Mode und Kleiderreform in England

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Autor: Leopold Katscher
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Titel: Mode und Kleiderreform in England
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aus: Die Gartenlaube, Heft 31, S. 508, 510–512
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[508]

Mode und Kleiderreform in England.

Eine gesellschaftlich-hygienisch-sittengeschichtliche Skizze.
Von Leopold Katscher in London.

1. 0Das Uebel.

„Geh’ doch! Gott hat dir eine Gestalt
gegeben und du machst dir eine andere.“
 Shakespeare.

„Die Mode bekümmert sich nicht um die
Physiologie.“ The Lancet“.

Die Männer haben längst erkannt. daß den sinn- und zwecklosen Wandlungen der launischen „Göttin Mode“ keine erhebliche Rolle gebührt in den ernsten Beschäftigungen eines menschenwürdigen Lebens; sie sind daher in ein Stadium relativer Eintönigkeit und Stetigkeit in Sachen der Kleidung eingetreten, wenn es auch unter ihnen noch Ausnahmen giebt, die gewissen Thorheiten nachgehen. Bei den Damen trifft gerade das Entgegengesetzte zu: unter ihnen giebt es nur wenige, die vernünftig und muthig genug sind, das Joch übertriebener Eitelkeit abzuschütteln.

Die Weiber des civilisirten Abendlandes sind in Sachen der Kleidung ärger als die Wilden. Die erste Idee von einem Bekleidungswesen ging nicht aus der Nothwendigkeit eines Schutzes oder aus einem Bedürfniß nach Bequemlichkeit, sondern aus Putzsucht hervor und äußerte sich im Tättowiren, im Bemalen des Körpers, im Tragen von Federn oder Perlen. Je civilisirter der Mensch wurde, desto mehr sah er bei seiner Kleidung auf Bequemlichkeit, Gesundheit und Schutz, desto weniger auf Verzierung. Der Wilde, dem der Begriff „Kunst“ aufdämmert, beeilt sich noch heute, sie zu einem Theil seiner eigenen Person zu machen, sei es, daß er sich Wunden beibringt, um in bestimmter Anordnung eine Reihe von Narben aufweisen zu können, sei es, daß er die Kunst des Malers oder die des Bildhauers an seinem Körper ausübt. Der civilisirte Mensch dagegen hat gelernt, die Kunst von seiner Person zu trennen und sie als separate Darstellung zu bewundern. Er hängt in seinen Zimmern Bilder und sogar Vorhänge und Draperien auf; es fällt ihm aber nicht ein, diese Dinge an sich zu tragen.

Und doch halten viele Frauen eine solche wildenähnliche Schaustellung an der eigenen Person nicht für unwürdig, machen ihre Kleidung zu einem Mittel, das die Aufmerksamkeit auf sie lenken soll, und erziehen sich daher selbst zur Unbescheidenheit, Eitelkeit und Gefallsucht. Sie denken bei der Wahl ihrer Kleidung weniger an deren Hauptzwecke – Schutz, Gesundheit, Bequemlichkeit – und mehr an den äußeren Putz und Tand. Die meisten thun es unbewußt, weil sie zu unwissend sind, und diejenigen, die zu einer besseren Erkenntniß gelangt sind, haben nicht den Muth ihrer Ueberzeugung, wagen nicht, sich zu emancipiren von der Tyrannei der Mode. Und so bleibt es dabei, daß die Frauen Kleider tragen, die ihrer Gesundheit dauernd schaden und mithin ihre mechanische Arbeitsfähigkeit, sowie das Maß ihrer geistigen Leistungsmöglichkeit herabsetzen.

Der ewige Modenwechsel wäre noch kein so arges Unglück, ließe sich nur wenigstens sagen, daß die Wandlungen aus einer gesunden Wurzel herauswüchsen. Aber das läßt sich eben leider in keiner Weise sagen – ganz im Gegentheil. Darum wollen wir uns hier nicht weiter mit den freilich streng zu verdammenden Wandlungen der Mode, sondern ausschließlich mit den allen Moden der Jetztzeit zu Grunde liegenden allgemeinen Principien beschäftigen. Von der Art, wie man sich keidet, hängt so unendlich viel ab, daß diese Frage unbedingt zu den wichtigsten gehört, mit denen ein Menschenfreund sich würdig beschäftigen darf und – soll.

Zahlreiche Männer sind der Ansicht, daß es nicht Männersache sei, sich um Frauentoiletten zu bekümmern; das ist falsch. Wo es sich um die Gesundheit von Gattinnen, Schwestern und Töchtern handelt, hat jedes Mitglied des starken Geschlechts das Recht und noch mehr die Pflicht der Intervention, um so eher als von der Lösung dieses Problems zum Theil ja auch das Wohl oder Wehe seiner Enkel und Urenkel abhängt.

Die weibliche Tracht der civilisirten abendländischen Kreise ist keine nützliche Dienerin, sondern eine strenge Herrin, die ihre Unterthaninnen zwingt, sich den Leib zu kasteien, daß heißt zu quälen und zu verunstalten. Die jetzigen Moden stehen zur Vernunft etwa in demselben Verhältniß, wie der Aberglaube zu einer geläuterten Naturreligion. Ein seltsamer Etiquettencodex, eine merkwürdige, inconsequente „sociale Kleiderordnung“ wird schablonenhaft und gedankenlos befolgt. Man geht z. B. auf den Ball oder auf eine Soirée ohne Unterschied des Wetters, selbst im Winter, stark decolletirt, während es für unstatthaft gilt, vor sechs oder sieben Uhr, im eigenen Familienkreise, selbst am heißesten Sommertage, sich in einem ausgeschnittenen Kleid zu zeigen.

Der Hauptgrund, warum die verkehrte Eitelkeit, die falsche Sucht nach nicht vorhandener Schönheit den Sieg über die Vernunft davongetragen, ist wahrscheinlich der Umstand, daß die Lenker des Modenwesens schlechte Anatomen sind oder aber es sein wollen. Sie haben die Beschaffenheit des menschlichen Körpers total außer Acht gelassen. Die Frauen bewundern die Darstellungen der weiblichen Gestalt, wie sie in Bilder- und Sculpturengallerien zu sehen sind, als Kunstleistungen, mit denen die lebenden Damen der Wirklichkeit nichts zu schaffen haben. Sie scheinen diese Venus-Leiber für mythologische Gebilde zu halten, deren Maßstab nicht an sie selbst angelegt werden kann. Die zu kleidende Gestalt ist in ihren Augen eine ganz andere, und zwar die der glockenförmigen, wespentailligen Probirmamsellen, die sie in den „Kunstateliers“ ihrer Schneiderinnen sehen und die allerdings nichts mit classischer Schönheit gemein haben. Offenbar wollen die Damen den Herren die Ehre anthun, zu glauben, daß die männliche Gestalt vollkommener sei als die weibliche und daß diese, um vollkommen zu werden, erst nach Modevorschrift gedrückt und gepreßt werden müsse! Zweifellos sind die Damen physisch von Natur etwas schwächer angelegt, aber gerade darum sollten sie sich nicht noch mehr schwächen, ihre Nerven und Muskeln nicht noch durch unpassende Kleidungsstücke schädigen.

Welches sind die Hauptnachtheile der üblichen Kleiderordnung? In welchen Beziehungen sündigen die Damenschneiderinnen und ihre freiwilligen Opfer am meisten? Der wichtigsten Nachtheile und Sünden, die wir im Auge haben, sind drei:

     1) Mangel an Freiheit der Bewegung. Hieran tragen hauptsächlich die Unterröcke und Ueber- oder Schooßröcke die Schuld; selbst bei schönem Wetter sind sie jeder lebhafteren Bewegung, jeder gesundheitlichen Leibesübung hinderlich; bei Wind, Regen und Straßenmorast sind sie aber geradezu peinlich.

     2) Gewichtigkeit der Toiletten bei ungleicher Vertheilung des Gewichts. Auch hier spielen die Unter- und Schooßröcke eine große Rolle; sie sind schwer und hängen von den Hüften herab, wodurch sie überdies die Mitte des Körpers erhitzen, während sie die unteren Theile der Beine verhältnißmäßig unbedeckt lassen, sodaß oft genug auch eine ungleiche Vertheilung der Wärme platzgreift. Aber auch der Oberkörper ist gewöhnlich zu schwer gekleidet. Abgesehen von zu schwerem und zu reichlichem Stoffe, tragen die vielen unnützen – oft noch dazu häßlichen – Verzierungen, wie Puffen, große Mengen Knöpfe und Schmelzperlen, Schleifen, Quasten u. dergl., zur Erhöhung des Gewichts bei. Oft sieht man ein zartes Mädchen, dessen schwaches Rückgrat nur mühsam den Kopf und die Schultern aufrecht erhalten kann, eine Toilette tragen, die 10 Pfund und mehr wiegt. Bei einer Fangballpartie gelang es einmal dem Major Wingfield – der dieses Spiel in England eingeführt hat – nur mit größter Mühe, eine Dame zu schlagen; er ließ nachträglich ihre und seine Gewandung wiegen und fand, daß die ihrige 10, dieseinige aber blos 41/2 Pfund wog, worauf er erklärte, sie hätte das Spiel gewinnen müssen, wäre sie nicht durch das Gewicht ihres Anzuges gehemmt gewesen. Aber weit ärger als das Gewicht selbst wirkt dessen unpraktische Vertheilung – das heißt die Concentrirung auf die Hüftengegend – auf die Gesundheit ein.

     3) Druck auf mehrere Körpertheile, namentlich die Brust, das Herz, die Lungen, die Hüften, die Füße. Dies ist der weitesttragende Vorwurf, den man der modernen Frauentracht machen kann. In die das Wachsthum der Organe schädigende Einpressungsarbeit theilen sich das Schnürleibchen, der sogenannte „Pariser“ Schuh mit seinem hohen, stark vorgeschobenen Absatz, [510] seiner schmalen Sohle und seinem spitz zulaufenden Vorderende, der zu eng anliegende Leib (Gilet, Jacke, Polonaise etc.) des Ueberkleides und das Festbinden des Schooßrockes, der Unterröcke und der Unterbeinkleider.

Wir wollen nicht nur des Festmieders[WS 1] gedenken, das bekanntlich schon vielen Damen das Leben verkürzt hat und dessen Folgen ein schlechter Magen, eingefallene Wangen, ein feuerrother und unreiner Teint, ein verkrümmter Rücken und das Schwinden aller körperlichen und geistigen Spannkraft sind; nicht nur des Engschnürens, das die inneren Organe verrückt, den Brustkasten und die Taille verunstaltet, das Athmen erschwert, jede gesundheitliche Bewegung zur Qual macht, die Herzthätigkeit und die Verdauung schwächt, das Gehirn und das Blut verschlechtert und eine Menge von Leiden herbeiführt, bei deren Auftreten man die Ursache gewöhnlich in allen anderen Umständen eher sucht, als in dem stählernen oder fischbeinenen Ungeheuer. Wir wollen auch von dem lose getragenen Mieder sprechen und betonen, daß dasselbe ebenfalls verwerflich ist, denn die Schwere der Kleider läßt es von seinem richtigen Platze herabgleiten und auf das Becken drücken, also einen Schaden ermöglichen, der das ganze Lebensglück zerstören kann, abgesehen davon, daß die meisten Mädchen, selbst wenn ihr Wille gut ist, sich über das Maß der Lockerheit zu täuschen pflegen; man messe den Körperumfang nur während tiefen Einathmens, und man wird sehen, daß es am besten ist, gar kein Schnürleibchen zu tragen. (Elastische Mieder sind freilich nicht so arg wie die üblichen, allein wie wenige tragen sie!)[1]

Aber selbst das genügt nicht, so lange das Ueberkeid (Gilet, Jacke, Polonaise etc.) zu eng ist, und ist auch dies nicht der Fall, so stiftet das Festbinden der Wäschstücke und des Schooßrockes noch immer genüg Unheil, indem es ebenfalls zu Verwachsungen führt. Manche Mädchen sind so schlank, daß Wäsche und Kleider, so lange man sie überhaupt bindet und nicht knöpft, eng gebunden werden müssen, sollen sie nicht über die schmalen Hüften hinabfallen.

In Mädchenschulen vorgenommene Messungen haben ergeben, daß bei drückender Kleidung innerhalb sechs Monaten die Höhe und der Brustumfang um je 1 bis 2 Zoll zunahm, die Taille aber gar nicht wuchs, während dort, wo kein Druck gestattet war, der Brustumfang um 11/2 bis 2, der Vorderarm um 3/4, der Arm um 1 bis 11/4 und die Taille um 31/2 bis 4 Zoll größer wurde, abgesehen davon, daß die allgemeine Gesundheit und der Grad der Stärke in den beobachteten Fallen viel befriedigender waren, wo kein Körpertheil eingepreßt werden durfte.

Vielen Müttern, die nicht die Absicht haben, ihre Töchter zu verkrüppeln, mißlingt ihr Plan, weil sie beim Maßnehmen vergessen, daß, was bei einer gewissen Haltung locker ist, bei einer anderen zu eng wird. Beim Maßnehmen steht das Mädchen aufrecht; in dieser Stellung und wenn die Lungen verhältnißmäßig leer sind, mißt es um die Taille, nehmen wir an, 21 Zoll; dasselbe Mädchen wird aber sofort um 11/2 Zoll mehr messen, wenn es eine tiefe Einathmung vornimmt, und beugt es sich auch noch vor, so kommen weitere 11/2 Zoll Taille- oder Brustumfang hinzu. In der Schule sitzen Mädchen aber vielfach vorgebeugt, sodaß ihnen Kleider zu eng werden, die während des Stehens weit genug sind.

Was schließlich die Fußbekeidung betrifft, so ist das Uebel nicht so erheblich, weil das Tragen von schädlichen, widernatürlichen Schuhen doch wohl nicht so allgemein ist, wie das von verwerflichen Kleidungsstücken anderer Art; allein die Anzahl der Sünderinnen ist auch in diesem Punkte immerhin eine ungeheure. Um wie viel schöner, eleganter und – bequemer ist ein natürlicher Fuß im Gegensatz zu dem erkünstelten, verwachsenen Ergebniß des Tragens von „Pariser“ Schuhen! Wie bitter rächt sich diese falsche, an die chinesischen Lächerlichkeiten erinnernde Eitelkeit durch Hühneraugen – sollen diese etwa elegant sein? –, durch Schmerzen beim Auftreten und durch die Unmöglichkeit, rasch und lange zu gehen! Wie blöde, den Schwerpunkt zu verlegen und das Gewicht des Körpers auf die Zehen zu concentriren! Um wie viel besser, schöner, gesunder sind den Geboten der Natur angepaßte Schuhe!

Wir haben gesehen, welche Nachtheile die moderne Frauenkeidung im Gefolge hat. Wir haben gesehen, daß das Blut durch ungenügendes Athmen verschlechtert, daß in Folge dessen das Hirn geschädigt wird, daß als weiteres Ergebniß die Lungen ihr Blutreinigungswerk nicht gehörig besorgen können und daß auf Grund all dessen jede anstrengendere mechanische und geistige Arbeit überflüssiger Weise ungemein erschöpfender gemacht wird, als sie es unter anderen Verhältnissen wäre. Kurz, im Vorstehenden haben wir von dem Uebel „Mode“ gesprochen; und nun wollen mir uns mit der Abhülfe beschäftigen.


2. Die Abhülfe.
„Aller Anfang ist schwer“.

Bekanntlich ist die „Frauenfrage“, von Nordamerika abgesehen, in keinem Lande so sehr fortgeschritten wie in England. Seitdem die Frauen nicht mehr ausschließlich als Sclavinnen oder Puppen betrachtet werden, seitdem sie mehr und mehr darnach streben, ihr Brod selber zu verdienen, ist das Bewußtsein von der Wichtigkeit der Kleiderfrage beträchtlich gestiegen. Sie sind sich des Uebels der modernen Kleidung bewußt, haben aber in der Regel nicht den Muth, nach ihrer Ueberzeugung zu handeln.

Glücklicher Weise giebt es immerhin eine gewisse Anzahl vorurtheilsloser Damen, die sich nicht fürchten, eine Reform anzustreben. Wenn diese Bestrebungen bisher erfolglos geblieben sind, so hat das seinen Grund nicht nur in der Verstocktheit der Modethörinnen und in der Vorliebe der meisten Menschen für den lieben „alten Schlendrian“, sondern auch darin, daß die Umwälzungscandidatinnen es nicht verstanden haben, Vorschläge zu machen, die radical gewesen wären und zugleich die angeborene Gefallsucht des schönen Geschlechts genügend berücksichtigt hätten. Man hat nämlich hauptsächlich vorgeschlagen, die Frauen sollten Männerkeider tragen; diese aber dünken der Damenwelt nicht genug geschmückt und verziert. (Nur zur Annahme der häßlichsten und unangenehmsten aller männlichen Toilettestücke, des Cylinderhutes, den selbst die meisten Männer schmähen, haben sich die Damen entschlossen!)

Die zuweilen von Aerzten gegebenen Winke hinwiederum sind unbeachtet geblieben, weil sie sich in der Regel nur auf unbedeutende Details bezogen, ohne das Uebel bei der Wurzel zu fassen, das heißt eine gründliche Aenderung der der Frauentracht zu Grunde liegenden unheilvollen Principien zu fordern. Die Amerikanerin Mistreß Bloomer, die vor einiger Zeit eine männerähnliche, aber der Männerkeidung doch nicht ganz gleichkommende Tracht erfand, scheiterte, weil diese wirklich häßlich war.

Aus alledem geht hervor: erstens, daß es sehr schwierig ist, bei einer solchen Reform das Richtige zu treffen; zweitens, daß jede neue Tracht, wenn sie dem Uebel gründlich abhelfen soll, auf durchaus anderen Grundsätzen beruhen muß, als die jetzigen Moden; drittens, daß kein Reformvorschlag auf allgemeine Annahme rechnen kann, der nicht bei aller Gesundheit, Beguemlichkeit und Zeitersparniß die Gesetze der Schönheit im Auge behält, denn die meisten Weiber werden zu allen Zeiten den Wunsch hegen, sich zu putzen, sei es mit Beachtung oder mit Außerachtlassung der Forderungen der Vernunft. Es giebt Frauen genug, die kein Schnürleibchen tragen und denen nichts am Schnitte ihrer Kleider liegt, so lange diese nur recht lose sind; aber dieses Beispiel findet nicht allgemeinere Nachahmung, weil die betreffenden Kleider [511] häßlich sind und ihre Trägerinnen darin „schlampig“ aussehen; überdies sind diese „Vernünftigen“ fast immer ältliche Personen, während jüngere gegen die Nettigkeit in der Toilette nicht so leicht gleichgültig werden.

Jede richtige Reformbestrebung muß also sowohl die natürliche Gestalt des Körpers wie auch die Gebote der Wohlgefälligkeit berücksichtigen. Das erstere wäre mit Hülfe der Anatomie leicht zu erreichen, viel schwieriger aber das zweite, denn die Begriffe von Schönheit und Geschmack sind bekanntlich sehr verschieden. Die nettesten Reformatorinnen sind bemüht, „anmuthige“ Zukunftstrachten zu ersinnen; allein die Anschauungen von weiblicher „Anmuth“ sind durch die „süße Gewohnheit“ des Anblicks falscher „Ideale“ längst in Verwirrung gerathen. Doch man muß einmal einen Anfang machen, muß versuchen, den verderbten Geschmack zu läutern, und durch die Vorhaltung einfacherer, aber edlerer Muster zu erziehen.

Diese Aufgabe haben sich zwei Vereine gestellt, die sich in London vor etwa anderthalb Jahren bildeten und deren Bestrebungen augenblicklich recht viel von sich reden machen. Die Anregung zu ihrer Begründung gab der relativ günstige Erfolg, den eine vor ungefähr acht Jahren von mehreren amerikanischen Damen in Scene gesetzte Agitation - bestehend aus einer Serie von fünf Vorträgen weiblicher Aerzte, gehalten in vielen Städten der Union - in den Vereinigten Staaten erzielt hat. Der eine Verein heißt „National Dreß Society“, der andere „National Dreß Association“; beides heißt: „Gesellschaft für rationelle Kleidung“. Beide Vereine bezwecken, wie es in den Statuten heißt, „die Förderung der Annahme einer auf Rücksichten der Gesundheit, Bequemlichkeit und Schönheit beruhenden Kleiderordnung“; beide „mißbilligen die ewigen Modewandlungen“; beide wollen ihr Ziel durch Veranstaltung von Versammlungen, Vorträgen und Ausstellungen, durch Abfassung und Verbreitung von Anzeigen, Flugschriften etc., sowie durch die Ersinnung und den Verkauf von Papiermustern „rationeller“ Toiletten zu erreichen suchen: beide sind der Ansicht, daß jede richtige Reform eine Verbesserung sein sollte, statt der Thorheit, Trägheit, Unwissenheit und Laune einfach eine neue Abwechslung zu bieten; beide stimmen darin überein, „eine wirklich schöne Toilette lasse sich“ - wir citiren aus einer „Rationelle Kleidung und ihre Wirkungen“ betitelten englischen Broschüre der Mrs. E. M. King, Schriftführerin der „R. D. Association“ - „ohne das Behängen der Taille mit Vorhängen herstellen“; die Wohlgefälligkeit „hänge nicht ausschließlich davon ab, daß der Körper mit einer Menge Stoffs überladen werde, sondern sei auch mit der vollkommenen Entwickelung des Leibes, mit leichter Beweglichkeit und mit Elastizität vereinbar; die Welt müßte an ihren Schönheitsforderungen keine Einbuße erleiden und die Damen könnten dennoch eine gesunde und angenehme Tracht tragen“. Beide Vereine „protestiren gegen jede Mode, die die Gestalt verkrümmt, die freie Bewegung des Körpers hemmt und die Gesundheit schädigt, gegen Mieder, eng anliegende Kleider, enge Schuhe mit hohen Absätzen, schwere Unterröcke, allzu gewichtig aufgeputzte, überladene Schooßröcke, vulgäre, entstellende Crinolinen und Crinoletten“.

Man sollte glauben, daß es am besten wäre, wenn zwei so gleichgesinnte Vereine sich mit einander verschmelzen würden, um mit vereinten Kräften zu arbeiten; leider müssen wir bemerken, daß diese beiden Gesellschaften es umgekehrt gemacht haben: sie waren anfänglich eine Körperschaft; diese teilte sich erst später – vor einem halben Jahre – in zwei Gruppen. Den Anlaß zu dieser im Interesse der guten Sache bedauerlichen Spaltung gaben Meinungsverschiedenheiten über die Natur der anzustrebenden Reformen. Mrs. King war mit der Vicomtesse Harberton – der Präsidentin der jetzigen „Society“ – darüber einig, daß die üblichen Unterröcke abzuschaffen seien, daß kein Mieder getragen werden dürfe, daß die Wäsche nicht gebunden, sondern geknöpft werden sollte, daß die Fußbekleidung auf den Geboten der Hygiene beruhen müsse, daß das Gewicht und die Wärme der Kleidung gleichmäßig über den ganzen Körper zu vertheilen, kurz, die Damen waren über alles einig, nur nicht über den einen, allerdings sehr wichtigen Punkt: was an die Stelle der Unterröcke zu treten habe.

Lady Harberton befürwortet einen sogenannten „zweitheiligen Rock“, das heißt eine Art ungeheuer weiter Pluderhosen, über denen ein gewöhnliches (nur nicht zu bindendes, sondern zu knöpfendes) Ueberkeid zu tragen wäre, unter dem zwei bis drei Zoll der Hosen hervorgucken würden.

Mrs. King dagegen behauptet, das sei nicht radical genug; die Hosen dürfen nicht übermäßig weit sein, wenn sie nicht zu schwer sein sollen; die Beibehaltung des Schooßrockes würde das Uebel „Behinderung freier Bewegung“ fortbestehen lasten und das Princip, daß der Schooßrock nur zur „Zierde“ da sei, nicht zum Durchbruch bringen; vorderhand müsse man, um nicht durch Ueberstürzung alles zu verderben, mit geringen Anfängen einer Reform zufrieden sein, auf die Dauer aber müsse man weiter gehen – während Lady Harberton bei ihrem „Zweitheiligen“ stehen bleiben will –, und zwar werde es früher oder später zu einer Tracht kommen, bei der ein Mittelding zwischen türkischen Weiber- und abendländischen Männerhosen ohne darüber zu tragenden Schooßrock die Hauptrolle spielen dürfte.

Sollen sämmtliche Bedingungen einer gründlichen und nützlichen Reform erfüllt werden, so ist es allerdings kaum zweifelhaft, daß irgend eine Art von zweibeinigem Kleidungsstück die gestaltlosen Unterröcke wird ersetzen müssen, womit nicht gesagt ist, daß die Frauen Männerbeinkleider tragen werden oder sollen. Das Princip – Berücksichtigung des Körperbaus – ist freilich für Damen und Männer ein gemeinsames; aber der Schnitt und die Verzierungen können die Weiberhose vielfach von dem männlichen Beinkleid unterscheiden; das eigentliche Kleidungsstück soll permanent, die Draperie darf veränderlich – nur nicht schwer – sein. Ueber das Wie und Was der Reform herrscht noch keine Klarheit.

Um die Herbeiführung der letzteren zu fördern, sowie um dem Schneidergewerbe Veranlassung und Gelegenheit zu bieten, die Reformfrage aufzugreifen und an ihrem Fortschritt theilzunehmen – aus diesen Ursachen veranstaltete die King’sche „Association“ im Juni 1883 zu London eine „Ausstellung rationeller Kleidung“. Um die spröden Modistinnen anzulocken, wurde für geeignete Ausstellungsobjecte – das heißt „vernunftgemäße“ Muster von Zukunftsroben – eine Reihe von Geldpreisen ausgeschrieben. Die Betheiligung war denn auch eine recht lebhafte, seitens der Fachschneider sowohl als der Dilettanten im Publicum, und wir bemerken auf der recht interessanten Ausstellung manche sehr befriedigend entworfene Tracht nach dem löblichen Ideal der leitenden Reformatorinnen.

Eine Beschreibung dieser handgreiflichen Umwälzungsvorschläge oder Heilungssymptome wäre hier nicht am Platze; wir müssen uns mit der Bemerkung begnügen, daß es nicht unwahrscheinlich ist, daß diese Ausstellung von prakischen Ergebnissen begleitet sein wird. Sie dürfte die Auffindung einer wirklich guten und schönen Zukunftstracht erleichtern; wenigstens aber hat sie das Gute zur Folge, daß die Presse und die weitesten Gesellschaftskreise auf die Bewegung aufmerksam geworden sind. Vorderhand haben die beiden Vereine schon den wichtigen Erfolg aufzuweisen, daß zahlreiche Modenfirmen sich bereit erklärt haben, die Schnittmuster der Reformatoren in ihren Schaufenstern auszustellen und darnach Roben anzufertigen, während früheren Bitten der Vereine nach dieser Richtung von keiner einzigen Firma entsprochen wurde.

Weitere Schritte sind geplant; Frau King beabsichtigt nämlich, eine der Bewegung zu widmende Monatsschrift herauszugeben, sowie in verschiedenen Provinzstädten Vorträge über die Anforderungen an rationelle Toiletten zu halten. Vorläufig, wie gesagt, will sie „nur langsam voran“; durch anfänglich kleine, dann immer größere Abweichungen von dem „alten Schlendrian“ will sie allmählich einen Kleidungsstil herbeiführen, „der unserer Person und unserer Lebensweise angepaßt sein soll“.

Es giebt noch eine dritte Gruppe von Reformfreundinnen: die Anhänger des „dem modernen Gebrauch angepaßten griechischen Gewandes“. Diese Gruppe, die allerdings keinen Verein gebildet hat und am untätigsten ist, wird von einer hervorragenden englischen Dichterin mit deutschem Namen geleitet: von Mrs. Emily Pfeiffer, die schon vor fünf Jahren über ihre Idee schrieb und neuerdings – im Juni dieses Jahres – eine vom Nationalen Gesundheitsverein veranstaltete Hygiene-Ausstellung beschickte; von ihr und zwei anderen Damen war da je ein sehr graziöses Kleid dieser Art zu sehen. Das Princip ist: ein ganz einfach gemachtes Kleid der sogenannten, allenthalben bekannten „Prinzessen“-Gattung – Leib und Schooß in Einem Stück – aus beliebig feinem oder ordinärem Stoff irgend welcher Art, und darüber eine in [512] schöne Falten zu legende Toga (Pallium, Shawl) aus ganz weichem Stoff. Diese Kleider nehmen sich sehr gefällig aus, eignen sich aber weder für alle Welt noch für alle Umstände und Beschäftigungen; sie üben auf keinen Körpertheil Druck aus, aber im Punkte der Bewegungsfreiheit sind sie nicht besser als die jetzigen Moden.

Die Entdeckung, praktische Berwerthung und allgemeine Anerkennung aller richtigen Grundsätze und Details einer definitiven Umwälzung wird selbstverständlich viel Nachdenken und eine sehr lange Zeit beanspruchen; aber sicherlich wird es über kurz oder lang zur Verwirklichung der menschenfreundlichen Reformbestrebungen kommen; die blöden Straßenschleppen und manche andere Unsinnigkeiten sind bereits verschwunden – hoffentlich wird die Vernunft bald auch in anderen Einzelheiten triumphiren und schließlich einen vollständigen Sieg erringen. Die Sache ist zu wichtig, als daß wir glauben könnten, sie werde im Sande verlaufen, und wir wünschten, daß sich einige deutsche Frauen bereit fänden, die hier begonnene Bewegung auf den heimathlichen Boden zu verpflanzen; wie das Uebel international ist, sollte auch die Abhülfe international werden.

Vorläufig, bis sich die Ansichten über die Zukunststrachten ein wenig geklärt haben werden, müssen wir mindestens versuchen, die gegenwärtig im Schwange befindliche Art der Bekleidung unschädlicher zu machen, als sie es ist.


  1. Das Schnürleibchen wie es sein soll.

    Wir verweisen bei dieser Gelegenheit auf den im Jahrg. 1855 erschienenen Artikel „Die weibliche Kleidung“ von Prof. Bock, in welchem unter Anderem Folgendes zu lesen ist: „Sollen nun die großen Nachtheile, welche das Zusammenschnüren der Oberbauchgegend nach sich zieht, wegfallen, dann muß das Corset so eingerichtet werden, daß es nur unterhalb dieser Gegend und oberhalb der Hüften den Leib zusammenschnürt, wodurch auch die Taille verbessert und dem Unterleibe ein sicherer Halt gegeben wird. Deshalb dürfte das hier abgebildete Schnürleibchen empfehlenswerth sein. Es wird nur an einer kleinen Stelle (b) geschnürt, darüber (c) und darunter (d) locker gebunden: am Hüftausschnitte (a) läßt sich nach Belieben eine künstliche Hüfte ansetzen, um die Unterkleider tragen zu helfen; an jedem Seitentheile ist ein breiter elastischer Streifen (e) eingesetzt, um das Ausdehnen der Oberbauchgegend zu erleichtern.“
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Festmiederns