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Allianz betreten dürfen. Wir konnten uns an England nur unter der Voraussetzung binden, daß die Brücke, die über die wirklichen und vermeintlichen Gegensätze zwischen uns und England führen sollte, auch wirklich tragfähig war.

Die Weltlage war damals, als die Allianzfrage ventiliert wurde, in vieler Hinsicht eine andere als heute. Rußland war noch nicht durch den japanischen Krieg geschwächt, sondern gewillt, seine eben gewonnene Stellung an der asiatischen Ostküste und speziell im Golf von Petschili zu befestigen und auszubauen. Die Beziehungen zwischen England und Rußland waren gerade wegen der zwischen beiden Reichen schwebenden asiatischen Fragen damals recht gespannte. Die Gefahr lag nahe, daß einem mit England verbündeten Deutschland die Rolle gegen Rußland zufallen würde, die später Japan allein übernahm. Nur hätten wir diese Rolle unter Bedingungen durchführen müssen, die nicht zu vergleichen sind mit den günstigen Voraussetzungen, die Japan für seinen Zusammenstoß mit Rußland vorfand. Der japanische Krieg war in Rußland unpopulär, und Rußland mußte ihn auf ungeheure Entfernungen gleichsam als Kolonialkrieg führen. Ließen wir uns gegen Rußland vorschieben, so kamen wir in eine viel schwierigere Lage. Der Krieg gegen Deutschland wäre unter solchen Umständen in Rußland nicht unpopulär gewesen, er wäre von russischer Seite mit dem nationalen Elan geführt worden, wie er dem Russen eigen ist in der Verteidigung seines heimatlichen Bodens. Für Frankreich hätte der Casus foederis vorgelegen. Frankreich hätte seinen Revanchekrieg unter nicht ungünstigen Bedingungen führen können. England stand damals vor dem Burenkrieg. Seine Lage würde erleichtert worden sein, wenn seine große kolonialpolitische Unternehmung unterstützt und begleitet worden wäre von einer europäischen Verwicklung, wie sie England in der Mitte des 18. und im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gute Dienste geleistet hatten. Wir Deutschen hätten bei einem allgemeinen Konflikt einen schweren Landkrieg nach zwei Fronten zu tragen gehabt, während England die leichtere Aufgabe zugefallen wäre, sein Kolonialreich ohne große Mühe weiter zu vergrößern und von der gegenseitigen Schwächung der Festlandmächte zu profitieren. Endlich und nicht zuletzt hätten wir während eines kriegerischen Engagements auf dem Festlande und geraume Zeit nachher keinesfalls Kraft, Mittel und Muße gefunden, den Aufbau unserer Kriegsflotte so zu fördern, wie wir es haben tun können. So blieb uns nur die Möglichkeit, an den englischen Interessen gleichsam vorüberzugehen, den feindlichen Zusammenstoß und die gefügige Abhängigkeit in gleicher Weise zu meiden.

England und die deutsche Flotte.

So ist es denn auch in der Tat gelungen, uns unbehelligt und unbeeinflußt von England diejenige Macht zur See zu schaffen, die unseren wirtschaftlichen Interessen und unserem weltpolitischen Willen die reale Grundlage gibt, und die anzugreifen auch dem stärksten Gegner als ein ernstes Wagnis erscheinen muß. Während der ersten zehn Jahre nach der Einbringung der Marinevorlage von 1897 und dem Beginn unserer Schiffsbauten wäre eine zum äußersten entschlossene englische Politik wohl in der Lage gewesen, die Entwicklung Deutschlands zur Seemacht kurzer Hand gewaltsam zu unterbinden, uns unschädlich zu machen, bevor uns die Krallen zur See gewachsen waren. In England

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/35&oldid=- (Version vom 31.7.2018)