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Fiktion, so zu handeln, als ob er Allen überlegen sein müsste, kann deshalb auch die Form annehmen, sich so zu benehmen, als ob er ein Kind wäre. Die kindlichen Befriedigungen aber werden so vorbildlich, und verstärken daher die Leitlinie.

Es wäre gefehlt, anzunehmen, dass nur der Neurotiker solche Leitlinien aufweist. Der Gesunde müsste ebenfalls auf die Orientierung in der Welt verzichten, wenn er nicht nach Fiktionen das Weltbild und sein Erleben einordnete. In Stunden der Unsicherheit treten diese Fiktionen deutlicher hervor, werden zu Imperativen des Glaubens, des Ideals, des freien Willens, sie wirken aber auch sonst im Geheimen, im Unbewussten, wie alle psychischen Mechanismen, deren Wortbild sie nur vorstellen. Logisch genommen sind sie als Abstraktionen zu betrachten, als Simplifikationen, welchen die Aufgabe zufällt, Schwierigkeiten des Lebens nach Analogie der einfachsten Begebenheiten zu lösen. Die Urform der einfachsten Begebenheiten, das Maschenwerk des apperzipierenden Gedächtnisses, haben wir in den kindlichen Versuchen, mit seinen Schwierigkeiten fertig zu werden, gefunden. Im Traum liegt diese Apperzeptionsweise klarer zutage; wir werden uns noch damit beschäftigen.

Der Nervöse trägt das Gefühl der Unsicherheit ständig mit sich. Daher ist sein „analogisches Denken“ stärker und deutlicher ausgeprägt. Sein Misoneismus (Lombroso), seine Furcht vor dem Neuen, vor Entscheidungen und Prüfungen, — die zumeist vorhanden ist, — stammen aus dem Mangel einer Analogie. Er hat sich so sehr an Leitlinien gekettet, nimmt diese wörtlich und sucht nur sie zu realisieren, dass er, ohne es zu wissen, darauf verzichtet hat, unbefangen, ohne Vorurteil an die Lösung realer Fragen zu gehen. Auch die notwendigen Einschränkungen durch die Wirklichkeit, wo sich hart im Raume die Dinge stossen, drängen ihn gemäss seiner Einstellung nicht zur Beseitigung der Fiktion, sondern nur zu ihrer Verwandlung. Noch konsequenter versucht der psychotische Patient die Realisierung seiner Fiktion durchzusetzen. Der Neurotiker zappelt im Realen an seiner selbstgeschaffenen Leitlinie und gelangt dadurch zu einer Spaltung seiner Persönlichkeit, dass er der realen und der imaginären Forderung gerecht werden will.

Form und Inhalt der neurotischen Leitlinie stammen aus den Eindrücken des Kindes, das sich zurückgesetzt fühlt. Diese Eindrücke, die sich aus einem ursprünglichen Gefühl der Minderwertigkeit mit Notwendigkeit herausheben, rufen eine Aggressionsstellung ins Leben, deren Zweck die Überwindung der Unsicherheit ist. In dieser Aggressionsstellung finden alle Versuche des Kindes ihren Platz, die eine Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls versprechen, geglückte Versuche, die zur Wiederholung drängen, missglückte, die als Memento dienen, auf den Endzweck vorbereitende Tendenzen, die sich aus einem aufdringlichen organischen Leiden ergeben haben und in eine Summe psychischer Bereitschaften ausmünden, und solche, die bei anderen erschaut sind. Alle Erscheinungen der Neurose stammen aus diesen vorbereitenden Mitteln, die dem männlichen Endzweck zustreben. Sie sind geistige Bereitschaften, immer fertig, um den Kampf um das Persönlichkeitsgefühl einzuleiten; sie gehorchen dem Kommando der leitenden Fiktion, die sich mittelst dieser

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/24&oldid=- (Version vom 31.7.2018)