Literaturbriefe an eine Dame/XIII

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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Literaturbriefe an eine Dame/XIII
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 326–330
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Literaturbriefe an eine Dame.
Von Rudolf Gottschall.
XIII.


Sie gehören, verehrte Frau, nicht zu jenen Romanleserinnen, die ihren Bedarf aus den Leihbibliotheken beziehen und sich nicht scheuen, die gelesensten Bücher, die mit allen Odeurs de Paris behaftet sind, in die zarte Hand zu nehmen. Es ist dies einmal in Deutschland der Brauch; die gebieterischen Anforderungen des Salons erstrecken sich nicht auf die Lectüre; der Roman, den die fashionable Dame im Stillen liest, gehört zu den wenig ästhetischen Toilettengeheimnissen. Noch hat kein humoristischer Autor die Wanderungen eines Leihbibliothekenromans beschrieben, und doch hat ein solches Buch sehr viele Schicksale und Abenteuer, deren Erzählung vielleicht als eine Warnungstafel dienen könnte, solche ausgetretene Pfade nicht zu wandeln.

Ob indeß alle Wohlgerüche Arabiens, wie Lady Macbeth sagt, die kleinen zarten Hände der Salondamen wieder wohlriechend machen können, das ist, verehrte Freundin, nicht meine Sorge. Nicht Wohlwollen gegen die Damen der haute-volée bestimmt mich zu diesem Bedenken, sondern mein Interesse für die Literatur. Ich verkenne den Werth der Leihbibliotheken nicht, aber die besser gestellte Minderheit der Nation hat jedenfalls die Pflicht, durch Ankauf guter Dichtwerke und Romane für ihre Privatbibliothek die Literatur zu fördern. Dies ist in England und Frankreich der Fall. Alle namhaften Autoren prangen in den Bücherschränken; es gehört dies mit zur geistigen Toilette. Ob sie gerade gelesen werden oder nicht, das ist eine Frage, die in zweiter Linie steht; doch der gute Ton verlangt, daß man selbst besitzt, was man zunächst lesen will oder gelegentlich einmal lesen könnte. Dadurch wird den Werken bekannter Schriftsteller ein bedeutender Absatz gesichert, der in Deutschland zu den allergrößten Ausnahmen hört. Hier denkt der Romanverlag fast ausschließlich an die Leihbibliotheken; wegen des geringen Absatzes stellt er die Preise so hoch, daß der Ankauf für die Privatbibliothek erschwert wird.

Es kommt darauf an, verehrte Frau, daß die englische und französische Mode sich auch in Deutschland einbürgert. Hätten viele Damen der Hauptstädte ein so reizendes Leseboudoir wie Sie in Ihrem einsamen Schloß am Meere – es wäre damit der Ton angegeben, und an Nachfolge würde es nicht fehlen! Die Bücherschränke in den grünen Umrankungen, mitten in dem prächtigen Blumenflor – hier die Classiker, dort die neuen Lyriker, dort die Romanschriftsteller – dazu der schattige Balcon, der entzückende Ausblick auf die unendliche See – kann es eine einladendere Stätte geben, bald mit diesem, bald mit jenem geistigen Liebling sich zu unterhalten? Es bedarf hier keines Geisterklopfens, um sie herbei zu beschwören; man glaubt ihr unsichtbares Wehen und Weben zu empfinden, „den Geisterhauch, der ihren Zug umwittert“.

Ich bin heute so glücklich, verehrte Frau, Ihnen für Ihre Bibliothek einen neuen Roman empfehlen zu können, den dreibändigen Roman von Paul Heyse, „Kinder der Welt“.

Es giebt verschiedene Sorten von Romanen; die Aesthestik hat sich mit dem Sortiren große Mühe gegeben; aber immer neue Spielarten verwirren alle Grenzbestimmung. Nur die äußersten Gegensätze stehen fest – auf der einen Seite für das stoffhungrige Publicum der handlungsüberreiche Lieferungsroman mit seiner meistens derben und kunstlosen Holzschnittmanier, auf der andern der Roman der Geistreichen, der Roman der feinen Entwicklungen und sinnigen Betrachtungen.

Es ist wahr, der Roman von Paul Heyse gehört ganz [327] dieser letzteren Gattung an; wer eine mannigfache und wechselnde Handlung in demselben sucht, eine Fülle von Abenteuern, welche die Phantasie in rastloser Beschäftigung und Aufregung halten, wird sich getäuscht fühlen; es fehlt auch nicht an jenen „Gesprächen“, welche „Caviar sind für das Volk“ und sich oft wie selbstständige Abhandlungen in die Erzählung der Begebenheiten einschieben.

Gleichwohl hat mich der Roman auf das Angenehmste überrascht! Sie wissen, verehrte Frau, daß ich ein Gegner der akademischen Richtung bin, der es nur auf die Eleganz und Schönheit der künstlerischen Form ankommt und die sich bei allen Völkern und Zeiten die Modelle für ihre Nachdichtungen sucht. Paul Heyse zeigte bisher eine starke Hinneigung zu dieser Richtung; viele seiner Dichtungen erinnerten dadurch an Porcellanmalereien auf einem Nipptischservice und machten den Eindruck sehr gebrechlicher Waare; und selbst in manchen gerühmten Novellen dieses Dichters fanden wir mehr zierliche Schönmalerei, mehr darüber gehauchte Grazie der Darstellung als innern geistigen Kern. Dies noli me tangere gegenüber allen Zeitfragen und dem geistigen Streben der Gegenwart gab seinen Helden und Heldinnen oft etwas statuenhaftes – „kalt und glatt wie Marmor“. In seinem neuesten Werk ist es anders. Man mag über die Berechtigung philosophischer Gespräche in Romanen denken, wie man will – daß in diesem Roman, dessen Held sogar seines Zeichens ein Philosoph ist, eine reiche Gedankenwelt sich enthüllt, daß Paul Heyse hier keine zeit- und weltfremde Haltung beobachtet, sondern Sympathien zeigt mit den bewegenden Geistesmächten der Gegenwart – das ist eine Thatsache, die gerade ich um so mehr hervorheben muß, je schärfer ich dem Gebahren der Akademiker entgegengetreten bin.

Der Roman ist „geistreich“ in dem besten Sinne des Wortes, nicht im Sinne des witzhaschenden Esprit, der mit Bienenstachel und Schmetterlingsflug auf Raub ausgeht, sondern er ist gedankenvoll, wichtigen Fragen des Geistes und des Lebens zugewendet und sich überall auf den Höhen einer freien Weltanschauung behauptend. Und dieser Geist spricht sich nicht in langweilig schleppender Weise mit breiter Lehrhaftigkeit aus, er hat eine feine und interessante Art sich zu geben, eine liebenswürdige Tournüre, eine meistens ethische Grazie und das ironische Lächeln der Tieck’schen Novellistik, welches auch der Freytag’schen Muse eigen ist. Freilich würde in diesem verdünnten Aether auf der Höhe des geistigen Strebens vielen Romanlesern und namentlich Romanleserinnen etwas beklommen zu Muthe werden, wenn der Dichter nicht wieder hinabführte in die traulicheren Regionen, wo das Lebensgeschick der Menschen sich abspielt. So wenig verwickelt auch diese Geschicke sind – der Dichter weiß doch eine Spannung zu erregen, die uns nie gleichgültig gegen den Fortgang der Handlung sein läßt; er interessiert uns für seine Helden und Frauen, und so folgen wir mit Antheil allem, was ihnen begegnet. Es sind in dem Roman reizende Stillmalereien, Schilderungen von großer Anschaulichkeit, von stimmungsvollem Hauche, Genrebilder von feingeistigem Humor, nicht rohe Abdrücke des wirklichen Lebens; hin und wieder herrscht auch die Kühnheit des Boccaccio in dem Ausmalen des Liebesabenteuers, sowie überhaupt der Pulsschlag einer unerschrockenen, aber stets graziösen Sinnlichkeit das ganze Werk belebt.

Die interessanteste Gestalt desselben ist jene Toinette Marchand, welche so lange das Gemüth und die Phantasie des Helden gefangen nimmt, und bei dem Wiedersehen nach längerer Trennung sein Leben mit einer bedenklichen Krisis bedroht. Sie hat etwas von einer Undine, einer Melusine – und es hat eine an diese Sagengestalten anklingende Bedeutung, daß Edwin sie belauscht, wie sie zu nächtiger Stunde in die kühlen Fluthen des Teiches taucht. Das Problem, das der Dichter mit dieser „seelenlosen Undine“ aufgestellt hat, ist ein durchaus anziehendes. Das Wesen „mit dem Märchenblut“ kann sich selbst mit einer Scheintodten vergleichen, die im Sarge liegt und sieht und hört, wer alles um sie her sich in Trauer und Liebe erschöpft, und mit aller Gewalt sich nicht rühren kann, den Weinenden die Hand zu bieten und zu sagen: ich lebe ja und habe euch lieb und will bei euch bleiben; sie ist ein Räthselwesen, dem die Unfähigkeit sich hinzugeben zur Qual wird. Sie weist die Hand des jungen Gelehrten zurück und heirathet den reichen Grafen, den sie nicht liebt. Der spannendste Theil des Romans ist das Wiedersehen zwischen der Gräfin und ihrem früheren Anbeter. Es ist eine tragische Ironie des Schicksals, daß gerade in mehreren Jahren einer lieblosen Ehe ihr Herz für eine hingebende Leidenschaft empfänglich geworden ist. Es giebt einen Dämon der Jungfräulichkeit, des spröden Unglaubens an das Glück, das die Liebe gewähren kann. Diesem Dämon war Toinette verfallen; mit dem Gürtel, mit dem Schleier riß dieser böse Wahn entzwei; sie lernte ein Glück verstehen, das in ihrer Ehe ihr versagt blieb. Da sieht sie Edwin wieder, und diese Undine hat plötzlich eine Seele gefunden: „Der Sargdeckel sprang, unter dem ihr Herz begraben lag; sie sinkt mit glühender Leidenschaft, mit schmerzlicher Seligkeit an das Herz des Geliebten; hier ist die einzige Stätte, wo sie ihr Glück finden kann.“ Doch es ist zu spät! Edwin hat ein liebendes und geliebtes Weib; der Sirenenzauber kann ihn stürmisch erregen, aber nicht dauernd fesseln. Toinette sucht dieses Weib auf; sie erkennt, daß es seiner würdig sei; ihr Leben ist verödet; sie sucht den Tod.

Das ist eine spannende Herzenstragödie, welche im Mittelpunkte des ganzen Romans steht. Die zweite Frauengestalt, welcher unsere Theilnahme sich zuwendet, ist Edwin’s spätere Gattin, Lea, die Tochter des „Zaunkönigs“, eines Malers, der von seiner Vorliebe für Vordergründe, Zäune u. dergl. vor seinen Namen den spottenden Zusatz erhielt. Lea ist jüdisches Halbblut, aber geistiges Vollblut, eine Berlinerin, bei deren Zeichnung dem Dichter wohl das Bild jener bedeutenden Jüdinnen vorschwebte, welche durch ihren geistreichen Verkehr mit namhaften Männern sich selbst einen Namen machten. Lea ist freilich eine einsame Denkerin, keine Beherrscherin eines geistfunkelnden Salons; doch Geist und Herz sind bei ihr von gleicher Tiefe. An stiller und unerwiderter Liebe siecht sie dahin; der Philosoph Edwin, der ihr durch die geheime Magie des gleichen geistigen Lebens und Strebens verbunden ist, wird ihr Retter und ihr Gatte.

Toinette und Lea sind Frauencharaktere, die in bedeutsamen Contrast gestellt sind, und wenn man in den Frauen etwas von den elementarischen Gewalten der Natur wiederzufinden meint, so könnte man jene mit dem Element des Wassers, diese mit dem des Feuers vergleichen. Die verzehrende Liebesgluth der Lea und die kühl ablehnende zweifelnde Neigung einer Toinette bilden in der ersten Hälfte des Romans einen fesselnden Gegensatz; man gewinnt aus dieser Gruppirung der Charaktere das Bewußtsein, daß der Dichter den Plan seines Werkes künstlerisch geordnet hat – ein wohlthuendes Gefühl gegenüber den wildwuchernden Phantasiegebilden der meisten Romane, welche verwahrlosten Gärten gleichen, wo die Blumen nicht blos auf den Beeten, sondern auch in den Gängen wachsen.

Die dritte interessante Frauengestalt ist die düstere Claviermeisterin Christiane. Daß ein Romanheld etwas von jener Unwiderstehlichkeit besitzt, durch welche die Don Juans aller Zeiten sich auszeichnen, das ist etwas so Hergebrachtes, daß sich jeder moderne Autor diese Ueberlieferung zu nutze macht. Wir dürfen uns daher nicht wundern, daß auch Christiane für den Helden Edwin eine stille und hoffnungslose Neigung besitzt. Sie verfällt indeß einem tragischen Geschick, indem sie das Opfer eines heuchlerischen Candidaten wird – eine Scene, die wir aus dem Roman fortgewünscht hätten, da er durch dieselbe in die grelle Beleuchtung französischer Sensationsromantik gerückt wird. Dieser allzu criminelle Zwischenfall, der Selbstmordversuch, die Lebensrettung der düsteren Christiane bilden freilich nur ausweichende Dissonanzen in einem Lebenslauf, der von dem Dichter noch zu harmonischem Abschluß geführt wird; einer seiner Helden besitzt Tapferkeit genug, um sich durch die unverschuldete Schmach der Heldin nicht abschrecken zu lassen, sondern sie an seinen häuslichen Herd zu führen und ihr Glück zugleich mit dem seinigen zu begründen.

Dieser tapfere „Mohr“ ist eines von den „Kindern der Welt“, von denen der Roman den Titel hat; wir bewegen uns in demselben in der zersetzenden Atmosphäre der Berliner Freigeistigkeit, die in früheren Jahren nach mehr als jetzt wie ein geistiger Duft über der preußischen Hauptstadt schwebte, während die deutsche Reichshauptstadt die „Farbe der bleichen Reflexion“ mit einem etwas gesunderen Aussehen vertauscht hat. Sie haben, verehrte Frau, gewiß von dem Verein der „Freien“ gehört, [330] der am Anfang der vierziger Jahre in Berlin von sich sprechen machte; es waren dies improvisiere Zusammenkünfte von Philosophen, die ein renommistisches Denken und Empfinden in die kecksten Ausdrücke kleideten und in deren Kreisen manche schöne Emancipirte mit der Cigarre im Munde erschien. Die Atmosphäre jener Zeit hat Robert Giseke in den „Modernen Titanen“ vortrefflich geschildert. Die „Kinder der Welt“ von Paul Heyse sind ein etwas späteres Geschlecht, das aber in gerader Linie von jenen Himmelsstürmern abstammt; sie streben mit gleicher Unerschrockenheit nach geistiger Freiheit; sie haben sich von allen Ueberlieferungen der Vergangenheit emancipirt; aber ihr Streben hat einen ernsten, oft schmerzhaft ernsten Zug, nichts Herausforderndes, nichts höhnisch Ueberlegenes, nichts von jenem Cynismus, welcher zur Zeit der Berliner Freien die geistige Atmosphäre verpestete – und das Deficit an religiöser Gläubigkeit, welches anders Gesinnte ihnen zum Vorwurf machen können, wird reichlich ersetzt durch einen Fonds echt menschlicher Tugenden, durch ein Freundschaftsgefühl, das zu jeder Aufopferung bereit ist, durch die strengste Wahrheitsliebe, durch den Haß gegen das sittlich Schlechte und Verwerfliche.

Der Fachphilosoph Edwin, dem die Studien des ewig Weiblichen durch die freundliche Geneigtheit stillhaltender Modelle erleichtert werden, ist der eigentliche Honorarprofessor des Romans, welcher an Ludwig Feuerbach erinnernde Collegien, aber stets in anziehender und geistreicher Form liest. Sein Bruder „Balder“ ist eine Gestalt, die man nur als eine „Jean Paul’sche“ bezeichnen kann: eine schöne Seele in einem kranken Körper, eine durch ihre Gebrochenheit verklärte Erscheinung. Dieser schwindsüchtige Jüngling, dem die Welt verschlossen ist, der nur seinen Träumen, seinen Idealen in stiller Arbeit an seiner Drechslerbank lebt, dessen einzige verschwiegene Neigung in so schmerzlicher Weise enttäuscht wird, und der für seinen Bruder einen schönen Opfertod stirbt, ist offenbar die am meisten dichterisch empfundene Gestalt des Romans, und es ist ein feiner Zug des Dichters, daß noch Balder’s Todtenmaske ein mit Zerrüttung bedrohtes Verhältniß, die gestörte Ehe seines Bruders, wieder in harmonische Bahnen führen hilft. Der Socialist Franzelius mit dem naiven Schuhmacherstöchterchen Regina, der epikuräische Mediciner Marquard mit seiner Soubrette, der tapfere athletische Mohr, sind die andern „Kinder der Welt“, und auch der Schuhmachermeister Feyertag, der aus Schopenhauer seinen Weiberhaß schöpft, gehört mit in diesen Kreis.

Die Vertreter der entgegengesetzten Weltanschauung bilden freilich kein genügendes Gegengewicht gegen diese jüngere Generation, die wie ein Fisch im Wasser in ihrem „Atheismus“, oder wie die Frommen diese Freigeisterei bezeichnen mögen, herumplätschert. Da ist der gute Zaunmaler König, der für seine kleinen Vordergründe einen großen Hintergrund braucht und denselben in dem Glauben der Väter findet, dem er mit großer Kindlichkeit und Innigkeit anhängt; da ist die Frau Professor Valentin mit ihren „frommen“ Strümpfen für wohlthätige Zwecke und ihren sauber gestrickten Katechismusgedanken, bei denen nie eine Masche fällt; da ist vor Allem der Candidat Lorinser, der heuchlerische Wollüstling, eine allerdings aus Jesuitenromanen hinlänglich bekannte Gestalt, welche von dem Dichter mit geistreicher Glaubenssophistik retouchirt ist. Der Graf und die Vertreter des aristokratischen Lebens sind mehr episodische Figuren. Paul Heyse weiß das Glatte und geistig Nichtssagende dieser Kreise trefflich zu schildern. Dabei gewinnen die Gestalten alle Leben durch einzelne frappante Züge; in den Scenen, die auf dem Schloß des Grafen spielen, zeigt sich Paul Heyse als eleganter Salonmaler, als ein moderner Watteau.

Und soll ich Ihnen, verehrte Frau, noch von dem Styl des Romans sprechen? Paul Heyse’s Grazie ist aus seinen Novellen und Gedichten bekannt; diese etwas kühle Grazie verleugnet auch der Styl des neuen Romans an vielen Stellen nicht; aber er ist an anderen auch wieder bewegter, leidenschaftlicher; es funkelt darin von Blitzen des Esprit und jener auf den Grund des Lebens untertauchende Tiefsinn, den wir in den anmuthigen Arabesken seiner Verse vermißten, giebt hier der Darstellung oft ein ernsteres Gepräge. Man fühlt sich angeregt, einzelnen Gedankengängen wiederholt zu folgen, während man über die leichtflüssigen Schilderungen seiner früheren Novellistik dahin gleitet, ohne das Bedürfniß, zu einer oder der andern Stelle zurückzukehren.

Man wird vielleicht behaupten, daß dieser Roman nur ein Bündel von Novellen sei, mit lockerem Faden zusammengebunden; jeder der Helden hat ja seine eigene Geschichte und die Berührungspunke derselben erscheinen als zufällig; doch alle diese Helden bewegen sich in demselben geistigen Fahrwasser, und die Contraste der Charaktere und Schicksale geben nicht nur eine künstlerische Beleuchtung, sondern sie ergänzen das Gesammtbild geistigen Lebens, wie es die modernen Kinder der Welt führen.

Freilich, für das große Lesepublicum, das die Blätter eines Romans mit fieberischer Spannung umzuwenden liebt, ist der Heyse’sche Roman nicht bestimmt, wohl aber für sinnige Gemüther, wie das Ihrige, welche sich in das wechselnde Geschick der Menschen, wie sie es sich selbst schaffen durch ihre Gedanken und Empfindungen, mit liebevoller Hingebung zu vertiefen wissen.