Goethe als „dummer Junge“

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Titel: Goethe als „dummer Junge“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 45, S. 713–719
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[713]
Goethe als „dummer Junge“.
Eine culturhistorische Studie.

„Und ich wiederhole es Ihnen, Herr Graf, die Bestie darf nicht auf das Theater!“

„Das ist gewiß nicht Ihr letztes Wort, Herr Geheimerath, in dieser so wichtigen Angelegenheit.“

„Es ist es. Es bleibt bei dieser Entscheidung, so lange ich hier in Weimar noch ein Wort in Theatersachen zu reden habe. Es ist und bleibt dieses Hunde-Gastspiel eine Entweihung der Bühne, die mir viel zu hoch steht, als daß ich so etwas dulden sollte.“

[714] „Aber bedenken Sie doch, bester Geheimerath, ein wie großer Thierfreund und besonders Hunde-Liebhaber unser trefflicher Großherzog ist und wie sich Seine königliche Hoheit daher freuen würden über die staunenswerthen Künste des talentvollen Thieres.“

„Ich habe gar nichts gegen die Liebhaberei[WS 1] unseres gnädigsten Herrn, aber sie mag geübt werden, wo sie hin gehört, im Wald und auf der Haide, aber nimmermehr auf dem Theater. Hier lesen Sie doch selbst § 19 unserer Theatergesetze, die auch Sie mit unterschrieben haben, Herr Graf. Hier steht es ja ausdrücklich und mit dürren Worten: „Hunde auf die Bühne mitzubringen, ist streng verboten.““

„Excellenz halten zu Gnaden, dieses Gesetz bezieht sich lediglich auf Haus-, Hof- und Metzger-Hunde und den sonstigen Hundepöbel, welchen ein hundeliebender Schauspieler in die Garderobe mitzubringen versucht sein könnte und der dann, wenn er plötzlich die Bühne beträte, um ohne Gage mitzuspielen, eine ärgerliche Störung veranlassen würde; aber so etwas hat ja gar keinen Bezug auf das wohlgezogene, der Hunde-Aristokratie angehörende Individuum, welches Herr Karsten uns zu produciren die Ehre haben wird. Excellenz lassen ja selbst Ihren Faust so treffend sagen:

Dem Hunde, wenn er gut gezogen,
Wird selbst ein weiser Mann gewogen.
Ja, Deine Gunst verdient er ganz und gar,
Er, des Herrn Karsten trefflicher Scolar.“

„Gehen Sie mir mit Ihren verwünschten Sophismen; es bleibt dabei, die Bestie darf nicht auf’s Theater!“

So schloß ein in Goethe’s Studirstube zu Weimar zwischen dem Dichter und dem Grafen Edelink zuletzt sehr laut und heftig geführtes Gespräch. Zum vollen Verständniß desselben sei es uns vergönnt, Folgendes als Erläuterung anzufügen.

Im Jahre 1790 ward das neue Theater eröffnet, und Goethe übernahm die Leitung mit fast unumschränkter Machtvollkommenheit und mit einem so großen Eifer, daß er alle Proben beaufsichtigte und die einzelnen Schauspieler und Schauspielerinnen selbst einstudirte. Während der Aufführung saß er mitten im Parterre auf einem Sessel, mit seinem Jupiter-Blick den Kreis um sich her lenkend und beherrschend, zuweilen auch, wenn Beifalls- oder Mißfallensbezeigungen des Publicums ihn genirten, mit einem „Quos ergo“ derb drein fahrend. Auf der Bühne war er Despot und doch Alles mit dem Zauber seiner imposanten Persönlichkeit entzückend.

Die höchste Blüthezeit der dramatischen Kunst in Weimar war die der ersten Ausführung des Don Carlos, Egmont und Wallenstein. Obschon der Versuch, ein deutsches Theater zu schaffen, mißlang und auf dem eingeschlagenen Wege mißlingen mußte, so gehört doch das edle Streben der beiden Herren auch in dieser Beziehung zu den erhabensten Erscheinungen in der deutschen Kunstwelt. Schiller starb, und sowie sein Tod überhaupt einen tiefen und schmerzlichen Riß in Goethe’s Herz und Leben verursachte, so lähmte er auch sein Interesse am und seine Thätigkeit für’s Theater. Bald kamen noch andere Ursachen hinzu, die ihm die Leitung der Bühne mehr und mehr verleideten. Die gefeiertste Schauspielerin, die als Frau von Heygendorf geadelte Caroline Jagemann, genoß außerhalb der Bühne die Gunst des Großherzogs im höchsten Grade und wollte sich daher auf der Bühne den strengen Anordnungen Goethe’s nicht fügen. Es entstanden Parteien und Verstimmungen, die vom Winter 1808 an Goethen mehrfach bestimmten, um Enthebung von seinem ärgerlichen Posten zu bitten. Immer aber ließ er sich wieder zur Beibehaltung desselben bereden. Im Jahre 1813 wurde ihm der Hofmarschall, Graf von Edelink, als Mitglied der Intendanz zur Seite gegeben. Doch behielt Goethe die höchste Entscheidung. Frau von Heygendorf wurde indessen immer eifersüchtiger auf des Dichters Einfluß. Sie suchte und fand endlich das rechte Mittel, um Goethe zu verdrängen.

Alle Zeitungen waren damals voll von dem Furore, welches ein neues Melodrama: „Der Hund des Aubry[1] selbst auf den größten Bühnen machte. Jetzt, wo sogar Ziegen als dramatische Künstlerinnen auftreten, würde das gar nicht mehr auffallen, damals aber machte es Aufsehen. Ein gewisser Herr Karsten hatte einen Pudel abgerichtet, der die Titelrolle auf’s Trefflichste spielte, und zog gastirend und das Publicume entzückend überall mit demselben herum. Goethe las die Theaterberichte darüber mit Entrüstung. Der Großherzog aber, dem man namentlich einen interessant geschriebenen Bericht aus Paris in günstiger Stunde vorlegte, wurde neugierig gemacht und zu dem Wunsche veranlaßt, daß man das vierbeinige Talent als Gast nach Weimar einladen möge.

In Folge aller dieser Ereignisse fand dann das oben angeführte Gespräch statt.

Graf Edelink entfernte sich mit höfischer Freundlichkeit, und Goethe ging einige Mal mit großen Schritten im Zimmer auf und ab, und rief dann, als er die Thüre des Vorzimmers hatte zuklinken hören, aus: „Ich durchschaue Alles, es ist eine fein angelegte Intrigue der Heygendorf, ich werde meine Maßregeln nehmen.

Graf Edelink eilte nach dem Residenzschloß und ließ sich beim Großherzog melden.

„Nun, wie steht’s?“ fragte dieser, „hat der Bühnentyrann seinen harten Sinn erweichen lassen?“

„Nichts weniger als das,“ erwiderte der Graf, „obschon ich nichts unversucht ließ, um ihn zu erweichen. Ich sagte ihm, daß ja die Sache selbst von naturgeschichtlichem Interesse sei, da man dabei gewahr werde, in wie weil der thierische Verstand bildungsfähig erscheine. Alles vergebens. Ich stellte ihm vor, wie unrecht es von ihm sei, immer nur auf seinem Kopfe zu beharren und den Wünschen von Ew. Königl. Hoheit selbst in einer solchen Kleinigkeit zu widerstreben. Alles vergebens. Und wenn er sich auf den Kopf stellt, sagte er endlich, so bleibt es doch dabei, die Bestie darf nicht aus das Theater, so lange ich demselben vorstehe.“

„Das hat er wirklich gesagt?“ erwiderte der Großherzog mit Heftigkeit, indem ihm die Zornesader zu schwellen begann.

„Ja, das hat er gesagt,“ erwiderte der Graf, ohne dabei zu erröthen. „Ew. Königl. Hoheit halten nur zu Gnaden, daß ich es zu wiederholen mir erlaubt habe – aber –“

„Schon gut,“ schloß der Großherzog die Audienz, „wir wollen doch sehen, wer hier Herr ist. Schreiben Sie sofort an Karsten, daß er sobald als möglich mit dem Hund hier eintrifft. An Goethe wird davon keinerlei Mittheilung gemacht.“ Er machte die Entlassungspantomime, und der Graf verabschiedete sich mit vielen tiefen Bücklingen.

„Durchgesetzt, endlich durchgesetzt,“ so rief der Graf, sich freudig die Hände reibend, indem er in den höchst eleganten Gartensalon bei der Frau von Heygendorf eintrat.

„Bravo, lieber Graf, bravo!“ rief die reizende Freundin Karl Augusts, indem sie voll Freude in die Hände klatschte. „Ich wußte ja, daß Sie der Mann dazu waren, so etwas durchzusetzen. Nun aber auch weiter an’s Werk, so lange das Eisen noch warm ist und glüht.“

Ohne daß Goethe ein Wort davon wußte, wurde der vierbeinige Mime verschrieben.

Es war in den ersten Tagen des April 1818 gegen Abend, als er mit der Post ankam und im Gasthof zum Elephanten Quartier nahm. Alle Abende fanden sich dort bei Herrn Schwanitz in der räucherigen Wirthsstube, die damals noch durch einen hölzernen Pfahl in der Mitte fast zur ländlichen Schenke gestempelt wurde, eine Gesellschaft auserlesener Gäste ein. Herr Karsten saß mitten unter ihnen und sprach mit Stolz von den glänzenden Leistungen seines dramatischen Zöglings. Am andern Morgen war seine Ankunft in der ganzen Stadt ruchbar und noch bekannter wurde sie, als Herr Karsten am nächsten Abend zu einer der anmuthigen Soireen bei Frau von Heygendorf eingeladen gewesen war. Goethe glaubte indessen, man habe die Angelegenheit fallen lassen, und Niemand wagte es, ihn von der Ankunft des zottigen Mimen in Kenntniß zu setzen. Als er am Tage der Theaterprobe endlich Alles erfuhr, schrieb er an den Großherzog:

„Ew. Königliche Hoheit

wissen, wie mir bis zu diesem Tage das hiesige Theater als eine höhere Bildungsstätte ein Heiligthum gewesen ist. Da nun dasselbe meiner Ansicht nach durch die heutige Aufführung entweiht wird, so werden Ew. Königliche Hoheit es gewiß verzeihlich finden, wenn ich mir die Erlaubniß erbitte, derselben nicht beizuwohnen, sondern mich als beurlaubt ansehen zu dürfen.“

[715] Nachdem er dies Billet geschrieben halte, zog er heftig die Schelle mit befahl dem eintretenden Bedienten, sofort einiges Nöthige ein zupacken und den Wagen zu einer Fahrt nach Jena[2] anspannen zu lassen. Es war an einem Freitag, und unwillkürlich summte der Alte mit den „Lustigen von Wien“ vor:

„Freitag geht’s nach Jena fort,
Denn das ist, bei meiner Ehre,
Doch ein allerliebster Ort.

Samstag ist’s, worauf wir zielen,
Sonntags rutscht man auf das Land,
Zwätzen, Burgau, Schneidemühlen
Sind uns alle wohlbekannt.

In der Nähe der Schneidemühle nahm der Dichter Quartier. Von der Saal-Vorstadt aus gelangt man über eine große steinerne Brücke nach Camsdorf zu dem Gasthof zur Tanne, von dem aus man eine prachtvolle Aussicht in das Saal-Thal nach Zwätzen und Kunitz hin hat. Besonders reizend ist diese Aussicht von den Erkerstuben aus. Diese bezog Goethe und genoß dort noch einen herrlichen Abend. Die Studenten brachten dem gefeierten Dichter-Heros noch ein Ständchen mit freudigem Lebehoch.

Während dies in Saal-Athen vorging, erfreute sich die Bevölkerung Ilm-Athens in der Hunde-Komödie. Macaire hatte die blutige That vollbracht und den Leichnam, wie er glaubte, ganz unbeobachtet, bei Seite geschafft; aber der treue Hund hatte treu gewacht und that sogleich die ersten Schrille, um die schwarze Unthat an’s Licht zu bringen. Stürmischer Beifallsjubel begrüßte ihn. Dieser Beifall wuchs von Scene zu Scene, während der Hund den schändlichen Macaire immer deutlicher als den Mörder seines Herrn kennzeichne!, so daß sich dieser vor dem vierbeinigen Rächer nicht mehr zu retten weiß. Es wird endlich beschlossen, daß Macaire durch ein Gottesurtheil im Zweikampf mit dem Hunde seine Unschuld darthun soll. Der Kampf begann. Macaire, mit einer Keule bewaffnet, drang wüthend auf seinen Widersacher ein, der sich indessen geschickt in ein altes Faß zurückzog, welches ihm neben einem stacheligen Halsbande gleichsam als Schußwaffe gestaltet war. Lautlos und mit zurückgehaltenem Athem erwartete die Menge den Ausgang. Als aber endlich nach mehreren Gängen der Hund den rechten Augenblick ersah, Macaire, während er zu einem vernichtenden Schlage ausholte, unterlief, bei der Gurgel faßte, niederwarf und so lange würgte, bis er seine Unthat gestand: da brach ein Beifallssturm los, wie ihn selbst Iffland und Devrient in ihrer höchsten Blüthe nicht erfahren hatten. Der Verbrecher wurde der gerechten Strafe überliefert und der Vorhang fiel.

Unter stürmischem Hervorruf ging derselbe wieder in die Höhe, der Hund erschien, diesmal auf zwei Beinen, und machte dankend sein Compliment vor den applaudirenden Herren und Damen. Schade, daß keine Lorbeerkränze zur Hand waren! Der Großherzog sprach sich mit großer Befriedigung über die gelungene Darstellung aus, und man verfehlle nicht, durch die Bemerkung, wie nahe es daran gewesen sei, daß Goethe durch seinen Eigensinn ihn um diesen Genuß gebracht habe, seinen Unmuth zu reizen. In diesem Unmuth schrieb er folgendes Antworts-Billet nach Jena an Goethe:

„Aus den mir zugegangenen Aeußerungen habe ich die Ueberzeugung gewonnen, daß der Geheimerath von Goethe wünscht, seiner Function als Intendant enthoben zu sein, welches ich hiermit genehmige. Karl August.

Der Dichter war außer sich, als ihm diese Zeilen zugingen, und wurde es noch mehr, als er vernahm, daß eine Abschrift davon allen Theater-Mitgliedern mitgetheilt worden sei.

Karl August hat mich nie verstanden!“ so rief er im Gefühle bitterster Kränkung aus. „Wie hätte er mir sonst solches zufügen können? mir, mit dem er dreiundvierzig Jahre in dem Verhältniß des Freundes zum Freunde gestanden, mit dem er einst in einem Grabe ruhen zu wollen erklärt hat! Und das Alles um eines Hundes willen herbeigeführt durch eine erbärmliche Schauspielerintrigue! Eine neue Begründung für jenes warnende Wort: Verlasset Euch nicht auf Fürsten.

Wenige Wochen vorher waren dem Dichter von Wien aus glänzende Offerten gemacht worden, und er hatte damals nicht im Entferntesten daran gedacht, davon Gebrauch zu machen. Jetzt ging er ernstlich mit dem Gedanken um, Weimar auf immer zu verlassen und nach der Kaiserstadt am Donaustrande überzusiedeln.

Jeder alte Jenenser erinnert sich wohl des allen lreuen Postboten Jahr, der immer mit dem ganzen Gesichte lachte, wenn ihm die Freude zu Theil ward, einen der Musensöhne mit einem längst ersehnten Geldbriefe zu erfreuen. Er war von Kopf bis zu Fuß in Citronengelb gekleidet und hieß deshalb der „Canarienvogel“. Als eben der Unmuth Goethe’s an einem Morgen am höchsten gestiegen war, erschien dieser Canarienvogel auf der Tanne diesmal als Friedenstaube. Er brachte dem Dichter einen Brief mit dem großherzoglichen Siegel. Sein Inhalt zerstreute schnell die Wolken des Unmuths, welche sich um Goethe’s lorbeerumkröntes Haupt gelagert hatten. Der Großherzog hatte sein Unrecht eingesehen, schrieb in sehr versöhnlicher Weise und stellte seinen baldigen Besuch in Aussicht. Einige Tage darauf fuhr er kurz vor dem Antritt einer längeren Reise nach Jena. Die allbekannte Droschke war mit einem Champagner-Korb und vielen andern guten Sachen bepackt. In dem Pavillon des Prinzessinnen-Gartens speiste Karl August mit Goethe ganz allein. Bald hörte man frohes Anklingen der Gläser und durch dasselbe hindurch ein Duo, das ungefähr so lautete:

„Theater hin, Theater her, –
Zwischen uns bleibt Alles beim Alten.“[3]

So war denn das gute Verhältniß zwischen den beiden edeln Männern vollkommen wiederhergestellt; aber zur Wiederaufnahme der Theaterleitung ließ sich Goethe durch keine Bitten bestimmen. Er besuchte auch das Theater nie wieder. Nur am Regierungs-Jubiläum des fürstlichen Freundes machte er eine Ausnahme.

In Jena blieb er noch einige Zeit und nahm mehrfach mit Interesse Kenntniß von den Ereignissen des damals durch de volksthümlichen Bestrebungen der Burschenschaft sehr bewegten akademischen Lebens, was ihm nahe genug lag, da in den untern Räumen der Tanne der Hauptversammlungsort der Burschenschaft war. Eins dieser Ereignisse wollen wir etwas näher betrachten.

In der Geschichte der Weltstaaten ist es sehr zweifelhaft, ob in Babylon oder in Assyrien die erste große asiatische Monarchie sich gebildet hat. Auch darüber sind die Gelehrten noch nicht im Reinen, ob in Afrika Meroe oder Egypten zuerst als Weltstaat sich constituirte. Adhue sub judice lis est. In der Geschichte der Bierstaaten dagegen ist es ganz ausgemacht, daß dem Dorfe Lichtenhain bei Jena die Ehre gebührt, den ersten Bierstaat der Welt in seiner Mitte gegründet zu sehen.[4]

Seit undenklicher Zeit nämlich, und diesen Ausdruck nicht blos im Sinne der ehemaligen Reichsritterschaft, sondern ganz eigentlich genommen, so berichtet schon ein gelehrtes altes Haus der Burschenschaft, bestand in Jena ein wundersamer Brauch. In [716] der Nähe der Stadt liegt das Dorf Lichtenhain[5], welches sich, wenn auch keineswegs durch die Güte seines Bieres, so doch durch die löbliche Eigenschaft desselben auszeichnet, daß man eine ungeheure Quntität davon zu sich nehmen kann. Nach diesem Dorfe nun wallten die durstgequälten Jenenser und stifteten in altersgrauer Zeit einen eigenen Staat, d. h. sie wählten aus ihrer Mitte einen Herzog, Minister, Räthe, Forst- und Jagdbeamten etc. Auch errichteten sie einen Verdienstorden, Kannenorden genannt, für besondere Bierverdienste, und Alles, was noch sonst zu einer wohlconditionirten Regierung nöthig ist. Dabei entwickelte sich oft ein sehr glänzender Witz.

Dort fand man den wahren locus
Für den akademischen jocus.[6]

Nach dem Muster Polens war der Staat ein Wahlreich, Jeder Ebenbürtige, d. h. jeder regelmäßige Besucher Lichtenhains, hatte die active und passive Wahlbefähigung. Ein polnischer Reichstag war indessen in Lichtenhain nicht zu fürchten. Denn um allen Wahl-Intriguen vorzubeugen und nur dem wahren Verdienst die Krone zu geben, wurde an jedem Kneiptag regelmäßig zu Buche gebracht, wie viel ein Jeder zu sich genommen. Nach Ablauf des Jahres wurde das Facit gemacht, und wer dann in einem Jahre am meisten getrunken, wurde als der Fähigste, als der Förderste, als der Fürst begrüßt. Der beste Biertrinker nach dem Fürsten war der Kronprinz, dann kamen die Minister, der Erzbischof, der Kanzler, Reichsherold etc. bis auf den Hofpoeten und Hofzeitungsschreiber herab, alles secundum ordinem nach der verhältnißmäßigen, recht eigentlichen Capacität. Die Burgvögte, von der profanen Welt Wirthe genannt, thaten alles Mögliche, um nicht nur die Burg selbst, sondern auch die umliegenden Burggärten möglichst zu verschönern und namentlich die Hof- und Gallatage und Abende durch Decorationen und Illuminationen recht glänzend zu machen.

Der Mai des Jahres 1816 zeigte sich besonders günstig für solche Hof- und Gallatage. Die Frühlingssonne lockte öfters als gewöhnlich zum Besuche der Hofburg. Auf dem Throne Fichtenhains saß damals Tus IX., ein stattlicher, prachtliebender Herr.[7] Eines schönen Nachmittags entbot er seinen Reichsherold G. zu sich und sprach zu ihm die geflügelten Worte: „Bester, lieber und Vielgetreuer! Schreibe unter Berücksichtigung der Dir wohlbekannten Umstände auf nächsten Sonnabend Nachmittags 3 Uhr einen großen Hof- und Reichstag nach Lichtenhain auf und lade dazu alle unsere lieben Vasallen und getreuen Unterthanen feierlich ein.“ Der Reichsherold schrieb sogleich das übliche Manifest auf einen Bogen in Groß-Folio und befestigte es an das schwarze Bret, wo es wegen seiner Größe bald die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog. Am Abend vor dem festlichen Banket beschloß Goethe eine Spazierfahrt nach Kötschau zu machen, wo er zehn Jahre später dem allgefeierten wunderschönen Gastwirths-Töchterlein, der schönen Minna, den Namen der thüring’schen Helena gab. Als er über das Kreuz fuhr, zog der riesenhafte Anschlag am schwarzen Bret seine Blicke auf sich. Wißbegierig wie er war, schickte er seinen Kammerdiener ab, um zu erkunden, was der Anschlag bedeute. Dieser kam mit der Meldung zurück, er verstehe das Ding nicht, es scheine ein Studentenwitz zu sein. „Gehe hin und hole mir das Papier,“ befahl Se. Excellenz. Der Diener brachte die Proclamation, und Goethe las wie folgt:

Wir Tus IX., aus eignen Mitteln und Verdienst regierender Herzog zu Lichtenhain, Fürst zu Ziegenhain, Erbherr auf Kunitz, gefürsteter Graf von Ober- und Unter-Wöllntz, Kötschau und Ammerbach, Erb- und Bierherr auf Köstritz und Oberweimar, sowie Alleinherrscher aller Länder, die wir besitzen und nicht besitzen, die wir kennen und nicht kennen, allezeit Mehrer des Reichs, sowie Minderer des Biers und darum Großmeister aller Bierorden auf Sonne, Mond und Sternen, insonderheit des großen goldnen Kannenordens, der herzoglichen Societät der höheren Cerevisiologie Protector etc. etc.

haben erfahren, daß in unsern Landen viele Klagen über großen Durst laut geworden sind, was mit Wohlgefallen zu vernehmen allergnädigst geruhten. Maßen wir aber stets, immerdar und allezeit mit landesväterlicher Fürsorge darauf bedacht sind, die vorhandnen Kräfte unsrer vielgetreuen Unterthanen nicht nur zu benutzen, sondern auch fernerweit auszubilden, Nothleidende zu unterstützen und Durstigen zu Hülfe zu kommen, maßen ferner wir auch in unserer durchlauchtigsten Kehle selbst einige Trockenheit verspüren, haben wir mit unsern weisen Räthen unter Beirath und mit Zustimmung unsrer getreuen Landesstände beschlossen und verordnet, beschließen und verordnen wie folgt:

Es haben sich sämmtliche unsrer getreuen Unterthanen, mit allen unsern Hofrittern und Mannen in unsrer hohen Beste und Residenz zu Lichtenhain am Tag der Publication dieses Manifestes Nachmittags 3 Uhr zu einem Hof- und Reichstag zu versammeln, um auf demselben nach Kräften zum Wohl des Landes beizutragen, auch einem rittermäßigen Turnier und Lanzenstechen beizuwohnen.

Gegeben auf unsrer Hofburg und Residenz zu Lichtenhain, am 17. des Wonnemonds 1818.

Eigenhändig und mit unserem Handsiegel:

Tus IX.

Gegengezeichnet G…, Reichsherold.

Die alte Excellenz wollte sich ausschütten vor Lachen und steckte das Manifest ad saccum, um es gelegentlich seinem fürstlichen Gönner, den solches humoristisches Treiben der studirenden Jugend höchlich ergötzte,[8] zur besondern Kurzweil vorzulegen. In derselben Stunde, da dieses sacrilegium geschah, eilten die treuen Vasallen und Unterthanen Tus IX. der herzoglichen Hofburg in Lichtenhain zu. Bald thronte im niedrigen Zimmer der unansehnlichen Schenke auf einem alten Großvaterstuhl der ziemlich korpulente regierende Herzog in altdeutscher Tracht mit großem Bart, die breite Brust mit funkelnden Bierorden bedeckt, und um ihn an der halbzerbrochenen Tafel, in welcher unzählige Namen eingeschnitten waren, die Großen der Krone und Kleinen des Reichs bis herab zum Scharfrichter, Bluthund von Galgenbach. Der Reichsherold G. gab ein Zeichen mit der Stabstrompete, einem alten Clarinettenstück. Tiefe Stille trat ein, und der Herold verkündete fast in derselben Minute den Inhalt des Manifestes, während [717] Goethe das Original in seine große Tasche schob. Als Alles sich geordnet hatte, erhob sich der Herzog und leerte auf das Wohl seines durstenden Landes ein schäumendes Stübchen. Dann ließ er das Kampfspiel beginnen, und der Herold rief: „Die Schranken sind geöffnet.“ In diese Schranken ritten dann die Ritter mit ihren Lanzen[9]. Bald ertönte die Ritterhalle, ja das ganze Haus vom Geräusche des Lanzenbrechens. „In den Sand gestreckt, die Waffen sind gleich, legt Euch aus, stoßt aus!“ so erscholl ein Stimmengewirr bunt durcheinander und dazwischen das Aufstampfen der Ganzen mit einer die wackeligen Tische bedrohenden Heftigkeit.

Unterbrochen wurde hierauf das Waffengetümmel durch eine feierliche Handlung. Einige Füchse, die am Ende des vorigen Semesters früh in die Heimath gereist waren, sollten jetzt erst nachträglich zu Jungburschen befördert werden. Diesem feierlichen Acte ging, wie gewöhnlich, zur Kurzweil der anwesenden Ritter ein launiges Examen voraus. Eingeleitet wurde dasselbe etwa aus folgende Weise: „Als Luden, mit Recht der Liebling [718] und Gönner aller echten Museusöhne, in voriger Woche seine anziehenden Vorträge über alte Geschichte begann, da sprach er über die drei Hauptmeinungen und Ansichten vom Sinne und Zwecke des menschlichen Lebens, vom Eudämonismus, vom Depravatismus und vom Abderitismus. Die Abderitisten behaupten, es gebe im Menschenleben keinen Fortschritt und keinen Rückschritt, sondern einen beständigen Kreislauf. Es sei in der Welt nicht besser und schlechter geworden, werde auch nicht besser oder schlechter, sondern es bleibe im stagnirenden Zustand Alles beim Alten. Die Depravatisten suchen nachzuweisen, daß in allen menschlichen Verhältnissen nur ein Rückschritt stattgefunden habe und daß die Welt fortwährend den Krebsgang gehe. Die Eudämonisten endlich begründen die Ansicht, daß die Welt und das Menschenleben immer und überall im erfreulichsten Fortschritt begriffen sei. Es kann keinem Zweifel unterworfen sein, welcher der drei Ansichten wir huldigen müssen: wir sind natürlich Eudämonisten. Wir glauben an den Fortschritt und huldigen dem Fortschritt. Den besten Beleg für unsere Ansicht finden wir im Studentenleben. Welch ein Fortschritt ist hier bemerkbar! Wie schrecklich z. E. war das Loos eines Fuchses in der Vorzeit![10] Man nannte Euch damals mit den entwürdigendsten Namen, man nannte Euch Gelb- und Rap-Schnäbel, Mutter-Kälber, Raupen, Spulwürmer und endlich Feixe[11] oder Feuxe, woraus dann endlich durch Corruption der Name Fuchs entstanden. Ein alter Heidelberger Comment definirt den Fuchs als „ein Stück Fleisch ohne Sinn, Witz und Verstand“. Der spätere Hallische Comment zeugt zwar von einem Fortschritt, indem er schon humaner, aber doch noch im Ganzen wenig schmeichelhaft sagt: „Die Füchse sind schlau, sie denken aber nicht.“

„Erbarmenswert!, war die Behandlung der Füchse, am erbarmenswerthesten aber in dem traurigen Act, wo, wie die Puppe zum Schmetterling, so der Fuchs zum Jungburschen sich entfaltet, die sogenannte Deposition der Beane. Man zog dem Fuchs eine Ochsenhaut über den Kopf und sägte dann die am Kopftheil noch befindlichen Hörner ab und er wurde so pecus campi[12] cui ut rite praeparentur, cornua deponenda essent. Mit diesem Ablegen der Hörner war aber das pecus campi noch lange nicht zum Studenten reif. Es wurde erst noch geschoren, gehobelt, gewaschen, mit Kamm, Bohrer, Säge, Hammer und Zange behandelt. Endlich brach man ihm den Bacchantenzahn, d. h. einen in den Mund gesteckten Schweinszahn aus. Wie viel lieblicher ist Euch das Loos gefallen, meine Söhne! Wie human werdet Ihr behandelt! Schon die Begriffs-Bestimmung, die man jetzt von einem Fuchs gibt, indem man ihn als „eine Legion von Ueppigkeiten“ definirt, bezeugt dieses. Statt aller jener Verationen nur ein höchst mildes Tentamen, eine Art colloqium. Schicket Euch jetzt zu demselben an, und antwortet laut und unerschrocken auf die Euch vorgelegten Fragen: „Warum ist den Gastwirthen, selbst unsern ehrenwerthen Burgvogt nicht ausgenommen, nie recht zu trauen?“

Fuchs 1: „Weil sie die Studenten immer prellen.“

„Nein, mein Sohn, weil sie immer etwas im Schilde führen.“

„Worin sind Napoleon und alle Buchhändler sich ähnlich?“

Fuchs 2 schweigt, und die Andern schwiegen secundum ordinem.

„Sie haben in Leipzig die größten Niederlagen.“

„Mein Sohn, wodurch unterscheidet sich der Stubenofen von der Stadt Ofen?“

Fuchs 3: „Der Stubenofen ist schwarz, und – und – und –“

„Nein, mein Sohn, dort in dem Stubenofen wird alles gar, und in der Stadt Ofen ist alles Ungar. Das solltest Du wissen, mein Sohn, da du so viel mit den Siebenbürgen umgehst.“

„Was ist für eine Aehnlichkeit zwischen dem jetzt auf unserm Commershaus, der Tanne, domicilirenden Geheimrath von Goethe und einem englischen Boxer?“

Alle Füchse schweigen.

„Beide haben in Faust ihre Hauptforce.“

„Was ist der Tag, mein Sohn?“

Fuchs 3: „Eine Zeit von 24 Stunden.“

„Nein, mein Sohn, es ist Vormittags eine Aufforderung zur Arbeit, und Nachmittags zum Kneipen.“

„Was ist die Sonne?“

Fuchs 4: „Ein großer Feuerball.“

„Nein, mein Sohn, es ist der Glanz des Universums, die Schönheit des Firmaments, die Zierde der Natur und die Glorie des Himmels.“

„Was ist die Erde, mein Sohn?“

„Ein von Menschen bewohnter Planet.“

„Nein, mein Sohn, sie ist die Mutter alles Werdens, die Ernährerin alles Bestehenden, der Fruchtspeicher des Lebens und der Abgrund, der alles verschlingt.“

„Was ist der Lenz?“

Fuchs 2: „Die schönste Jahreszeit.“

„Nein, mein Sohn, er ist der Maler der Erde.“

„Was ist der Herbst?“ – Die Füchse schweigen. – „Er ist der Kornboden des Jahres.“

„Und was ist das Jahr?“

Fuchs 4: „Ein Zeitraum von 365–366 Tagen.“

„Nein, mein Sohn, es ist der vierspännige Wagen der Welt.“

„Mein Sohn, wie viel gehören Rattenschwänze dazu, um die Erde mit dem Monde zu verbinden?“

Die Füchse rechnen in Gedanken und nennen vier, fünf, sechs Billionen.

„Nein, es gehört blos einer. dazu, nur lang genug muß er sein.“

„Bei welcher Nation kriegen die Knaben die meisten Schläge?“

Fuchs 2: „Bei den Russen.“

„Nein, mein Sohn, bei der Declination.“

„Wie würdest Du es anfangen, mein Sohn, um auf dem Bauch und Kreuz zugleich liegen zu können?“

Fuchs 3: „Das ist reinweg nicht möglich!“

„Doch, mein Sohn, wenn Du, was freilich, wie ich hoffe, nie geschehen wird, wenn Du Dich auf dem Ballhause bekneipst, beim Nachhausegehen auf dem Kreuz[13] stolperst und dort vorwärts zu Boden fällst, so hast Du die Ausgabe richtig, wenn auch nicht zu meiner Zufriedenheit, gelöst.“

„Ihr Alle habt übrigens durch Eure Antworten bewiesen, daß Ihr Eure Fuchszeit gut angewendet habt. Wenn Ihr so fortfahrt, so werdet Ihr einst tüchtige Stützen des Reichs werden, und in dieser Hoffnung ernenne ich Euch (hier folgten die üblichen Formalien) zu Jungburschen.“

Hierauf erhob sich der Reichsherold G. mit folgenden Worten: „An die vielen Fragen aus dem Gebiete der Phantasie knüpfe ich noch eine aus der Wirklichkeit. Wer von Euch Füchsen hat sich unterstanden, mein Manifest in Betreff des heutigen Reichstags vom schwarzen Brete abzunehmen?“

Altum silentium.

„Oder hat vielleicht Einer von den übrigen Rittern und Knappen die Proclamation zu sich genommen? ich muß sie haben, um sie im Reichs-Archiv zu hinterlegen. Als ich sie vorhin abholen wollte, war sie verschwunden.“ Alle versichern auf das Bestimmteste, daß sie es nicht gethan und auch nichts davon wüßten.

Da damals schon die Partei der „Altdeutschen“, weil ihnen für ihren streng republikanischen Sinn die monarchische Einrichtung im Lichtenhainer Staat ein Gräuel war, gegen die Lichtenhainer intriguirten und ein Schisma vorbereiteten, so glaubte G., daß einer von ihnen mit frevelnder Hand den Anschlag abgerissen habe. Er heftete daher am andern Morgen einen Zettel an das schwarze Bret, auf welchem er kurz und bündig denjenigen „einen dummen Jungen stürzte“, welcher das Manifest wegzunehmen sich unterfangen habe.

Dummer Junge“, das ist das Zauberwort, welches zwar jedem ehrenhaften Studenten erschütternd durch die Glieder rieselt, aber im Grunde doch sehr segensreich wirkt und manches Unglück [719] abwendet. Auf Universitäten, wo oft Hunderte von jungen Brauseköpfen beisammen sind, und sich die Köpfe vielfach noch durch geistige Getränke erhitzen, würde es nur zu leicht zu gemeinen Prügeleien, ja zu Mord und Todtschlag kommen, wäre nicht dieses Zauberwort zur augenblicklichen Beschwichtigung erfunden worden.

Der dumme Junge macht wenigstens für den Augenblick ein Ende alles Haders. Sobald der dumme Junge gefallen ist, so schweigt selbst der leidenschaftlichst Aufgeregte, um dann die Sache bei ruhigerem Blute mit dem Schläger oder der Pistole abzumachen. Es ist dann jede weitere unmittelbare Beleidigung streng verpönt. Die Gesetze darüber sind in dem Studenten-Corpusjuris, dem Comment, genau vorgeschrieben. – Noch ehe nach dem Sturz das dritte Morgenroth scheint, muß die Forderung erfolgen. Diese Frist war indessen in der Manifestangelegenheit bereits verstrichen, und schon glaubte G., der Frevler werde den dummen Jungen auf sich sitzen lassen. Aber dem war nicht so. Ehe Phöbus zum vierten Male nach dem Reichstag die müden Rosse abspannte, klopfte es im zweiten Stock der jetzigen Müllerei, in dem der Einfahrt des Collegiengebäudes gegenüber liegenden Gebäude, an die Thüre G.’s „Herein!“ rief der Reichsherold mit starker Stimme, und herein trat die stattliche Gestalt des Dr. Weller,[14] damals Goethe’s Amanuensis, aber noch im lebhaften Verkehr mit der Studentenwelt.

„Prost!“ grüßte Weller.

„Prost!“ erwiderte G.

„Du hast eine Mißhelligkeit mit Goethe gehabt?“ sagte darauf der Doctor.

„Ich? Nein, das muß auf einem Irrthum beruhen.“

„Du hast ihn einen dummen Jungen gestürzt!“

„Ich? – den Goethe – einen dummen Jungen? ist mir gar nicht eingefallen!“

„Hast Du nicht diesen Zettel geschrieben und mit Deinem Namen unterzeichnet?“ fuhr Weller fort, indem er ihm den zuletzt erwähnten Anschlag präsentirte.

„Ja, allerdings. Aber wie hängt das mit Goethe zusammen?“

„Aufs Allerinnigste, denn Goethe war es, der durch seinen Kammerdiener das Manifest abnehmen ließ. Da Du Dich nun schwerlich mit dem Kammerdiener wirst pauken wollen, so soll ich Dich von dem Geheimerath auf 24 Gänge jenaischer Schläge fordern.“

„Na,“ erwiderte G. in der ihm eigenthümlichen unerschütterlichen Ruhe, „das habe ich freilich nicht wissen können, daß es just der Goethe gewesen ist. Weil es aber gerade der ist, so will ich nun den dummen Jungen lieber zurücknehmen. Doch,“ setzte er mit Entschiedenheit hinzu, „will er sich durchaus mit mir pauken, so kann es mir schon recht sein, ich stehe jede Stunde zu Diensten.“

„Nein,“ entgegnete Weller, „so sehr dürstet der Geheimerath nicht nach Deinem Blute, sondern er hat mich beauftragt, wenn Du den dummen Jungen revocirst – auf Deprecation besteht er nicht – so soll ich auch seine Forderung zurücknehmen, und das thue ich denn auch hiermit in optima forma“.

So war denn dieser gefahrdrohende Conflict zwischen zwei hohen Beamten der beiden benachbarten und befreundeten Höfe glücklich und ohne Blutbad beendet. G. ist in seinen alten Tagen noch stolz darauf, dem Altmeister Goethe „einen aufgebrummt zu haben“ und von ihm gefordert worden zu sein. Er ist seit einer langen Reihe von Jahren ehrwürdiger Pfarrer von Pf… und erzählt möglicher Weise, wenn er gut gelaunt ist, noch heute seinen muntern Enkeln die blutige Duellgeschichte. Wir wünschen von Herzen, daß er sie noch seinen Urenkeln erzählen möge.

Er selbst erzählte uns in humoristischer Weise die Geschichte, als er vor zwei Jahren zur Jubelfeier in Jena weilte, bei welcher die Studentengenossen von 1815–1819 verhältnißmäßig am stärksten vertreten waren, weil sie, „die so traulich, so innig, so treu zusammengestanden hatten“, gerade durch die schönsten Erinnerungen an die erste Jugendblüthe der Burschenschaft unwiderstehlich zu dem Feste gezogen wurden. Ich theilte dann die Geschichte einem meiner Studiengenossen von 1827–1831 mit. Dieser erinnerte sich, dieselbe mit mehreren Details von Dr. Weller gehört zu haben, worüber er mir genau berichtete. Schließlich forschte ich in Weimar und Jena der Sache weiter nach. So entstand und vollendete sich das Zeitbild.



  1. Der Hund ist Zeuge von der Ermordung seines Herrn und dann durch das ganze Stück hindurch unermüdet thätig, um zunächst von dem Mord Anzeige zu machen und, mit einer Laterne im Maul, die Diener des Gerichts zum Leichnam zu führen, dann aber den Thäter zu denunciren und ihn im Zweikampf seines Verbrechens zu überführen.
  2. Dorthin, zur bügerumkränzten Musenstadt, zogen ihn öfters Erinnerungen aus der frühern Zeit, namentlich die an Loder, mit dem er 1780 sehr interessante osteologische Studien gemacht, und noch mehr die bittersüßen Erinnerungen an Minna (eigentlich Wilhelmine) Herzlieb, die anmuthige Pflegetochter des Buchhändler Frommann, die als Kind schon sein Liebling gewesen, und für die er, der 60jährige, noch mit Jünglingsleidenschaft glühte. Sie soll die Ottilie in den Wahlverwandtschaften sein.
  3. Aehnliche Züge versöhnlicher Gemüthlichkeit finden sich viele in dem Leben des edlen Fürsten. Nur einer davon finde hier einen Platz. Er hatte einst dem Oberstallmeister von Seebach einen harten, ungerechten Vorwurf gemacht; Seebach wollte zu ihm gehen, um sich zu rechtfertigen, wurde aber von einem Freunde davon abgehalten. Am andern Tag kam der Großherzog auf die Reitbahn und übergab dem Oberstallmeister ein neues Gebiß, was man ihm als Probe zugesendet hatte, mit dem Wunsche, sogleich einen Versuch damit zu machen. Die Probe ergab, daß es unzweckmäßig war. Als dies von Seebach aussprach, erwiderte ihm Karl August: „Da habe ich gestern doch Unrecht gehabt!
  4. Viel später, erst am 21. August 1818, wurde von den strengen Altdeutschen die Bierrepublik Ziegenhain gegründet, an deren Spitze ein Landammann stand, umgeben von einem souverainen großen Rath und einem engern als Executiv-Behörde. Staunenswerth waren die Anstrengungen dieser republikanischen Partei, den Monarchisten den Vorrang im – Trinken abzugewinnen. Sie übten sich Tag und Nacht, und zwar mit dem glänzendslen Erfolge. Manche brachten es bis zu 18 bis 20 Stübchen. Noch später, am 3. März 1822, wurde unter Popp I. die Grafschaft Wöllnitz von den Franken errichtet und von den übrigen Corps neuere Herzogthümer in Lichtenhain. Jetzt bestehen in Lichtenhain nur noch zwei Herzogthümer, eins der Sachsen und ein zweites der Thüringer, beide in großem Glanz und Flor. Von den Thüringern sitzt jetzt Tus LXXIV. auf dem Thron. In Ammerbach bestand einige Jahre hindurch ein Großherzogthum unter A. in höchster Blüthe, doch unter seinem Nachfolger F. seinem Fall zueilend.
  5. Es ist kin kleines, jetzt zum Herzogthum Sachsen-Meiningen gehörendes Dorf von kaum 50 Häusern, bringt aber der Staatscasse nicht weniger als 4000 Gulden Biersteuer ein.
  6. Auch das hatten die Bierstaaten mit den Weltstaaten gemein, daß in denselben Unzufriedenheit der Staatsbürger sich entwickelte und in Folge davon größere und kleinere Revolten einstanden, die, wenn sie nicht energisch unterdrückt wurden, mit dem Sturz des Souverains endeten, während dagegen ein kraftvolles Auftreten desselben diese Katastrophe abwendete. So sah man es im Jahr 1828 in Wöllnitz. Der Reichskanzler K… hatte die getreuen Vasallen und Unterthanen Popp X. aufgewiegelt und hätte sie fast zu ungetreuen gemacht. Da trat aber der gefürstete Graf Popp X. würdevoll auf und rief mit dem Schwerte auf die Tafel schlagend mit seiner Löwenstimme: „Ich bin Euer Soffgraf!“ Das schlug durch, die die Revolte ward unterdrückt und die Reaction siegte.
  7. Seit Menschengedenken führten die Herrscher Lichtenhains den Namen „Tus“. Wenn die Zahl 100 in der Reihe voll war, fing man von vorne an zu zählen.
  8. Wie Karl August in freundlicher Laune selbst auf einen Scherz einging, davon erzählt Plinius der Jüngste in seiner Naturgeschichte des deutschen Studenten mit Federzeichnungen von Johann Gottfried Apelles folgenden interessanten Zug. Ein glorreicher Nachfolger des oben unterzeichneten Tus IX., der XXXVII. dieses Namens, jagte eines Tags in dem über Lichtenhain gelegenen grossherzogl. weimarischen Forst. Ein Kreiser traf ihm und wollte ihm wegen Wilddieberei die Büchse wegnehmen. Ganz entrüstet fuhr der Souverain von Lichtenhain den Forstbedienten mit den Worten an: „Wie kann Er sich unterstehn? Weiß Er, wer ich bin? Ich bin der Herzog von Lichtenhain.“ Erschrocken ließ der Jägersmann von seinem Vorhaben ab, meldete aber den Vorfall seinem Vorgesetzten. Die Sache kam bis zum Großherzog, und dieser schickte seinen Leibhusaren mit folgendem Auftrag an den Bierfürsten: „Eine Empfehlung von Se. K. H. dem Großherzog an Se. Liebden, den Herzog XXXVII. von Lichtenhain: K. Hoheit und Sereinssimus hätten beschlossen, künftighin nur in ihren Revieren zu pürschen und ließen bitten, daß Ihre Hoheit von Lichtenhain, wenn sie wieder zu jagen geruhten, ebenfalls sich auf das Höchstihnen eigenthümliche Jagdgebiet beschränkten.“
  9. Kleine ausgepichte, mit Reifen umlegte Trinkgefäße von Lindenholz in Form eines abgestumpften Kegels.
  10. Sie wurden von den „Scheristen“ auf das Entsetzlichste „agirt“ und maltraitirt. Sie mußten unter den Tisch kriechen und mautzen, Nasenstüber aushalten, Schuhe putzen, Bier holen und andere Jungendienste verrichten. Maulschellen und Stockschläge, selbst auf öffentlicher Gasse, waren nichts Seltsames, zuweilen bis zum Tode. Kam ein Fuchs mit wohlgefülltem Koffer, so hieß es: „Fuchs, Du hast wohl leidliche Wäsche mitgebracht?“ Er mußte öffnen, und Jeder nahm sich, was er am nothwendigsten brauchte, der Eine ein Hemd, der Andere ein Paar Strümpfe etc.
  11. d. h. feige Menschen.
  12. animal nesciens vitam studiosorum.
  13. Das Kreuz oder der Kreuzplatz, Töpfermarkt, ist der freie Raum vor der Stadtkirche, auf welchem die Leutra- und Johannisgasse, sowie die Saalgasse münden.
  14. Viele ehemalige Jenenser haben ihn dann später als Bibliothekar mit dem Titel Legationsrath gekannt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Liehaberei