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aus der Kindheit bereit liegenden Reaktionsweisen durchzusetzen sucht. In der entwickelten Neurose peitscht die Fiktion alle diese Bereitschaften auf, die sich nun selbst wie Endzwecke geberden. Die Angst, die vorher sichern sollte, vor dem Alleinsein, vor Herabsetzung, vor dem Gefühl der Kleinheit, wird hypostasiert, der Zwang, ursprünglich im Sinne der Fiktion ein Versuch sich männlich zu geberden, verselbständigt sich, in der Ohnmacht, in den Lähmungen, in den hysterischen Schmerzen und funktionellen Störungen stellt sich symbolisch die pseudomasochistische Art des Patienten dar, zur Geltung zu kommen oder einer gefürchteten Entscheidung auszuweichen. Die grosse Bedeutung der Unsicherheit des Neurotikers, wie ich sie erkannt und beschrieben habe, zwingt zu einer derartigen Verstärkung der Bereitschaft und ihrer Folgen, dass ursprünglich geringe Erscheinungen fraktioneller Art die wunderbarsten Ausgestaltungen erfahren, sobald die innere Not es erheischt.

Der Blick des Neurotikers richtet sich — wegen des Gefühls der Unsicherheit — viel weiter in die Zukunft. Alles gegenwärtige Leben scheint ihm nur Vorbereitung. Auch dieser Umstand trägt viel dazu bei, seine Phantasietätigkeit anzuspornen und ihn der realen Welt zu entfremden. Ähnlich wie bei religiösen Menschen ist sein Reich nicht von dieser Welt, und wie diese kommt er von der Gottheit, die er sich geschaffen, Erhöhung seines Persönlichkeitsgefühls, nicht los. Eine Anzahl allgemeiner Charakterzüge entspringen mit Notwendigkeit diesem der Wirklichkeit abgewandten Wesen. So in erster Linie die grosse Verehrung der Mittel, die seiner Fiktion dienen sollen. Er wird in der Regel ein sorgfältig abgezirkeltes Benehmen, Genauigkeit, Pedanterie an den Tag legen, einerseits um die „grossen Schwierigkeiten des Lebens“ nicht zu vermehren, andererseits und hauptsächlich aber, um sich von anderen in der Arbeit, in der Kleidung, in der Moral abzuheben und so ein Gefühl der Überlegenheit zu gewinnen. Zumeist dient dieser verstärkte Charakterzug auch dazu, ihn mit dem „Feind“ in Fühlung zu bringen, jene Situationen heranreifen zu lassen, die ihn mit seiner Umgebung in Konflikt bringen, damit er „berechtigte“ Vorwürfe erheben könne. Gleichzeitig dienen diese ewigen Vorwürfe dazu, sein Gefühl, seine Aufmerksamkeit wach zu halten, sich zu beweisen, dass man ihn zurücksetze, nicht mit ihm rechne. Man findet diesen Zug schon in der Kindheit mancher Nervösen, wo er dazu verhilft, irgend jemanden in den Dienst zu stellen, etwa die Mutter, die dann allabendlich längere Zeit die Kleider in streng vorgeschriebener Weise behandeln muss. Ähnlich dringt oft die Angst und die Schüchternheit auffällig durch, und ich muss allen anderen Erklärungsversuchen gegenüber dabei verharren, dass das psychische Phänomen der Angst aus einer halluzinatorischen Erregung einer Bereitschaft entsteht, die in der Kindheit aus kleinen Anfängen somatisch erwachsen ist, sobald eine körperliche Schädigung drohte, später aber, und insbesondere in der Neurose durch den Endzweck bedingt ist, sich einer Herabsetzung des Persönlichkeitsgefühls zu entziehen und andere Personen dienstbar zu machen. — Es ist leicht zu verstehen, dass alle Begehrungsvorstellungen einen ungeheuren Grad erreichen können, ebenso wie das Erreichte selten Befriedigung gewährt. Man kann ruhig annehmen, dass jeder Neurotiker „Alles haben will“. Dieses Begehren deckt sich mit seiner leitenden Fiktion, der Stärkste sein zu wollen. Wenn er vor Gewinn

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 17. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)