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Betracht kommt. Civilisirte Männer werden in hohem Grade durch die geistigen Reize der Frauen angezogen, ebenso durch ihren Wohlstand und besonders durch ihre sociale Stellung; denn die Männer heirathen selten in einen viel tieferen Lebensrang. Die Männer, welche im Gewinnen der schöneren Frauen erfolgreich sind, werden keine grössere Wahrscheinlichkeit für sich haben, eine längere Descendenzreihe zu hinterlassen als Männer mit einfacheren Weibern, ausgenommen die wenigen, welche ihr Vermögen nach den Gesetzen der Primogenitur vererben. In Bezug auf die entgegengesetzte Form der Auswahl, nämlich die Wahl anziehender Männer durch die Frauen, wird, obschon bei civilisirten Nationen die Frauen eine freie oder beinahe freie Wahl haben, was bei barbarischen Rassen nicht der Fall ist, doch deren Wahl in hohem Grade durch die sociale Stellung und den Wohlstand der Männer beeinflusst; und der Erfolg der letzteren im Leben hängt zum grossen Theile von ihren intellectuellen Kräften und ihrer Energie oder von den Resultaten dieser selben Kräfte bei ihren Vorfahren ab. Es bedarf nicht einer Entschuldigung, wenn dieser Gegenstand etwas ausführlich behandelt wird; denn wie der Philosoph Schopenhauer bemerkt: „das endliche Ziel aller Liebesintriguen, mögen sie komisch oder tragisch sein, ist wirklich von grösserer Bedeutung als alle übrigen Zwecke im menschlichen Leben. Um was sich hier Alles dreht, ist nichts Geringeres als die Beschaffenheit der nächsten Generation..... Es ist nicht das Wohl und Wehe jedes einzelnen Individuums, sondern das der künftigen Menschenrasse, welches hier auf dem Spiele steht“.[1]

Es ist indessen Grund zu glauben vorhanden, dass geschlechtliche Zuchtwahl bei gewissen civilisirten oder halbcivilisirten Nationen doch eine Wirkung auf die Modification des Körperbaues einiger ihrer Glieder geäussert hat. Viele Personen sind, und wie mir’s scheint mit Recht, davon überzeugt, dass die Glieder unserer Aristokratie, – wobei ich unter diesem Ausdrucke alle wohlhabenden Familien mit umfasse, in welchen Primogenitur seit lange geherrscht hat, – weil sie viele Generationen hindurch aus allen Classen die schöneren Frauen zu ihren Weibern sich erwählt haben, dem europäischen Maassstabe von Schönheit zufolge schöner geworden sind als die mittleren Classen; doch sind die mittleren Classen in Bezug auf vollkommene Entwickelung


  1. „Schopenhauer and Darwinism“, in: Journal of Anthropology, Jan. 1871, p. 323.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/349&oldid=- (Version vom 31.7.2018)