Fritz Reuter’s letzte Geschichte

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Autor: Max Ring
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Titel: Fritz Reuter’s letzte Geschichte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 619–621
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[619]

Fritz Reuter's letzte Geschichte.
Ein Erinnerungsblatt von Max Ring.


Im April des denkwürdigen Jahres 1870 sah ich mich wegen eines nervösen Leidens gezwungen, Berlin zu verlassen, um auf Anrathen meiner Aerzte in einer besseren und reineren Luft, von allen störenden und aufregenden Einflüssen der großen Stadt entfernt, lediglich meiner Gesundheit zu leben. Nach sorgfältiger Ueberlegung und Erwägung aller Verhältnisse war meine Wahl auf Eisenach gefallen, wo ich in dem reizenden Marienthal, auf dem sogenannten „Breitergescheid“, gerade gegenüber der Wartburg, eine mir zusagende und für meine Bedürfnisse passende Wohnung fand, welche ich für mich und meine mich begleitende Familie auf mehrere Monate miethete. Bald fühlten wir uns in der neuen Umgebung heimisch und behaglich, wozu ebenso sehr die herrliche Natur wie die wirklich auserlesene Gesellschaft beitrug, mit der ein glücklicher Zufall mich zusammenführte. – Das verhältnißmäßig kleine Eisenach besaß damals eine Anzahl interessanter und bedeutender Männer, wie man sie kaum in einer großen Stadt sobald wieder zusammenfindet. Da war der liebenswürdige Mineraloge Professor Senft, der ausgezeichnete Philologe Professor Koch, einer der vorzüglichsten Sprachforscher und gelehrter Kenner des Alt-Englischen, August Becker, der gemüthvolle Dichter und Verfasser geistreicher Romane, von denen „Des Rabbis Vermächtniß“ ein wohlverdientes Aufsehen machte. In dem von Eisenach nicht weit entfernten, zwischen üppigen Wiesengründen und malerischen Bergen anmuthig gelegenen kleinen Badeort Thal wohnte unser alter Freund Emil Palleske in seiner poetischen Villa, wo er, soeben von seinen fernen Wanderungen zurückgekehrt, im Kreise seiner zahlreichen, feingebildeten Familie von der anstrengenden Thätigkeit als beliebter Vorleser ausruhte und die ihm willkommene Muße während der Sommermonate zu eingehenden literarhistorischen Studien benutzte.

Zu all diesen trefflichen einheimischen Männern kamen noch die zahlreichen Fremden, welche bald auf längere, bald auf kürzere Zeit sich in Eisenach aufhielten, darunter der geistreiche, witzige Naturforscher Professor Roth aus Berlin, der die eigenthümlichen Gebirgsformationen der Umgegend untersuchte, der durch seine physiologischen Arbeiten über die „Blutkörperchen“ vielgenannte Professor Vogel aus Halle, der regelmäßig jeden Sonntag in Eisenach erschien, um seine dortigen Freunde zu besuchen und mit ihnen als unermüdlicher Fußwanderer Berge und Thäler zu durchstreifen. Vorübergehend wurde uns noch das Vergnügen zu Theil, unseren hochverehrten Schulze-Delitzsch in unserer neuen Häuslichkeit zu begrüßen und in Thal bei Palleske mit der interessanten Dichterin Elise Schmidt und einer Tochter Rückert's einen genußreichen Abend zu verleben.

So angenehm, werthvoll und anregend auch für uns ein solcher Verkehr war, so vermißten wir noch immer schmerzlich die persönliche Bekanntschaft mit Fritz Reuter, der, wie ich hörte, damals gerade leidend war und zurückgezogen in seiner Villa lebte. Aus Furcht, ihn zu belästigen oder zudringlich zu erscheinen, unterließ ich auch später, nach seiner indeß erfolgten Genesung, ihn aufzusuchen, so begierig ich auch war, den berühmten Verfasser der von mir bewunderten Dichtungen kennen zu lernen. Fast vier Wochen waren bereits vergangen, ohne daß es mir gelungen war, Reuter zu sehen und zu sprechen, obgleich ich es meinerseits nicht daran fehle ließ, mich ihm zu nähern. Immer trat ein tückischer Zufall mir hindernd in den Weg; stets verfehlte ich ihn an den Orten, wo er gewöhnlich des Abends zu verkehren pflegte, und wenn ich ihn sicher anzutreffen hoffte, mußte ich zu meinem Verdruß hören, daß er soeben fortgegangen sei. Allerdings wäre es das Einfachste und Kürzeste gewesen, ihn in seiner Wohnung nachträglich aufzusuchen, aber eine gewisse Scheu hielt mich zurück, das Handwerk zu begrüßen und mich dem berühmten Collegen als reisenden Schriftsteller vorzustellen, noch dazu, da ich die geeignete Zeit aus den angegebenen Gründen versäumt hatte und befürchten mußte, daß er mir meine Ungeschicklichkeit übelnehmen möchte.

Mit schwerem Herzen gab ich bereits die Hoffnung auf, den verehrten Dichter zu begrüßen, als ich eines Abends mit meiner Frau nach dem „Annathal“ ging und auf dem Rückwege in die sogenannte „Phantasie“, eine beliebte und von allen Eisenachern viel besuchte Restauration, trat, um ein Glas des köstlichen Bieres zu trinken. In unserer Nähe saß zwischen mehreren uns bekannten Herren ein ältlicher Mann, den ich – nach seiner gedrungenen Gestalt und seinem breiten, gerötheten Gesichte mit dem grauen Barte zu urtheilen – für einen Oekonomen aus der Umgegend oder für einen pensionirten Hauptmann hielt, bis mich der ebenfalls anwesende August Becker aus meinem Irrthume riß, indem er mich aufforderte, ihm zu dem gemeinschaftlichen Tische zu folgen, an dem ich in dem vermeintlichen Landwirthe bald zu meinem größten Vergnügen – Fritz Reuter kennen lernte.

Mit gutmüthigem Lachen nahm er meine Entschuldigung an, worauf er mich und meine Frau ebenso herzlich wie dringend einlud, ihn sobald wie möglich zu besuchen und unsern Fehler schleunigst gut zu machen, was wir uns nicht zweimal sagen ließen. Um uns zu zeigen, daß er nichts weniger als übelnehmisch sei, erwiderte er unsern Besuch in kürzester Frist, begleitet von seiner ebenso reizenden wie liebenswürdigen Frau, und zwar in aller Form, sogar in dem ihm verhaßten schwarzen Leibrocke, den er nur mit Widerstreben bei besonderen Gelegenheiten zu tragen pflegte, wie er zu meiner Beschämung im Laufe der Unterhaltung ironisch schmunzelnd bemerkte. Seitdem sah ich Reuter wiederholt, bald in seiner Villa, in die er auch meine Kinder, „die goldenen Ringelein“, wie er sie scherzend nannte, zur Plünderung seiner Stachel- und Erdbeeren einlud, bald am dritten Orte, auf gemeinsamen Spaziergängen nach der Wartburg und der Phantasie, wobei ich in kurzer Zeit den Menschen in Reuter ebenso achten und lieben lernte, wie ich ihn als originellen, unerreichbaren Schriftsteller, als den ersten deutschen Humoristen der Gegenwart bereits schätzte.

Wenn auch Reuter das Bewußtsein seines vollen Werthes und seiner hohen Bedeutung in sich trug, so war er keineswegs so eitel und von sich eingenommen, um, wie viele Dichter, Alles gut zu finden, was er geschrieben. Mit wirklich rührender Bescheidenheit sprach er mit mir von seinen letzten Arbeiten, besonders von der „Reise nach Constantinopel“ und von dem geringen Erfolg des von dem Publicum und der Kritik abfällig behandelten Buches, worüber er jedoch höchst empfindlich schien. Zugleich klagte er wehmüthig über die Abnahme seiner geistige Schöpferkraft, über seine zunehmende Altersschwäche, indem er hinzufügte, daß er schwerlich noch etwas Lesenswerthes schreiben werde. Meine Frau und auch ich bemühten uns, diese Anwandelungen einer hypochondrischen Verstimmung und einer gerade bei den bedeutendsten Schriftstellern sich öfters zeigenden Muthlosigkeit zu bekämpfen und die Zweifel an seiner Productionskraft zu widerlegen. Sichtlich von unserem Zureden erfreut, theilte er uns den Plan zu einer neue Erzählung mit, welche er schon lange Zeit mit sich im Kopfe herumgetragen, aber aus den angegebenen Gründen nicht ausgeführt hatte.

Wenn es mir auch unmöglich ist, den naiven Zauber, womit Reuter seine Geschichte uns vortrug, hier wiederzugeben, und wenn nach so vielen Jahren mir auch so manche reizende Einzelheiten aus dem Gedächtnisse geschwunden sind, so will ich doch versuchen, den, wie ich wohl annehmen darf, unbekannt gebliebenen Plan zu Reuter's letzter Erzählung aus der Erinnerung zu veröffentlichen, da sich schwerlich auch nur ein Bruchstück desselben in seinen hinterlassenen Papieren vorgefunden hat.

Der Held dieser echt Reuter'schen Erzählung war ein gutmüthiger, ehrlicher, sechszehnjähriger Bauernsohn aus Mecklenburg, der nach langem Drängen und Bitten von seinen Eltern die Erlaubniß bekommt, nach Berlin, dem Ideal aller seiner Wünsche und Träume, zu reisen, um seine daselbst wohnenden Verwandten zu besuchen. Mit den nöthigen Warnungen vor den hauptstädtischen Schwindlern und den Verlockungen der Residenz versehen, in der Tasche mehrere Thaler Reisegeld, in der einen Hand ein Packet mit seinem besten Sonntagsstaat, in der andern einen Sack mit Schinken, Würsten und einer fetten Gans zum Geschenk für die „liebe Muhme“ fährt der gute Hann Jochen auf der Eisenbahn nach Berlin. Ungefragt erzählt er seinen [620] Reisegefährten seine Absicht, die ihm von Gesicht noch gänzlich unbekannten Verwandten zu überraschen. Auf dem Bahnhof angelangt, hat er zu seinem Unglück die Wohnung der Muhme vergessen, weshalb er jeden Vorübergehenden darnach fragt, in der Voraussetzung, daß jeder Mensch in Berlin eine so brave und angesehene Persönlichkeit kennen müsse. Schon verzweifelt der gute Hann Jochen, die Gesuchte zu finden, als er zu seiner größten Freude von einer alten, würdigen Frau angesprochen wird, die sich ihm als die liebe Muhme unter den zärtlichsten Küssen und Umarmungen zu erkennen giebt. Wie sie ihm mittheilte, war sie, durch einen Brief seiner Eltern von seiner Ankunft benachrichtigt, auf den Bahnhof geeilt, um den theuren Neffen zu empfangen, den sie auch sofort an seiner Familienähnlichkeit erkannte. Sie wollte es unter keiner Bedingung zugeben, daß Hann Jochen sich noch länger mit seinen schweren Päcken schleppte, sondern rief einen von ihr bereits zu diesem Zweck mitgebrachten Träger, der die Sachen zur weiteren Beförderung übernahm. Zugleich warnte sie den unerfahrenen Neffen vor den zahlreichen Taschendieben, weshalb sie ihm rieth, ihr seine volle Börse in Verwahrung zu geben, was auch Hann Jochen that, sodaß er nur einiges Kleingeld in seiner Tasche zurückbehielt. Unterwegs erkundigte sich die Muhme nach seinen Eltern und sonstigen häuslichen Angelegenheiten, für die sie sich lebhaft interessirte. Dabei geschah es, daß sie Namen und Personen häufig verwechselte und, obgleich sie aus demselben Dorfe stammte und die Schwester seiner Mutter war, eine auffallende Unwissenheit der Familienereignisse verrieth, was sie jedoch mit ihrer langen Abwesenheit von der Heimath entschuldigte. Hann Jochen war auch viel zu sehr von dem Leben und Treiben der Residenz in Anspruch genommen, um auf diesen Umstand zu achten. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die Wunder Berlins, die hohen Häuser in den Straßen, die öffentlichen Plätze mit ihren Denkmälern, die schönen Schaufenster mit all den herrlichen Waaren an und mit offenen Ohren hörte er die wunderbaren Schilderungen seiner Begleiterin von all den Freuden und Vergnügungen, welche ihn in der großen Stadt und in ihrem Hause erwarteten, sodaß er darüber die ganze Welt und alle Warnungen und Ermahnungen seiner vorsichtigen Eltern vergaß. Obgleich ihm der Weg sehr weit vorkam und er bereits einige Müdigkeit verspürte, folgte er sorglos der klugen, liebenswürdigen Muhme, ohne zu bemerken, daß es längst dunkel geworden und der Träger mit den Sachen nicht mehr zu sehen war. An einer Ecke, wo ein großes Gedränge war, sah sich der ehrliche Hann Jochen plötzlich auch von seiner Begleiterin verlassen. Vergebens blickte er sich nach ihr um, umsonst rief er laut ihren Namen; sie war und blieb verschwunden. Da stand er allein, einsam und verlassen in der fremden, großen Stadt. Die Leute, welche er nach der Muhme fragte, lachten ihn aus, und als er sein Abenteuer ihnen erzählte, belehrten sie ihn, daß er in die Hände schlauer Bauernfänger gerathen sei. Da unterdessen die Nacht hereingebrochen war und er die Hoffnung aufgeben mußte, seine wirklichen Verwandten noch so spät ausfindig zu machen, so blieb ihm nichts übrig, als eine Herberge aufzusuchen, zu der ihm eine mitleidige Seele den Weg zeigte.

Als der gute Hann Jochen den nächsten Morgen gerade nicht mit den angenehmsten Gefühlen erwachte, beschloß er, zunächst weitere Nachforschungen nach seiner wahren Muhme anzustellen und um jeden Preis ihre ihm noch unbekannte Wohnung ausfindig zu machen, was keineswegs so leicht war, als er sich vorstellte. Da ihm Niemand sichere Auskunft darüber zu geben vermochte, so rieth ihm der Wirth der Herberge, sich an die Polizei zu wenden, um mit Hülfe derselben die Wohnung seiner Verwandten zu entdecken und zugleich seine durch die Bauernfänger ihm entwendeten Sachen und Gelder wiederzuerlangen. Der Rath leuchtete ihm auch ein, und er begab sich nach dem Molkenmarkte, wobei er sich einige Mal verirrte und in eine ganz entgegengesetzte Gegend kam. In seiner Verlegenheit wendete er sich an eine vorübergehende, anständig gekleidete Frau, welche ein zartes Kind an ihrer Hand führte, um sich nach dem richtigen Weg zu erkundigen. Dieselbe war überaus freundlich und erbot sich aus freien Stücken, ihn bis zum Polizeigebäude selbst zu führen, in dessen Nähe sie wohnte, wenn er so lange auf sie warten wollte, bis sie in der vor ihnen liegenden Apotheke ein Recept für ihren kranken Mann abgeholt haben würde. Zum Pfande ließ sie ihm das Kind, ein schmächtiges, blondes Mädchen von fünf bis sechs Jahren zurück, das er zu beaufsichtigen versprach.

Während die Frau in den Laden trat, unterhielt sich der gutmüthige Hann Jochen mit seiner kleinen Pflegebefohlenen, deren echt Berliner Sprache und drollige Antworten seine höchste Verwunderung erregten und ihm das größte Vergnügen machten, so gut, daß ihm die Zeit nicht lang und er nicht müde wurde, die seltsamen Redensarten und nie gehörten Ausdrücke anzuhören. Das Mundwerk der Kleinen stand auch keinen Augenblick still, und Alles, was sie sagte, hatte einen solchen Schick, eine solche Anmuth, daß er noch nie ein ähnlich süßes und kluges Ding gesehen zu haben glaubte und alle Kinder in seinem Dorfe ihm dagegen wie die dummen Gänse vorkamen. Da aber fast eine Stunde vergangen und die Frau aus der Apotheke noch immer nicht zurückgekehrt war, das ungeduldige Kind aber nach seiner Mutter schrie, so begab sich Hann Jochen in die Apotheke, um die Frau aufzusuchen und das ihm anvertraute Pfand ihr zurückzustellen. Man kann sich denken, wie groß seine Ueberraschung war, als Niemand hier die von ihm bezeichnete Frau gesehen oder gesprochen haben wollte. Nur zu bald wurde ihm klar gemacht, daß die gewissenlose Betrügerin seine Leichtgläubigkeit und Gutmüthigkeit dazu benutzt habe, um sich ihres oder vielleicht eines fremden, elternlosen Kindes zu entledigen.

Wieder stand nun der arme Bursche ohne Sachen, ohne Geld und noch obendrein mit einem Kinde belastet da. Ein herbeigerufener Constabler brachte ihn mit der Kleinen nach der nächsten Wache, wo man ihn einem strengen Verhör unterwarf und anfänglich für einen gefährlichen Vagabunden hielt, da er sich aus Mangel an den nöthigen Papieren über seine Verhältnisse nicht ausweisen konnte. Vorläufig mußte er in das Polizeigefängniß wandern, bis es ihm mit vieler Mühe gelang, seine Unschuld mit Hülfe der endlich aufgefundenen Muhme, einer ehrlichen Victualienhändlerin, darzuthun. Das Kind sollte er indessen so lange behalten, bis es der Polizei gelungen sein würde, die Eltern desselben aufzufinden und die näheren Umstände festzustellen. So kehrte der arme Hann Jochen, gründlich von seiner Reiselust und seiner Bewunderung Berlins geheilt, mit dem kleinen Mädchen in die Heimath zu seinen Eltern zurück, welche über diesen unerwarteten Kindersegen nicht besonders erbaut waren und ihren verlorenen Sohn mit keineswegs schmeichelhaften Redensarten empfingen.

Vier Wochen lang war in dem Dorf von nichts Anderem die Rede, als von dem dummen Hann Jochen und von dem fremden Kind, das wie ein Wunderthier angestaunt wurde. Es war aber auch eine seltsame Erscheinung, diese echte Berliner Pflanze, welche das launische Schicksal mit einem Mal nach einem mecklenburgischen Dorfe verschlagen hatte. Die Kleine konnte ihre angeborene Natur, ihren schlagfertigen Witz, ihre mit der Muttermilch eingesogene Berliner „Schnoddrigkeit“, ihre großstädtische Großmäuligkeit und das wilde Vagabundenblut nicht verleugnen, die im auffallenden Gegensatz zu dem beschränkten, schwerfälligen, aber ehrenwerthen Wesen und der gediegenen, tüchtigen Gesinnung ihrer ländlichen Umgehung standen. So schwer es ihr auch anfänglich fallen mußte, sich in die gegebenen Verhältnisse zu finden, so legte sie doch nach und nach ihre früheren Gewohnheiten ab, wenn auch hier und da immer wieder das altkluge Berliner Kind mit seinen kleinen und großen Unarten zum Vorschein kam.

Da die Polizei aus guten Gründen nichts von sich hören ließ und Niemand mehr nach der Kleinen fragte, so blieb sie einstweilen bei den Eltern ihres Beschützers, die sich mit dem ihnen aufgedrungenen Kinde um so leichter befreundeten, als sie selbst keine Töchter hatten. Mit der Zeit wurde aus dem schmächtigen, blassen, verkommenen Ding eine wohlgenährte, rothwangige, schmucke Dirne, die tüchtig heranwuchs. In der Schule war sie immer die Erste, und in der Kinderlehre gab sie die besten Antworten, sodaß der Herr Pastor sie allen anderen Mädchen vorzog und sie bei der Einsegnung mit der öffentlichen Ablegung des Glaubensbekenntnisses betraute, worüber das ganze Dorf ein lautes Geschrei erhob. Niemand aber wagte es, mit der Fremden anzubinden, da man ebenso sehr ihre scharfe Zunge wie Hann Jochen’s derbe Fäuste fürchtete, der sie gegen alle [621] Angriffe ritterlich vertheidigte und beschützte. Bald wurde sie zum Aerger der reichen Bauerntöchter von den jungen Burschen gesucht und umschwärmt.

Keine verstand es auch, sich so zierlich zu kleiden, und selbst der älteste Lumpen und das verschossenste Band stand ihr zum Verwundern schön. Niemand tanzte so gut und leicht wie sie, die nur in der Luft zu schweben schien. Dabei war sie ebenso tüchtig im Hause wie auf dem Feld und in der Wirthschaft, wo sie für Zwei schaffte, weil sie jede Sache mit dem ihr eigenen Geschick anfaßte und bei allen Gelegenheiten ihren überlegenen Verstand und Mutterwitz offenbarte. Selbst die mürrischen Alten mußten über die klugen Einfälle und drolligen Geschichten der närrischen Dirne lachen und rühmten den Nachbarn ihre Anstelligkeit und Arbeitskraft, welche ihnen zwei Mägde sparte und ihnen mehr einbrachte, als ihr Unterhalt kostete. Unter diesen Umständen war es nur natürlich, daß der unterdeß herangewachsene Hann Jochen seine Pflegebefohlene, um die er manchen Spott geduldet und manchen Kampf bestanden, täglich lieber gewann, sodaß er ernstlich den Gedanken faßte, die fremde Dirne zu heirathen, was aber seine Eltern unter keiner Bedingung leiden wollten. Schließlich aber siegte seine Festigkeit und Treue, sowie ihre Klugheit und Liebenswürdigkeit über alle Schwierigkeiten und Vorurtheile, die ihrer Vereinigung und ihrem Glücke im Wege standen, wozu ganz besonders noch die Vorstellungen des würdigen Pastors beitrugen, der die Liebenden unter dem Zulauf des ganzen Dorfes in der Kirche traute.

Selbst dieser äußerst dürftige und verblaßte Umriß läßt es gewiß schmerzlich bedauern, daß Reuter seine Erzählung nicht ausgeführt und niedergeschrieben hat. Nach seinen mündlichen Aeußerungen legte er selbst das Hauptgewicht auf den zweiten Theil seiner Geschichte, auf die eigenthümliche Entwickelung des großstädtischen Kindes in dieser fremden ländlichen Umgebung, auf den ursprüglichen Gegensatz und die spätere Verschmelzung von Dorf und Stadt, von Berliner und Mecklenburger Natur und Art, wobei ihm eine derartige Verpflanzung des städtischen Proletariats, eine solche Kreuzung und Vermischung der entgegengesetzten Elemente als ein interessantes sociales und ethisches Problem vorzuschweben schien. Ganz besonders beschäftigte ihn der eigenthümliche Charakter seiner Heldin und die wichtige Frage, welchen Einfluß eine solche gänzliche Umwandlung der Verhältnisse auf die angeborenen Neigungen und ersten Jugendeindrücke haben dürfte. Andererseits gedachte er, den nicht minder wichtigen Einfluß eines solchen fremden, belebenden Princips auf die stagnirende Dorfbevölkerung darzustellen. Ich zweifle nicht daran, daß unter den Händen eines solchen Meisters der an sich einfache Stoff eine hohe Bedeutung gewonnen, und daß diese Erzählung sich seinen besten Leistungen würdig angereiht haben würde. Schon die bloße Skizze und seine flüchtigen Andeutungen, das Bild des Helden und der Heldin, der Eltern, der Dorfbewohner, die Schilderung der ersten, kaum bewußten Liebe, die daraus entstehenden Kämpfe und Conflicte enthielten eine Fülle der ergreifendsten, lieblichsten, ernsten und humoristischen Scenen, einen Schatz von tiefen psychologischen Bemerkungen. Daß es aber Fritz Reuter trotz seines eigenen Geständnisses nicht an der nöthigen Schöpferkraft fehlte, hat er noch später durch seine wunderbar schönen Gedichte: „Ok 'ne lütte Gaw' för Dütschland“ und „Großmutting, hei is dod“ bewiesen, die den bekannten, bei Lipperheide erschienenen „Liedern zum Schutz und Trutz“ zur höchsten Zierde gereichen und kaum in der neueren deutschen Poesie ihres Gleichen finden dürften.

Mich selbst führten die im Jahre 1870 eingetretenen kriegerischen Verhältnisse schneller von Eisenach nach Berlin zurück, als ich dachte und wünschte. Mit schmerzlichem Bedauern verließ ich den mir lieb gewordenen Ort und den Kreis der alten und neuen Freunde, unter denen mir vor Allem Fritz Reuter und seine „letzte Geschichte“ unvergeßlich bleiben werden.