlichkeit ist keine Rede. Ganz wie in einem Hotel. Und der eine trinkt Kaffee, der andere Kakao, der dritte Thee, der vierte Weinschokolade. Linchen frühstückt überhaupt im Bett. Der eine will die Eier hart, der andere weich. Der eine das Beefsteak durchgebraten, der andere blutig. Der eine ißt nur rohen Schinken, der andere nur gekochten. Wenn ich meine brave Pauline nicht hätte, die durch nichts aus der Fassung zu bringen ist, ich wüßte nicht, wie ich mich durchfinden sollte. Ich glaube, im stillen bekreuzigen sich alle meine Leute.“

„Ist denn dein Mann mit dieser Unruhe und diesem rücksichtslosen Getreibe einverstanden?“

„Ach, weißt du – es ist seine Familie, da ist man immer nachsichtig. Und ich klage ihm ja auch nicht. Und dann hat er gern recht viel vor. Immer etwas Neues. Freilich, wie er es jetzt machen wird, bei seinen Diätvorschriften? Er wird sich kaum halten lassen.“

„Einen schweren Stand wirst du haben.“

„Nu, es wird schon vorübergehen. Alles geht vorüber. Ich werde dir es melden, wenn die Heuschrecken weg sind. – Und jetzt ist es hohe Zeit für mich. Leb’ wohl!“

Sie stand auf.

„Also wirklich, auf baldiges Wiedersehen?“

„Ja doch, du Kind. – Ade, Heidi, mein Herzblatt. Einen Kuß. Noch einen. Zum Abschied gieb mir auch einmal den Paul auf den Arm. Komm, du entzückender Schatz!“

Sie küßte ihn mit einer Zärtlichkeit, die schon wieder vom Schauen des Leides verdunkelt war. Das süße, warme Körperchen des kleinen Kindes an sich zu fühlen, that ihr wohl und weh zugleich.

„Wie unsinnig glücklich mußt du sein,“ sagte sie ganz leise, mit den Lippen die braunen Löckchen streifend, die traurigen Augen zu Helene erhoben.

Die atmete beklommen. Was durfte sie der Einsamen darauf antworten? Sie begann sich wahrhaftig vor diesen seelenkranken Blicken zu ängstigen. Düttila half ihr aus der Not. Er hatte genug von der Geschichte, er wollte zu Mama, er streckte sein Händchen aus und machte ein bedenkliches Schüppchen mit der kleinen Unterlippe.

„Komm, Dicker,“ sagte sie schnell, ihn zu sich nehmend. „Du wirst uns doch nicht zu guter Letzt noch etwas vorsingen? Das wäre!“

Sie setzte ihn aber geschwind in seine Hürde, denn Hanna war schon aus dem Zimmer. Jählings war die schmerzhafte Unruhe der Angst über sie gekommen, der Angst vor sich selber. Sie fühlte, ihre Fassung war wieder hin. Sie begriff nicht mehr, daß sie vorhin fröhlich hatte lachen können. Sie war aufs neue wund, über und über.

Ihr Abschied glich einer Flucht. Auf Helenens Ruf über das Treppengeländer hinunter: „Also bald wieder, du!“ antwortete sie nicht mehr.

[789]
37.

War deinem Mann wirklich so schlecht?“

„Nun, ich denke, das hast du wohl sehen können, liebe Selma.“

„Gefröstelt hat ihn, einen Schnupfen wird er kriegen, darum braucht er doch nicht gleich vom Essen aufzustehen.“

„Ich wollt’, er hätte sich gar nicht erst zu Tische gesetzt. Es war ihm schon vorher nicht ganz wohl, es hat ihn schon vorher gefröstelt. Das eben war ein regelrechter Schüttelfrost.“

„Warum nicht gar.“

„August hilft ihm jetzt, sich niederlegen, in der Zeit telephoniere ich mit Meinhardt und gehe dann wieder zu ihm. Laßt euch, bitte, nur nicht stören. Es wird weiter serviert.“

„Iß du doch auch erst fertig. Das ist ja eine Ungemütlichkeit! Helfen kannst du ihm doch nicht. Es wird ja auch nichts sein.“

Was es ist, muß sich ja bald herausstellen: jedenfalls ein ernstes Unwohlsein. Ich bitte wirklich, mich ganz zu entschuldigen, ihr seid ja hier zu Hause.“

„So laß sie doch gehen, Mama. Die Turteltauben können eben nicht ein Stündchen von einander getrennt sein.

Linchen bekam von Männe einen Klaps auf die Hand. „Sei nicht so boshaft, Katzel.“

Hanna war schon draußen. Das letzte hatte sie nur noch undeutlich gehört. Es war ihr auch einerlei. An die kleinen mehr oder minder gut gezielten Teufeleien ihrer hübschen unartigen Nichten war sie schon gewöhnt; sie trafen daher auch meistens daneben.

Nach einer eiligen Verständigung mit dem Sanitätsrat begab sie sich in das Schlafzimmer zurück, wo sie ihren Mann schon tief in seine Kissen geborgen vorfand. August wollte eben zur Thür hinaus.

„Sorgen Sie, daß bei Tische nichts fehlt,“ rief ihm Hanna gedämpft nach. „Luise soll Sie vertreten; allein wird Henriette nicht fertig. Halten Sie sich dann hier oben zur Verfügung.“

„Sehr wohl, gnädige Frau.“

Sie trat an Ludwigs Bett und erschrak aufs neue über die gräuliche Blässe und die tiefen Wangenfurchen, die in so kurzer Frist das blühende Gesicht verwundet hatten. Er lag mit geschlossenen Augen, der Frost schüttelte ihn noch immer; seine Zähne schlugen hörbar aufeinander.

„Dir ist entsetzlich kalt, nicht wahr,“ sagte sie halblaut in scheuem Mitleid, sich über ihn beugend. Du wirst auch so nicht warm werden. Soll ich dir nicht eine Wärmflasche besorgen?“

„Wird schon besorgt,“ murmelte er, ohne die Augen zu öffnen; die zitternden bleichen Lippen verziehend; „denkst du, ich warte auf deine Erlaubnis.“

„So, das ist ja gut,“ sagte sie ernst.“ Aber wir können noch etwas über dich decken.“ Schnell holte sie von der Chaiselongue in ihrem Ankleidezimmer die große hellgraue russische Pelzdecke und breitete sie sorglich über den Kranken, hüllte ihm die Schultern damit ein, schob sie ihm unter das Genick. Er ließ sie wortlos gewähren, schmiegte nur schauernd das Gesicht in das warmem flockige Fell.

Überraschend geschwind kam August zurück. Er [790] hatte, umsichtig wie immer, von Hannas Zimmer aus durch das Haustelephon in der Küche die Zubereitung der Wärmflasche bestellt und sie schon im Aufzug vorgefunden, als er aus dem Anrichteraum, wo er den beiden Mädchen Anweisungen gegeben hatte, in den oberen Stock zurückgekehrt war.

„Die Herrschaften essen?“ fragte Hanna ihn leise, nachdem er seinen Herrn besorgt hatte.

„Die Herrschaften essen und sind sehr munter. Auf halb Fünf haben Frau Bankdirektor den Wagen bestellt, um Besorgungen zu machen. Auf Sechs den Thee. Wegen dem Theater lassen Frau Bankdirektor fragen, ob die gnädige Frau – –“

„Selbstverständlich bleibe ich zu Hause. Ich lasse die Herrschaften bitten, sich heute gar nicht um mich zu kümmern. Vielleicht ist der Herr morgen wieder gesund.“

Ein dumpfer Laut des Kranken rief sie an sein Bett.

„Quatsche nicht so endlos. Schick’ den Kerl raus.“

„Er ist schon fort“ beruhigte Hanna mit einem Wink nach dem Diener, der im nächsten Augenblick die Thür von draußen schloß.

„Das fehlte gerade noch, daß du dich amüsieren gingest, während ich hier krank liege,“ fuhr Ludwig fort. Er hatte die Augen geöffnet, in dem ungewohnt bleichen Gesicht glühten sie tiefer als sonst. Böse sah er sie an.

„Eben, das find' ich auch,“ entgegnete Hanna ruhig, mit einem leichten Lächeln. „Selmas Anfrage ist ziemlich naiv.“

„Naiv!“ er ruckte ungeduldig mit dem Kopf. „Ich hätte nur nicht dabei gewesen sein sollen als sie anfragen ließ – – rutsch, hättest du dich gedrückt, aber schleunigst, auf französisch. Kenn’ euch doch, ihr Weiber, vergnügungssüchtige.“

„Reg’ dich nicht auf, Ludwig,“ bat Hanna, sich über ihn beugend.

„Ich rege mich nicht auf. Du regst mich auf.“

„So soll ich dich lieber allein lassen?“

„Nein, hier bleibst du und widersprichst mir nicht in einem fort. – Setz’ dich, steh’ nicht so über mir wie eine Gewitterwolke, das ängstigt mich. Nicht da auf den Stuhl, da kann ich dich nicht ordentlich sehen. Hierher, auf den Bettrand.“

Mit unklarer, wankender Stimme hatte er immer schneller gesprochen. Jetzt drückte er das Gesicht wieder in die Kissen. „Verfluchte Welt!“ stöhnte er.

Der Frost schien überstanden zu sein, das schüttelnde Zittern wenigstens ließ nach, hörte endlich ganz auf. Eine Weile blieb es still im Zimmer, bis auf die tiefen, lauten Atemzüge des Kranken.

„Wie fühlst du dich?“ fragte Hanna ängstlich nach dieser langen Pause, mit einem Blick in sein Gesicht, das unruhig, gequält aussah, bleich, aber nicht mehr von der ersten, grünlichen Blässe.

„Scheußlich. Gemein Zerschlagen. Als wenn ich vom Kirchturm heruntergefallen wäre und mir alle Glieder gebrochen hätte.“

„Aber das Frieren ist doch vorbei?“

„Natürlich ist es vorbei. Das siehst du doch. Warm wird mir jetzt. Geradezu heiß. Nimm das glühende Scheusal da heraus, man verbrennt sich ja daran. Vor die Thür damit, ich will es nicht mehr im Zimmer haben, es glüht mich von da drüben her noch an! Setz’ dich wieder. Sachte! Wenn das Bett sich rührt, spür’ ich es in allen Gelenken. Was drückt mich da im Rücken? Teufel, ich kann ja kaum die Arme heben. Deine verdammte Pelzdecke ist es. Einen förmlichen dicken Klumpen hast du da hingestopft. Ungeschickt!“

„Wart’, wart’, ich mach' es besser; lieg' still, ich schiebe sie dir ganz sacht darunter. So?“

„Nichts! Nimm sie ganz weg, sie ist zu schwer, sie liegt mir ja wie ein Berg auf der Brust. Ueberhaupt Pelz, dies Gefühl auf der Haut! Brand!“

Als Meinhardt kam, war das Fieber schon sehr stark. Das Thermometer zeigte 39 und 8. Die Untersuchung dauerte nicht lange.

„Influenza, und zwar gehörig,“ sagte der alte Herr nachdem er sich mit Hanna in das anstoßende Zimmer zurückgezogen hatte. „Gliederweh und Kopfschmerz werden noch zunehmen. Wir wollen ihm Antipyrin geben.“

„Er klagt doch auch über Schmerzen in der Brust“

„Was er so nennt, ist vorläufig nur die starke Empfindlichkeit am Schwertfortsatz, eines der entscheidenden Merkmale der Influenza. Auch das wird das Antipyrin hoffentlich mildern. Leider darf ich die Dosis seiner dummen Herzgeschichte wegen nicht so kräftig geben, wie ich möchte.“

„Er leidet sehr, nicht wahr? Hören Sie, wie er stöhnt!“

„Er leidet, ja und ganz tüchtig. Stöhnen thun wir Männer nun zwar bald, eher als ihr zarten Frauen. Aber immerhin – die Influenza ist wirklich ein niederträchtiger Tückebold, packt an allen Enden zugleich an.“

„Ist Ludwigs Zustand gefährlich, Doktor? „Für den Augenblick nicht. Aber freilich auch nicht gleichgültig. Sehr quälend und unangenehm ist er jedenfalls. Das starke Fieber und die dazugehörigen Teufeleien werfen sich auf so eine Kraftnatur mit besonderer Vehemenz. Für die nächsten Tage wappnen Sie sich nur mit Geduld, meine liebe, gnädige Frau.“

„An meiner Geduld soll es schon nicht fehlen. Wenn ich nur nicht auch gleichzeitig noch das ganze Haus voll Besuch hätte. Vor acht Tagen erst sind sie gekommen – unsere Breslauer – und sechs Wochen ungefähr wollten sie bleiben.“

„Das ist fatal. Sie müssen sie hinausgraulen!“

„Wie kann ich das?“

„Einfach. Sie erzählen ihnen, daß Ihr Mann Influenza hat – und Sie werden sehen, wie geschwind die Leutchen Fersengeld geben.“

„Das bezweifle ich. Die Schwester wird den Bruder pflegen helfen wollen. Sie hat zwar erst gespottet, daß er sich anstelle, aber wenn sie hört, daß es ernst ist –“

„Macht sie sich mit Kind und Kegel aus dem Staube, verlassen Sie sich darauf.“

„Nicht so fest, lieber Doktor. Selma hat den Bruder gern, wenn sie sich auch oft streiten, das liegt so in der Natur der Thomasse. Ich werde noch Not haben, meinen Platz zu behaupten.“

„Warten wir es nur ab. – Ich komme abends natürlich noch heran. Jetzt haben wir – wieviel? – gleich Sechs. Um Sieben Temperatur messen, ja? Antipyrin also vorläufig ein Gramm. Machen Sie ihm kalte Kompressen auf die Stirn. Verträgt er einen Eisbeutel – geben Sie ihn ihm. Hat er Durst – leichte Citronenlimonade. Essen wird er nicht wollen. Nun sag' ich ihm Adieu, er möchte es übelnehmen, wenn ich hinten herum davonginge.“

Meinhardts Prophezeiung traf pünktlich ein.

„Influenza?“ rief Frau Selma erschrocken, als Hanna mit dieser Botschaft das Plaudergeschwirr am Theetisch unterbrach. Das junge Volk – es waren noch zwei Freundinnen da – flog auf wie ein Schwarm Tauben.

„Schlimm?“ fragte die Mama, indem sie sich gleichfalls erhob.

„Schlimm genug, denn er hat böse Schmerzen, der Arme, und sehr hohes Fieber.“

„Und du kommst direkt von ihm? Hierher? Aber Hanna!“

„Ja, wie denn sonst? Ich gehe auch gleich wieder hinaus. Ich wollte euch nur selber sagen, wie es steht.

„Aber Hanna! Wie kannst du uns alle so der Gefahr der Ansteckung aussetzen! Das ist wirklich nicht sehr rücksichtsvoll. Und nach einem Blick in Hannas Augen, die mit unbehaglicher Hellsichtigkeit auf ihr ruhten, fügte sie hastig hinzu. „Mir, als Familienmutter, darfst du diese Besorgnis nicht übelnehmen –“

„Die Influenza soll hier gerade jetzt recht bösartig auftreten, mischte sich Männe in das Gespräch.

„Hat es den Onkel arg erwischt?“ fragte Evchen vom andern Ende des Zimmers her.

„Es ist ein sehr heftiger Anfall.“

Langsam ging Hanna der Thür zu, durch die sie hereingekommen war. Und nach ihrer Schwägerin zurückgewendet. „Ludwig hat nach dir gefragt, aber ich halte es für besser, wenn du dich ganz fern von ihm hältst.“

[791] „Aber selbstverständlich!“ Frau Eggebrecht machte eine erschrocken abwehrende Bewegung.

Linchen hatte indessen eifrig mit Männe geflüstert.

„Was uns beide betrifft,“ sagte sie nun hastig, „wir wandern aus. Ich fürchte mich entsetzlich vor Ansteckung. Ich könnte die ganze Nacht kein Auge zuthun. Ich würde sicher krank, wenn ich hier im Hause bliebe, und dazu bin ich denn doch nicht hergekommen. Thu du, was du verantworten kannst, Mama, – ich ziehe mit Männe in das Palasthotel.“

„O Gott, Mama,“ sagte Evchen weinerlich. „Und wenn ich es nun kriege!“

Frau Eggebrecht gab sich einen kleinen Ruck.

„Du siehst, liebe Hanna“, sagte sie in einem Ton, der aus Verlegenheit und Würde gemischt war, „ich bin in diesem Augenblick nicht mein eigener Herr. Wäre ich allein hier, so hielte mich nichts zurück, mich in die Pflege des Bruders mit dir zu teilen. Als Mutter habe ich andere Pflichten. Und schließlich – wenn ich mir es recht überlege, so thun wir dir eigentlich nur einen Gefallen, wenn wir dich vorläufig von unserer Gegenwart befreien – –“

„Wenn ich ehrlich sein soll, ja,“ sagte Hanna mit einem Lächeln, das Evchen noch nachträglich als frivol und herzlos erklärte. „Ich könnte in den nächsten Tagen nur eine sehr schlechte Wirtin sein und müßte eure Verpflegung ganz dem Wohlwollen der Dienstleute überlassen. So wäre es also schon besser für alle Teile, wenn wir uns erst nach Ludwigs Genesung wieder vereinigten.“

38.

Noch bevor Meinhardt abends zum zweitenmal erschienen war, hatte die Einquartierung mit Sack und Pack die Festung geräumt.

Vom Theater aus siedelten die Herrschaften gleich ins Palasthotel über, von wo aus man sich ja so und so oft am Tage telephonisch unterhalten konnte. Das war eine große Beruhigung für Frau Selma, die sich ja „natürlich“ nur der Kinder wegen zu dieser Fahnenflucht entschlossen hatte. So wie sie am andern Morgen nur die Augen offen habe, werde sie anklingeln.

Daß dies erst gegen Mittag geschah, war Schuld der Migräne, die sie der Sorge um den Bruder verdankte und die ihnen zum Schrecken aller zuerst als die schon vollzogene Ansteckung erschienen war. Zum Glück hatte sich diese Befürchtung als grundlos erwiesen, und nach einem Dutzend Austern und einigen Gläsern Sekt – –

August, der am Telephon stand, grinste lautlos. „Das wird die gnädige Frau sehr beruhigen. Gnädige Frau lassen sich bei Frau Bankdirektor entschuldigen, daß sie nicht selbst an den Apparat kommen, aber gnädige Frau können den Herrn nicht allein lassen – jawohl – – die Nacht war sehr unruhig – – nein, gnädige Frau sind überhaupt nicht zu Bett gegangen – – der Herr fühlt sich sehr schlecht – – große Schmerzen, ja – – der Sanitätsrat sind sehr besorgt wegen der Lungenentzündung, das Fieber will nicht nachlassen, und die Medizin verträgt der Herr nicht – – jawohl, gestern abend noch einmal, und heute ganz früh, und in einer halben Stunde werden Herr Sanitätsrat wieder erwartet – – gewiß, gnädige Frau wird sofort wieder melden lassen.“ – „Besten Dank.“ „Bitte sehr.“

Wahres Glück, daß dir deine Austern doch geschmeckt haben, brummte August vor ich hin, indem er abläutete und den Hörer anhängte.

Mit seinen langen, leisen Zweistufenschritten begab er sich dann wieder hinauf, um neben dem Krankenzimmer für jeden Ruf bereit zu sein. Thomas duldete ihn nur widerwillig in seiner Nähe, er wollte niemand als seine Frau um sich haben.

Jetzt lag er mit zurückgeworfenem Kopf und halbgeöffnetem Mund in einem leichten Fieberschlummer, dem ersten seit Ausbruch der Krankheit, also seit beinahe vierundzwanzig Stunden. Zum erstenmal auch hatte sich Hanna ordentlich neben ihm niedersetzen können, um auszuruhen. Sie war bis dahin nicht von ihrem angewiesenen Posten auf seinem Bettrand gewichen. Nun schmiegte sie den müden, schmerzenden Rücken an die Sessellehne. Leise wagte sich der verscheuchte Schlaf aus dem Winkel und breitete lächelnd seine Schwingen auch über ihre wachsamen Augen. Die Lider wurden ihr immer schwerer, der Kopf sank zur Seite. Wie durch einen Nebel sah sie Ludwigs entstelltes, gequältes Fiebergesicht, seine machtlos ausgestreckte, von einem unsichtbaren Feind gefällte Kraftgestalt, hörte sein hastiges, lautes Atmen. Sie wußte noch: Er schläft, das wird ihm gut thun nach dieser entsetzlichen Nacht, nach dieser Ruhelosigkeit, diesen Schmerzen. Wenn er aufwacht, wird ihm besser zu Mut sein.

Dann schlief sie schon selbst. Traumlos, bleiern, erschöpft, nur zu leicht erschöpfbar.

Stimmengeräusch weckte sie, sie zuckte zusammen und richtete sich auf. Niemand war da. Der Kranke lag unverändert, aber mit einem neuen, fremden Ausdruck von Angst in den Zügen. Die geschlossenen Augenlider zuckten. Hatte er im Schlaf gesprochen? nach ihr gerufen?

Ganz plötzlich überkam sie ein schauerliches, eiskaltes Furchtgefühl, als ob jemand hier im Zimmer gewesen wäre, derweil sie geschlafen hatte, und etwas Böses, Feindliches gethan hätte. Jemand – – wer denn? Das Märchen von Andersen fiel ihr ein, das von der „Geschichte einer Mutter,“ wie sie da am Bett ihres kranken Kindes sitzt und von Müdigkeit überwältigt einschläft und der Tod hereinkommt und das Kind mitnimmt in das unbekannte Land – –

Sie strich mit der zitternden Hand über die Stirn. Wenn ihr am ersten Tage der Krankheit ihre Nerven schon solche Streiche spielten, wie sollte das dann im Verlauf noch werden? Sie mußte sich unbedingt zusammennehmen. Nur das Frösteln nach diesem kurzen Erschöpfungsschlaf, aus dem sie aufgefahren war, hatte ihr das peinliche Schreckgefühl verursacht. Weiter war es nichts. Und Ludwig hatte im Traum gesprochen. Jetzt bewegte er wieder die Lippen, flüsterte, murmelte unverständliche Worte. Schwerfällig hob sich die eine Hand und griff tastend um sich her. Hanna erfaßte sie, sofort schlossen sich die glühenden Finger wie Klammern um die ihren und blieben dann auf der Bettdecke ruhen, als ob sie gefunden hätten, was sie suchten. Auch das Flüstern und Murmeln hörte auf. Lauter, hastiger und angstvoller klangen dafür die kurzen Atemzüge.

Nach einem Weilchen öffnete er plötzlich die Augen.

„Du –“ sagte er rauh, geradeaus ins Leere starrend.

„Hier bin ich.“ Hanna rührte sacht ihre in seiner Hand gefangenen Finger, sie beugte sich auch vor, damit er sie sehen könne.

„Hat der Schlaf dir gut gethan?“

„Was denn?“ Er wandte langsam den Kopf zu ihr. Das Atmen schien ihm Mühe zu machen, mehr als vorher, er sprach in kurzen Absätzen. „Ich habe ja – gar nicht geschlafen.“

„Nicht? Ich dachte,“ sagte sie nachgiebig. „Du lagst so schön ruhig, und hattest die Augen zu.“

„Ich – dämmerte nur. – Hab’ alles gehört.“

Hanna lächelte. „Viel Lärm kann ich nicht gemacht haben. Ich war nämlich selbst ein bißchen eingenickt.“

„Also – wie kannst du behaupten – daß ich – geschlafen hätte?“

„Es schien mir so, und weil es mir so schien, machte ich auch die Augen zu. Aber sprich lieber nicht, es strengt dich an. Trink’ lieber einen Schluck. Der Mund ist dir gewiß trocken. Komm’.“

Von ihr unterstützt, richtete er sich mühsam auf. Sie hielt ihm das Glas an die Lippen, das er gierig leerte. Stöhnend preßte er dann die Faust an die Seite.

„Schmerzen – hab' ich hier! – Jeder Atemzug ist – Qual – Zu wenig Luft überhaupt – –“

Hanna schlang den Arm um seinen Nacken und ließ ihn, dicht neben ihm auf den Bettrand sitzend, sich an sie lehnen. Sie fühlte seine brennende Stirn an ihrer Wange; von seinem stoßweisen Atmen wurde ihr Körper leise mitbewegt.

„So ganz aufrecht ist dir leichter, nicht?“ sagte sie sanft, seine Hand streichelnd und die geballten Finger langsam [792] lösend. In ihrem Herzen war jetzt nur eine Empfindung: großes Mitleid. Er war sehr krank. Das mütterliche Gefühl der Pflegerin dem Schwachen gegenüber hüllte alle Scheu in weiche Schleier.

„Nach was siehst du so aufmerksam?“ fragte sie, weil er den Kopf zur Seite niederbeugte.

Als er ihre weichen kühlen Finger mit dieser liebkosenden Bewegung auf seiner Faust gespürt hatte, war er leicht zusammengezuckt. Auf ihre Frage antwortete er nicht. Er betrachtete nur unverwandt die beiden ungleichen Hände, die große bräunliche, die sich von der kleinen, zartweißen streicheln, glätten, bändigen, ausstrecken ließ.

„Merkwürdig,“ murmelte er endlich.

„Was ist merkwürdig?“ fragte Hanna.

Der Blick, mit dem er jetzt die fieberisch glühenden Augen zu ihr erhob, machte sie tief betroffen. Es war etwas Schmerzliches darin, aber ein Schmerz ohne Zorn, wie sie ihn noch nie in ihnen gesehen hatte.

„Wenn du das – heute kannst – –“ stieß er abgebrochen heraus, „warum – hast du's denn – nicht schon früher – gethan?“

Hanna konnte nicht antworten. Von heißer Röte übergossen saß sie da, wie gebannt durch die seltsame Trauer in diesem wohlbekannten und doch plötzlich so fremden Gesicht. Der Schauder des Widerwillens, mit dem seine körperliche Nähe sie bisher stets erschreckt hatte, war in diesem Augenblick verschwunden, geschmolzen unter dem Strom brennenden Mitleids, das ihre Seele ganz erfüllte. Jählings aufschießende Reue über doch Versäumtes, Unversuchtes machte sie zittern, ließ sie vergessen, was ihr an Unbill widerfahren war.

Sie neigte sich und küßte ihn auf den Mund.

Er schloß die Augen und lag ganz still – ohne daß er den Kuß erwidert hatte. Nur seine Hand schlang sich fest um die ihre. Sie fühlte den jagenden Puls darin. Nach einer Weile bewegte er leise den Kopf.

„Der erste,“ hauchte er.

Er schlug die Augen wieder auf, doch nicht zu ihr, mit demselben fremdartig traurigen Ausdruck, der sie schon so erschüttert hatte, sah er geradeaus zur Decke hinauf.

Sie drückte seine Hand fester, hob sie auf und schmiegte sie an ihre Wange. Er atmete ein paarmal mühsam. „Nie hast du mich von – selbst geküßt – bis heute –“

„Verzeih’ mir,“ bat sie mit kaum mehr beherrschter Stimme, heiße Thränen liefen ihr über das Gesicht. Sie küßte ihn rasch zweimal, dreimal auf die fieberglühenden, trocknen Lippen. Nun lächelte er sie an, aber auch in seinem Lächeln war ein fremder Zug.

„Thut dir leid, was? – Mir auch. –“ Er hustete einigemal kurz auf. – „Uebrigens anständig – von dir“, fuhr er heiser und gequält fort, „hast keine Angst vor … Ansteckung?“

„Ich fürchte mich vor nichts, Ludwig. Aber sprich nicht mehr, es thut dir Schaden.“

Er schüttelte den Kopf.

„Sollte dich – eigentlich – totküssen und mitnehmen. – Wäre mir – schon das – –“

Ein neuer Hustenanfall, trocken, hart, deckend, anhaltender als vorher, jagte ihm das Wort vom Munde weg. Ganz aufgerichtet, nach Luft ringend, die Brust von Schmerzen zerrissen, saß er in seinem Bett.

Meinhardt trat herein, er hatte nicht erst geklopft. Mit Hanna, die den Kranken im Rücken unterstützte, tauschte er einen ernsten Blick.

„Na, na,“ sagte er, als der Husten endlich schwieg und Ludwig ächzend zurücksank, „das klingt ja unliebenswürdig. Gut, daß wir es mit so einem famosen Brustkasten zu thun haben. Der hält schon gegen. Was sagt denn der Puls?- -- Hm. Ja. – Gemessen haben Sie wohl schon?“

„Gerade bevor er einschlief. Er hat übrigens kaum eine halbe Stunde geschlummert. 39 und 4. Schon wieder viel höher als morgens früh.“

„Dazu hat das Fieber heute noch das gute Recht. Haben Sie Phenacetin gegeben?“

„Er verträgt es ebensowenig wie das Antipyrin, lieber Doktor. Was thut man da nur?“

Ludwig machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. Hanna bemerkte es. „Was willst du?“ fragte sie. freundlich, sich über ihn beugend. „Du meinst, es ist dir widerlich?“

Er nickte. „Quacksalbereien“, brachte er mühsam heraus. „Nehme nichts mehr – machen Einem bloß übel“

Der Sanitätsrat, der den Eigensinn seines Patienten kannte, runzelte die Stirne.

„Es wäre mir lieb, wenn Sie doch noch einen Versuch machten. Vielleicht überlegen Sie sich es bis zum Abend. Ihre Temperatur herabzusetzen ist sehr nötig. Schmerzen werden Sie auch genug haben. Jetzt wollen wir Sie abhorchen. und dann eine Einwicklung machen.“

[805]
39.

Der frühe Herbstabend brach herein; aber ein milder, lieblicher Abend, der nicht an die Jahreszeit gemahnte. Die Sonne war hinab. Nur der letzte Nachglanz ihres Scheidegrußes schwebte in blaß rosig schimmernden, zerstreuten Wölkchen am durchsichtigen Himmel. Der leichte spielende Wind war schon eher als die Sonne schlafen gegangen, und in der Pracht ihres vielfarbig leuchtenden Sterbekleides standen Bäume und Büsche ohne Regung im verdämmernden Licht.

Von seinem Bett aus konnte Ludwig gerade die riesige alte Silberpappel sehen, um deren Stamm sich bis fast zum Wipfel hinauf die Ranken des jetzt schon blutrot verfärbten wilden Weines schlängen. Still, träumerisch, als hatten sie vergessen, wie rastlos sie tagsüber beim leisesten Windhauch auf ihren leichtbeweglichen Stielen silberschimmernd geflackert hatten, standen die Blätter der Baumkrone wie eine Federzeichnung von unnachahmlicher Feinheit vor dem dunkler und dunkler werdenden Himmelshintergrunde; verschwammen allmählich zu der leise niedersinkenden Nacht zu einem gestaltlosen Schattengebilde.

War er eingeschlafen?

Hanna, auf ihrem Sessel neben dem Bett, neigte sich vor; es war schon beinahe finster im Zimmer, doch um den Kranken nicht aufzustören, hatte sie schon minutenlang keine Bewegung mehr zu machen gewagt.

Nein, er wachte; wenigstens hatte er die Augen offen. Aber um sein fieberndes Hirn lag wohl dichter Nebel. Unverwandt schaute er auf dieselbe Stelle, schräg über das Bett hin zum Fenster hinaus. Doch sah er, ohne zu sehen. Von der nächtlichen Dämmerung wußte er wohl nichts. Durch Kissen und Polster unterstützt, lehnte er halbaufgerichtet, mit etwas zurückgesunkenem Kopf. Der Atem ging kurz, hastig, oberflächlich, zeitweilig von einzelnen rauhen Hustenstößen unterbrochen. Von der abendlichen Fiebermessung, die eine erschreckende Höhe zeigte, hatte er gar keine Notiz genommen, gar nicht mehr gefragt „Wieviel?“ wie er es die andern Male so eifrig gethan hatte.

„Es steht ernst um ihn,“ hatte Meinhardt gesagt. „Wir dürfen uns das nicht verhehlen. Ich gehe nur scheinbar fort, um ihn nicht aufzuregen. Ich bleibe für die Nacht im Hause.“

Nun wußte sie ihn im Nebenzimmer. Das war ein rechter Trost.

Ihr Herz war schwer von einer großen, angstvollen Traurigkeit. Unklare Gedanken, Hoffnungen, Wünsche drängten sich um sie, stiegen auf, sanken zusammen. Wie rankendes Schlinggewächs umklammerten sie die neu aufgeschossenen Selbstvorwürfe. Angesichts dieses Todkranken, dieses wehrlos niedergeworfenen wußte sie keine Anklage mehr, als die gegen ihre eigene Feigheit, keinen Vorwurf, als den gegen ihre Herzensblindheit. Etwas mehr als nur stumme Duldung, ein Schritt über die Grenze dumpfer, öder Ergebung hinaus – und manches zwischen ihnen beiden [806] wäre doch wohl noch anders geworden. Schrecklich, wie heiße, schwere Tropfen waren ihr die abgebrochenen Worte des Kranken auf das Herz gefallen. Etwas Böses gethan hatte sie nicht – das war es nicht, was sie peinigte –, aber etwas Gutes, Versöhnliches zu thun unterlassen. Nun war es zu spät. Die tiefe Bitterkeit dieser Erkenntnis kam ihr heute zum erstenmal. Sie fraß mit ihrer ätzenden Schärfe unheilbare Wunden. Zu spät! Nicht mehr gutmachen können! Nicht mehr einholen können. Versäumtes! Der da mit dem Tode rang – ja, er hatte ihr weh gethan, oftmals, ernstlich weh, er hatte ihr das Leben verbittert nach allen Kräften, nachdem er es an sich gerissen und mit dem seinigen verbunden hatte. Aber seine Hassesthaten waren aus unerwiderter, verwilderter Liebe entsprossen. Eine unheilvolle Saat! Warum wußte sie das erst heute so klar? Warum hatte sie nicht schon früher versucht, seine harte Faust zu lösen, zu glätten, statt sich nur vor ihr zu verkriechen? Mußte er erst machtlos in schweren Schmerzen liegen, um ihr keine Furcht mehr einzuflößen? Mußte erst der Tod in das Zimmer schleichen, derweil sie schlief, und die Hand auf seine Stirne legen und die zweite Schrift lebendig machen, einmal noch, vor dem endlichen Erlöschen – die zweite – nein, die erste, die untere Schrift, die sie niemals gesehen hatte? Zu spät! Fürchterliches Werk.

Hanna rang zitternd die Hände ineinander. Jetzt beten können! Wo war der Himmel ihrer gläubigen Kindheit geblieben? Töte ihn nicht, lieber Gott! Ich will es noch einmal versuchen ich will es besser machen! Töte ihn nicht! – Wenn er es hörte, wenn er noch da wäre, wo sie ihn früher – ach vor undenklicher Zeit! – so sicher gewußt hatte. Nicht beten können in schwerer Herzensnot! Nicht glauben können! Die Wüste. Die Finsternis!

Draußen rauschten die Bäume auf. Kam noch ein Nachtwind herüber? Durch die offenen Fenster wehte es frisch herein. Hanna schauerte zusammen. Vielleicht wurde es doch zu kühl. Gestern waren sie zur Nacht auch nur angelehnt geblieben.

Leise erhob sie sich. Aber das Hinstreifen ihres Kleides am Bettrand hatte den Träumenden doch geweckt. Er rührte sich in der fast völligen Dunkelheit sah sie undeutlich, daß er den Kopf zur Seite wendete.

„Was ist denn?“ fragte er leise, mit dünner, flachklingender Stimme.

„Ich will nur die Fenster ein bißchen mehr zumachen,“ antwortete sie, die gleich stehen geblieben war. „Es ist windig geworden.“

„Dunkel. – Seh’ dich nicht.“

„Ja, dunkel ist es, ich mach’ aber auch gleich Licht. Ich wollte dich nur nicht unnötig wecken.“

„Bleib’ da. – Geh’ nicht weg.“

„Ich bin im Augenblick wieder bei dir. aus dem Zimmer geh’ ich nicht, sei unbesorgt – Siehst du, da bin ich schon. Nun dreh’ ich nur hier an der Seite auf, da trifft die Helligkeit nicht in deine Augen.“

Sie entzündete die elektrische Lampe an der Wand, ein Bündel von vier blaßblauen Blumenkelchen.

War es die magische Beleuchtung, die sein Gesicht so veränderte? Aber sie kannte ja dieses Licht. Sie wußte, als sie sich jetzt über ihn beugte: Er stand zu Häupten. Er mit der Sense.

„Komm näher,“ sagte Ludwig mühsam. Er hob die Hand. „Bleib’ bei mir“

„Gewiß bleib’ ich bei dir. Ich rühre mich nicht mehr weg von dir. Verlaß dich darauf.“

Jetzt nur nichts mehr versäumen, schoß es durch sie hin wie eine Flamme. Jetzt nur alles, alles thun, was hier zu thun noch übrig bleibt.

„Du fühlst dich besser, nicht wahr?“ sagte sie, auf seinem Bettrand niedersitzend und seine Hand – wie sie glühte! – in ihre beiden nehmend. „Ich bin so froh, du hast schon beinahe eine halbe Stunde lang nicht gehustet; das ist ein schöner Fortschritt.“ Sie nickte ihm lächelnd zu.

Er erwiderte das Lächeln nicht. Nach ein paar gequälten Atemzügen sagte er tonlos: „Ich geh’ kaputt“.

„Was redest du da,“ verwies sie ihm freundlich vorwurfsvoll. „Wenn du nichts Gescheiteres zu sagen weißt, darfst du den Mund nicht mehr aufthun. Krank bist du, das ist sicher, tüchtig krank, aber vom Sterben ist keine Rede! Denk’ doch, bei deiner prachtvollen Natur. Du wirst der Krankheit Herr, da ist keine Not. Ein paar Tage Geduld, und du siehst schon ganz anders aus den Augen. Wart es nur ab.“

Er schüttelte schwach den Kopf. „Lüg’ nicht. – Ist ja Unsinn. – Der alte August lügt auch…. Gebt euch keine Mühe!“

Sie legte ihm sacht einen Finger auf den Mund.

„Schweig,“ sagte sie lächelnd. Erstens, weil du ungereimtes Zeug redest, und zweitens, weil du dich nicht anstrengen sollst. O weh, siehst du, da kommt der Husten und mahnt dich!“

Er mahnte streng. Stöhnend, bis zum Aeußersten erschöpft, lag der Kranke nach dem Anfall in seinen Kissen. Meinhardt war leise eingetreten.

„Er ist zu niedrig gebettet,“ sagte er jetzt gedämpft „Ich werde ihn heben, rücken Sie die Kissen.“

Ludwig öffnete die Augen und verzog das Gesicht; zu sprechen war ihm nicht möglich. Mit der halberhobenen Hand machte er eine unsicher flackernde Bewegung.

„Ich soll hinaus?“ fragte der alte Herr. „Zu Befehl, Majestät. Lassen Sie sich nur erst zurechtlegen’.“

„Ich nehme ihn einfach wieder in den Arm,“ sagte Hanna, „das ist das beste. Die Kissen sinken doch wieder zusammen. An meiner Schulter, wenn ich ihn halte, lehnt er sich prächtig an. Nicht wahr, du, das ist auch deine Meinung? Er lächelt, sehen Sie wohl, ich wußt’ es ja.“

Sie richteten ihn auf. Hanna, mit dem Arm um seinen Nacken, hielt ihn fest. Damit sie besser aushalte, baute ihr der Doktor von Kissen eine kunstreiche Stütze.

Nun waren sie wieder allein.

„Das war aber ein böser Anfall, du Armer,“ sagte Hanna liebreich. Sie begegnete seiner auf der Bettdecke suchenden Hand und hielt sie fest. „Nun sei du aber ganz still. Mich laß reden. Ich erzähl’ dir was. Wenn du so weit bist, daß wir reisen können, dann pack’ ich dich ein und wir gehen hinunter nach Italien oder auch, was vielleicht noch besser wäre, gleich nach Madeira für den ganzen Winter. Und unterwegs, weißt du, da fangen wir beide unser Leben in aller Stille von neuem an. Und dann wird es plötzlich sehr schön! Glaubst du nicht? Du mußt aber nur nicken.

Er stieß einen unverständlichen Laut aus und schüttelte den Kopf.

„Laß das,“ sagte sie, mit der Hand, die auf seiner Schulter lag, seine Wange und Schläfe anrührend. „Das Schütteln thut dir nicht gut, es ist auch eine falsche Antwort.“

Sie beugte sich etwas vor, um ihm in die Augen sehen zu können.

„Ich weiß, warum du zweifelst, Ludwig“, sagte sie in tiefem Ernst. „Du meinst, ich hätte dich ja doch nicht lieb. Ist es nicht so?“

Er winkte mit den Augenlidern Ja.

„Nun, laß dir sagen, Ich hab’ in diesen Stunden viel erlebt. Wenn du erst gesund bist, sollst du alles einzelne hören. Heute nur die Hauptsache. Seit ich weiß, daß ich dich verlieren könnte, weiß ich erst, wie gut ich dir bin. Und ich bitte dich viel vielmals um Verzeihung für alles, was ich bisher dumm gemacht habe, und für alles, womit ich dich bisher aus Mißverstehen gekränkt habe. Hörst du, was ich dir sage? Ich hab’ dich lieb. Vergiß es nicht! Und erinnere mich an diese Stunde, wenn es einmal wieder nicht so zwischen uns ist, wie es sein sollte. Ich hab’ dich lieb.

Er sah sie an mit einem Blick, der ihr die Thränen in die Augen trieb, durch diese Thränen lächelte sie ihm zu. Seine Lippen formten ein unhörbares Wort. Sie verstand es, neigte sich tiefer und küßte ihn.

Er atmete stöhnend tief auf und drückte den Kopf in den Nacken.

„Schade!“ sagte er laut, mit heiserer zerbrechender Stimme.

[807] Ein neuer, wütender Husten überfiel ihn, schlimmer als je zuvor.

„Doktor! Zu Hilfe!“ rief Hanna. Mit beiden Armen hielt sie den Unglücklichen, der, nach Luft ringend, um sich schlug.

Dann – plötzlich – brach der Husten ab, wie mitten durchgeschnitten. In die krampfhaft aufgereckte Gestalt kam ein Schüttern, sie wankte und brach lautlos zusammen.

„Was ist das?“ fragte Hanna entsetzt.

„Der Tod,“ antwortete Meinhardt leise und ernst. „Ein Herzschlag. Ich habe ihn befürchtet.“


40.

Hanna brauchte sich um nichts zu kümmern. Die Schwägerin „besorgte alles.“

Frau Selma Eggebrecht war am andern Morgen in aller Frühe erschienen, außer sich, daß man sie nicht gerufen habe, als der Bruder zum Sterben gekommen sei.

Oben in Hannas Zimmer hatte sich der Sturm dann freilich legen müssen. Der Sanitätsrat, sehr besorgt um seine junge Freundin, war nach kurzer Nachtruhe, die er sich ja nun doch im eigenen Hause hatte vergönnen dürfen, wiedergekommen und empfing zunächst allein den ersten Ansturm der schwesterlichen Entrüstung. Er rief der aufgeregten Frau den Wortlaut seines im Namen Hannas sofort nach Ludwigs Tode an sie abgesandten schriftlichen Bericht ins Gedächtnis zurück.

„Daß es am Nachmittag bereits sehr ernst um den Kranken stand, war Ihnen nicht verheimlicht worden. Daß trotzdem am Abend niemand von Ihnen allen zu Hause war, als August die Trauerbotschaft überbrachte, konnte man unmöglich vorher sehen -“

„Ein Plauderstündchen bei guten Freunden, nur um auf Augenblicke unsere nagende Sorge zu vergessen um uns ein bißchen auf andere Gedanken zu bringen – –“

„Bitte, bitte sehr, meine gnädigste Frau, dies ist ja ganz individuell. Eine Kritik hätte ich mir nicht erlaubt. Dagegen gestatte ich mir, festzustellen daß der Zufall und nicht Frau Thomas daran schuld ist, daß Sie die Todesnachricht erst spät in der Nacht empfangen – vielmehr also vorgefunden haben. Ein Herzschlag, der das schwere Leiden Ihres Bruders rasch beendigte, konnte man der schon vorher festgestellten leichten Herzerkrankung wegen wohl befürchten, nicht aber mit Sicherheit prophezeien. Ich bitte Sie also inständigst, Ihre ganz gegenstandslose Entrüstung aufgeben zu wollen! Das Natürlichste wäre wohl, Ihre Trauer mit der der armen kleinen Witwe zu vereinigen.“

„Wie geht es Hanna? Ich vermute sie ist sehr gefaßt. Von Kummer wird bei ihr nicht groß die Rede sein. Danach war die Ehe nicht beschaffen. Sie ist eine eiskalte Natur.“

„So? – Ich finde sie in mitleidswürdigem Grade erschüttert. Und ich möchte Ihnen ans Herz legen, gnädige Frau, recht schonungsvoll mit ihr umzugehen. Mir scheint, Sie kennen sie denn doch wohl nicht genug, um über ihr Seelenleben urteilen zu können.“

„Wo steckt sie denn überhaupt? Warum läßt sie sich vor mir nicht sehen? Das ist doch zum mindesten wunderlich.“

„Als ich Ihren Wagen anfahren sah, empfahl ich ihr, sich vorläufig zurückzuziehen. Es lag mir daran, mich zuerst zu vergewissern, daß ihr nicht anders, als sehr zart begegnet werde.“ – –

Frau Eggebrechts Trauer setzte sich in Thatkraft um.

Es galt eine „pompöse“ Leichenfeier zu veranstalten, wie sie dem Reichtum und der Prachtliebe des Verblichenen entsprach. Die Schwester fühlte tief die Wichtigkeit ihrer Mission. Es konnte jetzt als ein besonderes Glück angesehen werden, daß Linchen mit hergekommen war. Ihr als verheirateter und von ihrem Mann begleiteter Frau konnte sie Evchen tagsüber zu schützen überlassen, da die Mama als natürliche und oberste Hüterin zunächst unabkömmlich war, wenn sie auch für die Nacht ins Hotel zu den Ihren zurückkehrte. Die Kinder sollten das Trauerhaus nicht eher beweinen als bis alles bereit war. Der Kondolenzbesuch bei der Tante kam immer noch früh genug.

Die Dienstboten wußten kaum, wie ihnen geschah. Als ob nicht die Witwe, sondern die Schwester Herrin des Hauses wäre, so schaltete und waltete die majestätische Frau Bankdirektor, ohne sich im einzelnen mehr um Hannas Zustimmung zu bemühen, nachdem sie sich in einem kurzen Gespräch mit der blassen stillen Frau die Freiheit des Handelns im allgemeinen gesichert hatte. Wirklich „verstand“ sie die Repräsentation des Hauses Thomas besser als ihre Schwägerin, und Hanna that gut, sie in den nächsten Tagen völlig gewähren zu lassen.

August, schlecht verhehlte Widersetzlichkeit in jeder Falte seines Gesichts, war eine halbe Stunde nach dem Ausbruch dieser neuen und höchst lärmvollen Regentschaft bei Hanna erschienen, um die ausdrücklichen Befehle seiner gnädigen Frau zu erfahren. die Frau Bankdirektor seien doch schließlich nur zu Besuch hier, und sie wüßten sich alle nicht zu deuten – –

Der Bescheid befriedigte ihn anscheinend nur wenig, doch wurde er um seine Meinung nicht befragt. Er gab sie darum in der Küche zum besten, wo sie mit allgemeinem Beifall aufgenommen wurde. Die Allergnädigste aus Breslau, so groß und breit sie war und so laut sie sprach, sollte sich nur nicht einbilden, daß sie das Kommandieren so beibehalten dürfte. Und wenn sie sich nach der Beerdigung noch weiter so dicke that, so würde gestreikt.

Dekorateure und Gärtner hantierten in den unteren Räumen Der Festsaal und der davorliegende große Salon wurden schwarz ausgeschlagen, sämtliche elektrische Lampen, bis ins Vestibül hinaus, mit schwarzem Flor behängt oder überzogen. Das Thomas'sche Gewächshaus, so groß es war, enthielt nicht so viel des „ernsten Grüns“, wie man brauchte. Schmidt Unter den Linden, der „Hoflieferant“ des Verstorbenen, wurde entboten, um die Ausschmückung zu vollenden. Frau Selma war überall selbst mit dabei, keine Palme, kein Lorbeerbaum durfte ohne ihre ausdrückliche Genehmigung aufgestellt werden. Kein Mißverhältnis im Faltenwurf und in der Spannung der schwarzen Stoffmassen entging ihrem raschen Blick. Die Tapeziergehilfen, die zehnmal für einmal die Leitern auf- und abklettern mußten, waren sich darüber einig, daß sie noch nie so „gezwiebelt und gepiesackt“ worden wären. Wenigstens bei Trauersachen pflegten sich die Leute sonst sanfter zu verhalten.

Am zweiten Tage nahm die Interimsregentin die zahlreich einreisenden Kranzsendungen entgegen, öffnete und ordnete die Beileidsschreiben, wie sie gestern als erstes für die Erledigung der Anzeige in Zeitungen und Briefe gelegt hatte. Sie gönnte sich keine Ruhe, man konnte ihre laute, befehlende Stimme – es war, ins Weibliche übersetzt, die des Bruders – durch das ganze Haus hören.

Nur das Sterbezimmer betrat sie nicht. Den Toten sah sie nicht an. Die letzte Umbettung mochte Hanna besorgen, deren frostige Natur diese Dinge nicht anfochten. Ihre Nerven waren solchen Erregungen nicht gewachsen. Sie wäre unbedingt krank geworden, wenn sie sich einem derartigen Gefühlssturm ausgesetzt hätte. Und sie durfte ihre Fassung nicht verlieren.

Erst als der schon geschlossene Sarg, mit Blumen reich geschmückt, Palmen zu Häupten, im Saal aufgestellt war, verrichtete sie kniend ein stilles Gebet. August hatte zu diesem Zweck sämtliche Kerzen der vielarmigen hohen Leuchter anzünden müssen.

„Mich wundert nur eins,“ sagte er nachher zu Pauline, „daß sie sich nämlich keinen Photographen bestellt hat, um den weihevollen Augenblick zu verewigen.

Am Nachmittag des zweiten Tages kam Günther. Er wurde zunächst Frau Eggebrecht ausgeliefert, wie alles, was in das Haus kam.

Verwundert, aber mehr noch beklommen, verbeugte er sich in seiner linkischen Art, als diese große, weitläufige Dame im langschleppenden schwarzen Gewand zur Thür hereinkam, er hatte sein schmächtiges, blasses Hannichen erwartet.

„Mein Name ist Günther,“ murmelte er einigermaßen verdonnert.

„Günther? Günther? Ich erinnere mich nicht, daß ich irgend etwas bei Ihnen bestellt hätte. Wer schickt Sie denn?“

„Bitte schön.“ Günther mußte unwillkürlich lächeln, trotz [808] der hochfahrenden Miene Frau Selmas, die er jetzt wieder erkannte, auf der Hochzeit damals hatte er sie nur flüchtig betrachtet. „Schicken thut mich niemand, und bestellt ist auch nichts bei mir. Ich bin befreundet mit Frau Thomas und hatte eigentlich nach ihr gefragt. Ich wollte mich mit meinem Kirchenchor für die Beerdigungsfeierlichkeit zur Verfügung stellen. Bei der Hochzeit haben wir gesungen und, als die arme Frau Wasenius starb, auch.“

„So, so. Ja, ich bedaure, Sie nicht beschäftigen zu können. Es sind bereits Domsänger bestellt.

Günther starrte sie an. „Entschuldigen Sie, – Hanna – Frau Thomas kann doch unmöglich – wie kommt sie denn auf den Domchor?“

„Meine Schwägerin, die leidend ist, kümmert sich um nichts und hat die Sorge für die Trauerfeier ganz auf mich abgeladen. Der Domchor ist so doch das Nächstliegende, besonders bei einer Feier, wo es nicht auf die Kosten ankommt.“

Günther wurde rot. „Wir singen nicht für Geld,“ sagte er. „Uns wäre es einfach Herzenssache. Hannas wegen! Fragen Sie doch, bitte, Frau Thomas, wen sie lieber will, den Domchor oder uns.“

„Da ich die Verantwortung für das Ganze übernommen habe, kann ich mich unmöglich wegen jeder Einzelheit nach persönlichen Wünschen erkundigen. Uebrigens ist die Sache schon erledigt, da ich mit dem Domchor fest abgeschlossen habe.“

In Günther kämpfte die natürliche Schüchternheit vor allem, was ihm von oben herab – wirklich oder figürlich – über den Kopf kam, mit dem Verdruß über diese Maßreglung, die ihm sein gutes Freundesrecht beschnitt. Frau Selmas imposante Größe und ihr Hochmut beklemmte ihn, ihre unliebenswürdige Härte reizte, was Widersetzlichkeit in ihm war.

„Könnte ich Frau Thomas wohl persönlich sprechen?“ fragte er, etwas unsicher zwar, aber mit dem vergnügten Untergefühl: ich mucke auf.

„Meine Schwägerin ist leidend, wie ich Ihnen schon vorher sagte, und empfängt nicht.“

„Ueberhaupt niemand?“

Frau Eggebrecht maß den zudringlichen Menschen mit einem Blick, der ihm nicht wohlthat, aber ehe er sich, wie es sicher die Absicht war, von ihr vor die Thür gesetzt sah, kam August herein, ganz starre Höflichkeit, mit halbgeschlossenen Augen.

„Ich habe Herrn Günther bei gnädiger Frau gemeldet. Gnädige Frau lassen bitten.“

„Aha!“ entfuhr es Günther erfreut. Seine Abschiedsverbeugung blieb wirkungslos; sie traf nur noch Frau Selmas Rücken.


41.

„Na, mein liebes, gutes Hannichen, nun ist ja alles – –“

Günther stockte und blieb an der Thür stehen, die August hinter ihm geschlossen hatte. Er war im Begriff gewesen, zu sagen: Nun ist ja alles gut, nun schöpfen Sie kräftig Atem, nun fangen Sie das Leben von vorne an, gottlob ist ja noch nicht allzuviel Zeit verloren!

Diesem vergrämten Gesicht gegenüber ging seine Fassung in die Brüche, so schnell wie seine Beredsamkeit.

„Was ist denn los?“ stieß er, nähertretend, heraus.

Eine ziemlich seltsame Frage im allgemeinen, wenn man eine Witwe zwei Tage nach dem Tode ihres Mannes besuchen kommt. Aber er hatte etwas andres zu sehen und zu hören erwartet, als er nun fand. Er hatte erwartet, daß sie ihm, dem Freunde aus alter Zeit, das tiefe, befreiende Aufatmen nicht verhehlen werde, das ihr die allzulang beengte Brust doch heben mußte, nachdem sie von ihrem schweren Joch erlöst war. Zugegeben, daß sie ein Joch trage, hatte sie ja nicht. Aber er hatte es gewußt, als ob sie es ihm gezeigt hätte. Und sie hatte gewußt, zum mindesten ahnen müssen, daß er es wußte. Zu sprechen wäre auch jetzt nicht nötig gewesen. Vieler Worte bedurfte es zwischen ihnen nicht. Aber anders aussehen hätte sie müssen. Ernst, aber aufrecht. In der tiefen Stimme kein Jubel – aber Neuklang, Befreiung, Leben! Die da saß aber, die schien ihm eine tief niedergedrückte bekümmerte Frau.

„Hannichen,“ sagte er unsicher, indem er vor ihr stehen blieb und eine ihrer matten, schlaffen Hände ergriff und schüttelnd drückte. Sie deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. Er nahm ihn und setzte sich. Vor ihren Augen, die sich mit Thränen füllten, nicht zum erstenmal, das sah er wohl, vergingen ihm nun völlig die Worte.

„Liebes Güntherchen – ich bin sehr traurig.“

Wie leise sie sprach, und wie mühsam. So recht wie einer, der in Schmerzen eine lange Weile hat schweigen müssen. Günther rückte unruhig auf seinem Sessel.

„Ich dachte gar nicht,“ stotterte er mit einem hilflosen Blick, „daß Sie ihn – –“ es wollte nicht heraus. Das war doch einfach undenkbar, daß sie diesen Satansbraten geliebt haben sollte!

„Ich kann nicht darüber sprechen.“ fuhr Hanna mit zitternder Stimme fort. „Heute wenigstens nicht, wie ich Ihnen erklären könnte, warum – warum mir so elend zu Mute ist.“

„Mein gutes Hannichen,“ sagte Günther nun zuredend, wie man ein betrübtes Kind zu trösten sucht, „das ist so der Uebergang. Sie werden schlimme Tage gehabt haben.“

Hanna nickte. „Sehr schlimme.“

„Na sehen Sie, das greift die Nerven an, natürlich. Warten Sie nur vier Wochen, dann sehen Sie schon anders aus den Augen.“

Weiter konnte es ja nichts sein. Sie war offenbar greulich herunter. Das Unsal mochte sie wohl bis zum letzten Augenblick gequält haben. Und die Pflege hatte sie noch um ihr bißchen Kräfte gebracht.

„Sie sind eben abgerackert und entzwei. Das kommt ja alles wieder. Das Leben ist noch lang.“

Hanna starrte vor sich hin und schwieg.

„Sagen Sie mir,“ begann sie nach einer endlosen Pause, die ihm sehr ungemütlich geworden war, und die er doch nicht zu unterbrechen gewagt hatte, „wenn Sie einen Chorsatz einüben und Ihre Sänger kommen herunter, halten die Stimmung nicht, schließen unrein ab – was thun Sie dann?“

„Nu, das wissen Sie ja. Das kennen Sie ja. Ich lasse von vorn anfangen, und an der gefährlichen Stelle, wo es hapert, da stauche ich sie drauf mit den geehrten Nasen und lasse wiederholen, einzeln zusammen, unerbittlich, bis es stimmt.“

„Sehen Sie, das ist es! Wiederholen, üben, besser machen, Sie können das mit Ihrem vierstimmigen Chor. Ich – hab' es bei dem zweistimmigen Lied nicht fertig gebracht, den Ton zu halten. Ich habe die gefährliche Stelle nicht bemerkt, als bis es zu spät. war, bis der Dirigent den Taktstock weggeworfen hat für immer. Nun kann ich nicht mehr üben, nun kann ich nicht mehr wiederholen. Es ist aus. Vorbei. Ich habe unrein abgeschlossen, sehen Sie. Und an diesem Mißton – vergeh' ich.“

„Potz, Donner und Hagel!“ brach Günther los. „Das ist ja, um auf die Bäume zu steigen! Was! Sie wollen sich gar noch anklagen, Sie arme Märtyrerin –“

Mit einer zuckenden Bewegung hob sie rasch die Hand.

„Lassen Sie das Wort,“ unterbrach sie ihn rauh. „Es paßt nicht. Lassen wir das Ganze überhaupt. Es nützt nichts, darüber zu reden. Es redet sich auch schlecht darüber.“

„Wenn Sie nicht wollen, Hannichen – quälen werd' ich Sie doch nicht! Was denken Sie denn?“ Und nach einer neuen Pause, in der sie wieder ganz in ihr Grübeln versank: „Ja – was ich denn sagen wollte – mit unsrer Singerei ist es also nichts, morgen?“

„Wieso? Hat meine Schwägerin –“

„Abblitzen hat sie mich lassen, aber gehörig. Domsänger hat sie bestellt. Eine thatkräftige Dame, alle Wetter! Lassen Sie sich das einfach gefallen, daß sie hier im Hause herumturnt, als wenn sie der Herr wäre?“

Hanna war dunkel errötet.

„Domsänger?“ murmelte sie und stand auf. Sie machte einige Schritte auf die Thür zu. Aber sie kehrte wieder um.

„Ich bitte Sie herzlich, lassen Sie alles gehen, wie es geht“, sagte sie leise, mit ergebener Stimme. „Lassen Sie sie nur [810] schalten. Ich rede ihr nicht hinein bei dieser ‚Feier‘. Sie handelt in seinem Sinn. Im Sinne des Hauses Thomas. Sie leitet das Ganze besser, als ich es könnte. Wenn es vorbei ist, morgen, dann gehen wir jeder unsre eigene Straße. Begegnen werden wir uns schwerlich wieder. Herzenssache wird es Ihnen ja nicht sein, an diesem Grabe zu singen. Oder? Er hat Sie nicht danach behandelt.“

„Wenn Ihnen nichts daran liegt, Hannichen –“

„Mir! Da ich es nicht haben kann, wie ich es möchte: ganz, ganz still und leise, so ist mir alles einerlei, so wünsche ich mir nichts, als daß alles überstanden wäre und ich allein. Es ist ja auch nicht einmal Pastor Erdmann, der sprechen wird, sondern der Domprediger.“

„Erdmann? Der könnte gar nicht, selbst wenn er gebeten worden wäre. Er ist ja krank.“

„Was fehlt ihm?“ fragte Hanna erschrocken.

„Ich weiß nicht recht. So eine langwierige Sache. Ein bißchen kümmerlich und hinfällig war er wohl schon seit einem Jahr. Liegen thut er seit knapp vierzehn Tagen.“

„Ich werde zu ihm gehen, morgen – vielmehr übermorgen,“ sagte Hanna mit einem plötzlichen nervösen Zittern. „Ich war ganz ohne Ahnung davon. Woher sollte ich es auch wissen, da ich ihn so lange gemieden habe! Ist es schlimm? Wird er mir sterben, ehe ich ihn noch einmal wiedergesehen habe?“

„Ach, wo denken Sie hin. Seine Haushälterin sagte mir, es ist mehr, um ihn zu schonen, daß man ihn ins Bett gesteckt hat, weil er nur auf diese Weise von seinen Amtsgeschäften zurückzuhalten ist.“

„Haben Sie ihn gesehen?“

„Nein. Er schlief gerade. Beide Male. – Na also, Hannichen, dann gehe ich jetzt. Darf ich ’mal wieder herankommen?“

„Wann Sie wollen.“

Ein jähes Erröten übergoß ihr Gesicht, als sie aus seinem freundlichen Nicken herauslas: „Du bist ja jetzt frei, Gott sei Dank.“

„Richtig,“ sagte Günther rasch, „von Rettenbacher soll ich grüßen.“

Sie runzelte die Stirn und wandte langsam den Blick von ihm ab. War das eine Fortsetzung? Sollte noch mehr kommen?

„Danke,“ entgegnete sie ruhig, weder kalt noch warm. „Wie geht es ihm?“

„Recht gut soweit. Ich schlug ihm vor, heute mit mir herzukommen. Er wollte aber nicht.“

Hanna atmete unmerklich auf. „Lassen Sie ihn gehen. Er weiß, was er thut.“

„Wenn er aber nun überhaupt nicht kommt? Gar nicht mehr? Er sagte sowas, heute früh in der Schule. Seine Karte würde er schicken mit p. c. und damit Punktum. Zu suchen hätte er hier nichts. Förmlich grob wurde er, als ich ihm zuredete. Ich wundre mich nur, daß er nicht Nein sagte, als ich fragte, ob ich Sie wenigstens von ihm grüßen sollte.“

„Ich sage Ihnen ja: er weiß, was er thut. Reden Sie ihm nicht hinein. Von mir bestellen Sie ihm, ich ließe seinen Gruß erwidern, und seine Karte solle er nicht erst schicken.“

Günther sah sie forschend an. In ihrem blassen Gesicht rührte sich aber nichts.

So ging er seufzend fort.

[822] Am späten Abend des dritten Tages war es in dem großen Hause ganz still. Alles war vorbei. Ludwig Thomas war fort. Die letzten Spuren der „überaus würdigen und schönen Feier waren vor Einbruch der Dunkelheit schon beseitigt gewesen, und die Familie hatte die Witwe allein gelassen. Auf Hannas ausdrücklichen Wunsch. Sie sehnte sich sehr nach vollkommener Ruhe, nach Schweigen rundumher. Sprechen zu müssen, zuhören zu müssen, wurde ihr je länger, je mehr zur Qual. Zu ihrer großen Erleichterung erfuhr sie noch beim Abschied, daß Eggebrechts – der Herr Bankdirektor und Viktor, der Sohn, waren zur Beerdigung noch erschienen – Berlin übermorgen verlassen und heimkehren würden. Da die Hochzeit der Trauer wegen nun doch noch etwas aufgeschoben werden mußte, hatten die Besorgungen nicht solche Eile mehr, und die angegriffenen Nerven Frau Selmas bedurften der häusliche Ruhe.

Hanna saß am Schreibtisch ihres Mannes im sogenannten Herrenzimmer, dem Gegenstück zu ihrem Boudoir. Es war ein schön eingerichteter Raum, doch ohne bestimmte persönlichen Zug, ohne Gesicht. oftmals flüchtig benutzt, nie intim bewohnt. Wenigstens sah es so aus. Ludwig hatte nicht die Gabe gehabt, einem eignen Gemach individuelle Prägung zu verleihen. Die Möbel in ihrer feinen, stilvollen Pracht standen so leblos da wie in der Koje einer Ausstellung. Es fehlte nur das Namensschild des Lieferanten über der Thür. Auch der kostbar ausgestattete Schreibtisch trug keine Spur der Erinnerung an seinen verschwundenen Besitzer. Kaum daß einige schwache Tintenstreifchen auf dem obersten Löschblatt der großen ledergepunzten Schreibmappe darauf hinwiesen, daß auf ihm ein oder der andre Privatbrief geschrieben worden sei.

Vielleicht eben der Brief, den Hanna in der Hand hielt und den zu lesen sie sich immer noch nicht entschließen konnte.
„An meine Frau, Hanna Thomas, geb. Wasenius.
Nach meinem Tode zu öffnen.
Sie starrte auf die von der Lampe hell beschienene Schrift. Wie lange wohl schon? Wie lange wollte sie noch so dasitzen und sich fürchten?

Sie hatte gestern für Selma nach Photographie des Verstorbenen gesucht, die, wie sie wußte, irgendwo hier im Schreibtisch liegen mußten. Da hatte sie diese Brief gefunden. Rechts im Seitenschrank, in einem sonst ganz leeren Fach hatte er gelegen vorn an, groß, weiß, gleichsam auf der Lauer. Heftig erschrocken war sie vor dieser Entdeckung stehen geblieben, ohne den Mut, das Schriftstück zu berühren. Dann – unter einem unabweislich zwingenden Gefühl – hatte sie die Lade sacht, unhörbar zugeschoben und den Schrank abgeschlossen. So lange er, der ihr da geschrieben hatte, noch über der Erde war, wollte sie nichts lesen. Nachher, wenn er in Frieden ruhte, war immer noch Zeit. Sie wußte ja, was der Brief enthalten würde. Vorwürfe, leidenschaftliche, heftige, wütende Anklagen ohne Schonung, hingeschleudert in der Maßlosigkeit seiner Hassesliebe. Sie wußte, ach, sie wußte! Auch sein Tod sollte sie nicht befreien von der Last der bittern Schmähungen. Schriftlich hatte er es ihr geben wollen, daß sie ihm das Leben vergiftet habe.

Sie schüttelte aber endlich den Kopf, wie sie so da saß in der lautlosen Stille der Nacht. Sie atmete auch tief auf. Nichts, was du mir da geschrieben hast, dachte sie, kann mich so tief mehr treffen wie deine letzten lebendigen Worte. So bitter wie zu späte Selbsterkenntnis, glaub’ ich, schmeckt kein andres Gift. Also gieb nur her!

Als sie den Umschlag aufschnitt, kam ihr – warum nicht schon viel eher? – die Erinnerung an jenen andern Brief, den Brief ihrer Mutter, „nach meinem Tode zu lesen.“ Ein qualvolles, schluchzendes Aufatmen erschütterte sie. Sie schloß die Augen. Mit diesem zweiten, andern Abschiedsgruß hielt sie die Vergeltung dieser verfehlten vier Jahre in der Hand. Sie konnte nicht bitter genug sein.

Hanna wischte mit dem Handrücken über die nassen Augen und entfaltete die große, vierfach zusammengelegte blaue Karte. Viel stand aber nicht darauf.

„Du wirst jedenfalls brennend wünschen, zu erfahren, wie es um Deine ersehnte Erbschaft steht, da unsre Ehe ja kinderlos geblieben ist. Mein Testament liegt natürlich in gerichtlichem Verwahrsam, aber um Deine Spannung nicht auf eine zu harte Probe zu stellen, will ich Dir den Inhalt verraten. – Ich ernenne Dich zu meiner Universalerbin – mit einer einzigen Bedingung. Du darfst nicht wieder heiraten! Willst Du eine neue Ehe schließen, so verlierst Du das schöne Vermögen bis auf das gesetzlich Dir zustehende Pflichtteil. Das Haus hättest Du in diesem Falle sofort zu räumen und meiner Schwester zu überlassen. Ueber die Verwendung meiner baren Hinterlassenschaft – zu gemeinnützigen Zwecke – hätte alsdann gleichfalls Selma zu bestimmen. Jetzt wird sich Dein verhungerter Schulmeister wohl zweimal besinnen, ehe er um Deine freigewordene Hand werben kommt. Die Spekulation war falsch, Ihr habt Euch in mir leider gründlich verrechnet. Wohl bekomme Euch gleichermaßen die Toggenburgerei oder die neue Ehe – wenn anders sie Euch jetzt noch begehrenswert erscheint. Schade, daß ich Dein Gesicht jetzt nicht sehen und – küssen kann. Adieu.

Einen recht schönen Gruß aus dem sogenannten Jenseits von Deinem Mann, der Dir treuer war als Du ihm.

„So war das gemeint?“ flüsterte Hanna, indem sie den Brief langsam zerriß. „Wie unglücklich warst du, als du das schriebst. Und wie weit, wie weit hast du am Ziel vorbei geschossen. Es wäre nicht nötig gewesen Ludwig, das da. Wahrhaftig nicht.“


42.

„Tag, Hans! Ist der Bruder vorrätig?“

„Jawohl, Herr Günther. Vor einer halben Stunde ist er heimgekommen. Aber es ist noch einer drin bei ihm. Ein Ochse mit'm Brett vorm Kopf.“

Günther fuhr dem Jungen mit der Hand in das blonde Kraushaar und zauste ihn ein wenig. „Frecher Schnabel du! Ulke nicht über schwache Nebenmenschen. Sei froh, daß du keine Nachhilfestunden brauchst.“

„Na, mein Großer, möcht' mir es auch eklig besorgen, ei Wetter.“

„Verdientermaßen. Schickte sich schlecht für Johannes Rettenbacher. Uebrigens, wie steht das mit deiner Schwester Grete? Auch zu Hause?“

„Und wie! Nachmittag! Kaffeestunde!“

„Meinte ich eben im Stillen. Na dann also – –“ Flink hängte der Musiker seinen Hut an den Nagel. Hans war eifrig bereit, ihm beim Ablegen zu helfen. „Aus Versehen erwischte er aber den innern Aermelrand und zog ihm in größter Geschwindigkeit Ueberzieher und Rock zugleich von der Schulter.

„Halunke!“ rief Günther lachend. „Was fällt dir denn ein?“

Hans schien nun sehr bestürzt, aber so flink er bei Ausübung seines Schelmenstückchens gewesen war, so läppisch benahm er sich, als es galt, den Herrn Lehrer wieder anzuziehen. Ueber dem vergnügten Gelobe öffnete sich die Wohnzimmerthür.

„Ob ich mir es nicht gedacht habe,“ sagte Grete Zöllner strahlend. „Wenn's auf dem Vorplatz lacht und kracht und juchzt, dann ist es allemal Herr Günther.“

„Wagnerisches Motiv, Frau Zöllner! Sehen Sie 'mal an. Lärmende, lachende, lümmelnde Lebenslust! Verstehen Sie? Schönen guten Nachmittag. Darf ich ein bißchen hineinkommen?“

„Nur näher, bitte schön. Sie kriegen auch ein Täßchen Kaffee.“

„Krieg’ ich? Famos! Aber als ganz ungebetener Gast –“

„Ich hatte so eine Ahnung, wissen Sie, als wenn Sie kommen würden, und hab’ drum eine Bohne mehr in die Kaffeemühle gethan.“

„Ja, ja,“ warnte Hans mit besorgter Miene, „wenn Herr Günther davon nur keinen Dadderich bekommt. Das muß ja das reine Gift geworden sein –“

„Mach dich lieber nützlich, du Frechling,“ unterbrach ihn [823] Grete, „und hole uns eine Brezel vom Bäcker. Ich hab' kein Brot mehr im Hause. Hier.“

Sie schob ihm ein Fünfzigpfennigstück zwischen die Finger. Der Junge betrachtete die Münze, auf die flache Hand gelegt, mit einem Auge, wie ein Vogel.

„Also, zwei Brezeln,“ sagte er schlingelhaft lächelnd, „zu fünfundzwanzig. Sehr freigebig.“

Hinaus war er.

„Den haben wir uns gut gezogen, was?“ meinte Günther mit einem Kopfwinken nach der Richtung, von wo man Hansens Holterdipolter auf der Treppe noch hören konnte.

„Aber nein“, gab Grete zu. „Und wer ist am meisten schuld? Sie! Was darf er sich alles gegen Sie herausnehmen! Was lassen Sie sich alles von ihm gefallen!“

„Ja, aber nur in Civil. Als Freund. Hier zu Hause. In der Schule steht er stramm. Augen rechts. Rührt sich nicht. Ich liebe den Bengel höllisch. Ist Rasse drin. Wo ist denn aber unser Fränzchen?“

Günther hob die Tischdecke auf, guckte auch unter das Sofa, er war gewohnt, den Kleinen immer erst ausfindig machen zu müssen.

„Den suchen Sie heute nur nicht. Er ist zur Geburtstagsfeier unten bei dem Hauswirtssohn. Der kleine Junge, wissen Sie, mit dem er immer so nett spielt. Selig ist er vorhin abgezogen. Setzen Sie sich her, ja? Bis der Hans zurückkommt, näh' ich noch schnell die paar Knöpfe an.“

„Warten wir nicht auf den Bruder mit dem Kaffee?“

„Der hat seinen schon drin. Er schien mir so ein bißchen verfroren, da wollt' ich –“ sie unterbrach sich, ließ auch die Arbeit sinken. Aus ihren hübschen blauen Augen sah sie nachdenklich zu Günther auf. „Mit dem Arnold, wissen Sie, mit dem ist es nicht mehr richtig.“

„Wieso? Das heißt, ich seh's ja selber. Aber was meinen Sie denn, was ihm fehlt?“

„Ja, wenn ich das wüßte, da wär' ich ein ganz Teil klüger. Das ist ja eben das Elend. Also Ihnen fällt es auch schon auf? Na, wie sollt’ es auch nicht, er ist ja zu sehr verändert. Wenigstens, wer ihn genau kennt, und mit ihm lebt, und ihn lieb hat, der merkt’s. Freilich, was man so einen ernsten Menschen nennt, das war er ja immer; viel lachen war von je her nicht seine Art. Spaß hat er aber darum doch verstanden. Das wissen Sie ja am besten. Aber jetzt – schon seit Wochen geht er herum, wie gedrückt, oder wie gequält. Nicht, daß er brummig wäre oder launisch. Nur so still, so ohne Freude. Klagen thut er über nichts, wie würd’ er denn, das säh' ihm ja nicht ähnlich. Wissen Sie, bei uns sagt man dazu es wurmisiert was in ihm 'rum. Bloß was? Meta sagte vorgestern: es sieht aus, als wenn er eine unglückliche Liebe hätte. Aber wo sollt’ er die plötzlich hernehmen?“

„Kiek doch, die Meta,“ schmunzelte Günther, „was die für ’ne feine Nase hat. Und darauf sind Sie nicht gekommen?“

Grete horchte hoch auf. „Was sagen Sie da? Was meinen Sie?“

Aber es blieb keine Zeit mehr zu einem ungestörten Gespräch. Schon rasselte draußen das Thürschloß und Hans – er hatte den Drücker mitgenommen – kam zurück. Grete war so bestürzt von Günthers Andeutung, daß sie kaum danach hinhörte, wie ihr der Bruder beruhigend versicherte, er habe sie mit den zwei Brezeln nur uzen wollen. Gedankenlos schüttelte sie die kleinen Münzen in ihr Portemonnaie. Auch für die Schnecke die Hans „zugekriegt“ hatte und die er nun triumphierend auf seine Tasse legte, hatte sie nur einen flüchtigen Blick. Ihre verwunderten, eindringlich fragenden Augen kehrten zu Günther zurück.

„Nein, nun sagen Sie bloß – –“ stieß sie heraus.

Der Musiker warnte sie mit einem leisen Kopfnicken nach dem Buben hin, der schon begonnen hatte, aufzuhorchen.

„Natürlich,“ murmelte Grete, noch mehr verwirrt. Sie stand dann auf und kümmerte sich um den Kaffeetisch. Es wurde eine schweigsame kleine Mahlzeit, trotz der Brezelorgie. Hans, dem der Schnabel sonst nicht still stand, betrachtete, wenn auch eifrig schmausend, das versonnene Gesicht seiner Schwester. Da er an eine immer sehr lebhafte Unterhaltung zwischen ihr und Günther gewöhnt war, so schloß er aus Gretens Wortkargheit, daß sie mit seinem geliebten Gönner, „bös“ sei, und nahm ohne weiteres sofort an, daß sie unrecht habe. Er stach mit seiner runden, kräftigen Knabenfaust über Günthers auf dem Tisch ruhende Hand und drückte sie ein bißchen, als Zeichen seiner Zärtlichkeit und Parteinahme.

„Was willst du, Hanswurst?“

„Nichts,“ versicherte er errötend. Und nach einem vorwurfsvollen Blick auf Grete: „Ich meine nur, ärgern Sie sich nicht.“

„Thu ich denn das? Du bist wohl verdreht?“

„Na, weil Sie so still sind. Und die gar. Ich hatte mich doch so gefreut, wie Sie kamen, nun soll es eine fidele Kaffeestunde geben. Und statt dessen sitzen wir nur so herum – –“

„Das hat seinen guten Grund, mein Sohn. Wir beide, deine Schwester und ich, denken über eine wichtige Sache nach, von der du nichts verstehst, und wenn du deinen Happen-Pappen weg hast, wirst du dich gütigst drücken, damit wir sie zu Ende besprechen können.“

Hans runzelte gewaltig die Stirn, eine Widerrede erlaubte er sich aber nicht.

„Muß ich ganz aus dem Hause ’raus?“ fragte er etwas niedergeschlagen.

„Da Arnold noch unterrichtet, wird dir wohl nichts andres übrig bleiben, mein Alter.“

„Tobst noch ein bißchen, ja?“ redete ihm Grete nun auch zu.

Hans, den letzten Bissen im Munde, erhob sich langsam. „Ja wenn’s nicht anders geht – wie lange denn?“

„Sagen wir: Eine halbe Stunde.“

„Seh’ ich Sie aber dann nachher auch noch?“

„In Lebensgröße, verlaß dich drauf. Zieh dir aber was an. Die Sonne ist schon weg.“

„I wo denn! Bei der Hitze.“

„Sei so gut. Fünfzehnter Januar. Wann fängt denn bei dir die Kälte an?“

„Erst, wenn die Spatzen tot vom Dach fallen. Also in einer halben Stunde. Aber genau!“

Er trollte sich.

„In wen? So sagen Sie doch, in wen?“ fragte Grete eifrig, kaum, daß sich die Thür hinter dem Jungen geschlossen hatte. „Er kennt doch keine. Ich weiß doch, mit wem er verkehrt. Und er steckt ja die Nase kaum vor die Thür. Eine unglückliche Liebe, sagen Sie? Ja um Gotteswillen – –“

Es schien aber ein Unstern über diesem Zwiegespräch zu schweben. Frau Grete mußte sich noch einmal gedulden. Draußen klappte die Flurthür, der Schüler ging weg, und gleich darauf trat der Gegenstand ihrer Sorge ins Zimmer.

Arnold begrüßte den Freund, der kein seltener Gast war, mit einem Händedruck und einem Nicken. Er ließ sich dann etwas schwerfällig auf Hansens leeren Platz nieder, schob die Tasse von sich weg über den Tisch und lehnte die Stirn in die aufgestützte Hand.

Mit einer Art von scheuer Bekümmernis betrachtete Grete sein verändertes Gesicht. Seine Blässe und der schmerzliche Zug um die zusammengepreßten Lippen die der blonde, weiche Bart nur schwach verdeckte, redeten ihr plötzlich eine neue Sprache. Wer hatte da in aller Stille ihrem lieben Bruder ein Leid angethan? Es wurde ihr heiß um die Augen.

„Was ist dir denn, mein Noldichen?“ fragte sie halblaut und rührte schüchtern seinen Arm an.

„Müde bin ich,“ gab er kurz, etwas rauh zurück, ohne den Kopf zu heben. „Entschuldigt meine Unhöflichkeit, bitte. Aber ich habe das lebhafte Verlangen, ein Weilchen still zu sitzen und mich nicht zu rühren nicht zu sprechen. Drinnen hielt ich es nicht mehr aus, nach der öden Schulmeisterei. Er schloß die Augen.“

Es blieb nun eine Zeit lang still im Zimmer. Grete und Günther hatten einen betrübten Blick getauscht.

„Aber darum müßt ihr nun nicht auch schweigen Kinder,“ begann Rettenbachers verschleierte Stimme. aufs neue. „Unterhaltet euch doch weiter.“

„Brauchen wir ja nicht,“ wehrte Günther. „Wir haben ganz genug geschwatzt, können es schon so noch aushalten. Aber [826] hören Sie, Magisterchen, so schlecht wie heute haben Sie mir noch nie gefallen. Was ist denn das? So hat es Sie doch sonst nicht angegriffen, wenn Sie eine Stunde zu geben hatten? Was war’s denn für einer?“

„Einer aus dem Wilhelmsgymnasium, Obertertia. Ist mit Nachterminen in Griechisch und Latein versetzt worden. Ein heilloser Strohkopf. Dem Alter nach könnt’ er bald heiraten. Soll nun mit Gewalt nachgeheizt werden, damit er Ostern nicht wieder zurück muß.“

„Na ja, aber so was kommt Ihnen doch nicht zum erstenmal unter die Finger.“

„Gewiß nicht.“ Rettenbacher ließ jetzt die Hand sinken und lehnte sich, aufschauend, in seinen Stuhl zurück. „Aber haben Sie nicht auch schon Zeiten gekannt – –“

„Wo mir die ganze Prostemahlzeit bis dahin stand?“ fuhr Günther fort, als Arnold stockte. „Hab’ ich. Hab’ ich tüchtig. Aber was will man machen? Man kann die Karre doch nicht stehen lassen.“

„Wer spricht denn davon? Wie kommen Sie mir vor? Es ist ja auch nicht das. Mir geht nur – ich erlebe nur augenblicklich Stunden der Feigheit, so daß ich meine Muskeln nicht spüre. Ich bin faul, schlaff, in widerhaariger, böser Stimmung, mich ärgert die berühmte historische ’Fliege an der Wand'. Ich sollte mich eigentlich schämen, sollte mich vor niemand sehen lassen!

„Im Gegenteil. Sie sollten sich einmal tüchtig satt schimpfen, sich alles herunterreden, was Sie auf dem Herzen haben. Das würde Ihnen gut thun. Gewitter reinigen die Luft bekanntlich.“

„Aber bekanntlich weiß man auch nie, was sie nebenbei noch anrichten können. Also –“

Rettenbacher winkte abwehrend mit der Hand. „Sehen Sie wohl, so ist er nun,“ sagte Grete. Ihre aufmerksam und liebevoll forschenden Augen hatten den Bruder noch kaum verlassen. Sie faßte jetzt, sich zu ihm neigend, nach seiner Hand und schüttelte ihn ein wenig daran.

„So sei doch nicht so gräßlich zugeknöpft, Arnold! Du bist doch hier nicht unter fremden Leuten. Herr Günther sagt, du hättest – na ja, du hättest einen Kummer – Gotte doch, nun wirfst du ihm einen Blick zu, als wenn du ihn fressen wolltest! Denkst du denn, damit sagt er mir was Neues? Schon all die Wochen her hab’ ich mir den Kopf zerbrochen, was dir wohl sein könnte, was dich wohl quälen mochte. Ich bin doch auch nicht blind. Und weh thut’s. mir auch, wenn dir nicht wohl in deiner Haut ist. Was glaubst du denn von deiner Schwester?“

Arnold sah sie freundlich an, er drückte auch ihre Hand, die noch auf der seinen lag.

„Ich glaube, daß du ein gutes, liebes Ding bist, Gretchen,“ sagte er herzlich. „Aber ich glaube auch, daß du mich ruhig meiner Wege gehen lassen solltest. Ich finde mich ganz allein zurecht, bin’s schon von je her so gewöhnt. Daß ich mich in letzter Zeit, wo mir verschiednes durch den Kopf gegangen ist, so wenig beherrscht habe, daß du anfangen konntest, dir Sorgen zu machen, ist höchst unrecht von mir und soll nicht mehr vorkommen. Besonders, da der Grund zu meiner – Mißstimmung keine Lebensfrage betrifft –“

„Keine Lebensfrage?“ fuhr Günther nun dazwischen. „Was denn? Was ist es denn andres als eine Lebensfrage, zum Donnerwetter? Aber Sie sind verrückt, Freundchen, wissen Sie das? Und sie ist auch verrückt. Alle beide seid ihr verrückt!“

Arnold stand rasch auf.

„Wollen Sie einen Augenblick mit mir hineinkommen?“ fragte er mit so verfinstertem Gesicht und so rauher Stimme, daß Grete erschrak.

Günther schien sich aber nichts daraus zu machen.

„Will ich. Gerne,“ sagte er, sich sofort ebenfalls erhebend. „Bin ganz in der Laune dazu.“

Eilig lief er dem Hausherrn voran zur Thür hinaus, über den Vorplatz in Rettenbachers Zimmer.

[841]
43.

Na, schießen Sie los,“ sagte Günther kampflustig, als die Thür hinter Rettenbacher und ihm geschlossen war. „Ich hab’ auch ein Gewehr. Wollen sehen, wer’s am längsten aushält.“

Rettenbacher, schon wieder gefaßt, ging ein paarmal langsam im Zimmer auf und ab, ohne zu sprechen, bis er an dem Fenster neben seinem Schreibtisch stehen blieb. Dort lehnte er sich an, mit dem Rücken gegen das Licht.

Es lag nicht in seiner Art, heftig aufzubrausen, wenn er zornig war. Die jahrelang geübte Gewohnheit, sich zu beherrschen, sich nicht zu verraten, hatte mit der Zeit ein ganzes Netz feiner, zäher Fangfäden um sein Empfindungsleben gesponnen. Nirgendwo, so schien’s ihm endlich, gab es mehr eine [842] Lücke, groß genug, um eine rechtschaffen drohende Faust oder eine greifende Hand hindurchzustecken. – Schweig. Arbeite. Gieb her. Behalte nichts für dich. Verlange nichts für dich. – So hatten seine Richtworte gelautet, jahraus, jahrein. Schweig! Diese schwere Kunst hatte er meisterlich gelernt. Nur daß ihm in ihrer Ausübung die helle Flamme der Seelenfreiheit allmählich zu verglimmen begann, die Flügel verkümmerten, die ihn himmelan hätten tragen können. Arbeite! Das hatte er gewollt, so lange er denken konnte. Die Arbeit war seinem Gewissen das tägliche Brot. Sie wäre es ihm gewesen und geblieben, auch wenn sie nicht Ernährerin geheißen hätte. Verlange nichts für dich! – Jahrelang hatte er dieses kalte Pflichtgebot stumpfsinnig ertragen. An dem Friedhof seiner jung gestorbenen Träume vorüber war er dem Wegweiser in das Land der Herzenseinsamkeit gefolgt, hatte sich nicht mehr umgesehen. Erst in dieser letzten Zeit war der Hunger nach Glück, nach eigenem, still gehegtem, sonnenwarmem Hausglück wieder so wild geworden, daß er die Zähne zusammenbeißen mußte, um still zu bleiben. Den wühlenden, nagenden Schmerz der Entbehrung ganz zu verhehlen war ihm dennoch nicht gelungen, wie er wohl einsehen mußte. Aber sich darüber auszuklagen, jammernd um die kümmerlichen Brosamen des Mitleids zu betteln war er nicht gesonnen, noch weniger, von anderm Mund sein stummes Leid beim Namen gerufen zu hören.

Mit sprühenden Augen, deren Feuer dem überraschten Freunde ganz unerwartete, ungekannte Gluten zeigte, sah er Günther an.

„Ich bin sehr böse auf Sie,“ sagte er nach dieser langen Pause mit verhaltener, tief grollender Stimme.

„Meinetwegen! Mach’ mir gar nichts draus, erwiderte der arme Sünder so störrisch wie möglich. Im Grunde fühlte er sich aber schon gar nicht mehr so sicher in seiner Haut, wie er zu zeigen sich bemühte, nach Art der Lammherzigen suchte er sich selber Mut zu machen, indem er laut und heftig sprach: „Was hab’ ich denn so Schlimmes gethan?“

„Sie haben gethan – und nicht zum erstenmal, erinnern Sie sich –, was ich mir Ihnen gegenüber nie erlauben würde, so nahe wir uns auch stehen. Sie haben sich schon wieder unberufen in meine allerpersönlichsten Angelegenheiten gemischt. Jetzt sogar, indem Sie meine Schwester zu Hilfe nehmen. Das möcht’ ich mir denn doch in Zukunft dringend – hören Sie? – ganz dringend ein für allemal verbeten haben. Solange ich Ihnen nicht sage. So und so geht’s weiter, ich weiß allein nicht mehr fertig zu werden. Helfen Sie mir – – solange ich Sie also nicht rufe – bleiben Sie gütigst in Ihrem Gehege. Ich steige ja auch nicht über Ihren Zaun.

„Komische Sorte von Freundschaft,“ knurrte Günther. „Wissen 5ie, wie man so was nennt?“ schrie er Rettenbacher an, näher auf ihn zutretend. „Hochmut nennt man das!“

Arnold hob langsam die Achseln.

„Kann sein,“ sagte er mit einem bittern Lächeln. „Es giebt ja unterschiedliche Arten davon. Die meinige ist dann jedenfalls ein Kind der Notwehr. Ein fröhliches Gesicht hat er nicht.“

„Das weiß der liebe Himmel! Aber außerdem – was wollt’ ich denn noch sagen – ja, außerdem irren Sie sich, wenn Sie glauben ich hätte was dagegen, wenn Sie über meinen Zaun gestiegen kämen. Ich bin nicht so wie Sie. Wenn Sie heute sagten: Kamerad, knöpfen Sie Ihre Weste nur auf, ich seh's ja, sie ist schon ganz versengt – so würd’ ich Ihnen einfach um den Hals fallen und rufen: „Du blinder Gockel, das merkst du jetzt erst?“

Mit lebhaft aufhorchendem Gesicht sah Rettenbacher den Freund durchdringend an. Er schien eine Frage thun zu wollen. Aber Günther hatte noch das Wort und ließ es sich nicht nehmen; er war froh, daß er so schön im Gange war.

„Davon später,“ sagte er hastig, mit der vorgestreckten Hand und gespreizten, schüttelnden Fingern Arnolds Erstaunen verscheuchend. „Das kommt auch noch, läuft uns nicht weg, war eigentlich nur nicht das, was ich im Augenblick meinte – –“. Seine Worte überstürzten sich förmlich. „Thun Sie mir die Liebe und lassen Sie mich dieses einzige Mal reden, bis ich von selber aufhöre, sonst platz’ ich! Sie lächeln. Das ist ja so weit ganz gut. Ein Zeichen, daß Ihre dumme Wut verflogen ist. Aber Sie sollen auch Ihr Gesicht ruhig halten, bis ich fertig bin, sonst komm’ ich aus dem Text. Lächeln können Sie nachher. Werden schon auch noch lächeln!“

„Warten Sie, eins noch,“ unterbrach Rettenbacher, schon wieder ernsthaft, Günthers ungeduldigen Redestrom. „Was haben Sie der Grete gesagt?“

„Nichts hab’ ich ihr gesagt. Sie kamen uns ja gerade dazwischen, als ich ihr erzählen wollte.“

„Woher hat sie dann aber die Frage nach meinem sogenannten Kummer?“

„Das war ja eben der Anfang, bei dem Sie uns unterbrachen. Und Kummer hat sie nachher bloß gesagt. Ich hatte es schon bei seinem richtigen Namen genannt –“

„Sind Sie des Teufels?“ rief Arnold aufflammend… „Wer giebt Ihnen das Recht?“

„Weiß ich nicht. Hab’s mir jedenfalls genommen. Und behalt’ es auch einstweilen, wenn Sie auch Feuer speien. Hat der Kerl ein Paar Augen, Gotts Donner! Aber ich bin nun einmal drin in der Geschichte und ich muß nun auch durch – und das sag’ ich Ihnen: Wenn Sie mich nicht mehr anhören wollen, dann geh’ ich zwar zu der Thüre da hinaus, aber herein komm’ ich dann nicht mehr, darauf können Sie sich verlassen. Ueberhaupt nicht mehr! Verstanden, Sie Trotzkopf, greulicher?“

„Das entscheidet freilich,“ sagte Rettenbacher halblaut, in dem Blick, mit dem er den aufgeregten Freund ansah, lag allerlei: Noch nicht überwundener Verdruß, Erstaunen, Weichheit, Güte, und als Schleier eine Art von Lächeln.

Er warf sich in eine Sofaecke und lehnte den Kopf zurück. „Oeffnen Sie Ihre Schleuse. Ueberschwemmen Sie mich. Ich halte still.“

„Höchste Zeit“, sagte Günther, sich schnell einen Stuhl heranziehend und am Tisch, Arnold gegenüber, niedersitzend.

„Also. Zum richtigen Anfang! Was ich mir bis jetzt noch nie erlaubt habe. Sie lieben die Hanna, das steht fest.“

„Seit wann steht das fest?“ fragte Rettenbacher unter einem flüchtigen Farbenwechsel, aber in trockenem Ton, ohne den Kopf von der Lehne wegzurühren, mit dem Blick der halbgeschlossenen Augen irgendwo, „Wer hat Ihnen das erzählt?“

„Onkelchen“ – – Günther schüttelte ärgerlich den Kopf. „Ich denke, das lassen Sie. Das ist zu dumm. Ueber diesen Punkt können wir wirklich ganz ruhig zur Tagesordnung übergehen. Daß Sie das Mädel schon vor fünf Jahren geliebt haben, das wissen die Spatzen auf dem Dach.“

Arnold richtete sich nun doch hastig auf. Seine Augen brannten wieder. „Was reden Sie da?“ stieß er heraus.

„Nichts Schlimmes, beruhigen Sie sich nur. Das mit den Spatzen dürfen Sie buchstäblich nehmen. Denken Sie etwa, die auf Waseniussens Fensterbrett haben vor Zeiten mit Glasaugen in die Stube geguckt? Haben sich nicht ihren Vers gemacht? – Er lehnt sich wieder an, er ist wieder brav. Recht so. Also weiter! – Ich meinte also: Ich wußte es, und die Mutter. Eine Zeit lang dachte ich ja auch, nein, ich schwor Stein und Bein, es könnte auch dem Mädel nicht verborgen geblieben sein. Schien aber dann doch so, denn sonst hätte sie ja nicht – oder vielmehr sonst würde sie – na, lassen wir das elende Kapitel. Warum sie den Mann schließlich genommen hat, wissen wir ja, und auch, was aus dem vergeblichen Opfer geworden ist. Für eins aber möcht’ ich heute meine beiden Hände ins Feuer legen. Nämlich, daß sie ihr armes Herze gerade so hat unterkriegen müssen, wie Sie das werte Ihrige, und daß Sie nicht alleine gelitten haben. Mir scheint vielmehr, das unglückliche Ding war noch weit schlimmer dran als Sie, denn Sie haben doch keine andere Frau nehmen müssen, was? Gott sei Lob und Dank! Denn wenn jetzt Sie noch an der Kette säßen, wo Hanna wieder frei ist – –“

Rettenbacher erhob hastig abwehrend die Hand. „Hören Sie auf,“ sagte er rauh. „Wenn Sie weiter nichts können, als dasselbe Lied noch einmal singen – –“

„Ruhig! Ausreden lassen!“ unterbrach der andere, ärgerlich mit der Faust auf den Tisch klopfend. „Wissen Sie denn, was ich sagen will? Keine Spur wissen Sie davon. Dasselbe Lied. Da wär’ ich schön dumm! Nachdem Sie mich angeschnoben [843] haben, daß ich bald an die Wand gefallen wäre. ,Ich heirate keine reiche Frau! Ich lasse mich nicht von einer Millionärin füttern!’ Auch gut. Das sind Ansichtssachen. Dagegen läßt sich nichts sagen. Gefiel mir auch eigentlich wieder mächtig von Ihnen. Auf der andern Seite find’ ich, wenn man eine rechtschaffen lieb hat, dann braucht ihr Geld kein Hindernis zu sein. Aber einerlei. Das war nun abgemacht. Da kam’s dann heraus, was das Biest, der Thomas, für ein niederträchtiges Testament gemacht hatte. Wer es nur so flink unter die Leute gebracht hat! Ich denke mir, die liebe Schwägerin wird wohl das Ihrige dazu gethan haben; die hatte so offenbar eine Pike auf unser armes Wurm. Nu? sagt’ ich damals zu Ihnen, he? Die Millionen könnten Sie doch nun nicht mehr drücken, wenn Sie auf die Freite gingen. Wieder gefehlt! Wieder angeschnauzt! Ich hab’s gut gehabt bei Ihnen in diesem letzten Vierteljahr, alle Wetter. ,Wie können Sie denken, daß ich einer Frau zumuten werde, um meinetwillen ihr Vermögen aufzugeben?’ – Nu war’s ganz aus. Nu kriegt’ ich richtig das Stillschweigen. Da war nichts mehr zu wollen. Dornen rundum! Hochmutsdornen. Eigensinnsdornen. Verlegenheitsdornen! Ein nettes Gewächs. Und mitten drinne saßen Sie und grämten sich. Und ich sah mir das mit an und fuchste mich. Und die arme Grete zerbrach sich den Kopf, was Ihnen fehlen möchte, denn von dem Hannichen hatte sie natürlich keine Ahnung, weil Sie wandelnder Grabstein ja nie ein Wort von ihr geredet hatten, vorher nicht und nachher erst recht nicht.

„Nun? Und das endliche Ende von Ihrem langen Lied?“ fragte Rettenbacher müde. Er hatte regungslos dagesessen und erhob jetzt zum erstenmal wieder die traurigen Augen. „Zu welchem guten Zweck haben Sie mir nun diese meilenlange Rede gehalten? Nur, um abermals festzustellen, daß mir nicht zu helfen ist –“

„Nee!“ rief Günther aufspringend. „Jetzt kommt mein Trumpf!“ Er strahlte über das ganze Gesicht. „War bloß eine wirkungsvolle Einleitung. Allerneuste Depesche! Sie ist keine Millionärin mehr.“

„Was heißt das?“ Im höchsten Grade betroffen richtete sich Rettenbacher auf seinem Platz in die Höhe.

„Das heißt, daß sie sich arm geschenkt hat auf geradezu geniale Weise arm geschenkt hat. Weg ist das viele Geld. Futschicato!“

„Was für Märchen! Woher wollen Sie das wissen?“

„Aus allerbester Quelle, von ihr selbst. Und brühwarm. Ich war gestern bei ihr. Aber nicht etwa in ihrem Palast am Tiergarten. Da stieß ich mir vorgestern die Nase. Der ist zugeschlossen, bis auf weiteres! Läden herunter. Ausgestorben. Nur der Gärtner wohnt noch hinten in seinem Häuschen. Von dem kriegt’ ich denn die neue Adresse. Ausgerechnet in Nieder-Lehme an der Dahme. Das Dorf hinter Königswusterhausen, wissen Sie. Sie können sich denken, mit welcher Fixigkeit ich am anderen Tage hinausfuhr. Gespannt wie ein Flitzbogen. Seit Weihnachten hatte ich sie nicht gesehen. Bei ihrer letzten Kinderbescherung war ich noch dabei gewesen. Damals verlautete aber noch kein Sterbenswörtchen von diesen Geschichten. Waren eben noch nicht spruchreif, wie ich nachträglich höre. Unterwegs auf der Eisenbahn zerbrach ich mir den Kopf darüber, weshalb ums Himmelswillen sie da mitten im Winter auf Sommerfrische gezogen sein möchte. Der Gärtner in der Tiergartenstraße hatte mir keinerlei Auskunft geben können. Da draußen fand ich sie denn – kennen Sie das Dings? Gute halbe Stunde über Feld von der Bahn aus. So ein langgestrecktes Dorf, die eine Rückseite an dem Flüßchen. Lauter einzeln liegende Gehöfte, immer fünfzig, achtzig, hundert Schritte Ackerland dazwischen. Ungemütlich, besonders im Winter. Da find’ ich sie denn in so einer Art von Villa; wenigstens wollt’ es vorzeiten so aussehen, das Haus. Mit Säulchen vor der Thür mit ’nem griechischen Dächelchen oder so was darüber. Eingang von der Seite. Ein reich gewordener und schnell wieder verkrachter Unternehmer hat es vor einer längeren Reihe von Jahren gebaut. So ein Residenzchen für Sommergäste, die zurückgezogen leben wollten. Der Nachfolger hat dann noch einen Flügel angeklebt, häßlich, nüchtern vorn entlang, mit sechs Fenstern, paßt gar nicht dazu. Ein verdrehtes Gebäude. Liegt noch obendrein mitten in einem großen, verwilderten Garten. –“

„So kommen Sie doch nur endlich zur Sache!“ unterbrach ihn Rettenbacher ungeduldig. „Was soll die lange Einleitung?“

„Recht haben Sie. Scheußlich von mir, was? Sie noch lange auf die Folter zu spannen. Wollte es nur so recht plastisch beschreiben, damit Sie den richtigen Eindruck bekämen. Also: Da sitzt sie, da wohnt sie, da bleibt sie. Niet- und nagelfest. Für Sommer und Winter. Das wäre der Winkel, sagt sie, den sie so lange gesucht hätte, und in dem sie sich nun einspinnen wollte – aber schon gut, alle Einzelheiten später, zu Befehl! Zuerst die märchenhafte Geldgeschichte, wirklich märchenhaft; schon, weil’s so was eigentlich gar nicht giebt! Denn – abgesehen von der Gemeinheit mit dem Testament – wie hätte sie sich ihr Leben jetzt hübsch und behaglich einrichten können, nachdem sie von ihrem Quälgeist erlöst war. Mit dieser kolossalen Erbschaft, ganz zu freier Verfügung. Ich hab’s wieder vergessen, aber es war eine eklig hohe Ziffer. Und doch – wie Gott den Schaden besieht – sie ruht nicht, bis sie das Geld los ist, sie will es nicht behalten, sie fürchtet sich davor. Also – ich erzähl’ ja schon – das Kurze und das Lange von der Geschichte: reichlich dreiviertel ihres Vermögens ist deponiert zum Bau und zur nachherigen Verwaltung einer großen Stiftung, ,Thomas-Stiftung’ soll sie hießen, die aus drei Teilen besteht, Hauptteil ein Kinderkrankenhaus, besonders für die Kinder aus der Arbeiterbevölkerung. Sie wollen, je nach dem Befund der elterlichen Kasse, umsonst oder gegen Zahlung eines winzigen Satzes aufgenommen werden. Diese Bestimmung gilt dem Selbstgefühl der Leute, die noch nicht ganz auf dem Trocknen sitzen. Dann, erstes Anhängsel: eine Art Spittel, aber in feinem, hübschem Stil; ein Versorgungshaus für alte oder sonst arbeitsunfähige Leute. Zweites Anhängsel: eine sogenannte ,Kinderstube’, das ist ein Haus, wo die Mütter, die auf Arbeit ausgehen müssen, ihre kleinen, nicht schulpflichtigen Kinder, vom Säugling an, morgens, abliefern können, und wo die Würmer dann gefüttert und verwahrt werden, bis sie sie am Abend wieder abholen. Was sagen Sie dazu? Fein, famos, was? Unser Hannichen! Wenn alles so wird, wie sie sich’s ausgedacht hat, dann giebt das eine ganz einzige Sache. Aber bis dahin ist es noch weit. Die Pläne sind zwar schon entworfen; sie hat einen sehr geschickten Architekten erwischt. Aber ehe alles überwunden ist, was es da noch an gesetzlichen, amtlichen, magistratlichen, fiskalischen Beschwernissen und so weiter und so weiter zu bestehen giebt, – läuft noch mancher Tropfen Wasser zu Thal. Doch jedenfalls: Das Geld ist schon nicht mehr ihr Eigentum, das liegt schon ganz fest als Schenkung bei der Stadt. Mag’s da noch so lange Zinsen tragen, bis man anfangen kann zu bauen. Ferner hat sie dann noch einzelne große Summen an verschiedene Wohlthätigkeitsanstalten Berlins gegeben; aber ohne Namen, als ,Ungenannte’. An die Asyle für Obdachlose, an das städtische Waisenhaus, an die Wärmehallen, an die Kinderspeisungsstätten, an – ich weiß nicht mehr! Alles in allem noch ein klotziges Stück Geld. Selbstverständlich sind all diese Mitteilungen durchaus vertraulich. Wenn sie wüßte, daß ich – ei du lieber Gott! Aber ich weiß ja, was ich thue, und warum. Uebrig behalten für sich hat sie nur ungefähr so viel, daß sie gerade so leben kann, wie sie mit der Mutter gelebt hatte, ehe das Unglück anfing und Thomas kam, um sie zu retten. Ja richtig, das Haus nicht zu vergessen, das hat sie mit allem Inventar, außer ihrem, Hannas, ganz persönlichen Eigentum, der Familie in Breslau zur Verfügung gestellt. Ist natürlich auch angenommen worden, und ohne Handkuß. Soviel sie weiß, soll nach Ablauf des Trauerjahres Nichte Evchen ihre Residenz drin aufschlagen. Na, ihr kann’s einerlei sein. Bald nach Weihnachten ist sie ausgezogen, ganz still und lautlos, mit ihrem kleinen Um und Auf aus der alten Linkstraßenwohnung, und hinaus auf das Dorf in das einsame Haus.“

Günther schwieg und betrachtete den Freund, der, sehr bleich, in einer Art von Erstarrung dasaß. Kaum unterschied man, ob er atme, ob er wohl höre. Nur von den groß offnen, fernabträumenden Augen war ein Schleier niedergesunken, der sie bis jetzt verdüstert hatte. Günther wunderte sich, wie schön diese Augen doch eigentlich wären. Wieviel schöner mußten sie aber noch werden, wenn sie erst lernten, zu lächeln. Aber bis dahin – –

Arnold rührte sich jetzt. Mit einem tiefen Seufzer schien er zu erwachen.

[846] „In das einsame Haus“ – wiederholte er mit noch wenig Stimme, abgebrochen, gleichsam horchend, als brächte eine zurückkehrende Tonwelle die letzten Worte näher an sein Ohr, als verstünde er sie nun erst deutlich. „Wie kommt sie gerade dorthin?“

„Rein durch Zufall. Wie der oft so wunderlich spielt. Sie hatte an die Eltern ihrer Bertha geschrieben um zu erfahren, ob das Mädchen in Stellung sei und ob sie sie möglichenfalls wieder bekommen könne. Der Haushalt in der Tiergartenstraße wurde ja zu Januar aufgelöst. Sämtliche Dienstboten waren zu Weihnachten noch besonders reich beschenkt worden. Zum Abschied – es war schon mehr ein Trauerfest. Die Pauline heulte wie ein Schloßhund, und August ging herum, als sollte er geköpft werden. Alle haben sie an ihr gehangen. Aber sie konnte ja keinen von ihnen behalten, so wie sie ihr Leben nun eingerichtet hatte. Also die Bertha, wenn’s irgend zu machen war. Die Alten wohnten in Friedrichsfelde, das wußte Hanna noch und fragte dort an. Aber Krügers waren weggezogen, und so ließ die Antwort auf sich warten, weil der Brief ihnen nachschlich. Die bekannte Findigkeit unserer Post eruierte sie denn auch richtig in Nieder-Lehme, wo sie das bewußte Grundstück gepachtet hatten. Außer dem großen Garten gehört nämlich noch ein bißchen Land dazu. Dann hat der zweite Besitzer seiner Zeit auch ein kleines Stallgebäude hingesetzt. Da haben sie nun ein paar Schweine, Ziegen und Kaninchen drinne. Mit den Langöhrchen treiben sie Handel in der Gegend. Also die alte Krügern schreibt so und so, und die Bertha wäre bei ihnen, außer Dienst, weil sie ihnen in der Wirtschaft helfen müßte, und es würde wohl nicht gehen, denn jemand Fremdes annehmen, wenn man die eigene Tochter haben könnte et cetera, et cetera. Tags darauf kommt die Bertha selbst, weil ihr doch das Herz schwer war wegen der Absage. Sie erzählt, wie sie da draußen leben, und wie's bei ihnen aussieht, und daß sie im Sommer, wenn sich jemand fände, vermieteten. Mein Hannichen faßt einen raschen Entschluß – es kam ihr, sagt sie, wie eine Eingebung – fährt hinaus, sieht sich die Sache an und mietet stehenden Fußes den Alten die eine Wohnung ab. In der anderen, in dem scheußlichen, angeklebten Flügel nach vorne heraus, wohnen eben Krügers. Jede hat ihre eigene Küche mit allem Zubehör. Die Bertha ging so natürlich mit in Kauf, denn sie bleibt so den Alten auf diese Weise unbenommen. So hat sich die Geschichte zugetragen. Gelungen, nicht? Riesig billig wohnt und lebt sie nun da draußen selbstverständlich. Was sie zum Wirtschaften braucht, bekommt sie im Ort oder in Wusterhausen, zur Not in Berlin.“

„Und wie – lebt sie sonst?“ fragte Rettenbacher zögernd.

Günther zuckte die Achseln. „Kreuzfidel ist anders,“ antwortete er. „Wenigstens nach meinem Geschmack. Einsam, verdammt einsam. Gewissermaßen trostlos. Vielleicht, daß es im Sommer hübscher ist. Aber in unserm Klima ist der Sommer bekanntlich eine selten auftretende Jahreszeit. Sie sitzt da wie in der Verbannung. Aber sie wollte nichts davon hören, daß ich es gräßlich fand. Ihr wär’s recht so, sagte sie, für sie wär’s genau das, was sie sich gewünscht hätte, das letzte und einzige, was sie sich noch gewünscht hätte. Ihr Zufluchtsort. Schön brauchte er nicht zu sein, nur still.“

„Sie glauben also –“ begann Rettenbacher wieder mit bedeckter Stimme. Er sprach aber nicht zu Ende. Das Wort schien ihm zu versagen. Er griff nur mit unsichrer Hand nach einem Blatt Papier, das auf dem Tische lag, und drückte es in der Faust zu einem Klümpchen zusammen.

„Ja“, sagte Günther, heftig nickend. „Ich glaube, das meinte ich gerade, als ich vorhin sagte, sie wäre auch verrückt. Was es ist, das sie so – ich möchte sagen, so umsponnen hat, wie mit einem grauen Netz, ich weiß es nicht. Nach wieder leben wollen sieht mir ihr Gesicht nicht aus. Eher nach warten, bis es alle ist. Grüße hat sie mir auch nicht aufgetragen. Scheußlich deprimiert zog ich eigentlich ab. Unterwegs wurde mir aber dann besser zu Mute. Es giebt nur einen, der sie zur Vernunft bringen kann. Sie wissen, wen ich meine, alter Freund. Drum bin ich heute herauskarriolt, sowie ich mein Pensum hinter mir hatte. Ich sagte mir: Riskier’ dein Leben. Mehr wie sacksiedegrob kann er ja nicht werden, wenn du ihm zum drittenmal mit derselben Sache auf den Pelz gerückt kommst. Nur muß es ausgehalten werden, nur mußt du nicht beim ersten Wort in die Ecke fliegen, sondern standhalten, ihn niederschreien. Habe ich also gethan. Habe meine Mission erfüllt. Mir ist jetzt soweit ganz wohl. Wohler als Ihnen, wie mir scheint, Sie infamer, alter Schwarzseher. Oder was bedeuten diese nachdenklichen, diese abgründig dunklen Augen? Der Deibel soll Sie holen, wenn Sie jetzt noch keinen Mut haben. Was Sie vor fünf Jahren nicht konnten und durften, das können und dürfen Sie doch heute getrost, sollt’ ich meinen. Denn so weit kennen wir doch unsere Hanna Wasenius, daß sie ihrer Lebtage auf gebackene Lämmerschwänzchen und Lampreten nicht versessen gewesen ist, was? Und die Art, wie sie jetzt ihr Geld untergebracht hat, beweist denn doch wohl – Sie lächeln und schütteln den Kopf. Worüber? Beweist es etwa nicht – –“

Rettenbacher griff über den Tisch nach Günthers Hand und hielt sie fest. „Halt, halt,“ bat er mit einem herzlichen Blick. „Lassen Sie es gut sein. Hören Sie auf. Gegen wen verteidigen Sie denn eigentlich Ihren Schützling? Glauben Sie wirklich, Sie müßten mir erst sagen, wer sie ist?“

„Scheint bald so. Sie sitzen da und sagen kein Wort.“

„Kann ich denn? Sie sind ja ein Wasserfall, liebes Güntherchen. Sie schlagen jedes andere Geräusch tot. Und zweitens gehört Redenhalten nicht zu meinen Talenten, wie Sie wissen sollten. Besonders im Augenblick – –“

„Na gut. Das seh' ich zur Not noch ein. Ich nehme alles zurück. Also Sie haben Mut?“

„Freilich hab' ich Mut, Sie wilder Advokat.“

„Was wollen Sie also thun?“

Arnold stand auf. „Warten,“ sagte er tief ernst, „aber mit dem leuchtenden Ernst des frischen, freudigen Willens. Warten und ihr Zeit lassen! Sie nicht quälen, so lange sie noch so wund ist. Ihr zunächst die Einsamkeit vergönnen, nach der sie sich so sehr gesehnt hat. Nicht auf sie einreden, so lange sie noch schweigen will. Hoffen, glauben, daß die Natur als Nothelferin ihr Amt nicht versäumen wird.“

„Schön. Und dann?“

Rettenbacher wandte sich ab und trat ans Fenster. Wohl eine Minute blieb es ganz still im Zimmer.

„Ich sollte Sie nun vielleicht erst ein bißchen allein lassen, was?“ fragte dann Günther halblaut, mit einem treuherzig zärtlichen Lächeln, das der andre nicht sehen konnte.

„Bitte ja, – – ich wäre Ihnen sehr dankbar –.“ Es war kaum zu verstehen, so heiser und abgerissen kam es aus der zusammengedrückten Kehle.

Ganz sacht und ohne sich noch einmal umzuschauen, schlich der „wilde Advokat“ zur Thür hinaus.

„Ich glaube wirklich, das hab' ich ganz famos gedeichselt,“ sagte er eine Minute später im Wohnzimmer zu Grete, die in großer Sorge auf seine Rückkehr gewartet hatte. In kurzen Zügen, so kurz es ihm möglich war wenigstens, und in so knappen Umrissen als das leidenschaftliche Interesse der gespannt lauschenden Schwester zuließ, erzählte er nun den Lebenslauf dieser wehmütigen Liebesgeschichte, – in der von Liebe eigentlich noch gar nichts vorgekommen war.

„Sie ist sehr krank, das arme kleine Tierchen,“ schloß er seinen Bericht. „Nicht nur körperlich, was schon ganz genug wäre. Aber auch ihre Seele ist kaputt, und das ist schlimmer. Wenn nun der Arnold ihr nicht hilft, dann weiß ich nicht, was werden soll. Aber er wird ja doch wohl. Ich hoffe, übers Jahr sind wir schon ein ganzes Ende weiter. Elend freuen würde ich mich!“

„Gott, und ich erst,“ sagte Grete.

Günther hob aufhorchend den Kopf und sah sie an. Wahrhaftig, sie hatte Thränen in den Augen „Warum weinen Sie denn, liebe, gute, allerbeste Frau Zöllner?“

„Ach was,“ murmelte sie dunkel errötend und stand auf, lief auch aus der Thür, denn draußen hatte es heftig geklingelt. Natürlich war es der Hans.

„Viel länger als eine halbe Stunde bin ich weggeblieben,“ rief er. „Nun werdet ihr doch mit eurer Beratung fertig sein.“

Und verdutzt von einem zum andern blickend „Noch nicht?“

[857]
44.

Aus dem kühlen, späten, kümmerlichen Frühling war blühender, glühender Sommer geworden. Juli. Prachtvolles Erntewetter. Strahlend blauer, wolkenloser Himmel. Niederlehme schien fast menschenleer; alles, was arbeiten konnte, schaffte draußen auf den Feldern. Nur selten sah Hanna von ihrer Laube aus jemand an dem schulterhohen Weidenzaun des Gartens entlang gehen. In der zitternd heißen, unbeweglichen Sommerluft schwammen zuweilen ein paar schwatzende Stimmen in eintönigem Klange vorbei. Sonst war alles still weit und breit. Kein Windhauch rührte sich, die Blätter an den Bäumen standen unbeweglich.

Die einsame Frau saß schon eine gute Weile in träumerischer Ruhe, den Kopf angelehnt, die Füße auf ein Schemelchen gestützt, das Buch, in dem sie genug gelesen hatte, im Schoß. Die aufsteigende Tagesglut wurde ihr nicht zu heiß, noch hatte sie das innerliche Frieren nicht verlernt. Nur schien ihr nach und nach die unbewegte Luft in der Laube doch allzu dumpf zu werden. Die Sonne war herumgerückt und brütete über dem dichten Geißblattgerank. Im Hausschatten unter der großen Ulme mußte es jetzt besser zu sitzen sein.

Sie erhob sich und räumte die weggelegte Handarbeit vollends zusammen. Mit Körbchen und Buch ging sie dann unter den mannigfaltigen großen und kleinen Obstbäumen, zwischen Stachel- und Johannisbeerbüschen hindurch, an Salat- und Kohlrabifeldchen entlang, hinten, um die Hausecke herum in die „Wildnis“, den ungepflegten Teil des großen Gartens, der nicht dem Nutzen diente, in dem man schon seit geraumer Zeit Busch und Baum den Wicken ließ und das Gras nur schnitt, weil es Ziegenfutter gab.

Vom Hofe her klang jetzt lautes Hundegebell. Packan, der große Gelbe, mischte seine dröhnende Stimme mit Mollys kläffendem Diskant. Das war vielleicht schon der Briefträger, den man um diese Zeit erwarten konnte.

Hanna, anstatt sich unter der Ulme niederzulassen, ging noch weiter um das unregelmäßige Gebäude herum, bis sie aus der der Laube entgegengesetzten Seite das lange Rechteck des Hofes betrat. Ob nicht der Pastor heute schon etwas von sich hören ließ? Wenn er einwilligte – und sie erwartete es kaum anders –, dann gab es heute und morgen noch allerlei zu thun.

Wirklich trabte eben der Postbote, von Packan bis vors Hofthor geleitet, um die Ecke, und Bertha, die schon durch das Haus zur Laube hatte gehen wollen, machte in der Küchenthüre wieder kehrt, als sie die Herrin von der andern Gartenseite her erscheinen sah. Mit ihren nicht ganz saubern Händen getraute sie sich den Brief wohl nicht anzufassen, sie hatte den Schürzenzipfel darumgelegt und hielt ihn so an einer Spitze. Zwei Briefe vielmehr: den obersten, von Pastor Erdmann, erkannte Hanna sogleich, den andern auch – obwohl sie diese Handschrift seit etwa fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Zum erstenmal, daß sie ihren Namen in diesen großen, kühnen, so ganz unschulgemäßen Zügen las. Sie warf dann einen scheuen Blick über die Achsel nach Bertha hin, aber das Mädchen hatte seine Arbeit schon wieder aufgenommen.

Unbeobachtet also, mit einem Seufzer der Erleichterung ging Hanna in den Garten [858] zurück. Langsam, denn es hatte sie ein krampfhaftes Zittern erfaßt. Ein Zittern der Furcht. Das Leben von draußen, vor dem sie in diese tiefe Stille geflohen war, hatte einen Ruf ausgestoßen. Einen noch schwachen, kaum vernehmbaren Ruf. Aber doch ihren Namen! Voll Unruhe betrachtete sie Rettenbachers Brief. Was schrieb er ihr da? Was wollte er von ihr? Sie war ihm so dankbar gewesen für sein Schweigen in all dieser Zeit. Sie hatte daraus gefühlt: Er verstand sie. Und nun? Was wollte er? Das Herz schlug ihr schwer und beklommen.

Ich will erst den andern lesen, beschloß sie, tiefer Atem holend. Der wird mich wieder ruhig machen. – Sie öffnete ihn schon im Gehen, den unerwarteten ließ sie in das Körbchen gleiten, das ihr am Arm hing. An der Rundbank unter der Ulme angekommen, setzte sie sich und las:

„Mein liebes Kind!

Ihr Vorschlag – Sie sehen, ich vermeide auf Ihre Bitte das zutreffendere Wort Einladung –, Ihr hübscher feiner Vorschlag ist als Samenkorn in ein wohlbereitetes Feld gefallen und hat alsbald Wurzel geschlagen. Es war schon seit Wochen mein herzlicher Wunsch, den Amtsrock für ein Weilchen an den Nagel zu hängen und in behaglicher Faulheit irgendwo draußen im Grünen meinen allzu müden sechzig Jahren etliche Erholung zu gönnen. Die Bewilligung meines Urlaubsgesuches für acht Wochen hatte ich schon in der Tasche, als Ihr Brief eintraf. Man hat ihn mir angesichts dieses schwer überstandenen Winters offenbar gern, jedenfalls sehr rasch gewährt. Der Wunsch, Sie wiederzusehen, mein liebes Schmerzenskind, war schon lange sehr lebhaft in mir. Auf den Gedanken freilich, anstatt eines kärglichen Plauderstündchens ihrer viele und ungestörte genießen zu können, war ich nicht gekommen. Ihr Brief nun hat meinen noch unklar schwankenden Reiseplänen mit einem Schlage eine feste Richtung gegeben, und ich bitte Sie, mir zu sagen, bis wann Krügers gute Stube für mich zurechtgerückt sein kann. Ihrer Beschreibung nach muß sich diese Sache ja mit verhältnismäßig geringer Mühe einrichten lassen, und Frau Krüger soll an mir einen bescheidenen und sanften Pensionär bekommen.

Also denn, auf Wiedersehen, meine liebe Hanna, auf fröhliches, gesundes Wiedersehen. Wir haben allerlei zu besprechen, vielmehr ich habe Ihnen noch viel zu sagen, wieder und immer wieder, und daß ich diesmal nicht mehr tauben Ohren predigen möge – das wünsche ich von Herzen.

Ihr alter Freund
Erdmann."     

„Er kann morgen abend schon hier sein,“ sagte Hanna vor sich hin, indem sie das Blatt langsam zusammenfaltete. „Wenn's nach uns ginge, schon heute; aber ich muß ihm ja erst schreiben. Gleich werd' ich’s thun, dann bekommt er ihn morgen mit der ersten Post.

Sie stand aber nicht auf. Sie hatte ja noch den andern Brief zu lesen, der da stumm und weiß neben ihr lag und wartete. Eine Weile saß sie noch so da, die Hände fest ineinander geschlungen, in einer Unruhe, die immer quälender wurde.

„Ich bin kindisch,“ sagte sie endlich fast laut. „Vielleicht ängstige ich mich ganz vergebens. Es muß ja nicht das sein. Sie fühlte freilich in dem selben Augenblick wie einen Rückschlag die Frage: was denn sonst? – Aber sie hielt doch endlich den geöffneten Brief in der Hand.

„Verehrte Freundin!

Eine vollständige Aenderung meiner Verhältnisse zwingt mich, Berlin binnen kurzem zu verlassen und da ich nicht dahin zurückkehren werde, habe ich den Wunsch, mich persönlich von Ihnen zu verabschieden. Aus keinem andern Grunde würde ich mir erlaubt haben, die Ruhe, deren Sie zu seelischer und körperlicher Gesundung dringend bedürfen, schon jetzt zu unterbrechen. Meine freie Zeit ist nun leider so karg bemessen und so genau eingeteilt, daß es mir unmöglich ist, Ihre besondere Erlaubnis zu meinem Besuch und Ihre Bestimmung über die Zeit dazu erst erbitten zu können. Verzeihen Sie gütigst die Formlosigkeit, mit der ich diesem Brief, der nur noch Bote sein kann, auf dem Fuße folgen werde. Ich benutze den Mittagszug und bin zu einer sehr frühen Nachmittagsstunde schon bei Ihnen. Mein Brief kann mithin nur ganz kurz vor mir eintreffen.

Mit herzlichem Gruß
Ihr ergebener          
Arnold Rettenbacher.“     

Erleichtert aufatmend ließ Hanna das Blatt sinken.

Also doch vergeblich gefürchtet. Richtig wie ein dummes Kind im Finstern. Das Weiße in der Ecke, das ist also nur ein Tuch. Was er will, ist nur Abschied, endgültiger Abschied.

Es fuhr dann auf einmal durch sie hin, wie eine feine, scharfe Flamme, dieses: Nur Abschied. Wie lange war es denn her, daß der erste Abschied von ihm ihr das Herz zerschnitten hatte? Wohl tausend Jahre.

Aus diesem, ganz verträumtem Sinnen schreckte sie auf, als Packan, der ihr nachgetrottet war und anfangs das Gebüsch nach Feinden seiner Laune durchstöbert hatte, sich zu ihren Füßen niederlegte und dabei ihr Kleid, auf dessen Saum er unbedingt mit der Schnauze liegen mußte, herabzog.

„Ja, ja,“ sagte sie, sich zu ihm neigend, und streichelte ihm den Kopf, „das denkst du dir so, Gelber. Aber mit dieser Faulenzerei kann's nicht so weitergehen. Wir haben noch zu thun, steh' auf. Müssen Onkel Pastors Zimmer einrichten.“

Packan erhob langsam den Kopf von den ausgestreckten Vorderpfoten und sah sie aus seinen großen, braunen Augen träge verwundert an. Er gähnte dann, daß ihm die Kinnladen knackten.

„I wo denn,“ sagte er endlich mit einem sanft schnaufenden Ton durch die wieder geschlossenen Lefzen – so gut hochdeutsch, wie es ihm, dem gemeinen Dorfköter, möglich war, „wie wirst du denn? Bei die Hitze! Schlaf' lieber en Endeken. Ich auch. Auf'n Abend is es dann kühler.“

„Fauler Kerl,“ schalt Hanna und puschte ihn sacht mit der Fußspitze in die Flanke. „Meinetwegen bleib' du liegen.“

Sie zog ihren Kleidersaum unter seinen breiten Pratzen hervor und stand auf. Als er sah, daß sie Ernst machte, erhob er sich gleichfalls, reckte sich, schüttelte sich und trabte ihr nach. Aus dem Schatten ging Hanna wieder in die Sonne, unter den Obstbäumen hin, und gegenüber der verlassenen Frühstückslaube zur Hausthür, der mit dem griechischen Säulendächelchen, hinein.

In ihrer Wohnstube that sie Buch und Arbeitskorb an ihren Platz, schloß auch die beiden Briefe in die Schreibtischlade. Mit hastigen Schritten – es war eine nervöse Unruhe über sie gekommen – verließ sie dann das Zimmer wieder, ging den langen Korridor an der Krügerschen Wohnung hinunter bis ans Ende, bis zur „guten Stube“, zu der sie sich den Schlüssel heute früh hatte geben lassen. Dumpfe, tote Luft empfing sie, tiefe Dämmerung. Nicht nur die Fenster, auch die Läden waren geschlossen, um den farbenauffangenden Sonnenschein von den schönen roten Plüschmöbeln fernzuhalten. Die Aussicht auf vermehrte Einnahme hatte Mutter Krügern leicht vermocht, eine Weile auf ihren Salon zu verzichten. Abgesehen von den seltenen Fällen, daß man Besuch aus Berlin feierlich in ihm empfing, bestand ja doch seine hauptsächlichste Benutzung darin, daß man Sonntags auf Strümpfen hineinging, um sich in seinem hochfeinen Heiligtum umzusehen. Und so voll Möbel stand die Stube nicht, daß man nicht leicht ein Bett nebst etwas Schlafstubenzubehör darin hätte unterbringen können.

Hanna öffnete die Scheiben und legte die Läden an. Da zwei Fenster nach vorn hinaus schauten, das dritte im rechten Winkel zur Seite, so gab es einen sanften Luftzug in dem unbelebten Raum. Der sollte bis zum Abend so weiter wehen und morgen, nachdem sich die Sonne von dieser Hausseite empfohlen hatte, wieder. Hanna prüfte, die Hände auf den Sims gestützt, mit raschem Umblick nochmals die Aussicht von dem seitlichen Fenster. Es war die hübscheste, die das Haus hatte. Man sah den in der Nähe ansteigenden, kleinen baumbestandenen Hügel hinauf, der dem recht ansehnlichen langgestreckten Gehölz zustrebte und sich an der Vorderseite noch gar mit Hilfe eines steilen, lehmfarbenen Absturzes nach Kräften [859] malerisch gebärdete. Von links her, über die Landstraße und eine breite Wiese, die Kuhweide, hinweg, blinkerte in der Sonne das Wasser des Dahmeflüßchens. Ein bescheidener, landschaftlicher Reiz.

Vom Gangfenster aus sah Hanna sich nun über den Hof hin nach Bertha um. An dem schon minutenlang andauernden dumpfen Pochen hatte sie erkennen können, womit das Mädchen beschäftigt war. Eben hob es den runden kräftigen Stab mit dem S-förmigen scharfen Stampfeisen aus dem breiten Bottich und klopfte es am Rande ab.

„Bertha, hast du noch viel zu thun oder kannst mir dann helfen, das Zimmer umstellen?“

„Noch eine zehn Minuten, Frau Thomas, ja? Bloß noch das Schweinefutter. Hören Sie doch man, wie die Bande wieder kreischt! Die Ziegen haben schon. Ich komme dann sofort.“ Daß der Lärm, den die Schweine in ihrem Koben vollführten, noch keine Hungersnot bedeutete, wußte Hanna nun schon. Sie stellten sich ja vor jeder ihrer regelmäßigen Mahlzeiten so an, als ob sie am Verscheiden wären. Mit einer Bewegung der Ungeduld verließ sie das Hoffenster und ging in die Eckstube zurück.

Mutter Krügern kam jetzt aus ihrer Küche zu Bertha heraus.

„Jeh’ man immer,“ sagte sie und nahm dem Mädchen die Stampfe aus der Hand. „Wasch’ dir de Hände und jeh’ rin. Ick werd’s schon fertig machen. Laß ihr nich unnetig warten. Es muß irjendwat los sind, sie is so unruhig. Vorhin kam sie mit so’n merkwürdijet Jesichte den Korridor lang un sah mir jar nich. War nich Lüders da mit Briefe?“

„Ja, zwei hat er gebracht. Der eine war jedenfalls vom Paster, da hatte sie ja schon drauf gewartet. Den andern kuckte sie so komisch an, so als wenn sie sich mächtig wunderte.“

„Sagte se wat?“

„Kein Wort. Ging ja auch gleich wieder hinter in den Garten.“

„Denk’ an mir, da is wat los, oder ick will Suse heeßen.“

Nach einer guten Stunde wußte sie was los war. „Is ’t de Möglichkeit!“ sagte sie hoch aufhorchend, als Bertha ihr berichtete, wer gleich nach Tische erwartet werde. „Dunderkiesel! Einer von dazumal? Wat will er denn? Ick denke, der hat alleene nischt?!“

„Er kommt auch bloß Abschied nehmen,“ sagt sie, „er geht weg von Berlin.“

„Wo denn hin?“

„Hat sie nich gesagt, ich glaube sie weiß es gar nich.“

„Mach’ mir nich dumm. Wo wird sie denn det nich wissen? War sie sehr bedrippt?“

„Könnt’ ich nich behaupten. Nee, sie erzählte das so ganz ruhig, so nebenher, wie wir da räumten. Und ich sollte mir im Garten was zu thun machen und die Gitterthür im Auge behalten, damit daß er nich dran vorbeiläuft, weil sie doch so schmal und unscheinbar is. Sonst kommt er das ganze Grundstück lang bis zum Hofthor und da haben sich die Köter immer so gräßlich.“

„Ja, ja. Kannst Bohnen pflücken.“ Mutter Krügern stand noch ein Weilchen sinnend da und rieb sich die Nase.

„Ick weeß nich,“ sagte sie endlich, „die Sache scheint mich doch sengerig. Abschied. So uf enmal, wo se sich doch nu schon seit ’n Jahrner viere, fünfe nich mehr zu sehen jekricht haben. Det wäre denn doch jar nich mehr netig jewesen! Will mir mit Jewalt nich rin im Kopp. Paß Achtung, Mächen, wat ick dir sage: er hat ne hibsche Brotstelle jekapert“ – „Nu denn brauch er doch aber nich –“

„Laß mir doch ausreden. Wo wird er denn da jleich mit ’rausbullern. Denn verschrickt sie sich doch un brennt ihn durch, du weeßt doch, wie sie is, will ja von nischt nich wissen. Drum stellt er sich ganz unschuldig und schlängelt sich so sachte ’ran. Laß den man erst hier sind, denn wird er se de Fletentene schon beibringen. Heit Abend feiern wir Verlobung un ufn Herbst, wenn ’t Trauerjahr alle ist, wird Hochzeit jemacht.“

„Mutter, du bist immer so flink vorneweg mit deine Ahnungen. Täusch’ dir man nich wieder. Ich weiß nich – gönnen thät’ ich’s ihr ja natürlich furchtbar!“

„Wer denn nich? Da hier is doch keen Leben uf de Dauer. Da muß sie ja immer elender un trauriger bei werden. Onkel sagte noch jestern: Ick denke manchmal, sie is schon jestorben un thut man noch so. Mir wundert bloß, daß sie sich iberhaupt noch in ’t Bette schlafen legt, warum nich jleich in ’t Sarg?“

„Onkel is recht scheußlich. So was müßt’ er doch nich sagen, wo sie einen doch so dauert.“

„Na, dauert sie ihm denn etwa nich, du olle Drömlade? Dir kebert’s woll? Det meente er doch ebend, daß det en Jammer is, daß sie keene Traute mehr hat zu nischt in de Welt. – Na, nu aber man dalli, dalli, daß wir wat zu essen kriejen! Vater wird jleich ran sind.“

45.

Bald nach zwei Uhr traf Rettenbach ein. Ohne lauten Hundewillkomm ging es aber doch nicht ab. Packan, der Bertha an das Gartenthürchen nachgegangen war, konnte nicht wissen, daß der Eintretende ein Gast sei, und begrüßte ihn mißtrauisch, wie jeden Unbekannten. Molly auf der Hofseite hatte nicht sobald den Freund anschlagen hören, als er wie besessen um das Haus herumgerast kam, um ihm bei der Verteidigung des Burgfriedens beizustehen.

Rettenbacher wehrte mit ruhigem Lachen die beiden pflichteifrigen Köter ab.

„Kommen noch mehr?“ fragte er Bertha, die Packan am Halsband hielt und ärgerlich beschwichtigte.

„Nee, Gottlob. Die machen gerade genug Skandal. Es is bloß, daß wir sie brauchen. Treten Sie näher, Herr Doktor, bitt’ schön. Frau Thomas is drin in der Stube. An der Thür trat ihm Hanna entgegen. Sie sprachen beide zuerst kein Wort. Er hielt ihre zögernd dargereichte Hand fest in der seinen und sah ihr in die Augen und, als die sich flüchtend senkten, an der kümmerlichen Gestalt herab und wieder aufwärts in das schmale farblose Gesicht, das dem zartblühenden Mädchenantlitz von einstmals fast nicht mehr ähnlich sah. Und wie unergründlich still es war, wie tödlich verschwiegen. So anders verschwiegen als zu den Zeiten, in denen er mit ihr und der Mutter lebte. War sie jetzt erschüttert bei diesem Wiedersehen nach so langer Zeit? Oder auch nur bewegt? Er würde es nicht erfahren, so schien ihm. Hatte die Vergangenheit keine Augen, keinen Atem mehr? Lag sie eingesargt? Was war übriggeblieben?

Ein Gefühl wie beginnende Lähmung sank ihm auf die Schultern, von ihren kühlen, reglosen Fingern schlich es kalt zu ihm hinüber. Er drückte sie aber fester, schüttelte sie auch ein wenig, er spürte dann als erstes Lebenszeichen ein leichtes Zittern in ihnen. Standen und schwiegen sie schon eine Stunde so? Doch wohl nur Sekunden. Aber er schrak beinahe zusammen, als sie nun mit einer Stimme, so farblos wie ihr Gesicht, mit neuem, flüchtig lächelndem Aufblick sagte: „Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihnen?“

„Mir geht’s gut,“ antwortete er, tief Atem holend und sich straffer aufrichtend. – Heiter! flog es ihm durch den Kopf. Frisch! Aufstören aus dieser vorzeitigen Grabesruhe! – „Mir geht’s sogar ausgezeichnet. Aber Sie find’ ich noch nicht so erholt, nach diesen Monaten der Ruhe, wie ich es gehofft hatte.“

Sie entzog ihm jetzt ihre Hand und machte damit eine abschneidende, endigende Bewegung.

„Von mir wollen wir, bitte, gar nicht sprechen. Sie sind gekommen, mir zu erzählen, was Sie von Berlin wegführt. Für diese Freundlichkeit dank’ ich Ihnen sehr. Bitte, setzen Sie sich – hier – und nun fangen Sie an.“

Rettenbacher nahm den ihm bezeichneten Stuhl. Sie selbst saß – wie gut kannte er ihn – in dem großen Korbsessel der Mutter, nur daß die meisten Kissen fehlten und auch das schwebende Fußbrettchen. Er sah sich langsam um.

„Lauter alte Bekannte“ sagte er halblaut, mit einem weichen [860] Lächeln. „Mir scheint, ich komme nach Hause. Wie hübsch sich das alles hier ausnimmt in dem sanften grünen Licht. Wie die Sonne durch die Blätter leuchtet. Die Weintrauben wachsen Ihnen im Herbst offenbar in die Stube hinein. Vorzüglich steht Ihr kleiner Schreibtisch da an dem anderen Fenster. Auch Vater Wasenius konnte keinen besseren Platz bekommen. Er beherrscht das ganze Zimmer. Nur das Klavier, dünkt mich, haben Sie nicht günstig aufgestellt. Da in der dunkeln Ecke, da sehen Sie ja nichts, und es singt sich auch nicht gut.

„Ich singe nicht mehr“, unterbrach sie ihn kurz, in gleichgültigem Ton. „Darum steht es da schön genug“.

„Sie haben einstweilen noch keine Freude daran?“

„Ueberhaupt nicht mehr. Die Stimme ist schon lange tot.“

„Scheintot, denk’ ich mir,“ sagte er herzlich. „Das kommt vor. Hat sie genug geschlafen, so wacht sie dann um so frischer auf. Sie sollten Günther einmal anklopfen lassen.

Hanna schloß die Hände fest um die Armlehnen ihres Sessels, drückte auch die Lippen zusammen. Anfangs hatte sie ihm zugehört, mehr dem Ton seiner Stimme lauschend, als auf die Worte achtend. Sie wunderte sich über den frischen, energischen Klang, erinnerte sich plötzlich vollkommen deutlich, daß es früher ein ganz anderer gewesen war, dasselbe Instrument wohl, aber mit Sordine gespielt, gedämpft, verschleiert. Die Bemerkung über ihr Klavier weckte sie dann völlig. Seinen Hinweis auf Günther beantwortete sie nicht.

„Ich bin so sehr gespannt auf Ihren Bericht,“ sagte sie nach einer kleinen Pause. „Dazu sind Sie doch hergekommen.“

Er lächelte.

„Dazu bin ich hergekommen,“ wiederholte er. „Das ist gewiß.“ – Langsam, Alter, ermahnte er sich innerlich. Diese Draufgänger-Diplomatie hätte Bruder Heinrich Ehre gemacht! – Und laut. „Mein Bericht läuft nicht davon, der ist Ihnen sicher. Sie müssen es aber einem alten Freund zu gute halten, wenn er sich nach einer so langen Abwesenheit ein bißchen bei Ihnen umschaut, auch ein paar neugierige Fragen thut. Zum Beispiel scheint mir, daß Sie hier bedenklich einsam wohnen. Das alte Haus mit seinem schäbigen bröckeligen Putz machte mir beim Näherkommen nicht gerade einen überwältigend gemütlichen Eindruck. So verlassen, so auffallend weitab von den übrigen, so tief im Garten. ‚Verwunschenes Schloß' wäre eine unerhörte Schmeichelei, ‚Räuberhöhle' vermutlich eine Beleidigung.

Hanna mußte lächeln.

„Ganz gewiß,“ sagte sie. „Keins von beiden trifft zu. Krügers möchten Ihnen das zweite sogar tüchtig übelnehmen. Es wohnt sich ganz gut in der alten Baracke.

„Aber ich mache mir Sorge um Ihre Sicherheit während der Nacht. Wenn ich ein Strolch wäre, diese Gelegenheit könnte mich mächtig reizen. Ein einziger Mann ist im Haus.“

„Zwei. Frau Krügers Bruder wohnt auch da. Er hausiert in seinem Boot flußauf und -ab mit Heringen und Bier und so weiter, abends kommt er heim.

„Gut, daß Sie wenigstens die beiden Köter haben. Nach dem leidenschaftlichen Mißtrauen zu schließen, mit dem sie mich begrüßt haben, rasen sie wohl die ganze Nacht wie weiland Gustav Freytags Bräuhahn und Speihahn mit wütendem Geheul ums Haus herum?“

„Nicht ganz so. Molly, der Spitz, hat die Außenwacht und macht nur Lärm, wenn es Zweck hat; er ist sehr klug. Packan schläft im Hause, auf dem Korridor, vor meiner Thür.

„Das ist recht,“ sagte Rettenbacher befriedigt. „Aber es ist nicht genug. Haben Sie auch menschlichen Zuspruch in der Nähe? Gesetzt, allein Sie würden krank – können Sie jemand rufen? Hört man Sie?“

„Von rechts und links. Bertha schläft in der Eckstube neben mir, dort nach vorn hinaus. Auf meiner anderen Seite ist Krügers Zimmer, wenn auch nicht durch eine Thür mit dem meinigen verbunden. Denn da beginnt der an die Vorderseite angebaute Flügel. Sie sehen, ich bin ganz umgeben von Schutz.

Rettenbacher nickte; er betrachtete sie einige Augenblicke sinnend.

„Bekommen Sie denn auch etwas zu essen?“ fragte er dann. „Jeden Tag,“ versicherte Hanna, wieder unwillkürlich lächelnd.

„Das wäre schon anzuerkennen. Aber aus was für Bestandteilen ist es zusammengesetzt und wie ist es zubereitet?“

„Gott, das ist ja ganz gleichgültig. Ich schmecke kaum hin. Anfangs kochte Bertha für mich in meiner Küche, dann merkte ich, daß die Mutter sie schlecht entbehren konnte, und so gab ich mich gegen ein Bestimmtes in Pension bei ihnen und esse, was sie mir geben.“

„Das dacht' ich mir,“ sagte Rettenbacher. „Die Mahlzeiten kann ich mir vorstellen.“

„Im Ernst, sie sind ganz gut. Für meine Ansprüche jedenfalls gut genug. Frau Krüger ist ja eine anständige Frau, die nicht daran denkt, mich auszunutzen und außerdem war sie in ihrer Jugend Köchin.“

„Versteh’ schon. Huster ist gegen sie ein armer kleiner Waisenknabe.“

„Lassen Sie ’s gut sein, ich bin recht zufrieden mit meinem einfachen Essen. Die kostbaren und feinen Speisen hab’ ich bis zum Widerwillen kennen gelernt. Reden wir doch von etwas anderem! Zum Beispiel –“

„Zum Beispiel,“ unterbrach sie Rettenbacher, „wie lange Sie hier noch bleiben werden?“

„O für immer,“ antwortete Hanna verwirrt, mit einem unsicheren Blick in seine ernsthaft fragenden Augen.

„Für immer,“ wiederholte er. „Das ist ein Wort, das man im allgemeinen – in dieser Anwendung – nur von Kindern hört, die nicht wissen, was es bedeutet, oder von ganz alten Leuten, die wissen, daß diese Frist für sie nur karg bemessen ist. Und als sie schwieg, wieder mit demselben undurchdringlichen, stillen Gesicht, das ihn gleich zu Anfang so bedrückt hatte. „Sie haben also den bestimmten Vorsatz, hier noch zwanzig, dreißig, möglichenfalls vierzig Jahre auszuhalten?“

„Hoffentlich so lange nicht, hoffentlich viel kürzer,“ sagte sie tonlos.

„Es könnten aber sogar auch fünfzig Jahre daraus werden. Sehen Sie, davor schaudern Sie schon jetzt.“ Er lächelte, mit einem eigenen Schimmer, der langsam, wie eine warme Flamme, sein ganzes Gesicht erhellte. „Im übrigen ist mir gar so bange nicht um dieses ‚Immer'. So lange halten Sie es nämlich hier nicht aus. Vielmehr Hanna Wasenius hält es mit Ihnen nicht aus.“

„Was wissen Sie von der?“ sagte Hanna finster. „Die ist lange weg.“

„Was ich von der weiß? Das fragen Sie? Das ist kurios. Aber ich will Ihnen die kuriose Frage sogar beantworten. Ich weiß von ihr, daß sie es auf die Dauer nicht erträgt, nur für sich selbst und nur mit sich selbst zu leben. Ich weiß von ihr, daß sie kein Ichmensch ist, sondern daß sie andere braucht, um das eigentliche Wesen ihrer Natur auf sie auszustrahlen, daß sie nur glücklich ist, wenn man sie unbedingt nötig hat, und kreuzunglücklich, wenn sie sich entbehrlich findet. Und sie wäre weg? Das weiß ich schon wieder besser. Verkrochen hat sie sich, ins Dickicht geflüchtet mit ihren Wunden, wie die armen Rehe thun, wenn sie krank geschossen sind. Aber eines Tages wird sie wieder ans Licht kommen, heil und frohäugig, und wird singen mit der alten lieben Stimme, und wird sagen: So, da bin ich wieder, nun gebt mir etwas zu thun. – Glauben Sie nicht? Ich glaube fest daran.“

„Ich nicht,“ sagte Hanna trostlos, „ich nicht. Lassen Sie das sein, ich bitte Sie herzlich. Mit mir ist's aus. Sie wissen das nicht; woher sollten Sie es auch wissen. Wir sind zu lange auseinander gewesen. Sie kennen mich nicht mehr. All dies quält mich unbeschreiblich. Thun Sie mir die Liebe und sprechen Sie von anderen Dingen. Bitte, bitte. Erzählen Sie mir von Ihren Erlebnissen, ja? An denen will ich mich freuen.“

Rettenbacher schwieg. Er sah sie auch jetzt nicht an. In tiefem Sinnen, den Kopf geneigt, schaute er vor sich hin.

[878] Endlich brach Rettenbacher das Schweigen, das sich nach Hannas ablehnenden Worten seiner bemächtigt hatte. Er mußte ihr Rede stehen. „Gut,“ sagte er, sich wieder ganz aufrichtend, in einfachem, herzlichem Ton. „Zu erzählen hab' ich allerdings genug. Ein ganzes Haus voll. Und zum Freuen ist es ganz besonders eingerichtet. Also: Ich verändere’ mich, wie die Dienstboten sagen. Ich gehe von unserer Schule ab.“

„Was? Von Ihrem geliebten Direktor Kühnemann? Nach all diesen Jahren?“

„Ja, der Gedanke wollte mir zuerst auch durchaus nicht in den Kopf, noch weniger ins Herz. Aber er selbst hat mich mit seiner guten und starken Hand vors Thor gesetzt und mich nach allen Kräften weggelobt. Seit die Sache unwiderruflich feststeht, nennt er mich nur noch Kollege. Ich werde nämlich – hören Sie – selber Direktor! Sie dürfen sich wundern, ich hab’s ja auch gethan, hätte mir's ebensowenig zugetraut wie Sie –“

Hanna errötete.

„Was sagen Sie da,“ wehrte sie hastig ab. „Zugetraut! Alles hätt’ ich Ihnen zugetraut. Nur daß es mir wundersam vorkommt, dieses Glück vor Ihrer Thür, nur daß ich mich erst zurechtfinden muß – Sie dürfen nicht vergessen, es liegen Jahre zwischen heut’ und damals. Wenigstens für mich.“

Nur für Sie? Ich denke doch nicht. Ein Unterschied ist zwar: Sie müssen die Strecke überspringen, ich bin sie gegangen. Insofern haben Sie ganz recht. Der arme Magister von Anno siebenundachtzig hätte sich dergleichen Märchen freilich nicht träumen lassen. Aber auch der von heute stand vor einem Vierteljahr verblüfft bis zur Fassungslosigkeit vor diesem Göttergeschenk. Wirklich ein Göttergeschenk, das ist der Name! Denn alles, was ich mir je gewünscht habe, versuchen zu dürfen, durchsetzen zu können, durch eigene Erfahrung bestätigt zu sehen – das wird mir in diesem Geschenk zu teil. Und auch sonst – kurz, ich bin allerwege sehr froh. – Warum schütteln Sie den Kopf?“

„That ich das?“ fragte Hanna etwas verwirrt. „Ich war mir dessen nicht bewußt. Ich freute mich nur fortwährend.“

Im stillen kam ihr dann eine Art Erklärung für dieses unwillkürliche Kopfschütteln. Es war das tiefe Erstaunen über den Mann da vor ihr, diesen so gänzlich verwandelten Mann. Nicht nur die Stimme hatte Klang bekommen, auch die Augen Glanz, die Haltung der Schultern, ehemals immer leicht nach vorn geneigt, war straffer geworden, sie erschienen dadurch breiter, waren es auch wohl. Seine Blässe hatte nichts Krankhaftes mehr, sie zeigte nur noch die natürliche, schwer zu vergröbernde Zartheit der Haut, die dem lichtblonden Haar und Bart entsprach. Der ihr da gegenübersaß, war nicht mehr der kümmerliche, gedrückte, abgearbeitete Sorgenmensch, den sie – ach wie gut – gekannt hatte. Dieses warm leuchtende Feuer der blauen Augen war ihr fremd, diesem tiefen Klang der befreiten Stimme horchte sie verwundert zu. Aber sie sah und hörte gleichsam von weit her, schaute aus ihrer Höhle ins blühende Leben hinaus. Freilich konnte sie nicht wissen, daß die innere, also die recht eigentliche „Aufrichtung“ des Freundes erst wenige Monate alt war und daß sie mit ihrem persönlichen Geschick in engem Zusammenhang stand. Sie sah nur die überraschende Vollendung, nicht den Weg, den sie genommen hatte. Sie sah: Er war in diesen fünf Trennungsjahren rastlos aufwärts gestiegen, so rastlos wie sie abwärts. Meilenweit waren sie auseinander. Sie ahnte nichts von der beklemmenden Bangigkeit, die ihn ihrem stillen, stummen Gesicht gegenüber befallen hatte, und die nur sein fester Wille nicht zu Atem kommen ließ.

„Nun erzählen Sie aber auch ausführlich,“ sagte sie nach einer kleinen Pause mit dem freundlich mütterlichen Ausdruck der Teilnahme, den früh gealterte, müde Frauen für die Erlebnisse der jung gebliebenen Gefährten vergangener Zeiten haben, und der wohlthun möchte, aber meistens sehr schmerzlich ist.

Rettenbacher zerdrückte einen schweren Seufzer.

„Ich fange bei Adam und Eva an, wie es sich für einen gewissenhaften Chronisten geziemt,“ sagte er lächelnd. „Also geben Sie acht. Vor etwas länger als drei Jahren hat sich ein sogenanntes ,Konsortium' von gescheiten, warmherzigen und reichen Männern zusammengethan, um eine Erziehungsanstalt zu begründen, die klassische und moderne Ansprüche möglichst vereinigen soll. Eine Knabenschule, die ihre Zöglinge nicht nur reif fürs Abiturientenexamen, sondern auch reif fürs praktische Leben macht. Eine Anstalt, in der nicht nur das Gehirn, sondern der ganze Körper gleichmäßig ausgebildet wird. Ein Haus, das nicht nur kluge, sondern auch gesunde Söhne an Deutschland abliefert. Ein solcher Idealbau hatte nicht Platz in den Straßen einer Stadt, und wenn es die schönste der Welt gewesen wäre. Er mußte draußen errichtet werden, in der Natur, in der Freiheit. Da steht er nun. Im Thüringer Wald, wohl an seinem schönsten Fleck, in der Nähe von Schwarzburg. Ein stolzes, prächtiges, weitschichtiges Haus, den rauschenden Buchenwald zu Häupten, zu Füßen die schäumende Schwarza. Platz ist für zweihundert Schüler und das ganze Lehrerkollegium und überhaupt für alle Leute und Dinge, die in so ein Schulhaus, das zugleich Heimat sein will, hineingehören. Die klugen Männer haben für alles gesorgt: für große, helle Lehrsäle, für eine prächtige Küche, für Gemüsegarten und Kuhstall, für Turnhalle und Handwerkerschule und Schwimmbad. Als feinsten Kopf in ihren Beratungen, nachdem die Sache geschäftlich feststand und die staatliche Konzession gesichert war, hatten sie Direktor Kühnemann. Sie wußten, was sie thaten, als sie ihn als Oberhaupt in ihr Kollegium setzten. Und es war bei der ganzen Sache ihr klügster Streich, daß sie schließlich ihn zum König wählten für das junge Reich. Er sagte nun eine Weile nicht Ja, noch Nein, spielte den Unentschlossenen – er, der Willensklare – und versparte die endgültige Entscheidung auf den letzten Termin. Dann – plötzlich niemand war darauf gefaßt, erklärte er mit der äußersten Bestimmtheit, daß von seiner Person für diesen Posten nicht die Rede sein könne, daß er nicht daran denke, die Schule, die er seit fünfzehn Jahren leite, im Stich zu lassen – es falle ihm denn der Bakulus aus der Hand. Er habe aber schon lange einen anderen statt seiner im Sinn. Der Grund, weshalb er ihnen den Mann bisher nicht genannt habe, sei sehr einfach. Er habe ihnen die Tauglichkeit seines Schützlings ad oculos demonstrieren wollen, ohne daß sie es ahnten. Die sogenannten grundlegenden Gedanken, nach denen die Anstalt eingerichtet worden sei, stünden alle gedruckt, seien aber nicht von ihm geschrieben, er sei nur bis ins Herz hinein mit ihnen einverstanden und habe sie zu den seinigen gemacht. Wäre er den Herren von vornherein mit seinem Hauptplan gekommen, so würden sie diesen noch wenig Bekannten mit Mißtrauen betrachtet haben, schon allein seiner Jugend wegen, die übrigens in seinen Augen ein Vorzug sei. Jetzt bäte er sie, zu lesen was in dem Büchelchen da stünde, und ihm alsdann zu sagen, was sie von seinem Vorschlag dächten. Und schickt ihnen – merken Sie auf diese rührende Heimtücke – meine Schrift über die Gesundheitspflege in der Schule! Aber verzeihen Sie, davon wissen Sie natürlich nichts.“

„Doch, ich habe sie gelesen, mit Bewunderung und Freude, freilich auch mit viel Wehmut. Denn wo, so sagt’ ich mir, kann dergleichen begonnen und durchgeführt werden? Jetzt freilich – dies ist eigentlich märchenhaft –“

„Märchenhaft, das ist das Wort! Es giebt noch immer Stunden in denen ich es selbst nicht glaube. Also, die Herren lasen und wunderten sich und steckten die Köpfe zusammen. Und eines schönen Morgens – vielmehr eines regnerischen, kalten Morgens im März erhielt ich die Berufung. Wie ich auf meine Dampfbahn und hinein in die Stadt und zu Kühnemann gekommen bin, weiß ich heut’ noch nicht. Bei ihm kam ich dann allmählich wieder zu mir – –“ Rettenbacher stockte, es schien ihm die Kehle eng zu werden. Dann fügte er mit etwas wankender Stimme hinzu „Ueber dem Portal meiner Schulheimat soll der Spruch stehen, der von je her mein, meines lieben [879] Meisters Wahlspruch war und auch meiner geworden ist: Der Mensch hat nichts unter der Sonne, als daß er fröhlich sei in seiner Arbeit’.“

Hanna streckte ihm die Hand hin; „Ich wünsch’ Ihnen Glück!“ sagte sie leise und ergriffen.

Arnold drückte die blassen Finger fest an seine Lippen. „Ich danke Ihnen,“ murmelte er.

„Erzählen Sie mir nun Einzelheiten,“ bat Hanna, sacht ihre Hand zurückziehend.

„Einzelheiten! Lieber Gott! Dazu reichte ja der Tag nicht aus. Dazu müßten wir –“ er hielt inne, es flog ihm eine schwache Röte übers Gesicht „Die müßte ich Ihnen an Ort und Stelle zeigen können.“ Und als sie schwieg, er auf ihrem leblosen Gesicht keine Schrift zu lesen fand, fuhr er zögernd fort: „Einige Haupteinzelheiten könnte ich Ihnen ja schon nennen. Unser Plan also umfaßt sämtliche Gymnasialklassen und die Vorschule. Auch Realschüler können ausgebildet werden, für die dann unter anderm der englische statt des griechischen Unterrichts eintritt.“

„Erlauben Sie eine Frage, ehe ich's vergesse,“ unterbrach ihn Hanna. „In so einem riesigen Hauswesen kann doch nicht immer alles gesund bleiben. Wo finden Sie nun schnell ärztliche Hilfe?“ Rettenbacher lächelte froh überrascht. „Ein kluger Einwand. Wie mich das freut. Besonders, da ich auch eine Antwort darauf habe. Ein leibhaftiger Mediziner wird einen Teil des naturwissenschaftlichen Unterrichts leiten, zum Beispiel die Anatomie. Dieser Herr, der auch Kurse in der Wundpflege und in anderen wichtigen praktischen Dingen erteilen kann, wo sich die Gelegenheit bietet und persönliche Begabung darauf hinweist, ist als Hausarzt amtlich angestellt und wohnt natürlich auch in der Anstalt. Aber nun schnell noch etwas Schönes! Jeder der Knaben soll sich, nachdem man ihn erst ein wenig kennen gelernt hat, nach dem Ideal unseres armen Kaisers Friedrich für ein Handwerk entscheiden, das er nebenher zu erlernen hätte. Die Meister dazu finden sich leicht, in der Umgegend und im Hause selbst, um nur allein den Gärtner zu nennen. Meine Jungen sollen erfahren, daß es keine Handarbeit giebt, bei der nicht jeder Gebildete eine Masse lernen kann, und daß der am freiesten ist, der am wenigsten Hilfe braucht, und der am vornehmsten, der mit Kopf und Händen arbeiten kann. Meinen Sie nicht?“

„Gewiß,“ bestätigte Hanna ernsthaft und herzlich nickend. „Und weiter, was ich noch fragen wollte. Als unumschränkter Herrscher in Ihrem Staat werden Sie doch auch die Uniform bestimmen können?“

„Freilich werd’ ich das. Es schmeichelt meiner Eitelkeit gewaltig, daß Sie da auf mein Schriftchen hindeuten. Unsre Tracht wird also das Matrosengewand sein, mit bloßer Brust für Sommer und Winter. Mit Vorsicht und unter ärztlicher Kontrolle wird begonnen und nichts mehr aufgegeben, was erreicht ist. Allen ist natürlich zu Anfang der wollene Brustlatz gestattet und es wird Sache des Ehrgeizes werden, ihn entbehren zu können, sollen Sie sehen. O, wenn ich sie nur schon laufen sähe, meine Kerle!“

„Im Oktober, denk’ ich, fangen Sie an?“

„Im Oktober. Aber ich muß jetzt schon hin, um die letzten Vorbereitungen zu leiten und die noch ausstehenden Aufnahmen zu erwarten. Für das kleine Vierteljahr von August bis Michaelis hat mich Kühnemann schon freundlichst beurlaubt.“

„Da hat ja Ihre Schwester Grete prächtig Zeit, den Haushalt zu verpacken und dort wieder einzurichten, Ihnen überhaupt zur Hand zu gehen. Denn selbstverständlich zieht sie doch mit Ihnen nach Thüringen?“

„Die?“ Rettenbacher lachte hell auf. „Sie denkt nicht daran. Läßt mich elend im Stich. Dieser nichtsnutzige Musikante, der Günther, hat sie mir abspenstig gemacht. So sind die Schwestern!“

„Was sagen Sie da? Günther und Grete?“

„Ja, ja, heiraten wollen sich die zwei, nichts Geringeres. In den Herbstferien. Die Hochzeitsreise machen sie gütigst nach Schwarzborn zu mir. Wollen mir zu guter Letzt noch das Herz recht schwer machen. Das heißt, nein. Schwer ist mir bei dieser Sache das Herz gewiß nicht. Nur bewegt. Ich gönne ihnen ihr Glück, denn es wird eines werden, das sich gewaschen hat’,“ sagte Günther. Ich hab’ den Bruder Heinrich sehr lieb. Grete ist in guter Hut bei ihm.“

„Wie mich das freut,“ sagte Hanna. „Gewiß ist sie bei ihm in guter Hut! Bitte, grüßen Sie ihn sehr herzlich von mir und ich ließe ihm Glück wünschen, und der Grete auch, unbekannterweise.“

„Darf er sie Ihnen nicht einmal bringen?“

„Aber freilich, gern. Recht bald. Nur soll er sich vorher melden, damit ich mich ein bißchen darauf vorbereiten kann. „Ich werd’s ihm sagen. Ja, ja, so komm’ ich also als gänzlich im Stich gelassener Einsamling in mein neues Reich. „Ihren Hans aber nehmen Sie doch mit?“

„Versteht sich. Er ist als mein erster Schüler eingeschrieben. „Wie viele haben Sie bis jetzt? Doch nicht schon bald alle zweihundert?“

„Bewahre! Sechsundsiebzig. Aber es kann bis zum Herbst noch eine ganze Anzahl Meldungen eintreffen. Die Anzeigen sind nicht so schnell herausgekommen, wie die Herren beabsichtigten. Aber das thut nichts, ist mir sogar ganz lieb. Ich muß doch erst lernen regieren, und wenn ich es in meinen einzelnen Klassen auch leidlich zuwege gebracht habe – so als König über alle, das ist noch etwas ganz anderes.“

„Es wird schon gehen, da ist mir nicht bange. Kühnemann wird Ihnen das auch gesagt haben.“

Rettenbacher antwortete nicht gleich. In seinem Gesicht kam und ging wieder die Farbe. Jetzt hob er die gesenkten Augen mit einem dunkel strahlenden Blick.

„Es wird besonders dann gehen,“ sagte er leise und beugte sich etwas zu Hanna vor, „wenn die Frau, die seit langen Jahren die Königin meines Herzens ist, sich entschließen kann, auch die Königin dieses meines großen Hauses zu werden. Liebe Hanna – wollen Sie mit mir kommen? Vielleicht zu Weihnachten? Als Christkindchen?“

Hanna schüttelte den Kopf. Sie war sterbensblaß geworden. Angstvoll, ganz unfähig zu sprechen, sah sie Rettenbacher an, der ihr mit flehender, völlig enthüllter Zärtlichkeit tief in die Augen blickte.

„Nein?“ fragte er leise. „Warum nicht? Wir haben uns doch einmal lieb gehabt. Sehr lieb. Wenn wir es uns auch nie gesagt haben, wir wußten es. Früher hat es nicht sein sollen, daß wir zusammenkamen. Hart war es, aber wir trugen keine Schuld. Jetzt könnt’ es sein! Das Schicksal hat sie gelüftet, die schwere Hand. Wir sind frei, wir sind jung. Warum nicht zusammen fort?“

„Niemals,“ brachte Hanna mühsam, heiser heraus.

„Warum nicht?“

„Ich kann nicht mehr – und ich will auch nicht mehr. Ich fürchte mich.“

Und als ob die Angst sie überkäme, er möchte sie anrühren, schlang sie die Arme fest ineinander und schob sich in ihrem Sessel ein wenig zurück. Er sah diese fluchtähnliche Bewegung und zuckte leicht zusammen; aus seiner vornüber geneigten Haltung richtete er sich sofort in die Höhe.

„Ich will Sie ja nicht ängstigen und quälen,“ sagte er mit so viel Ruhe, als ihm sein heftig schlagendes Herz übrigließ. „Vielleicht hab' ich es sehr dumm angefangen, daß ich Ihnen so mit der Thür ins Haus gefallen bin. Aber ich bitte, bedenken Sie nur! Seit Monaten, seit ich von Günther weiß, daß Sie frei sind, ich meine, in dem ganz bestimmten Sinne für mich frei, als Sie das Teufelsgeld, das Ihnen zum Unheil geworden ist, ins Meer geworfen haben. O, wie segne ich Sie dafür! Seit all diesen Monaten steh’ ich da, mit der Faust auf dem Herzen und schreie mich an: sei still, laß ihr Zeit, laß sie aus diesem Elend zur Ruhe kommen, warte, warte, warte! Wenn Sie wüßten, wie entsetzlich schwer mir dieses letzte halbe Jahr geworden ist! Denn auch schon ehe das Märchen da draußen im Thüringer Wald sein Schloß aufgebaut hatte, war der Jubel in meiner armen Seele groß. Zu dem Leben, wie ich es mir für uns zwei gedacht habe, war auch damals schon Brot genug im Haus. Nur, daß es jetzt noch so viel schöner werden mußte! Ich hätte vielleicht noch länger warten sollen. Aber es ging einfach nicht mehr. Meine Ruhe war verbraucht, meine Geduld [882] ganz und gar in Fetzen. Ehe ich mich aufmachte in die neue Heimat, wollte und mußte ich Gewißheit haben. Freilich – als ich beim Hereinkommen Ihr Gesicht sah, da sank mir schon der hohe Mut. Ich hätte mich davon warnen lassen, hätte es für heute beim Erzählen bewenden lassen sollen. Aber es war eben stärker als ich. Verzeihen Sie mir. Und bitte, sagen Sie nicht Nein; Sagen Sie: Noch nicht, später! Aber sagen Sie nicht Nein!“

Hanna schüttelte aufs neue den Kopf, nicht mehr furchtsam, nur traurig. Sie war wieder ruhig, konnte auch wieder sprechen.

„Es thut mir von ganzem Herzen leid, Sie zu kränken. Aber es muß dabei bleiben. Ich kann nicht mehr. Ich hab’ mich tot gelebt. Was von mir noch übrig ist, muß hier in der Stille zu Ende gehen. Sie kennen mein Leben dieser Jahre nicht, ich kann es Ihnen auch nicht schildern. Sie müssen mir nur glauben, wenn ich Ihnen sage: Es geht nicht mehr.“

„Liebe Hanna,“ bat er eindringlich, „Wie alt sind Sie? Meines Wissens noch nicht dreißig. Und Ihre Ehe hat nur vier Jahre gedauert.“

„Nur vier,“ wiederholte sie trübe. „Es giebt Jahre, sehen Sie, die man zählt, und Jahre, die man mißt. Diese vier waren lang. Ausreichend. Ich bin eine alte Frau, glauben Sie mir.“

Er schüttelte mit einem liebreichen Lächeln rasch den Kopf.

„Sie sollten mir wohl wieder jung werden da draußen. Das wäre meine geringste Sorge! In der Waldfreiheit würden Sie aufleben in unsrem Bubenschloß, in unsrem Ameisennest. Man ist ja nur so alt, als man sich fühlt. Das ist zwar ein bekannter Satz, aber Sie wenden ihn verkehrt an, scheint mir. Man kann sich nämlich auch künstlich alt machen, und das darf man nicht. Im Thüringer Wald wären Sie übers Jahr sechzehn, hier freilich werden Sie bald siebzig sein, das ist sicher. Fürchten Sie nicht, daß ich Sie etwa nicht verstünde, ich verstehe Sie viel besser, als Sie wissen. Aber ich fühle, daß es das Richtige für Sie nicht ist, hier eingesponnen zu sitzen. Immer allein sein, sehen Sie, das ist noch keine Ruhe, auf die Dauer, meine ich, ist es keine, keine für Sie. Und nichts zu thun zu haben, nichts für andre zu thun zu haben, das ist auch keine Ruhe. Die innerliche Beschäftigungslosigkeit muß Sie nach und nach aufreiben, statt Ihnen wohlzuthun. Die wird Sie erst ganz alt machen. Ist es nur der Gedanke an die verlorene Jugend, der Sie quält? Glauben Sie, Sie arme Märtyrerin, Sie wären mir in Ihren Leidensjahren über den Kopf gewachsen? Lange nicht! Gegen meine herangedarbten Sechsunddreißig kommen Sie immer noch nicht auf. Und dann: Eine geliebte kranke Frau ist auch immer das Kind ihres Mannes. Merken Sie sich das.“

Ein ganz andrer Gedanke schien ihm plötzlich durch den Kopf zu fahren und machte ihn erblassen.

„Das ist so recht ein Stückchen vom gewöhnlichen Mannesegoismus,“ murmelte er. „Weil mir so zu Mute ist, als könnt’s nicht anders sein, weil ich bitte Sie, sagen Sie mir rund heraus: So wie Sie einstmals für mich gefühlt haben, das ist vorbei? das ist gestorben? das ist verschüttet? Im Augenblick, wo Sie mir das sagen – und warum sollt’s nicht sein! –- geh' ich meiner Wege und komme nicht wieder. Ich sehe ein, das hätte meine erste Frage sein müssen. Ich bin offenbar verrückt.“

Es lag ein solcher Ausdruck von Qual in seinem Gesicht, daß es sie erschütterte, sie brach in Thränen aus.

„Sprechen Sie,“ bat er mit gepreßter Stimme, „weinen Sie nicht, sprechen Sie!“

Warum schüttelte sie den Kopf. – Es war ja doch aus. Noch heute vormittag hatte sie so genau gewußt, daß es aus sei. Aber sie schüttelte den Kopf. Wie eine verborgene heiße Quelle brach es aus dem tiefsten Innern ihrer Seele hervor, strömte über sie hin, machte sie zittern. Sprechen konnte sie nicht, wollte auch nicht. Zurückgelehnt in ihrem Sessel, eine Hand über den Augen, saß sie und weinte und schüttelte den Kopf. Nein, nein, nein, es war nicht aus! Wie hätte sie das nur je glauben können!

„Hanna,“ murmelte Rettenbacher mit erstickter Stimme. Er nahm ihre freie Hand und küßte sie leidenschaftlich, küßte jeden einzelnen Finger, drückte sie an seine Stirn, an seine Augen und wieder an den brennenden Mund. „Hanna! Liebling! Mich ansehen, bitte, bitte, nicht mehr weinen, mich ansehen!“

Er hielt jetzt auch ihre andre Hand. Und sie sah ihn an.

„Mein Liebling“, wiederholte er leise. „Mein einziger Herzensliebling! Wie lange – wie lange –. Dem Schweigsamen lösten sich auch jetzt die Worte nur schwer von der Zunge. Aber ihr fast schmerzlich inniger Klang redete von den Jahren der Entbehrung, von den Jahren der Hoffnungslosigkeit. In seinen Augen lag die hinreißendste Bitte um Glück. „Es ist also nicht aus?“

Dies Letzte rüttelte Hanna wieder wach. Sie erschrak; mit einer angstvollen Gebärde machte sie ihre gefangenen Hände frei.

„Bitte, nicht böse sein,“ sagte sie heiser, „es kann nicht sein, was Sie wünschen.“

In Arnolds Gesicht schien eine Flamme zu erlöschen. „Es kann nicht?“ wiederholte er in rauhem Ton. „Sie haben mich lieb und es kann nicht sein? Wie in aller Welt soll ich das verstehen?“

„Hätten Sie sein Sterben mit erlebt, so verstünden Sie es schon. Sie starrte vor sich hin, ihre Finger wanden sich rastlos umeinander. Rettenbacher sah sie mit Besorgnis an, aber er sagte kein Wort, er wartete, ob sie weitersprechen werde.

„Sie müssen nicht denken,“ fuhr Hanna nach einer Weile mühsam fort, „daß ich allerwege nur zu bedauern gewesen wäre. Ich habe es nicht gut bei ihm gehabt – o nein – aber er bei mir auch nicht. Was ich verschuldet habe, das lastet auf mir, das kann ich nie mehr abschütteln. Und darum – darf ich auch nichts mehr vom Leben für mich verlangen –, auch wenn ich's noch wollte, auch wenn ich nicht so sterbensmüde wäre.

Arnold schüttelte ganz leise den Kopf. In seinem ernsten Gesicht stand jetzt nichts von Zärtlichkeit zu lesen er sah etwa so aus wie ein Arzt, der einen Schwerkranken vorsichtig beobachtet.

„Möchten Sie nicht versuchen,“ fragte er sanft, „sich einmal über diese Ihre ,Verschuldung' auszusprechen? Ich muß gestehen, ich kann mir kein rechtes Bild von ihr machen.“

Hanna antwortete nicht gleich. Aber er bedrängte sie nicht, er rührte auch ihre Hand nicht mehr an Ganz still saß er da und wartete.

„Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären,“ fing sie endlich, tiefer aufatmend und mit festerer Stimme wieder an. „Sehen Sie – es giebt zwei Arten von Geduld. Sie gleichen sich gar nicht. Aber zu Anfang sieht man das nicht. Vielmehr zu Anfang weiß man davon überhaupt nichts. Gewöhnlich erkennt man es erst, wenn's schon zu spät ist. Mir wenigstens ist es so ergangen. Die eine Geduld, die ist stumpfsinnige, die krümmt sich zusammen und macht die Augen zu, die würgt ihr Grauen und ihren Ekel in sich hinein, die nimmt alles hin, ohne sich zu wehren, und denkt dabei, mehr könnte man nicht verlangen. Das ist die blinde Geduld, die feige. So nenn’ ich sie. Die andre Geduld, die ist nicht darum still, weil sie stumpfsinnig ist, sondern weil sie sanftmütig ist und weil sie mitleidig ist, und weil sie denkt: Kehr’ auch vor deiner Thür, und weil sie zusieht, wie zu helfen ist, nicht nur zu ertragen und sie würgt wohl auch ihren Ekel und ihr Grauen hinunter, aber sie versucht, dabei zu lächeln, denn sonst hätte es ja keinen Sinn. Das ist die thätige Geduld, die mutige, die nicht müde wird. Sie, glaub’ ich, überwindet die andre nicht. Die andre aber hab’ ich in meiner Ehe geübt, und mit meiner stumpfsinnigen Feigheit hab’ ich meinen Mann unglücklich gemacht. Er liebte mich, obwohl er mich so viel quälte. Und mir graute vor ihm. Still halten, war alles, was ich fertig brachte. Ich hätte mehr thun müssen, ganz etwas andres. Aber als ich meinen Fehler einsah, da war es zu spät, da starb er. Und ich blieb zurück mit dieser Reue. Was das ist, solche Reue an einem Grab – das wissen Sie nicht.“

Sie schwieg erschöpft, bleich, mit zitternden Lippen. Rettenbacher sah sie in tiefem Mitleid an.

„Sie Aermste,“ sagte er leise –“ So glauben Sie also, wenn er diese Krankheit überstanden hätte und Ihnen erhalten geblieben wäre, Ihr Verhältnis hätte noch glücklich werden können?“

„Glücklich. Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht. Dazu paßten wir zu schlecht zusammen. Aber besser. Auch dies weiß ich nicht. Was weiß man, ehe es geschehen ist. Hätten Sie mich das an seinem Totenbett gefragt, ich hätte gesagt: Ja, ja. In jenen Tagen war ich ganz zerschmettert. Heute – daß sich noch manches hätte mildern lassen, glaub’ ich wohl. Obschon ich nicht wissen kann, wie mir zu Mute gewesen wäre, wenn er als der Alte wieder vor mir gestanden hätte. Es war der nahende Tod, denk’ ich mir, der ihn so weich machte. Und weil mir das [883] an ihm fremd war, erschütterte es mich so entsetzlich. In einer langandauernden Krankheit würde er wohl vor Ungeduld rasend geworden sein. Und wieder genesen, hätte er seine eigentliche Natur gewiß nicht verleugnet. Nein, es ist nicht das. Es ist nicht die Erkenntnis dessen, was noch hätte anders werden können, die mich zu Boden drückt, sondern die Erkenntnis dessen, was ich von Anfang an versäumt und verfehlt habe. Ich sage ja nicht, daß es leicht mit ihm zu leben gewesen ist – ach nein! – er hat es arg mit mir getrieben und schuldig war er wohl auch in manchem Sinn. Aber dadurch wird meine Schuld nicht kleiner. Seines Geldes wegen hab’ ich ihn genommen,während er mich liebte, hab’ mich ihm verkauft, und bei diesem Handel hab’ ich ihn betrogen.“

„Halt! Halt!“ wehrte Rettenbacher mit starker Stimme und hob die Hand. „Wohin geraten Sie! Das ist ja Selbstmord! Wem erzählen Sie eigentlich diese Dinge! Wer auf der Welt weiß besser als ich, wie sich diese unselige Geschichte, dieser ‚Handel' zugetragen hat. Wollten Sie etwas für sich? Es war ein Opfer der Kindesliebe, das Sie gebracht haben! Und nicht umsonst. Denn hat sie das Ende erlebt, auch nur die erste Fortsetzung. Hat sie nicht trotz alledem schlafen gehen dürfen mit der tröstlichen Zuversicht. Nun ist alles gut. Seines Geldes wegen hätten Sie ihn nicht genommen, denk’ ich, wenn die arme Mutter ein halbes Jahr früher gestorben wäre. Oder – Also, sehen Sie. Dies sind Krankhaftigkeiten, die Ihr alter Freund Ihnen strengstens verbieten muß. Das andre – ich kann Ihnen nicht sagen, wie es mich schmerzt, für Sie. Aber ich habe die feste Zuversicht, eines Tages werden Sie auch hierüber ruhiger denken, werden sich sagen. Was in meinen Kräften stand, habe ich gethan, über sich hinaus kann kein Mensch. Sie werden besonders dann ruhiger werden, wenn Sie Ihr Leben nicht hier in der Einsamkeit kümmerlich vergrübeln, sondern wenn Sie es in thätiger Liebe für andre weiterleben, an andern thun, was Sie an dem Verschwundenen versäumt haben. Ich meine, es läge noch ein weites Feld vor Ihnen. Geben Sie mir die Hand. Kommen Sie mit auf Ihren Platz!“

„Nein, nein!“ wehrte Hanna angstvoll ab. „Ich will nicht, ich kann nicht mehr, ich fürchte mich. Es giebt kein Glück und keinen Segen, wo ich dabei bin, das sehen Sie doch! Einem hab' ich nun schon das Leben verbittert, das ist ganz genug. Nun muß. ich allein bleiben. Lassen Sie mich – ich bitte Sie von Herzen, lassen Sie mich!“

Rettenbacher schwieg auf dieses Letzte. Es blieb nach ihrer heftigen Rede beklemmend still im Zimmer. Er war bleich und schaute mit starren Augen geradeaus an ihr vorbei.

„Sie sollten sich doch hüten,“ sagte er endlich, „vor so einem Nein. Sie sprechen von Dingen, die nicht mehr gut zu machen sei es vor Reue, die niemals schweigen werde. Sie sprechen davon, daß Sie schon einem das Leben verbittert hätten, und daß das genug sei. Das denk’ ich auch. Sie stehen nämlich im Begriff, es mit dem zweiten nicht viel besser zu machen. Wie, glauben Sie wohl, werde ich heute von Ihnen gehen, wenn Sie auf Ihrem Nein beharren! Ist Ihnen nicht ein wenig bange vor der neuen Schuld, die Sie damit auf Ihr Gewissen laden?“

Hanna erschrak besorgt nicht nur über das, was er sagte, sondern auch über den Ton seiner Stimme, über sein düsteres Gesicht. „Sie werden mich vergessen,“ stieß sie heraus.

„Glauben Sie? Mir scheint, wenn ich zu dieser Kunst einiges Talent hätte, dann hätt' ich in all den Jahren doch wohl genügend Zeit gehabt, es auszuüben. Dann stünd' ich heute nicht hier. Also die Hoffnung geben Sie nur auf. Damit ist es nichts. Die Liebe zu Ihnen wurzelt zu tief in mir, sie ist nicht mehr herauszureißen. Aber freilich – sie kann all ihre Blüten verlieren, es können Dornen dazwischen wachsen. Die hätten dann Sie gepflanzt.“ – Er schwieg einen Augenblick, das Weiterreden schien ihm schwer zu werden. – „In den Zeiten der Armseligkeit,“ fuhr er dann mit etwas gedämpfter Stimme fort, „als ich mich schinden und plagen mußte – Sie wissen, wie sehr und für wen, da hab’ ich meine Ehre dreingesetzt, zu schweigen, nichts von dem zu verraten, was mich peinigte, was ich wünschte ohne die leiseste Hoffnung auf Erfüllung. Ich hätte mich auch gescheut, Ihnen mein Herz zu zeigen, da ich von dem Ihren nichts wußte. Als dann der – andere kam, als er Sie davonführte, an mir vorbei, dem Bettelprinzen, als im Augenblick des Scheidens der dichte Schleier zwischen uns niedersank – –, da hab’ ich böse Stunden zu bestehen gehabt. Gewiß waren Sie von uns zweien am unglückchsten, ich weiß, aber leicht wurde mir mein Leben auch nicht, glauben Sie mir das! Hätt’ ich nichts zu thun gehabt, es wäre wohl anders mit mir gekommen. Zum Glück behielt ich aber keinen Augenblick Zeit, an mich zu denken, weil da jemand war, mehrere jemande, die mich brauchten, die von mir abhingen. So hab’ ich denn die Zähne aufeinander gebissen und mich nicht lumpen lassen, hab’ meinen Posten, auf den ich einmal gestellt war, nach Kräften ausgefüllt. Und als die drückende Last auf meinen Schultern gelinder wurde, als ich anfangen durfte, aufzuschauen, da war ich schon so weit, einzusehen, daß das Leben auch lebenswert sein könne, ohne daß man für sich selber Früchte pflückte. Hanna Wasenius, die Eine, hatte es nicht sein sollen – also überhaupt keine! Daß mein inwendiger Mensch noch lebte, war mir nach und nach gar nicht mehr so recht bewußt. Wenigstens redete ich mir das ein.“

Er hielt inne und hob die gesenkte Stirn. Aus seinen Augen traf sie, die ihm wie gebannt zugehört hatte, ein Blick tiefer Zärtlichkeit. „Es ist unglaublich,“ fuhr er mit einem strahlenden Lächeln fort, „was man sich alles einreden kann, wenn man sich Mühe giebt. Ich mußte mich wirklich selber auslachen, so schulbubenhaft dumm stand ich vor meinen eigenen großen Künsten da, als eines Tages die sämmtlichen Mauern umgefallen waren, mit denen das Schicksal mir mein Lebensglück hatte zubauen wollen. Hanna Wasenius war wieder da, frei von allen Fesseln, frei von dem fürchterlichen Geld, das sich noch zuguterletzt als Schanze aufgetürmt hatte. „Mein zusammengedrücktes Herz wurde plötzlich unsinnig groß, es wollte heraus aus mir, es hatte gar keinen Platz mehr. Ich mußte ihm nur drohen und drohen, daß es noch bis heute aushielte. – Und nun – wollen Sie mich fortschicken? Thun Sie das nicht! Nehmen Sie das nicht auf sich! Es endet nicht gut, glauben Sie mir.“

Hanna konnte nicht sprechen, sie war tief erschüttert. Mit fest verschlungenen Händen und bebenden Lippen saß sie da. Sie sah ihn jetzt auch nicht an, sie horchte nur; seine Stimme umspielte sie wie lang’ entbehrte Musik. Endlich hob sie einen scheuen, flehenden Blick zu ihm.

„Was könnt’ ich Ihnen jetzt noch sein?“ murmelte sie. „Ich tauge ja zu nichts mehr.“

Eine lichte Röte stieg ihm ins Gesicht.

„Was Sie mir noch sein könnten?“ wiederholte er langsam. „Das wollt’ ich Ihnen wohl zeigen, das sollten Sie bald genug wissen.“ Seine Augen strahlten sie an. – „Ich will Sie aber heute nicht mehr quälen,“ setzte er sanft hinzu, als er sah, daß sie am ganzen Körper zu zittern begann. „Ich sehe, Sie sind noch krank. Dies hat Sie angegriffen. Im Augenblick wüßt’ ich auch nichts mehr zu sagen. Denn von dem, was mir zutiefst das Herz bewegt, kann ich in Worten nicht ordentlich reden. Und was ich Ihnen sagen müßte, um Sie aufzurütteln, um Sie wachzurufen, – das hab’ ich alles gesagt. Ob Sie alles gehört haben? Ob es etwas geholfen hat? Ich weiß nicht. Aber ich hoffe.“ Er betrachtete sie einige Augenblicke schweigend. „Sie sagen mir kein Wort. Sie sehen mich auch nicht an. So muß ich also noch ein bißchen länger Geduld haben. Warum schütteln Sie den Kopf?“

„Ich fürchte, so viel Geduld giebt es gar nicht, wie Sie mit mir haben müßten,“ sagte sie ganz leise.

„Da irren Sie sich sehr,“ entgegnete er gelassen lächelnd. „Ich hatte ja schon die Geduld, es mit dem ganzen Leben ohne Sie aufzunehmen, damals, als Sie mir geraubt wurden. Und ich sollte jetzt nicht nach Hause gehen können und mich trösten: Nur noch ein Weilchen, so ruft sie, wart’s nur ab!“

Er stand auf.

„Fürchten Sie nichts,“ beruhigte er sie, als sie heftig zusammenzuckte, „Ich rühre Ihre Hand nicht mehr an, ehe Sie sie mir freiwillig geben. Für heute leben Sie wohl!“ Er hatte seinen Stuhl zur Seite gestellt und ging langsam zur Thür. Von dort aus nickte er ihr zu, etwas bleich, aber heiter.

„Ich komme wieder. Nicht morgen oder übermorgen. Erst im Herbst. Ich lasse Ihnen Zeit. Aber ich komme!“