RE:Herdonius 1

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Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Appius Herdonius besetzt 460 v. Chr. das Kapitol in Rom und wird getötet
Band VIII,1 (1912) S. 618620
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Herdonius. 1) Appius Herdonius. Beide Namen geben Liv. III 15, 5. 9. 17, 2. 8 und Dionys. X 14, 1, den Namen H. allein Liv. III 18, 10 und Dionys X 16, 7 beim Tode des Mannes, ferner Flor. II 7, 2 und entstellt zu Herbonius Oros. II 12, 5 und zu Σερδώνιος Ioann. Antioch. (Müller FHG IV 556, 47); ohne H. zu nennen, erzählen Augustin. civ. dei ΙΙΙ 17 und Zonar. VII 18 Anf. die von ihm berichteten Ereignisse. Als Sabiner bezeichnen ihn einstimmig alle fünf Autoren, die ihn mit Namen nennen; dazu stimmt das Praenomen, das allgemein als sabinisch angesehen und in Rom nur von dem als sabinisch geltenden Claudischen Geschlecht gefühlt wurde (s. o. Bd. II S. 242. 2259. III S. 2664). Über die Persönlichkeit des H. berichtet Dionys. X 14, 1 und 16, 7, daß er durch Ansehen und Wohlhabenheit, wie durch Stärke und Tapferkeit ausgezeichnet gewesen sei; diese Züge gehören zu den spätesten Zutaten. Nach der verbreiteten Überlieferung soll H. im J. 294 = 460 mit bewaffnetem Anhang das Capitol besetzt haben. Sein Anhang wird von Liv. III 15, 5 auf etwa 2500 und von Dionys. X 14, 1 auf 4000 Mann angegeben; er bestand nach Liv., dem Flor. Oros. Augustin. Zonar. folgen, aus exsules servique, während Dionys, zwar ausdrücklich nur seine Clienten und Sklaven nennt, aber die Verbannten sehr wohl in seiner Vorlage gefunden und nur aus Versehen übergangen haben kann (vgl. Bonghi a. O. 406). Was Dionys. X 14, 2 über die Art und Weise, wie sich H. des Capitols bemächtigt habe, berichtet, ist wiederum späte und wertlose Ausschmückung. Über Zweck und Ziel der Unternehmung des H. stimmen Liv. III 15, 9 und Dionys. X 14, 3f. im wesentlichen überein: Er habe selbst erklärt, daß er den Verbannten die Rückkehr, den Sklaven die Freiheit und allen Bedrängten Besserung ihrer Lage verschaffen wolle, und zwar, wenn das römische Volk dazu bereit sei, mit dessen eigenem Willen und Beistand, wenn nicht, mit Hilfe auswärtiger Mächte. Dieses angebliche Programm des H. erinnert ein wenig an das Catilinas (Cic. Mur. 50f. Sall. Cat. 35, 3), wie auch sein Ausgang von Dionys X 16, 7 ähnlich dem Catilinas (Sall. Cat. 61, 4) dargestellt wird; immerhin ist es dies, was Liv. und Dionys. gleichmäßig in ihren Quellen als die von H. selbst ausgesprochene Absicht fanden, während andere Angaben darüber lediglich eigene Vermutungen der Autoren sind, so die Gerüchte bei Liv. III 15. 2f. 7. 16, 1–5, die drei verschiedenen Möglichkeiten bei Dionys. X 14, 1, die Notiz des Ioann. Antioch.: Σαβῖνοι Σερδώνιον πρὸς τυραννίδα ἐκίνησαν. In den erhaltenen Berichten wird nun die ganze Begebenheit in Verbindung gebracht mit dem gerade damals heftig tobenden Kampfe zwischen Patriziern und Plebeiern um die Terentilische Rogation: Die Consuln C. Claudius (o. Bd. III S. 2863f. Nr. 322) und P. Valerius hätten, sobald sie die Lage übersahen, das Heer zum Sturme gegen das Capitol aufbieten wollen, die Volkstribunen hätten sich dem widersetzt, weil sie darin nur ein gegen sie gerichtetes [619] Spiel des Patriziats erblickten; die Tusculaner unter ihrem Dictator L. Mamilius seien unaufgefordert Rom zu Hilfe geeilt; schließlich sei der Sturm gegen das Capitol zu stande gekommen und geglückt, wobei H. und fast alle der Seinigen fielen; doch habe dabei auch der Consul Valerius seinen Tod gefunden, der in den vorhergegangenen Verhandlungen sich ebenso als der Vertreter der traditionellen plebeierfreundlichen Politik des Valerischen Geschlechts gezeigt hatte, wie sein College als der typische plebeierfeindliche Claudier (Liv. III 15, 7f. 16, 1–18, 11. Dionys. X 15, 1–17, 1). Obgleich sich in diesen Berichten, auch wo sie nicht voneinander abweichen, eine ganze Reihe von Widersprüchen und Schwierigkeiten ohne Mühe auffinden läßt, hat man sie doch zur Grundlage der kritischen Prüfung genommen und ist infolgedessen zu den verschiedensten, einander gerade entgegengesetzten Ansichten über das ganze Ereignis gelangt, sodaß es bei dem einen als eine Unternehmung auswärtiger Feinde, bei dem andern als eine rein revolutionäre Bewegung, bei diesem als ein Staatsstreich des Patriziats, bei jenem als eine Erhebung der Plebeier hingestellt wird. Die Unhaltbarkeit aller dieser Hypothesen hat R. Bonghi in einer gründlichen Untersuchung dargetan (Nuova Antologia 1880. II serie. XIX 399–442); er hat richtig erkannt, daß am Anfang und am Schluß die ältesten Bestandteile der Tradition vorliegen: (besonders a. O. 430), und hat nur nicht scharf genug betont, daß dann die ganze Verknüpfung mit dem Ständekampf als späte Erfindung wegfallen muß. An den Anfang der Berichte, H. habe mit seinem Anhang das Capitol besetzt, fügt sich unmittelbar der Schluß, das Capitol sei mit Gewalt zurückgenommen worden, wobei H. mit den Seinen niedergemacht wurde. Capitolium purgatum atque lustratum schließt Liv. III 18, 10 und läßt damit erkennen, worauf die ganze Überlieferung beruhte. Gerade auf dem Capitol konnte sich ein zuverlässiges Zeugnis auch über ein lange vor der gallischen Katastrophe liegendes Ereignis erhalten haben, wenn dieses Ereignis die Veranlassung zu sakralen Handlungen geboten hatte, und in demselben Zusammenhange mußte es auch in den ältesten priesterlichen Aufzeichnungen Aufnahme finden. Der Tod des Consuls Valerius konnte tatsächlich in dem Kampfe mit H. erfolgt sein, konnte aber auch einfach in den Fasten dieses Jahres verzeichnet und erst künstlich damit in Verbindung gebracht worden sein. Vollständig künstliche Kombination ist dagegen die Verbindung des Unternehmens des H. mit dem Zwist der beiden Stände in Rom; lediglich weil es in die Zeit fällt, in die man den Streit um die Terentilische Rogation setzte, hat man es damit kombiniert. In Wahrheit wußte man bei der Einsilbigkeit der ältesten Aufzeichnung überhaupt nicht, wer jener Ap. Herdonius war, der das Capitol besetzt und entweiht hatte, noch warum und wie er es getan hatte; deswegen erscheint die ganze Begebenheit durchaus isoliert als eine seltsame und unerklärliche Episode in der ältesten republikanischen Geschichte, ohne daß an ihrer Tatsächlichkeit um der Seltsamkeit willen zu zweifeln wäre. Wenn von den Einzelheiten der Berichte noch etwas auf höheres Alter [620] Anspruch erheben darf, so ist es vielleicht die Hilfeleistung des L. Mamilius von Tusculum, doch bleibt auch das ganz unsicher (vgl. Pais Storia di Roma I 1, 440, 1; s. auch Nr. 2). Der Versuch von Pais (a. O. 529–531), die Tradition über H. in ihre Elemente aufzulösen, iat von De Sanctis (Storia dei Romani II 32, 2; vgl. 124) mit Recht abgelehnt worden; er faßt das Ganze viel zu sehr als Einheit und unterscheidet den Kern nicht von den Zutaten. Keiner der beiden jüngeren italienischen Gelehrten führt die ältere Arbeit von Bonghi an, die ihrerseits über die Quellen und die früheren deutschen Untersuchungen erschöpfende Auskunft gibt.