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Apk spezialisiert und auf die zu erfüllende Zahl Märtyrer bezogen. Und wenn wir nun wissen (s. Einleitung S. 130f.), daß die ganze Apk in Hinblick auf ein nahendes großes Martyrium geschrieben ist, so ist der Schluß zwingend, daß der Apokalyptiker in der Überlieferung einer älteren Tradition hier sekundär ist. Er änderte dieselbe ein wenig für seine Zwecke um und machte aus den Gerechten Märtyrer. Dabei soll nicht behauptet werden, daß der Apokalyptiker von IV Esra abhängig wäre, es wird beiden eine gemeinsame ältere Quelle zugrunde liegen. Und die bisher aufgestellten Vermutungen bestätigen sich uns, wenn wir nun eine noch ältere Parallele aus dem Henochbuch heranziehen. Es heißt dort 47,(2).4: „die Herzen der Heiligen wurden voll Freude, daß die Zahl der Gerechtigkeit erfüllt und das Gebet der Gerechten erhört war und das Blut der Gerechten gesühnt wurde vor dem Herrn der Geister“. Auch durch diese etwas weniger genaue Parallele wird die Überlieferung des IV Esra-Buches (vgl. die „Zahl der Gerechten“) bestätigt und zugleich von neuem wahrscheinlich, daß hinter Apk, IV Esra und auch hinter den die hier vorliegende Anschauung nur andeutenden Henochschen Bilderreden eine gemeinsame ältere Quelle liegt (vgl. noch Hen 9,1-3.10f.; 22,5—7; 97,5).

Wir schauen an diesem Punkt tief in die Komposition der Apk und die schriftstellerische Eigentümlichkeit des Apokalyptikers hinein[1]. Nachdem er bei der Schilderung der Vorzeichen, der messianischen Wehen, der stereotyp gewordenen Aufzählung gefolgt ist und diese durch eine Kombination mit der Rosse-Vision des Sacharja verlebendigt hat, folgt er beim fünften Siegel einer andern Tradition, nach welcher das Ende kommen sollte, wenn „die Zahl der Gerechten vollendet“ ist. Er macht aber seinem Hauptgedanken folgend aus den Gerechten Märtyrer, und so schlägt er hier die ersten Töne seines Leitmotivs an, das sich dann reicher und reicher entwickelt: Es naht eine Zeit des allgemeinen Martyriums, aber nur auf eine kurze Weile, denn das Ende ist nahe.

Auch des fünften Siegels Genesis können wir also bis ins einzelne verfolgen. Und doch hat alles Einzelne eine Metamorphose in der Seele des Apok. durchgemacht. Was im Henochbuch eine vorübergehende Bemerkung war, was im IV Esra eine lehrhafte Ausführung, das ist hier ein Bild geworden. Man sieht dies Bild in voller Lebendigkeit; man hört die Seelen unter Gottes Thron schreien. Und welch ein lebendiger Zug ist die Bekleidung derselben mit weißen Kleidern! In dem Gemälde pulsiert die verhaltene Leidenschaft des Kampfes und der Märtyrerfreudigkeit.

Wie wertvoll dieser Abschnitt für die Zeitbestimmung der Apk ist, ist schon oben (Einleitung S. 130f.) angedeutet. Jedenfalls ist hier — man


  1. Dafür daß Apk. 6,9-11 vom Apok. letzter Hand selbst entworfen ist, sprechen neben der Betonung des Martyriums die Ausdrücke λόγος θεοῦ καὶ μαρτυρία, ἐκδικεῖν ἐκ, οἱ κατοικοῦντες ἐπὶ τῆς γῆς, ὁ ἅγιος καὶ ὁ ἀληθινός, der bemerkenswerte Vokativ ὁ δεσπότης ὁ ἅγιος und noch andre Kleinigkeiten. Das hat auch J. Weiß gesehen, und er spricht deshalb, während er sonst die Siegelvision auf den um 60 schreibenden Urapokalyptiker zurückführt, das fünfte Siegel in der gegenwärtigen Form dem Redaktor letzter Hand zu.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Bousset: Die Offenbarung Johannis. , Göttingen 1906, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bousset-S273.png&oldid=- (Version vom 8.10.2021)