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Auch der universalistische Zug des Buch ist uns höchst sympathisch: obwohl dem Verfasser, wie es für einen rechten Israeliten natürlich ist, sein Volk das Α und Ω seiner Gedanken bleibt, so weiten sich ihm doch seine Betrachtungen wie von selbst sehr oft aus zu Erwägungen des Schicksals der ganzen Menschheit: aller Menschen Leben ist Sünde und Elend; alle haben den bösen Keim; ihnen allen gilt Gottes Gebot und Verheißung, und ach, von ihnen allen werden nur so wenige errettet! Natürlich erwartet der Verfasser mit Sehnsucht den Untergang des schrecklichen Rom, denn sonst kann Gottes Reich nicht kommen; aber von seinem Durst nach Rache, wie er in anderen Apokalypsen hervortritt (vgl. z. B. Ap. Bar. 11), ist bei IV Esra nicht die Rede. Bei ihm tritt stärker hervor die tiefe Trauer um den Fall des lieben Vaterlandes als der verbissene Groll und der glühende Schrei nach Rache. Ferner beachte man, daß nicht der eschatologische Stoff, sondern die frommen Gedanken, die sich an ihn schließen, dem Verfasser die Hauptsache sind; auch hierin unterscheidet sich der Verfasser höchst vorteilhaft von den meisten Apokalyptikern. Das wegwerfende Urteil Luthers, der den Träumer bekanntlich in die Elbe werfen wollte, erklärt sich daraus, daß es sich für Luther darum handelte, ob er die Offenbarungen des Buches glauben solle oder nicht. Der Historiker ist gerechter. — In seinen Gedanken kommt der Verfasser in Manchem dem Paulus nahe; solche Ähnlichkeiten beweisen aber nicht innere Abhängigkeit von christlichem Geiste, noch weniger sind sie als Lesefrüchte aus Paulus zu beurteilen. Vielmehr erhellt daraus nur das, daß der Verfasser aus denselben Kreisen wie Paulus stammt. Sicherlich hätte er von dem Christentum des Paulus, wenn er es gekannt hätte, nichts wissen wollen; der Passus 5,56-6,6 kann eine Polemik gegen christliche Lehre vom Weltgerichte Christi sein.

Der Stil des Buchs erhebt sich häufig zu poetischem Schwung. In solchen Fällen klingen Formen althebräischer Dichtung nach. Man erkennt dann noch durch die Übersetzungen hindurch die Gliederung in zwei Kurzzeilen, die dem Sinne nach zusammengehören (eine Erscheinung, die man mit einem ziemlich ungenügenden Ausdruck parallelismus membrorum nennt), und die, wie es in der hebräischen Poesie gewöhnlich ist, aus je drei oder aus je zwei Wörtern oder logischen Elementargruppen bestehen[1]. Man vergleiche:

Jahwe | brüllt | aus Zion ||
aus Jerusalem | erschallt | seine Stimme || Amos 1,2.

Ebenso im IV Esra:

er hat gewogen | auf der Wage | den Äon ||
gemessen | mit dem Maße | die Stunden || 4,36f.
Das Gebiet | der Wahrheit | ist verborgen ||
das Land | des Glaubens | ohne Frucht || 5,1.
Ehe standen | die Pforten | des Äons ||
ehe blies | die Wucht | der Winde ||
ehe tönte | der Donner | Schall ||
ehe strahlte | der Blitze | Leuchten || 6,1f.

Beispiele von Kurzzeilen mit je zwei Sinnesgruppen:

Ich will singen | Jahwen ||
denn hoch | erhob er sich ||
Roß | und Wagen ||
schoß er | ins Meer || Ex 15,1.
Das Paradies | eröffnet ||
Der Lebensbaum | gepflanzt ||


  1. Der Verfasser betont ausdrücklich, daß er weit davon entfernt ist, in den obigen Bemerkungen die Metren der hebräischen Dichtung angeben zu wollen; er will hier nur gewisse logische Absätze bezeichnen, in denen sich die Metren (wenn auch vielleicht sehr undeutlich) wiederspiegeln.
Empfohlene Zitierweise:
Hermann Gunkel (Übersetzer): Das vierte Buch Esra. Mohr Siebeck, Tübingen 1900, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DasVierteBuchEsraGermanGunkelKautzsch2.djvu/19&oldid=- (Version vom 30.6.2018)