Seite:Alfred Barth Zur Baugeschichte der Dresdner Kreuzkirche.pdf/20

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Da trat ein ungeahntes Ereignis ein. Am 22. Juni 1765 stürzte plötzlich die Hälfte des alten Turmes und zwar die Ostwand desselben „mit entsetzlichem Krachen“ zusammen.[1]

Der Einsturz der östlichen Turmhälfte gehört mit zu den schwersten Schlägen, welche die Kreuzkirche in den 600 Jahren seit ihrer Gründung so oft betroffen haben. Schlimm war, daß die Ostwand niedergegangen, schlimmer fast, daß die Westwand gefahrdrohend in ihrer vollen alten Höhe von über 60 m noch stand. Eine Ausbauchung derselben von 6 bis 7 Zoll infolge des Schutt­druckes ließ anfangs ihren Nachsturz, gegen das Schiff zu, befürchten. Außerdem drohten überhängende Teile herabzufallen. Einige Beruhigung gewährte, daß die Ausbauchung trotz der Druckvermehrung durch anhaltende Regengüsse konstant blieb. Schmidt schlug vor, schleunigst ein Gerüst zum Abbruch der Wand zu bauen, und zwar in 8 Ellen (4,5 m) Abstand von der Westwand, um alle Gefahr für die Bauleute und fürs Gerüst durch abbröckelnde Quader und Mauerteile zu vermeiden.

Der Gedanke, wie die noch drohenden Gefahren zu beseitigen seien, beschäftigte alle Kreise der Stadt und führte zu einer Reihe nicht ausführbarer Vorschläge. Schließlich meldete sich ein alter Maurergesell Künzelmann, dessen Vorschlag Schmidt für den besten hielt. Ausgehend davon, daß an der Innenseite des Turmes von 8 zu 8 Ellen in der Höhe noch Stufen der Treppen erhalten waren, ließ er sich von den Zimmerleuten einbäumige Leitern, „Stangen mit durchgesteckten Nageln“ (Quer­sprossen), verfertigen, und befestigte sie mittels horizontal eingespannter Hölzer zwischen je zwei stehengebliebenen Treppenläufen. Bereits am zweiten Tage gelangte er zu der auf Konsolen vorgekragten Turmgalerie. Von hier aus begann durch eine größere Anzahl Maurer der Abbruch und das Absteifen der überhängenden Teile. Am 6. Juli, eine Woche nach dem ersten Aufstieg Künzelmanns, war die Arbeit beendet. Die Situation dieser Tage hat uns Belotto Canaletto in einer Radierung und einem Ölgemälde (Dresdner Galerie Nr. 638) getreulich überliefert. Die auf Anordnung des Rates von Schmidt angefertigte genaue Zeichnung der Turmruine mit Angabe der Künzelmannschen Fahrt ist nicht erhalten.

In der Literatur treffen wir mehrfach die Anschauung, Schmidt sei an dem Turmeinsturz schuld, oder mindestens sei das Vertrauen zu ihm durch das unvorhergesehene Ereignis erschüttert worden. Aus den Protokollen und Akten des Kirchenbaues ersehen wir indes, daß diese Ansicht durchaus falsch ist. Ja es findet sich in den gleichzeitigen Schriften und Quellen auch nicht eine Angabe, in der der leiseste Vorwurf oder Verdacht gegen Schmidt gefunden werden könnte. Fünf Winter hindurch hatte der alte Turm ohne die stützenden Mauern des Kirchgebäudes Wind und Wetter getrotzt und fest gestanden. Bereits 1761 hatten Schmidt und Locke den alten Turm eingehend geprüft, eine Haupt­reparatur gefordert und Vorschläge gemacht. Dementsprechend ließ Schmidt noch vor Beginn des Kirchenbaues die Schäden des durch einfache Notdächer geschützten Turmes ausbessern. Die geplante Fassadenumgestaltung des Turmes war noch nicht in Angriff genommen.

Die Gründe für den Einsturz sind vielmehr in dem ungleichmäßigen Gefüge des immer und immer wieder erhöhten und verstärkten Turmkörpers und in dem unzureichenden Bankett zu suchen. Während an der Nordseite der Anschluß des Neubaues ohne Zwischenfall verlaufen war, konnte die übermäßig stark beanspruchte Lehmsohle beim Anschluß der Südseite ausweichen, da die benachbarten Fundamentgräben durch Wolkenbrüche erweicht waren.

Woher kamen nun die späteren Verdächtigungen Schmidts? Sie hingen mit der weiteren baugeschichtlichen Entwicklung zusammen, die zu seiner Verdrängung durch den Oberlandbaumeister Exner führte. Dieser hatte sofort nach dem Einsturz in staatlichem Auftrag die Unglücksstätte besichtigt und Bericht erstattet. Daß er weder damals noch später offen einen Vorwurf gegen Schmidt erhob, gegen den er sonst nach Kräften arbeitete, ist vielleicht der beste Beweis, daß er nicht den geringsten Anlaß dazu finden konnte. Das hinderte ihn indessen nicht, in seinem von persönlicher Gehässigkeit strotzenden Gutachten gegen Schmidts Pläne 1767 und 1768 gelegentlich Sätze einfließen zu lassen,

die in dem unbefangenen Leser den Eindruck einer Schuld Schmidts erwecken konnten. Beim Forschen


  1. Vergl. hierzu die ausführliche Darstellung des Verfassers in Beilage 43 des Dresdner Anzeigers vom 23. Oktober 1904 und in Nr. 66 bis 68 der Deutschen Bauzeitung 1905.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Barth: Zur Baugeschichte der Dresdner Kreuzkirche. C. C. Meinhold & Söhne, Dresden 1907, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Alfred_Barth_Zur_Baugeschichte_der_Dresdner_Kreuzkirche.pdf/20&oldid=- (Version vom 26.4.2024)