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Konsequenz der Verschiebung des deutschen Wirtschaftslebens.

Der eigentliche Grund für die Caprivische Handelspolitik lag − abgesehen von den gewöhnlich überschätzten politischen Absichten und Rücksichten − wesentlich tiefer. Letzten Endes war nämlich die Caprivische Handelspolitik nichts anderes als die Konsequenz der Verschiebung des deutschen Wirtschaftslebens vom überwiegenden Agrar- zum überwiegenden Industriestaat. Es galt, die schnell wachsende deutsche Industrie vor den Folgewirkungen der vielfach schon eingetretenen und nach dem Jahre 1892 noch schärfer zum Ausdruck kommenden Absperrungsmaßnahmen der als Ausfuhrgebiete hauptsächlich in Betracht kommenden Länder zu schützen. Dies und nichts anderes ist als letztes Motiv hinter allen handelspolitischen Maßnahmen jener viel angefeindeten Ära Caprivi wirksam gewesen. Aus welchen Gründen aber der Wille zu industriefördernder Tätigkeit entstanden ist, hat Caprivi in seiner Reichstagsrede vom 10. Dezember 1891 eingehend dargelegt: „Lohnende Arbeit wird..., wenn diese Verträge zur Perfektion kommen, gefunden werden. Wir werden sie finden durch den Export; wir müssen exportieren: entweder wir exportieren Waren oder wir exportieren Menschen. Mit dieser steigenden Bevölkerung ohne eine gleichmäßig zunehmende Industrie sind wir nicht in der Lage, weiter zu leben.“ Die erschreckend hohen Auswandererziffern jener Zeit haben damals eine große Rolle gespielt. Von 1872 bis 1878 war die Zahl der deutschen Auswanderer ständig gesunken: von 128 000 auf 25 000. Das Jahr 1879 aber bedeutete einen entscheidenden Wendepunkt in aufsteigender Richtung. Der jetzt eintretende Wanderverlust ist so gravierend, daß er hier im einzelnen dargestellt sei. Die Zahl der Auswanderer betrug:

1879   35 888
1880   117 097
1881   220 902
1882   203 585
1883   173 616
1884   149 065
1885   110 119
1886   83 225
1887   104 787
1888   103 951
1889   96 070
1890   97 103
1891   120 089

In der Zeit von 1872–79 hatte die Auswanderung sich im jährlichen Durchschnitt auf 54 081 gestellt, in den Jahren 1880–1891 aber auf 131 623. Der relative Rückgang des Warenexportes hatte demnach in der Tat in einer starken Zunahme des Menschenexports sein Korrelat gefunden. Es lag auch ohne weiteres auf der Hand, daß diese ungünstige Entwickelung sich künftig noch stärker ausprägen würde, wenn es nicht gelang, der weiteren Zollerhöhung und willkürlichen Handhabung des Zolltarifs in andern Staaten, auf deren Markt die deutsche Industrie angewiesen war, Einhalt zu tun.

Es ist nun aber anderseits keineswegs richtig, daß die in der Caprivischen Handelspolitik zum Ausdruck gekommene Industrieförderung in der Absicht geschehen sei, dies auf Kosten der Landwirtschaft zu tun, daß gewissermaßen die Neigung bestanden habe, das englische Beispiel zu befolgen und um des „Industrie- und Handelsstaates“ willen, die Landwirtschaft fallen zu lassen. Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß einer Anzahl von Mitgliedern der linken Parteien des Reichstages dies „Ideal“ vorgeschwebt hat.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 687. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/250&oldid=- (Version vom 20.8.2021)