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abstammten, welcher ein Säuger gewesen wäre. Es liessen sich viele Fälle anführen, wo Organe und Instincte, welche ursprünglich einem bestimmten Zwecke angepasst waren, einem anderen völlig verschiedenen Zwecke dienstbar gemacht worden sind.[1] Es kann daher die Fähigkeit für höhere musikalische Entwickelung, welche die wilden Kassen des Menschen besitzen, entweder die Folge davon sein, dass unsere halbmenschlichen Urerzeuger irgend eine rohe Form von Musik ausgeübt haben, oder davon, dass sie einfach zu einem verschiedenen Zwecke die gehörigen Stimmorgane erlangt haben. Aber in diesem letzteren Falle müssen wir annehmen, dass sie, wie in dem eben erwähnten Beispiele der Papageien und wie es bei vielen Thieren vorzukommen scheint, bereits einen gewissen Sinn für Melodie besessen haben.

Die Musik erweckt verschiedene Gemüthserregungen in uns, regt aber nicht die schrecklicheren Gemüthsstimmungen des Entsetzens, der Furcht, Wuth u. s. w. an. Sie erweckt die sanfteren Gefühle der Zärtlichkeit und Liebe, welche leicht in Ergebung übergehen. In den Chinesischen Annalen wird gesagt: „Musik hat die Kraft, den Himmel auf die Erde herabsteigen zu machen“. Sie regt gleichfalls in uns das Gefühl des Triumphes und das ruhmvolle Erglühen für den Krieg an. Diese kraftvollen und gemischten Gefühle können wohl dem Gefühle der Erhabenheit Entstehung geben. Wir können, wie Dr. Seemann bemerkt, eine grössere Intensität des Gefühls in einem einzigen musikalischen Tone concentriren als in seitenlangem Schreiben. Nahezu dieselben Erregungen, aber viel schwächer und weniger complicirt, werden wahrscheinlich von Vögeln empfunden, wenn das Männchen seinen vollen Stimmumfang in Rivalität mit anderen Männchen zum Zwecke des Bezauberns des Weibchens ausströmen lässt. Die Liebe ist noch immer das häufigste Thema unserer Gesänge. Wie


  1. Seitdem dieses Capitel gedruckt ist, habe ich einen werthvollen Artikel von Mr. Chauncey Wright (North Americ. Review, Oct. 1870, p. 293) gesehen, welcher nach Erörterung des obigen Gegenstandes noch bemerkt: „Es gibt viele Folgen der letzten Gesetze oder Uebereinstimmungen der Natur, nach welchen die Erlangung einer nützlichen Kraft viele resultirende Vortheile ebenso wie beschränkende Nachtheile, sowohl factische als nur mögliche mit sich bringt, welche das Princip der Nützlichkeit nicht mit in seinen Wirkungskreis gezogen haben kann“. Dies Princip hat eine bedeutende Tragweite, wie ich in einem der früheren Capitel des vorliegenden Werks zu zeigen versucht habe, mit Rücksicht auf die durch den Menschen vollzogene Erlangung einiger seiner geistigen characteristischen Eigenschaften.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 315. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/329&oldid=- (Version vom 31.7.2018)