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Neuordnungen sowohl des Prozesses wie des materiellen Strafrechts. In beiden Richtungen ist das Ziel jetzt noch nicht erreicht, die später näher zu betrachtende Strafprozeßreform stockt sogar zurzeit. Die Reform des materiellen Strafrechts ist dagegen im Fluß und hat bedeutsame Schritte vorwärts getan. Auch sie ist jetzt noch bloß in der Vorbereitung. Es ist aber schon ein Erfolg, die Lösung einer so schwierigen und für das Volksleben wie für die Staatsordnung so wichtigen Aufgabe erheblich gefördert zu haben. Denn die Geschichte fast aller solcher großen Gesetzgebungen zeigt einen langsamen, von Stufe zu Stufe fortschreitenden Werdegang. Gutes und Nützliches hat darum schon derjenige geschaffen, der diesen Werdegang hervorgerufen, beeinflußt und vorwärts gebracht hat, mag auch die Krönung des Werkes durch die Verabschiedung des Gesetzes noch ausstehen. Das gilt selbst für den unglücklichen Fall des Nichtzustandekommens, denn die Bewegung nach einem neuen Strafrecht wird nicht aufhören, und auch der, dem erst später dessen Verwirklichung gelingt, wird auf den Schultern derjenigen stehen, die jetzt vorgearbeitet haben. Endlich ist aber auch kein Anlaß zu der Besorgnis, daß die unter dem Schutze unseres jetzigen Kaisers begonnenen und rüstig fortgesetzten Arbeiten nicht in naher Zukunft zu einem glücklichen Abschluß führen sollten.

Darum ist es am Platze, hier bei der Feststellung des während seiner Regierung Geleisteten auch dieser Reformarbeiten näher zu gedenken.

Nachdem der Juristentag im September 1902 die Inangriffnahme von Vorarbeiten für eine allgemeine Revision des Strafgesetzbuchs einstimmig gefordert hatte, beschloß der damalige Staatssekretär des Reichsjustizamts Dr. Nieberding, zunächst eine wissenschaftliche Grundlage für eine solche Revision zu schaffen. Teils auf seine Anregung, teils aus eigenem Antrieb bildete sich ein Kreis von Rechtsgelehrten – und zwar fast ausschließlich von Universitätslehrern – um in einem großen Sammelwerk das Material aus dem In- und Ausland zusammenzustellen, zu sichten, zu verarbeiten, kritisch zu beleuchten und womöglich daran bestimmte gesetzgeberische Vorschläge zu knüpfen. So entstand von 1905 bis 1909 das 15 Bände umfassende Sammelwerk: „Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform“, Berlin bei Liebmann, welches eine erschöpfende Fülle von Material in systematisch geordneten, vergleichend und kritisch vorgehenden Einzeldarstellungen enthält, wie sie in dieser Vollständigkeit und Übersichtlichkeit wohl noch nie einem Gesetzgeber zur Vorbereitung und Erleichterung seiner Arbeit geboten worden ist.

Vorentwurf.

Während dieses große Werk noch in den ersten Stadien seines Erscheinens war, hatte in Preußen im Justizministerium ein Wechsel stattgefunden. Dem neuen Justizminister Dr. Beseler erschien das bisherige Vorgehen zu langsam; er hielt für notwendig, sogleich zur Aufstellung eines vorläufigen, für die Regierungen nicht bindenden Entwurfes zu schreiten, und zwar unter tunlichster Benutzung der inzwischen immer weiter erscheinenden „Vergleichenden Darstellung“. Unter Billigung des Kaisers und nach Zustimmung der Reichsjustizverwaltung und des schon damals zugezogenen Kgl. Bayerischen Justizministers wurde so verfahren, und es

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 292. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/308&oldid=- (Version vom 4.8.2020)