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Vermischung durchlaufen haben, darüber möchte ich mir auch nicht einmal eine Vermuthung erlauben.

Kindesmord. – Dieser Gebrauch ist jetzt auf der ganzen Erde sehr häufig und es ist Grund zu glauben vorhanden, dass er während früherer Zeiten eine noch ausgedehntere Verbreitung hatte.[1] Die Barbaren finden es schwierig, sich selbst und ihre Kinder zu erhalten, und da ist es denn ein einfacher Plan, die Kinder zu tödten. In Südamerica zerstörten manche Stämme, wie Azara anführt, so viele Kinder beiderlei Geschlechts, dass sie auf dem Punkte waren auszusterben. Auf den polynesischen Inseln hat man Frauen gekannt, welche von vier oder fünf bis selbst zu zehn ihrer Kinder getödtet haben, und Ellis konnte nicht eine einzige Frau finden, welche nicht wenigstens ein Kind getödtet hatte. Wo nur immer Kindesmord herrscht, wird der Kampf um die Existenz in so weit weniger heftig sein und alle Glieder des Stammes werden eine gleich gute Chance haben, ihre wenigen überlebenden Kinder aufzuziehen. In den meisten Fällen wird eine grössere Anzahl weiblicher als männlicher Kinder zerstört, denn offenbar sind die letzteren für den Stamm von grösserem Werthe, da sie, wenn sie erwachsen sind, die Vertheidigung unterstützen und sich selbst unterhalten können. Aber die von den Frauen empfundene Mühe beim Aufziehen der Kinder, der damit in Verbindung stehende Verlust ihrer Schönheit, der höhere Werth und das glücklichere Geschick der Frauen, wenn sie wenig an Zahl sind, werden von den Frauen selbst und von verschiedenen Beobachtern als weitere Motive für den Kindesmord angeführt. In Australien, wo das Tödten weiblicher Kinder noch häufig ist, schätzte Sir G. Grey das Verhältniss eingeborener Frauen zu Männern auf eins zu drei; Andere aber bestimmten es auf zwei zu drei. In einem Dorfe an der östlichen Grenze von Indien fand Oberst Macculloch nicht ein einziges Mädchen.[2]

Wenn in Folge des Tödtens der Mädchen die Frauen eines Stammes an Zahl nur wenig sind, so wird die Gewohnheit, sich Frauen aus benachbarten Stämmen einzufangen, von selbst eintreten. Sir J. Lubbock


  1. Mr. M’Lennan, Primitive Marriage, 1865. s. besonders über Exogamie und Kindesmord, p. 130, 138, 165.
  2. Gerland (Ueber das Aussterben der Naturvölker, 1868) hat viele Mittheilungen über Kindesmord gesammelt, s. besonders S. 27, 51, 54. Azara (Voyagea etc. Tom. II, p. 94, 116) geht ausführlich in die Motive ein. s. auch M’Lennan, a. a. O. p. 139, in Bezug auf die Fälle in Indien.
Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, II. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch2.djvu/357&oldid=- (Version vom 31.7.2018)