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der Erde kein Geweihe besitzen, können wir schliessen, dass dies der ursprüngliche Character der Gruppe war.[1]

Das Geweihe wird beim Renthier in einem äusserst ungewöhnlich frühen Alter entwickelt; was aber die Ursache hiervon sein mag, ist unbekannt. Das Resultat hiervon ist indessen allem Anscheine nach die Uebertragung der Geweihe auf beide Geschlechter gewesen. Wir müssen im Sinne behalten, dass die Geweihe immer durch das Weibchen überliefert werden und dass dieses eine latente Fähigkeit zur Entwickelung von Geweihen besitzt, wie wir bei alten oder erkrankten Weibchen sehen.[2] Ueberdies bieten die Weibchen einiger anderen Species hirschartiger Thiere entweder normal oder gelegentlich Rudimente von Geweihen dar; so hat das Weibchen von Cervulus moschatus „in einem Knopfe endende borstige Büschel statt eines Hornes“: und „bei den meisten Exemplaren des weiblichen Wapiti (Cervus canadensis) findet sich an der Stelle des Geweihes eine scharfe knöcherne „Protuberanz“.[3] Aus diesen verschiedenen Betrachtungen können wir schliessen, dass der Besitz ziemlich gut entwickelter Geweihe beim weiblichen Renthier eine Folge davon ist, dass die Männchen sie zuerst als Waffen für die Kämpfe mit anderen Männchen erhielten, und an zweiter Stelle eine Folge ihrer aus irgend einer unbekannten Ursache in einem ungewöhnlich frühen Alter beim Männchen eintretenden Entwickelung und ihrer hiervon abhängenden Ueberlieferung auf beide Geschlechter.

Wenden wir uns nun zu den scheidenhörnigen Wiederkäuern. Unter den Antilopen kann man eine sich abstufende Reihe aufstellen, welche mit Species beginnt, deren Weibchen vollständig ohne Hörner


  1. Ueber die Structur und das Abwerfen des Geweihes beim Renthier s. Hoffberg, in: Amoenitates academicae, Vol. IV. 1788, p. 149. In Bezug auf die Americanische Varietät oder Species s. Richardson, Fauna Boreal. Americana, p. 241; auch Major W. Ross King, The Sportsman in Canada. 1866, p. 80.
  2. Isidore Geoffroy St.-Hilaire, Essais de Zoologie générale, 1841, p. 513. Ausser dem Gehörne werden auch andere männliche Charactere zuweilen in ähnlicher Weise auf das Weibchen übertragen; so sagt Mr. Boner bei der Schilderung einer alten weiblichen Gemse (Chamois Hunting in the Mountains of Bavaria, 1860, 2. edit. p. 363): „der Kopf sah nicht bloss ganz männlich aus, sondern es war dem Rücken entlang ein Kamm langer Haare vorhanden, wie er sich gewöhnlich nur bei Böcken findet“.
  3. Ueber den Cervulus s. Dr. Gray, Catalogue of the Mammalia in British Museum, Part. III, p. 220. Ueber den Cervus canadensis oder das Wapiti s. Hon. J. D. Caton. in: Ottawa Acad. of Natur. Sciences, May. 1868, p. 9.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 227. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/241&oldid=- (Version vom 31.7.2018)