Musen und Weise

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Autor: Kurd Laßwitz
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Titel: Musen und Weise
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aus: Seifenblasen. Moderne Märchen. S. 119–133.
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Leopold Voß
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Erscheinungsort: Hamburg und Leipzig
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Quelle: ULB Düsseldorf, Deutsches Textarchiv und Commons
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[119]

Musen und Weise.


Ein Märchen.




Die neun Musen saßen einmal bei einem gemütlichen Kaffee in Klio’s Salon und amüsierten sich so gut, daß es ihnen leid that, keine Hausschlüssel mitzuhaben. Sie beschlossen aber, recht bald wieder zusammenzukommen und dann gleich zum Thee zu bleiben.

Ja, eine Abendgesellschaft sollte es sein, aber eine recht splendide, und man könnte vielleicht auch noch den oder jenen dazu laden, nur nicht die Grazien, weil sie zu geziert sind, und auch nicht die Parzen, sie sind so griesgrämig, und beileibe nicht die Horen, denn mit so flüchtigen Personen darf eine ruhige und gesittete Muse garnicht umgehen. Von den höheren Göttinnen kann natürlich nicht die Rede sein; diese olympischen Damen machen Ansprüche, welche in unsere Zeit nicht mehr passen, und bilden sich ein, etwas Besonderes vorzustellen. Und die Nymphen und Nereiden u. s. w., das hat denn doch einen zu niedrigen Bildungsstandpunkt, als daß unsereiner sich mit ihnen unterhalten könnte.

„Aber so laden wir doch Herren ein,“ sagte Terpsichore, „dann wird der Abend sicher noch einmal so nett.“

[120] „Wo denken Sie hin?“ erwiderte Urania stirnrunzelnd. „Unsere Herren sind noch viel arroganter als unsere Göttinnen mit Frau Hera an der Spitze.“

„Ich meine natürlich nicht die Herren Götter!“

„Nun doch nicht etwa die Heroen, die nichts können als zuhauen und Drachen totschlagen?“

„Nein, aber wie wäre es mit den Menschen?“

„Ach die Menschen!“ seufzte Erato.

„Sie sollen sehr dumm sein,“ bemerkte Kalliope, worüber die anderen lächelten; denn Kalliope galt ihnen in dieser Beziehung als etwas menschlich.

„An der Dummheit der Menschen,“ begann Klio, „ist allerdings leider im allgemeinen nicht zu zweifeln, doch gibt es auch Ausnahmen; denn wie könnte man sonst von den sieben Weisen Griechenlands sprechen?“

„Wahrhaftig,“ rief Melpomene, „so laden wir doch die Weisen von Hellas ein! Können wir uns bessere Gesellschaft wünschen?“

„Es sind nur sieben,“ wendete Erato ein.

„Wir verzichten auf einen Herrn!“ riefen Klio und Urania wie aus einem Munde. Die übrigen nickten dazu, sie fanden das ganz natürlich, und aus Höflichkeit sagten sie weiter nichts.

So wurde denn beschlossen, die sieben Weisen Griechenlands zum Thee mit Abendbrot einzuladen, und es ergab sich nur noch eine kleine Schwierigkeit — wie nämlich die Einladungen zu bestellen seien. Zum Unglück zeigte es sich, daß keine der Musen die Namen der sieben Weisen kannte. Einzelne hatten sie zwar in [121] der Töchterschule gelernt, aber das war schon einige Jahre her, und man kann nicht alles behalten. Selbst Klio und Urania, welche doch das Seminar besucht und das Examen gemacht hatten, konnten sich nicht mehr mit Sicherheit erinnern. Da fiel Klio ein, daß sie einmal bei Tante Mnemosyne von einem Mnemotechniker einen Merkspruch gehört hatte, durch den man sich unweigerlich die Namen der sieben Weisen behalten mußte. Ja, wenn sie nur den Merkspruch nicht vergessen hätte! Aber er stand ja in ihrem Notizbuche, da konnte sie ihn auffinden. Der Spruch lautete folgendermaßen:

„Solon steht mit einem Fuße auf Chili, mit dem anderen auf Peru, sieht in ein Thal voll Klee und trinkt Bitter-Bier.

„Wie geistreich!“ sagte Kalliope.

„Ja, ja,“ bestätigte Polyhymnia, „die Mnemonik hat Geschmack, das muß man sagen, dafür wurde sie auch von meinem Liebling Simonides erfunden.“

„Aber wie heißen denn nun die sieben Weisen?“ fragte die naive Erato.

„Der erste heißt Solon,“ sagte Klio.

„So klug bin ich auch! Und der zweite Chili, nicht wahr?“

„Bewahre, das gehört ja in die neuere Geschichte! Ich will Ihnen den Spruch erklären, meine Damen. Chili bedeutet Chilon, Peru Periander, Thal Thales, Klee Kleobulos und Bitter-Bier Pittakus und Bias.

[122] „Aber warum heißt es denn dann nicht Pitter-Bier?“

„Das weiß ich nicht,“ entgegnete Klio ungehalten, „fragen Sie Herrn Simonides. Übrigens können Sie es aussprechen, wie sie wollen.“

Die Einladungskarten wurden geschrieben und sollten eben abgeschickt werden, als sich herausstellte, daß sie garnicht mehr zur rechten Zeit durch die olympische Post befördert werden konnten. Und dies kam von der strengen Feiertagsheiligung, welche in den olympischen Kreisen selbstverständlich eingeführt war. Nun war aber jeder der sieben Wochentage einem Gotte oder einer Göttin geweiht, und infolgedessen durfte an demselben nicht gearbeitet werden; das war eben das Angenehme im Olymp, daß man es garnicht nötig hatte, sich abzuhetzen. Die Post ging also, streng genommen, garnicht, ausnahmsweise jedoch des Mittwochs, weil dieser Tag dem Hermes geheiligt war; da ging sie manchmal zum Vergnügen. Die Musen hatten ihren Beschluß des Donnerstags gefaßt, und Samstag sollte die Gesellschaft sein.

Sie entschlossen sich also kurz und nahmen sich einen alten Lohndiener, welcher früher bei Hermes Briefbote gewesen war und daher die Adressen gut kannte. Dem sagten sie, er solle die Einladungen mündlich bestellen: die Herren Weisen Griechenlands möchten den Musen die Ehre geben, sie auf den Samstag zu einer Tasse Thee zu besuchen.

Der Bote trat seinen Rundgang an, und die Weisen [123] freuten sich nicht wenig über die Einladung. Nur war auch ihnen es schwer, die Namen der neun Musen zu behalten; so hörte man sie überall vor sich hinmurmeln; Klio, Melpomene, Terpsichore, Thalia, Euterpe, Erato, Urania, Polyhymnia, Kalliope. Endlich baten sie den Simonides um einen Merkspruch, und der stellte ihnen die Anfangssilben zu folgendem reizenden Verschen zusammen:

Kliometerthal,
Euer Urpokal!

Hieraus kann man das Alter dieser Regel erkennen. Nun waren die Weisen vergnügt, und des Abends im Kegelklub schoben sie bloß noch alle Neune.

Als der Gesellschaftsabend herannahte, begann es den beiden älteren Damen Klio und Urania doch leid zu werden, daß sie so kurzweg auf ihre Herren verzichtet hatten, und sie nahmen sich im Stillen vor, ihre Kolleginnen auszustechen. Klio repetierte noch einmal die Solonschen Gesetze, um sich dem Verfasser gegenüber keine Blöße zu geben, und Urania, welche es auf Thales abgesehen hatte, versicherte wiederholt, daß das Wasser der Ursprung aller Dinge und der Peripherie-Winkel im Halbkreise ein rechter sei. Infolgedessen entstand zwischen ihnen und den übrigen, welche selbstverständlich die Absicht merkten, eine leise Spannung, und bei allen ein gelindes Mißbehagen, weil jede bei sich fürchtete, gerade unter den beiden zu sein, welche notwendig sitzen bleiben mußten.

Der erwartete Abend fand die Musen und Klio’s [124] Salon im schönsten Schmucke, jede Muse hielt ihre frischgeputzten Embleme in der Hand und kam sich nur um wenig ungemütlicher vor, als bei dem Kaffee, bei welchem sie unter sich gewesen waren. Endlich öffnete sich die Thür und eine Anzahl ehrwürdiger Männer trat ein, welche sich als die Weisen Griechenlands vorstellten. Aber wie erstaunten die Musen, als sie nicht sieben, sondern acht Herren erblickten; denn außer den oben Genannten war auch noch Myson gekommen.

„Welcher von den Herren,“ fragte Klio, „ist denn kein Weiser?“

„Dieser da!“ antwortete Periander, der Tyrann von Korinth, indem er mit finsterer und stolzer Miene auf Myson wies.

„Ich bitte um Verzeihung,“ entgegnete dieser, „aber ich bin ganz gewiß ein Weiser, und zwar der richtige siebente, wie geschrieben steht bei Platon im Protagoras, und dieser muß es doch wissen.“

„Er ist ein Bauer,“ sagte Periander verächtlich, „der weiter nichts kann, als ins Blaue starren und lachen.“

„Das ist Weisheit genug,“ erwiderte Myson, „und jedenfalls besser, als andere zu Thränen zwingen. Eure Hoheit werden gestehen müssen, daß seine Gemahlin mit der Fußbank totwerfen oder Bäuerinnen Feiertags ihren Goldschmuck wegnehmen, Handlungen sind, welche einem Weisen sicherlich weniger anstehen, als das Lachen.“

Periander, der sich getroffen fühlte, wollte sich unmutig [125] entfernen, als die Thür aufs neue sich öffnete und Anarcharsis hereintrat.

„Ich habe mich etwas verspätet,“ sagte dieser, „aber ich gehöre ebenfalls zu den sieben Weisen; mein Zeuge ist Ephorus bei Diogenes Laertius, und ich sehe nicht ein, warum er unglaubwürdiger sein sollte als Platon, Pausanias, Plutarch oder irgend ein anderer.“

„Gewiß meine Herren,“ rief Klio vermittelnd, „Sie sind uns alle herzlich willkommen; hatten wir doch kaum zu hoffen gewagt, daß es unter den Menschen neun Weise gegeben hat.“

„So viele, wie unter den Göttinnen,“ sagte Solon mit einer galanten Handbewegung.

„Verzeihen Sie,“ rief da plötzlich ein neu Hinzutretender, „ich bin Epimenides, ebenfalls ein Weiser, Clemens sagt es mit Bestimmtheit; auf Dikäarchos brauchen Sie nichts zu geben. Ich stamme aus Kreta, und ich versichere Sie, daß die Kreter keine Lügner sind.“

Hinter ihm drängte sich noch ein ganzer Schwarm in die Thür, sie alle nannten ihre Namen und jeder berief sich auf einen Autor, der ihn zu den sieben Weisen zähle. Da waren noch Akusilaus, Leophantus, Pherekydes, Aristodemus, Pythagoras, Lasus, Anaxagoras, Pamphilus, Pisistratus, Linus, Orpheus und Epicharmus. Und als die Musen ihre Gäste zählten, da stellte es sich heraus, daß statt sieben nicht weniger als zweiundzwanzig gekommen waren, welche alle ihren Anspruch, zu den Weisen zu gehören, urkundlich beglaubigen konnten.

[126] Die Musen faßten sich kurz und machten die liebenswürdigsten Wirtinnen. Man saß freilich ein wenig eng, aber um so lebhafter war die Unterhaltung. Der alte Bote hatte sich seine Sache leicht gemacht; er war einfach bei allen alten Griechen vorgegangen, die auf ihrem Hausschilde den Titel „Sophos“, „Weiser“, führten, und [1] so hatte er die zweiundzwanzig zusammengebracht.

Man kam auf die modernen Menschen zu sprechen, und Pythagoras meinte, sie seien sehr gebildete Leute. Ihren Pythagoras lernten sie schon in Tertia, und was man heutzutage auf Erden leiste, das ginge über alle Hypotenusen und sogar über beide Katheten. Er erzählte von der ungeheueren Macht der Europäer, von ihren Kriegsheeren und Flotten, und wie sie den ganzen Erdenkreis erforscht hätten und beherrschten; er erzählte von ihren Maschinen, Eisenbahnen und Telegraphen, von ihren Fernrohren und Mikroskopen, und von dem Scharfsinn, mit welchem sie alle Rätsel auf der Erde wie in den fernsten Himmelsräumen zu ergründen wüßten.

Die Musen schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und meinten, sie wären allerdings in den letzten Jahrzehnten nicht sehr häufig zu den Menschen hinabgestiegen, auch sei die materielle Machtentwickelung, die Industrie und Wissenschaft garnicht ihre Sache, und in der Kunst sei ihnen der Fortschritt nicht so aufgefallen. Aber Klio und Urania müßten das eigentlich wissen.

Sie wüßten das auch, sagten diese, wenn auch nicht [127] so genau; denn es sei jetzt sehr schwer, sich auf dem Laufenden zu erhalten, und die Journale seien sehr teuer, ebenso wie die Bücher; sie könnten diese Schriften erst antiquarisch erwerben.

„Nicht wahr,“ sagte eine der Musen zu Solon, „es giebt doch jetzt viel mehr Menschen als damals zu Ihren Lebzeiten?“

„Gewiß, mein Fräulein, viel, viel mehr.“

„Und wenn es schon damals unter den wenigen Menschen in Hellas zweiundzwanzig Weise gegeben hat, wie viel Weise mag es erst jetzt in ganz Europa geben? Die möchte ich einmal zusammen sehen!“

„Oder auch nur einige von ihnen kennen lernen,“ rief Erato.

„Das wäre reizend,“ bestätigte der Chorus. „Aber wie finden wir sie heraus, und wie bringen wir sie zusammen?“

„Zu unserer Zeit,“ begann Thales, „fanden meine Landsleute einmal in einem von ihnen angekauften Fischfange einen goldenen Dreifuß, den, wie man sagt, einst Helena ins Meer geworfen hat, damit er Anlaß zum Streite späterer Geschlechter gebe. Und so kam’s denn auch, daß wir mit den Bewohnern von Kos über den Besitz des Dreifußes in Streit gerieten, bis wir uns einigten, den delphischen Apoll zu fragen, wem das Kleinod gehören solle. „Dem Weisesten!“ antwortete das Orakel. Da brachten die Milesier mir den Dreifuß, weil sie mich für den Weisesten hielten; sie kannten wohl Solon nicht. Ich aber schickte den Dreifuß [128] an ihn, doch Solon, der sich nicht selbst für den Weisesten hielt, gab ihn einem andern, dieser schickte ihn wieder weiter, und so kam er denn zuletzt wieder an mich. Da weihte ich ihn dem Gotte; denn Weisheit kommt nur den Göttern zu, weshalb sich auch mein Freund Pythagoras nicht einen Weisen, sondern einen Philosophen, einen Liebhaber der Weisheit nannte. Dieser Rundgang des Dreifußes aber zeigte uns, wen wir zu unserer Zeit für weise hielten: jeden, der den Dreifuß einmal erhalten. Ich schlage nun vor, ein Kleinod mit ähnlicher Bestimmung einem der modernen Menschen zu geben und abzuwarten, an wen dasselbe kommt.“

„Das würde wenig nützen,“ meinte Pythagoras, „ich kenne die jetzigen Menschen besser. Lassen wir den Dreifuß ausgraben, so werden sie die Aufschrift nicht für ernst nehmen und nicht als giltig für die Gegenwart, sondern sie werden sie „historisch“ auffassen und als das aufgefundene Hochzeitsgeschenk des Hephästos an Pelops oder auch als eine Stiftung des Thales nach Delphi einem Museum widmen. Wir müssen die Sache anders anfangen und selbst die Weisen aufsuchen. Wenn es den Herrschaften gefällt, so benütze ich meine altbekannte Zauberkraft, gehe unter die Menschen und bringe Ihnen in einem halben Stündchen die sicherste Auskunft zurück.“

„Und womöglich gleich einige Weise!“ rief ihm Terpsichore nach, als Pythagoras schon verschwunden war.

[129] „Ich komme mit leeren Händen,“ sagte Pythagoras achselzuckend bei seiner Rückkehr. „Es giebt ja sicherlich Weise genug, aber ich habe kein Glück bei meinen Erkundigungen gehabt. Ich fragte zuerst einen Staatsminister, wen er für den Weisesten halte. Denn ich glaubte natürlich, daß diejenigen, welche die Geschicke der Völker lenken, auch am besten über den Sitz der Weisheit würden unterrichtet sein.“

„Lieber Freund,“ sagte der Würdenträger zu mir, „Weisheit ist eine schöne Sache, wenn man sie selbst hat; aber das Wort besitzt einen verdächtigen, theoretischen Beigeschmack; es giebt sogenannte weise Leute, deren Weisheit darin besteht, daß sie alles besser wissen und am besten verstehen wollen, und eben diese kann ich Ihnen nicht empfehlen. Ich bin ein praktischer Staatsmann, meine Aufgabe besteht darin, Gutes zu wirken durch Einsicht in die Verhältnisse und kluge Benützung der Menschen, und das kann ich natürlich nur, so lange ich meine Macht behaupte. Darin beruht meine Weisheit. Wollte ich Ihnen sagen, wen ich für weiser hielte, so würde ich selbst aufhören, weise zu sein. Und damit Gott befohlen! Übrigens,“ rief er mir noch nach, „wenn Sie unter einem Weisen einen Kerl verstehen, der die Weisheit still für sich hinein mit Löffeln gegessen hat, so müssen Sie zu den Gelehrten gehen.“

Obgleich dies nun meine Ansicht von einem Weisen nicht ist, ging ich doch zu den Gelehrten, und zwar zu einem Philosophen; denn wer sich selbst einen Liebhaber [130] der Weisheit nennt, der muß doch die Weisen kennen. Der Mann betrachtete mich aufmerksam.

„Was verstehen Sie überhaupt unter einem Weisen?“ fragte er mich.

„Ich verstehe darunter einen Mann,“ sagte ich, „welcher die Welt kennt und in ihr lebt, aber nicht nach ihr strebt; welcher die Wahrheit sucht, ohne auf Ruhm zu hoffen; welcher die Menschen liebt und Gutes wirkt, aber nach Lohn und Dank nicht fragt; welcher niemand verachtet, weil er anders sei und anders denke, als er; welcher glücklich ist, weil er frei ist, milde, weil er gut, und bescheiden, weil er groß ist.“

„Sie sagen mir da nichts Neues, lieber Herr,“ erwiderte der Philosoph; „diese ethischen Qualitäten, welche Sie aufzählen, erstreben wir alle in gewissem Sinne; sie kommen durchaus nicht bloß irgend welchen hervorragenden Geistern zu. Aber eben darum besagt Ihre Definition zu viel. Sie werfen das Ideal eines Gelehrten und das Ideal eines Menschen zusammen. Das mochte zu einer Zeit statthaft sein, als die griechischen Sophoi lebten, Bildung nur wenig Bevorzugten zukam und die ganze Wissenschaft in nichts anderm bestand, als in ein wenig Lebensweisheit, verquickt allenfalls mit einigen mystischen Spekulationen à la Pythagoras. Aber heutzutage haben wir Teilung der Arbeit einerseits, Gleichberechtigung der Menschen andererseits. Weise sein, in Ihrem Sinne der Lebensweisheit, kann ein jeder, ohne gelehrt zu sein, und es kann jemand sehr gelehrt sein, ohne eine Spur von [131] einem Sophos zu haben. Sie scheinen mir noch sehr unklare Begriffe von der Weisheit zu besitzen.“

„Ich bitte um Entschuldigung,“ begann ich wieder, „aber Sie nennen sich einen Philosophen, und da ich doch diesen Namen einführte —“

Sie führten ihn ein?“ Der Philosoph fixierte mich, er schien mich für etwas gestört zu halten.

„Ja,“ sagte ich, „ich bin nämlich Pythagoras.“

„Mein Bester,“ sagte der Philosoph, „kommen Sie zu sich. Das ist ja eine durchaus mythische Persönlichkeit!“

„Kurz und gut,“ fuhr ich fort, „ich glaubte, Sie beschäftigten sich ausschließlich mit den Weisen — gibt es denn gar keine mehr? Ich hörte doch, es habe einer in Egmond gelebt und einer im Haag, einer auch in Königsberg?“

„Die sind lange tot,“ sagte der Philosoph trocken. „Ich muß Sie sehr bitten, die Philosophie nicht fortwährend mit einer praktischen Anwendung ethischer Grundsätze zu verwechseln. Die Philosophie ist heutzutage eine Wissenschaft, und wenn Sie mein Buch gelesen hätten, so würden Sie das wissen.“

„Worüber schreiben denn aber meine Nachfolger, wenn nicht über die Weisheit?“ fragte ich.

„Über andere Philosophen!“ rief er. „Und ich rate Ihnen dringend, sich ein wenig in der Geschichte der Wissenschaften umzusehen. Adieu, Herr —“

„— Pythagoras,“ sagte ich und ging.

„Ich begab mich direkt hieher; denn wo sollte ich die Weisheit noch suchen? Um aber nicht ganz unverrichteter [132] Sache heimzukehren, habe ich noch ein letztes Mittel probiert, indem ich den Weg einschlug, auf welchem die Leute heutzutage berühmt werden, nämlich die Zeitungs-Annonce. Ich ließ meine Erklärung von der Weisheit drucken und überall ankündigen: Wer ein Weiser sein will, wie die Weisen Griechenlands, den laden die Musen zu Gaste und warten sein auf dem Parnassos. Erfolg freilich wage ich mir nicht zu versprechen.“

Pythagoras hatte Recht. Es kam niemand.

„Aber schätzen denn die Menschen die Weisheit garnicht mehr?“ fragten die Musen endlich.

„Sie schätzen sie hoch, sehr hoch,“ versicherte Pythagoras.

„Warum wollen sie dann aber nicht weise sein?“

„Sie wollen lieber, daß es andere sind, nicht sie selbst, welche das Ehrenamt der Weisen führen.“

„Also so gutmütig und bescheiden sind die Menschen!“ rief Erato erfreut. „Das hätte ich wirklich kaum geglaubt. So wollen sie nur darum nicht weise sein, damit —“

„— damit sie klüger bleiben können als die Weisen!“ schloß Pythagoras.

Und die Menschen blieben es auch. Die Musen und die Weisen warteten noch viele Abende auf die Männer, welche weise sein wollen, aber sie blieben unter sich. Nur einmal glaubten sie, es käme ein Weiser; jedoch es war nur ein kleiner Junge mit großen blauen Augen, der sich verirrt hatte, weil er dem Schneewittchen seinen Pfefferkuchen bringen wollte und nach Süden [133] gegangen war, statt nach Norden. Da steckten ihm die Musen die Taschen voll Ambrosia, Solon legte ihm die Hand auf die Locken, und Melpomene und Erato küßten ihn auf den Mund und führten ihn nach Hause. Darauf flogen sie wieder zum Parnassos, setzten sich mit den zweiundzwanzig Sophen zum Thee und sagten:

„Wir können’s abwarten, wir sind ja noch jung.“


  1. im Original nnd