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Bauern; die städtische Bevölkerung befaßt sich keineswegs nur mit dem Handel, sondern war ebenso stark im Handwerk und allen freien Berufen vertreten.

Die Türken selbst gestehen freimütig zu, daß ihr Volk kein Talent zum Handel hat. Wenn dagegen europäische Beurteiler behaupten, daß der Türke nur darum im Handel nichts leiste, well er dem „geriebenen“ Armenier, Griechen oder Juden nicht gewachsen sei, und die „gutmütigen“ Türken bedauern, die sich seit Jahrhunderten „von Christen und Juden übers Ohr hauen ließen“, so scheint man sich nicht klar zu sein, welches Zeugnis man damit der Intelligenz dieses Herrenvolkes ausstellt.

Nicht einmal die Religion kann man für die mangelnde Begabung der Türken für den Handel verantwortlich machen. Da, wo Perser und Araber mit Armeniern und Griechen in Konkurrenz treten, beweist sich ihre Geschäftstüchtigkeit, soweit sie nicht durch mangelnde Sprachkenntnis gehemmt wird, als durchaus konkurrenzfähig. Die Vorstellung, daß die Christenmassakers in der Türkei nach Art der Judenverfolgungen des Mittelalters Auswüchse der Volksleidenschaft seien, die sich in einer Aufwallung von Wut gegen die Ausbeuter richte, hat in den Tatsachen nicht die geringste Unterlage. Massakers werden in der Türkei von der Regierung veranstaltet und von niemand sonst.

Eher mag der Gedanke, durch Vernichtung des christlichen Handels dem türkischen Handel aufzuhelfen, ein mitwirkendes Motiv für die Maßregeln der Regierung gewesen sein.

Während des Balkankrieges wurde von Mitgliedern des jungtürkischen Komitees der Versuch gemacht, Mittels eines Boykotts, der den Schutz der Regierung genoß, den griechischen und armenischen Handel zu schädigen. Gesellschaften wurden gegründet, die sich zur Aufgabe stellten, die bäuerliche Kundschaft, die ihre Einkäufe bei griechischen und armenischen Häusern machte, an sich zu ziehen und mit Freundlichkeiten und Drohungen ihren bisherigen Lieferanten

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Johannes Lepsius: Der Todesgang des armenischen Volkes. Tempelverlag, Potsdam 1919, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Todesgang_des_armenischen_Volkes.pdf/280&oldid=- (Version vom 31.7.2018)