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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)

Die Dialektdichtung ist, im großen Ganzen betrachtet, der erste Anflug oder das Unterholz des deutschen Dichterwaldes, bis der Hochwald erwuchs. Bevor es eine allgemein gültige deutsche Schriftsprache gab, erschienen die Dichtungen natürlich im Dialekt, von denen jeder souverain war. Im 12. Jahrhundert gelangte der schwäbische Dialekt zu einer Oberherrschaft, bis im 13. Jahrhundert durch den Sachsenspiegel der sächsische Dialekt der allgemein schriftgemäßere wurde und endlich durch Luther sich in der Ausbildung zur hochdeutschen Sprache unwiderruflich feststellte. Wir haben ein Vorbild der deutschen Einheit in dem Verhältniß der Dialekte zur allgemeinen hochdeutschen Sprache. Ehedem war jeder Dialekt für sich souverain, nun aber herrscht in der Literatur, in Gesetzgebung, Kirche und Schule das Hochdeutsche. Das Majestätsrecht der Goldprägung steht der Centralgewalt des Hochdeutschen allein zu. Die Wissenschaften, die Dichtkunst höherer Formen, die Gesetzgebung etc. sind hochdeutsch. Für den Kleinverkehr, für die inneren Angelegenheiten der Provinz, des Hauses, behält der Dialekt seine Besonderheit als eine gewisse sprachliche Scheidemünze.

Im natürlich richtigen Verständniß dessen, was dem Dialekte zusteht, hat Hebel nie die größeren vielgliedrigen Formen der Dichtkunst, wie Epos und Drama, im Dialekte versucht, denn da würde sich nicht nur die Unzulänglichkeit desselben herausstellen, indem die Scheidemünze des Dialektes hierzu nicht ausreicht, es führte auch zu einer Zersetzung der so nothwendigen und geschichtlich festgestellten Einheit. Hebel hat nur die intimen Beziehungen und Vorkommnisse des provinzialen und häuslichen, die Besonderheiten des Gemüthslebens in den Bereich des Dialekts gezogen. Er versuchte nicht eine Restauration der seit Luther überwundenen Sprachzertheilung, er gab nur das in seiner Besonderheit lebendig Bestehende in seiner begrenzten Berechtigung wieder, und darum wurde er dichterisch und sprachlich zu einem Muster der Dialektdichtung.

Bei allem allgemein deutschen und allgemein menschlichen Kern, den diese Dichtungen enthalten, ist hier ein gewisses Reich des Gemüthslebens zum Ausdruck gekommen, das eben nur in dieser Form sich kund geben konnte. Die Sprache ist hier nicht Costüm, etwa eine eigene geistige Volkstracht, sie ist vielmehr die innerste und einzige Heimath, wenn man so sagen darf, der einzige Körper dieser Volksseele; oder – um durch ein anderes Bild zu erklären – bei aller Übertragung dieser allemannisch empfundenen und nicht blos allemannisch ausgedrückten Gedichte wäre es so, wie wenn man ein feines, für die Cither componirtes Musikstück, wobei das Instrument einer eigenthümlichen Vibration und ihm allein gehörigen Ansprache fähig ist, nun auf Violine oder Clavier übertragen wollte. Es bleibt unverkennbar dieselbe Melodie, aber es ist ihr ausschließlich eigenthümlicher Ausdruck nicht mehr.

Die Thatsache ferner, daß in einer uns nahen, uns vor Augen stehenden Landschaft und Einwohnerschaft die ganze Scala dichterischer Empfindungen sich ausdrücken ließ, das war die augenfälligste und unwidersprechlichste Beweisführung, daß es nicht nöthig ist, in romantischer Ausschweifung in ferne Länder und vergangene Zeiten sich zu begeben, um dichterisch Entsprechendes zu finden und zu bilden. Hebel that aus sich den von Goethe geheischten „Griff in’s volle Menschenleben“ und er „fand das Schöne nah.“

Aus den Gedichten Hebel’s stieg Etwas auf, wie der Brodem frischgepflügten Erdreichs. Die Einsichtigen erkannten es und die dumpf dahin Lebenden fühlten es: der Boden deutschen Lebens ist noch überall so reich und zeugungsfrisch, daß Blüthe und Frucht der Schönheit in ihm gedeiht. Nicht nur in verklungenen Sagen aus der alten Zeit, im „schönen Aberglauben“, wie man es nannte, besteht die innere Poesie des deutschen Volkes; sie ist zu allen Zeiten da und überall, an keine äußere Tracht und keine altherkömmlichen Gebräuche gebunden; es gilt nur, daß eines Dichters Auge die Schönheit finde und sie mit seinem Worte erlöse.

Mitten in schweren Kriegesnöthen, mitten in der Auflösung des Reichs entfaltete sich eine Blume heimischer Poesie und erklang die bescheidene und liebliche Dichterstimme Hebel’s, wie die wilde Rose im stillen Thale blüht, wenn auch lärmende Kriegsschaaren die Heerstraße daher ziehen; wie die Lerche sich jubelnd in die Luft erhebt, mögen die Menschen da drunten in allerlei Hader und Zank und Wirrniß sich das Leben verbittern.

Hebel machte aus seinen Allemannen keine arkadischen Schäfer. Wie er ihnen die Sprache ihres Lebens ließ, so behielten sie auch die ganze derbe, lebensgetreue Erscheinungsweise. Nicht nur in der Heimath wurden diese nach Gehalt und Gestalt neuen Dichtungen mit herzlicher Freude aufgenommen, auch das gesammte deutsche Volk, soweit das Verständniß dafür erschlossen werden konnte, erkannte die Stimme eines Bruderstammes aus dem Munde des Dichters. Jean Paul pries den Dichter laut, und Goethe ging, ihm volles Lob spendend, auf das innerste Wesen dieser Dichtungen ein. Auffallend ist, daß Schiller, der als Schwabe dem Verständniß des Allemannischen so nahe stand, und der eben damals sich mit seinem schönsten Helden aus dem allemannischen Volke trug, soweit bisher bekannt, keinerlei Aeußerungen über die Gedichte Hebel’s that.

Einen eigenthümlichen Vergleich böte Hebel mit dem schottischen Dichter Robert Burns, der ein Jahr vor Hebel geboren wurde und vier Jahre vor dem Erscheinen der allemannischen Gedichte starb. Burns, in einer dichterisch viel reicheren Landschaft geboren, weit mehr von alten Liederklängen erfüllt, war und blieb, eine kurze Beamtung ausgenommen, ein Bauer; er verharrte nothgedrungen in der ländlichen Beschränktheit und empfand diese als eine hindernde Schranke, die er durchbrechen wollte, während Hebel aus den erweiterten Kreisen des Staatslebens und der Wissenschaft sich wieder dichterisch in die ländliche Beschränktheit zurückversetzte. Während Burns einen Verfall der Vermögensverhältnisse seiner Eltern in der Kindheit mit erlebte, und sein ganzes Leben auf und ab zwischen materiellem und geistigem Verkommen und Sicherheben zu ringen hatte, ist Hebel in Noth und Armuth aufgewachsen, und hat sich durch die Güte der Menschen und eigene Ausdauer daraus emporgearbeitet. Während es in Burns’ Gemüthe oft ist, wie in den Schrunden und Schluchten des Hochgebirges, wo auf übereinander geworfenen Felstrümmern der stille Vogel sich niederläßt, und manche Blume zu ihrem eigenen Genügen aufblüht und verwelkt, bis ein Gewitter herniederrauscht, schäumende Wasserstürze sich über die Felsen ergießen und hochaufbrausen, um dann wieder dürre Oede zurückzulassen; so ist dagegen das Gemüth Hebel’s wie ein stiller See von Blumen bekränzt, in dem die Bäume ihr Spiegelbild erschauen und die Sterne wiederstrahlen. Burns bringt mit hinreißender Energie die persönliche und momentane Stimmung zum stärksten und ergreifendsten Ausdrucke; Hebel tritt mit seiner Persönlichkeit kaum merklich hervor; er behandelt ein Leben, das ihm in Erinnerung steht und zu dem ihn die Sehnsucht führt, das ihm aber äußerlich fremd geworden. Die Leidenschaft kennt Hebel nicht, mindestens findet sie keinen Ausdruck in seinen Dichtungen. Er ist früh zu einem stillen Sichbescheiden gelangt, und wenn er später im Leben über manche Ungemächlichkeiten klagt, geschieht es in jenem Tone, der das Mißliche erkennt, aber im Ganzen an keinem gegebenen Lebensverhältnisse ernstlich oder gar in Leidenschaft und Trotz rütteln mag. Die geistliche Würde und der geistliche Beruf gab Hebel eine gewisse Sänftigung, eine Einordnung, die scharf absticht gegen das wildbewegte Leben des Schotten, der in seiner dürftigen und abhängigen Stellung die ersten großen Thatsachen der französischen Revolution wie eine persönliche Erlösung und die Erlösung seiner Standesgenossen empfand.

(Schluß folgt.)




Thier-Charaktere.
Von Dr. A. E. Brehm.
Nr. 1. Das Kamel.

Die Leser des Jahrgangs 1856 der Gartenlaube erinnern sich gewiß der gelungenen Abbildungdes hochberühmten und vielbelobten Wüstenschiffs und haben sicherlich die vortrefflich geschriebene Erläuterung zu dem rührenden Bilde mit großer Theilnahme gelesen. Meinem Herzen hat die Wärme, mit welcher mein geehrter Mitarbeiter vom Kamel spricht, ungemein wohlgethan, obgleich ich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_631.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)