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RE:Ἀτιμία

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Verlust der bürgerlichen Ehre
Band II,2 (1896) S. 21012104
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Ἀτιμία.[1] Zur Ausübung seiner politischen Rechte war der athenische Bürger nur so lange befugt, als er ἐπίτιμος, im Vollgenuss seiner bürgerlichen Ehre, war; mit dem Eintritt der ἀ. erlosch diese Befugnis, und der damit Belegte war aus der bürgerlichen Gemeinschaft ausgeschlossen und des Anspruchs auf den Schutz der Gesetze verlustig. Schon die drakontische Gesetzgebung verordnete die Atimie als Strafe für gewisse Vergehungen, wie Umsturz der bestehenden Gesetze (Demosth. XXIII 62), und dass zur Zeit, wo Solon seine Gesetze gab, nicht wenige teils wegen Hochverrats und Totschlags, teils als säumige Schuldner und aus anderen Gründen in Atimie verfallen waren, zeigt das von Plut. Sol. 19 angeführte solonische Gesetz. Die weitere Ausbildung des ganzen Instituts aber gehört sicher erst teils dem Solon selbst, teils den späteren Verfassungsperioden an. Am ausführlichsten bespricht den Gegenstand Andokides (I 73–76). Diese Stelle kann jedoch, so sehr sie sich auch das Ansehen gründlicher Erörterung giebt, für den Forscher nicht massgebend sein, da, abgesehen auch von der Unvollständigkeit der Angaben, die hier gemachte Einteilung aller logischen Bündigkeit entbehrt und auf einer Verwechslung nebensächlicher Bestimmungen mit dem Wesen der Sache selbst beruht (vgl. Wachsmuth Hellen. Altert. II 199. Naber De fide Andocid. orat. de myst. 33ff.), und sonach ist auch die von Meier (De bonis damnat. 105ff.) darauf gegründete Unterscheidung einer infamia maxima, media und minima nicht stichhaltig. Denn was zunächst die erste Kategorie anlangt, welche die auf der Person und dem Vermögen zugleich haftende Atimie begreift, so hätte, wenn das Wesentliche derselben in dieser Verbindung beruhen soll, anstatt auf die Staatsschuldner weit eher auf solche Fälle Bezug genommen werden müssen, in denen dauernde persönliche Atimie mit Einziehung des Vermögens verbunden erscheint. Beides zugleich fand statt bei Tempelraub und Hochverrat (Xen. hell. I 7, 22), im letzten Falle nach Vit. dec. orat p. 834 a selbst mit Ausdehnung auf die Kinder (wie in dem oben angeführten drakontischen Gesetze bei Demosth. XXIII 62 und ähnlich CIA I 31, 22), desgleichen angeblich bei Bestechung und bei betrüglicher Verlobung einer Fremden mit einem athenischen Bürger, nach den eingelegten Gesetzen bei Demosth. XXI 113. LIX 52. In allen diesen Fällen ist Atimie und Vermögensverlust [2102] als Strafe für ein verübtes Verbrechen anzusehen und blieb für immer auf dem Überwiesenen haften. Einen wesentlich verschiedenen Sinn und Zweck hat die mit Vermögenseinziehung verbundene Atimie bei den Staatsschuldnern, auf welche Andokides diese erste Kategorie einzig und allein beschränkt hat; auch war das Verfahren bei diesen ein anderes als aus seinen Worten zu entnehmen ist. Bei dem Staatsschuldner nämlich trat die Atimie ipso iure sofort von dem Augenblicke an ein, wo er mit seiner Zahlung in Rückstand blieb, zugleich war ihm die neunte Prytanie des Jahres als zweiter Termin gesetzt, bis zu welchem er die Verwaltung seines Vermögens behielt; leistete er an diesem Zahlung, so wurde er sofort wieder ἐπίτιμος, wo nicht, so ward die Schuld verdoppelt und bis zu dieser Höhe durch Beschlagnahme seines Eigentums eingetrieben; war aber kein Vermögen vorhanden, so blieb die Atimie auf dem Schuldner haften, bis er zahlte, und ging, sofern dies nicht geschah, nach seinem Tode auf seine Kinder und Enkel über, die gleichfalls ἄτιμοι blieben, bis sie Zahlung leisteten, s. Demosth. XXII 34. XXIV 201. LVIII 1f. 17f.; vgl. Boeckh Staatsh. d. Ath. I 455f. 512f. Hermann-Thalheim Rechtsalt.⁴ 19. 124. Die Atimie also war in diesem Falle nicht sowohl eine Strafe für begangenes Unrecht, als vielmehr ein Mittel, den säumigen Schuldner zur Zahlung anzuhalten, eine Massregel, die eben deshalb nur vorübergehend war und ipso iure wieder in Wegfall kam, sobald sie ihre Wirkung gethan hatte. Anders stellt sich die Sache, wenn man das Wesen der Atimie ins Auge fasst. Dasselbe besteht in Entziehung des Genusses entweder aller bürgerlichen Rechte oder nur eines Teils derselben, und danach scheidet sich die Atimie nur in eine völlige und eine beschränkte. Völlige Atimie (der Zustand des καθάπαξ ἄτιμος, Demosth. XXI 32. 87; vgl. die Aufzählung der von einem solchen verwirkten Rechte bei Aischin. I 21) war die in allen oben angeführten Fällen verhängte. Dass sie zur Schärfung mit andern Strafen, wie Vermögenseinziehung, verbunden werden konnte, ändert in ihrem Wesen ebensowenig etwas, wie bei Staatsschuldnern der Umstand, dass sie nach Zahlung der Schuld wieder in Wegfall kam; sie bestand eben hier wie dort, so lange sie wirkte, in Entziehung des Genusses aller bürgerlichen Rechte. In eben diesem Sinne war sie total in allen den Fällen, welche die zweite der von Andokides aufgestellten Kategorien bilden, nämlich bei schwerem Diebstahl und Bestechung (hier freilich, da die Klagen schätzbar waren, in Verbindung mit anderen Strafen, Demosth. XXIV 103. Deinarch. I 60), ingleichen bei schweren Militärvergehen, Dienstverweigerung, Desertion u. s. w. (vgl. Demosth. XXIV 103. Aisch. I 29. III 176), bei dreimaligem falschen Zeugnis oder Vorladungszeugnis (auch für das erstere jetzt bestätigt durch Hyp. in Philipp. VIII), bei schlechter Behandlung der Eltern (vgl. Demosth. XXIV 103. Aisch. I 28. Xen. mem. II 2, 13. Diog. Laert. I 55). Total endlich war sie auch noch in manchen anderen gelegentlich von den Rednern angegebenen Fällen, die von Andokides unberücksichtigt geblieben sind (s. Meier De bon. damn. 129f.). In solche fiel z. B. auch, wer einen Beamten beleidigte (Demosth. [2103] XXI 32), wer sich der ἑταίρησις schuldig gemacht (Aisch. I 19f.), wer dreimal ἀργίας verurteilt war (Lysias im Lex. Cantabr. 665), wer sich dem Schiedsrichteramte entzog (Aristot. resp. Ath. 53, 5), der öffentliche Schiedsrichter, welcher sich einer Ungesetzlichkeit schuldig gemacht hatte (Arist. a. a. O. Demosth. XXI 87), der Herold, der im Theater vor dem versammelten Volke Verkündigungen vollzog, zu denen er nicht berechtigt war (Aisch. III 44), der Proedros, der wegen Erlassung einer gesetzlich verhängten Strafe abstimmen liess (Demosth. XXIV 50), und der Ehemann, der mit seiner auf Ehebruch ertappten Frau in ehelicher Gemeinschaft fortlebte [Demosth.] LIX 87. Endlich hatte Solon denjenigen mit Atimie bedroht, der bei einem Bürgerzwist nicht Partei ergreifen würde (Aristot. resp. Ath. 8). Die beschränkte Atimie dagegen fällt mit der dritten Kategorie des Andokides zusammen, die er ἄτιμοι κατὰ προστάξεις nennt, ein Ausdruck, der sonst bei keinem Redner vorkommt und gewiss nicht eine besondere staatsrechtliche Bedeutung hatte. Die hier erwähnten Verbote, in der Volksversammlung zu reden und im Rate zu sitzen, und das, auf dem Markte zu erscheinen, sind mit völliger Atimie nahezu gleichbedeutend, wenigstens wird nicht selten der Zustand der letzteren kurz mit Einbusse des einen und des andern Rechts bezeichnet ([Lys.] VI 24. Aisch. I 28f. III 176. Xen. mem. II 2, 13 u. a.). Ferner wer als Kläger in einem öffentlichen Process diese Klage aufgegeben oder nicht den fünften Teil der Richterstimmen für sich erhalten hatte, verlor für die Zukunft das Recht, Klagen derselben Art anzustellen (Demosth. XXI 103. [XXVI] 9. Harp. s. ἐάν τις, vgl. auch And. I 33), eine Strafe, die spätere Rhetoren (s. Schol. Demosth. p. 664 Dind.) mit Unrecht erst nach dreimaligem Verlust einer öffentlichen Klage eingetreten sein lassen (vgl. Boeckh Staatsh. der Ath. I² 500f.). Ausgenommen von dieser Bedrohung des leichtfertigen Klägers waren nur die εἰσαγγελία κακώσεως (Isai. III 46. Demosth. XXXVII 46) und die Klage wegen Verletzung der heiligen Ölbäume (Lys. VII 37). Ebenso ging auch der zum drittenmale παρανόμων überwiesene des Rechtes, fernerhin Anträge ans Volk stellen zu dürfen, verlustig, Demosth. LI 12. Hyp. in Philipp. VII. Antiphanes bei Athen. X 451a. Diod. XVIII 18. Ob ausser den genannten auch in andern Fällen, und in welchen, beschränkte Atimie eintreten konnte, wissen wir nicht. Überhaupt aber war, wie es scheint, die Atimie nicht in das Belieben des Gerichtshofs gestellt, sondern konnte nur verhängt werden, wo das Gesetz oder auch ein die Stelle eines solchen vertretender Volksbeschluss (wie CIA I 31, 22. II 17, 55) sie ausdrücklich verordnete, mochte sie nun eine völlige oder beschränkte sein, und trat bei offenkundigen Vergehungen, auch wenn keine Klage erhoben wurde, ipso iure und ohne besonderen Rechtsspruch ein, wie bei Staatsschuldnern und in Fällen, wie die von Aischines I 28ff. namhaft gemachten. Sonderverbot, wie das, nach dem Hellespont oder Ionien zu fahren, kann man demnach, wenn sie überhaupt in Wahrheit begründet sind, nicht als verfassungsmässige Massregeln, sondern nur als Ausflüsse einer Zeit betrachten, wo, wie in den [2104] letzten Jahren des peloponnesischen Kriegs, oligarchische Willkür herrschte. Anmassung und Ausübung thatsächlich verwirkter Rechte zog, besonders in dem Falle der Teilnahme an den Verhandlungen in der Volksversammlung, die ἐπαγγελία δοκιμασίας (Aisch. a. a. O., s. d.), diejenige gerichtlich abgesprochener Rechte Verhaftung (Demosth. XXIV 103) und das Verfahren der ἀπαγωγή und ἔνδειξις nach sich (s. d.). Im ganzen aber galt die Atimie, die der Staatsschuldner abgerechnet, für unwiderruflich. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durfte nicht anders beantragt werden, als in dem Falle, der bei einzelnen kaum jemals eingetreten sein wird, dass das Volk mit sechstausend Stimmen seine Genehmigung dazu gegeben, Demosth. XXIV 46. Nur ausnahmsweise wurden aus politischen Gründen oder zur Zeit der Not und Gefahr die ἄτιμοι in Masse amnestiert und rehabilitiert; s. die Fälle bei Plut. Sol. 19. Andok. I 73. 107. Xen. hell. II 2, 11. Lykurg. g. Leokr. 41 und Hypereides bei Suid. s. ἀπεψηφισμένος. Im allgemeinen vgl. ausser den schon genannten Schriften Hermann-Thumser Staatsalt. § 84. P. van Lelyveld De infamia iure attico, Amstelod. 1835. Ähnlich waren die Verhältnisse in andern Staaten. Wir finden Atimie als Strafe angedroht in Chalkis (CIA IV 27a im 5. Jhdt.), bei den Nesioten (Cauer Delectus² 429 B im 4. Jhdt.), in Lokris (ebd. 229 B im 5. Jhdt.), für Grenzverletzung in Chios (ebd. 496 A), in Eretria (Inscr. iur. gr. 148 Z. 32. 43. 57). In dem oben genannten Vertrage mussten die Chalkidenser zugestehen, dass ihre mit Atimie bestraften Mitbürger in Athen deshalb Berufung einlegten. Die Staatsschuldner waren ἄτιμοι in Delphoi (vgl. Dittenberger Syll. 233, 88 im 2. Jhdt.), säumige Schuldner in Boeotien könnten es werden (Stob. Flor. XLIV 41). Die ἄτιμοι werden wieder eingesetzt in ihre Rechte in Selymbria (CIA IV 61 a, 14 im 5. Jhdt.) und in Ephesos (Dittenberger Syll. 253, 30 im 1. Jhdt.). Über eine Art Atimie der ehebrecherischen Frauen und der Selbstmörder vgl. Hermann-Thalheim Rechtsalt.⁴ 20 und 51.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. transkribiert Atimia