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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

zu dem ernsten Lehrer hingezogen fühlte, von dem ihm die ersten legitimistischen Grundsätze eingeimpft wurden. Der Verrath lieferte im Jahre 1811 das Opfer den Schergen. Der General wurde entdeckt, aus den Armen des weinenden Knaben gerissen und in der Ebene von Grenelle zugleich mit dem Aufwiegler Mallet erschossen. Einige Monate hierauf berief der General Hugo, Major Domus des Palastes zu Madrid, seine Familie zu sich, und der Knabe wurde in ein adeliges Seminarium gethan, aus dem er im Jahre 1812 in das alte Kloster zurückkehrte. Hier erlebte er die erste Rückkehr der Bourbons, die er im Geiste seiner vendeeischen Mutter mit Jubel begrüßte. Er zählte kaum zehn Jahre, als ihn der Genius der Poesie überkam, und sich seine Gedanken und Gefühle zu rhythmischem Ausdruck drängten.

Noch einen andern Streich bis tief in sein Inneres sollte der Knabe von der politischen Leidenschaft erhalten, die ihren Zwiespalt in seine Familie schleuderte. Sein Vater und seine Mutter, durch Meinungen scharf getrennt, ließen sich gerichtlich scheiden, und der General, von seinem Recht Gebrauch machend, entzog das Kind den pflegenden, mütterlichen Händen, um es in Vorbereitungsanstalten in den Wissenschaften unterweisen zu lassen, die erforderlich zum Eintritt in die polytechnische Schule sind. Wiewohl mit Widerstreben dem Studium der Mathematik obliegend, die so wenig der Natur und Richtung seines lebhaften Geistes entsprach, blieb der junge Hugo dennoch nicht hinter den Forderungen seines Vaters und seiner Lehrer zurück. Alle Stunden, über die er verfügen konnte, widmete er jedoch der Poesie. Und im vierzehnten Jahre hatte er eine Tragödie nach dem sogenannten klassischen Zuschnitt vollendet, die Irtamène betitelt war.

Zu funfzehn Jahren warb er um den Preis, welchen die pariser Academie auf das beste Gedicht, als Stoff „die Vortheile des Studiums“ behandelnd, gesetzt. Er hätte ihn gewonnen, wenn sich nicht die ehrenwerthen Schiedsrichter, durch zwei Zeilen in dem Gedichte genarrt, mystifizirt geglaubt hätten. Diese lauteten:

„Ich, der selten Höfe und Städte geseh’n,
Zähle nicht zweimal der Jahre zehn.“

Wie hätten die privilegirten Kunstrichter hinter dem fertigen Werk, das außerordentliche Vollendung der Form kund that, die Jugend des Meisters vermuthen sollen; sie hielten die Angabe für Hohn und enthielten zur Strafe für so kühnes Vermessen dem Poeten den Preis vor. Der verzweifelte junge Dichter trug schleunig, so wie er durch einen Freund Kenntniß der Umstände erhielt, seinen Geburtsschein zu dem Berichterstatter, Herrn Raynouard, um den Irrthum aufzuklären und die gemachte Angabe zu bestätigen, allein es war zu spät. Die Palme war bereits einem Anderen zugestanden, und der junge Dichter mußte sich für dieses Mal mit einer ehrenvollen Erwähnung und mit dem Aufsehen begnügen, das die Geschichte in wissenschaftlichen und künstlerischen Kreisen gemacht. Die Zukunft bot reichen Ersatz. Als Hugo achtzehn Jahre alt war, waren drei seiner lyrischen Gedichte von der Akademie mit Preisen gekrönt. Er hatte sich bei seinem Vater die Freiheit ausgewirkt, seinem künstlerischen Berufe ungestört zu folgen.

Die Jahre 1820 und 1822 finden den Poeten in voller rastloser Thätigkeit, und schon fängt Frankreich an, über die frühreife Kraft des jungen Poeten, über die Selbstständigkeit seines Geistes, über die Kühnheit seiner Gedanken, über die Tiefe der Leidenschaft, die Ueberwältigung der Form zu staunen. Seine „Oden und Balladen“ erschienen noch ohne jenes Uebermaß, dem sich der Poet später hingab, voll religiöser und royalistischer Gefühle, ohne sklavischen Gehorsam für das Hergebrachte, aber auch ohne jene Sucht nach Originalität, ohne die verkehrte Absichtlichkeit, eine besondere Schule zu gründen, die aus dem frei schaffenden Künstler einen poetischen Parteigänger gemacht. Das überreizte Paris machte sich zum Götzen des jungen Dichters, und es war um dessen Unbefangenheit, um dessen poetische Lauterkeit geschehen. Die durch den ununterbrochenen Wechsel von Katastrophen abgestumpfte, ermüdete pariser Gesellschaft forderte Ungeheures, Gräuliches, um auf sich wirken, sich bewegen zu lassen, und Hugo beging den Fehler, das Verbrechen an seiner außerordentlichen Begabung, dieser Forderung nachzukommen. Er konnte ein großer Dichter sein für alle Zeit, wie er es in seinen lyrischen Schöpfungen, von keinem Franzosen erreicht, unbestreitbar dargethan, und machte sich zum Poeten des Tages, er überschrie den Lärm des literarischen Marktes, um Gold und Kränze aus ungeweiheten Händen zu empfangen; es gelang seiner mächtigen Stimme; allein sein poetischer Genius weint über den traurigen Erfolg. In „Han von Island“ und „Bug-Jargal“ stellte Hugo ein Ungethüm und einen Zwerg so widriger, unnatürlicher Art dar, daß ein krankhaftes, verfehltes Streben nach dem Ungewöhnlichen, Außerordentlichen unverkennbar. Seine Freunde suchen diese beiden Jugendwerke, die der Entschuldigung bedürfen, dadurch zu entschuldigen, daß sie ihr Entstehen mit dem Gram in Zusammenhang bringen, der den jungen Dichter wegen des Hindernisses heimgesucht, das sich seiner Verbindung mit dem Mädchen seiner Liebe entgegengestellt. Dieses Hinderniß war nämlich seine Armuth, in der That eine Zwangsjacke der drückendsten Art, aus der herauszukommen der brennende Wunsch verzeihlich ist. Allein Fräulein Foucher wurde die Frau Hugo’s. Gold, Auszeichnung, Ruhm näherten sich schmeichelnd dem glücklichen Poeten; er wurde eine gesetzgebende Macht; ein ganzer Troß junger Schriftsteller befand sich in seinem Gefolge wie ein Hofstaat, und er dichtete seine Dramen, seinen Roman „Notre Dame de Paris“, in denen statt Schönheit, Wahrheit und Natur Haß, Lüge, Unnatur die Hauptrollen spielen. Im Notre Dame, um nur des Einen unter Vielen zu gedenken, hat der Leser immer und immer den Galgen vor Augen; die Heldin des Stückes, die reizende Zigeunerin Esmeralda, eine Nachbildung der goethischen Mignon, wird ein Mal vom Galgen gerettet und dann doch gehängt, ohne das Geringste verbrochen zu haben. Niemand kann den Grund ermitteln, warum es Herrn Hugo beliebte, einen Menschen zum Scheusal zu machen, wie Quasimodo, warum er sich gar so eifrig bemüht, alle Häßlichkeiten auf ein Wesen zusammenzutragen. Herr Hugo zerbrach in Frankreich den Zwang der sogenannten klassischen Einheiten, in die sich die Tripelallianz des großen Zeitalters: Corneille, Racine und Voltaire, so wie ihre Nachfolger geschmiedet. Unser Lessing hat ebenfalls die dramatische Kunst von dem Gotsched’schen Zopfe befreit und dem natürlichen Ausdruck der Gefühle und Leidenschaften einen Raum und Umfang gewonnen, allein er hat nicht einen Fehler beseitigt, um in den entgegengesetzten zu verfallen, er warf nicht die Unnatur zur Thür hinaus, um sie zum Fenster hereindringen zu lassen; er dichtete Minna von Barnhelm, Emilie Galotti, Nathan der Weise, aber nicht Marion de Lorme, Hernani etc. etc., er schuf keine Frage, poetisirte keine Dirnen, um eine angefaulte Welt anzuziehen und ihr zu schmeicheln, er ließ sich nicht herab, durch solche Theatercoups, durch frappante Unmöglichkeiten die Zuschauer zu verblüffen. Lessing stand über seiner Zeit, Hugo steht unter ihr, trotz seiner Kraft, sie zu beherrschen; er ließ seine Muse von der Verderbtheit der Sitten und des Geschmackes tyrannisiren, die unverzeihlichste Unterwerfung, zu der sich ein Künstler herbeilassen kann. Der Deutsche war ein großer Mensch, der Franzose ist ein – Franzose.

Als Hernani zum ersten Male im Theater Français gegeben wurde (1830), kam es im Publikum zwischen klassisch und romantisch Gesinnten (die Schule Hugo’s nannte sich romantisch) wirklich und wahrhaft zum Handgemenge, es setzte blutige Köpfe; das Schauspiel im Parterre zog an, und die vornehme Welt drängte sich in die Logen, um den Wettstreit der Klatschenden und Zischenden anzusehen. Nichts konnte in Paris dem Ruhme des Dichters mehr Glanz verleihen, als diese Scenen, die er außer der Bühne hervorgerufen. Er konnte durch die unerreichbarste Schönheit in seinen Dichtungen nicht so viel Aufsehen machen.

Sein Anhang wuchs von Tag zu Tag und drang siegreich nach Deutschland, wo man das Widerstrebendste, das seine Beglaubigung aus Paris mitbringt, bewundernd hinnimmt. Auf Hernani folgte „Marion Delorme“, auf Marion Delorme „der König vergnügt sich“ (Le roi s’amuse), darauf „Lucrezia Borgia“, „Maria Tudor“, „Angelo“, „Ruy-Blas.“ Der Dichter wurde immer athemversetzender und gefiel sich darin, aufgemuntert durch die Erfolge vom Scheußlichen zum Scheußlichern fortzuschreiten und seinem angebornen herrlichen Talente nur ab und zu einen beschränkten Spielraum zu lassen. Man kann das Schöne in seinen dramatischen Dichtungen unter dem Wust von Gewaltsamkeit kaum heraus finden. Bei der Ueberreizung, bei den haarsträubenden Wirkungen, welche sie hervorbringen, behält man kaum Sinn und Empfindung für die poetischen Laute, die hie und da aus tiefstem Herzen herausklingen.

Von Erfolgen gekrönt, von Glück getragen, hatte Hugo das Mädchen seiner Wahl heimgeführt und bald sich eine Häuslichkeit gebildet, die kaum etwas zu wünschen übrig ließ. Eine holde Frau und vier lachende Kindergesichter grüßten den Dichter, wenn er

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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_022.jpg&oldid=- (Version vom 13.5.2018)