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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

wichtige Nachrichten seine Bemerkungen mittheilen, die stets von großem politischen Scharfsinn zeugten. Bisweilen erbat er sich durch dieselbe Vermittlung ein oder das andere Buch vom Pfarrer, und da machte es sich zuerst nöthig, daß der Graf, wenn es Werke in fremden Sprachen betraf, deren Titel aus dem Munde der Bötin nicht zu entziffern waren, dieselben auf sorgfältig couvertirte Zettelchen schrieb. Bald fanden auf diesen Zettelchen auch die bisher mündlich von der Bötin ausgerichteten Bemerkungen Platz, die den Pfarrer zu ebenfalls brieflichen Gegenbemerkungen veranlaßten, und das war der Anfang einer Correspondenz, welche sich später zu einem fast ununterbrochenen, in vielen Beziehungen höchst vertraulichen, herzlichen und gemüthlichen Gedankenaustausch der beiden Männer entwickelte.

Da diese Correspondenz es hauptsächlich ist, welche uns einen Einblick in das Wesen des merkwürdigen Unbekannten gestattet, so wollen wir einen Augenblick bei ihr verweilen. Sie umfaßt im Lauf der Zeit Alles, was Wissenschaft, Kunst und Politik den beiden Männern vorführte und was das Leben und das alltägliche Bedürfniß dazu brachte. Aus den Briefen des Grafen geht hervor, daß derselbe eine sehr rege geistige Thätigkeit entfaltete und daß sein Wissen ein ganz ungewöhnliches war. „Nur eine Stunde des Tags gönne ich mir, um blos zu meinem Vergnügen zu lesen,“ schrieb er einmal, und ein andermal setzte er seine tägliche Correspondenz nach dem Pfarrhause aus, „weil dringende Geschäfte seinen ganzen Tag in Anspruch genommen.“ Seine Sprachkenntnisse erstreckten sich über das Französische, Englische, Italienische, Deutsche, Lateinische und Griechische. Das Holländische war wahrscheinlich seine Muttersprache. Ueber seine classischen Studien schreibt er einmal: „Können Sie eine Vorstellung davon haben, welches Glück ich auch in meiner Einsamkeit genossen habe? Wo hätte ich sonst diesen stillen Frieden genossen, wo sonst die Muße gefunden, die Classiker von vier Nationen der Reihe nach zwei und drei Mal zu lesen?“ Längere Zeit trieb er mit Vorliebe Naturphilosophie (französische und deutsche), auch christliche Kirchengeschichte, las mit großem Interesse David Strauß und schrieb einst: „Zur katholischen Religion erzogen, wurden doch in meiner Jugend deren Grundpfeiler gerade so tief erschüttert, daß sie nie wieder fest standen.“ Jede neue Erscheinung ward zwischen Schloß und Pfarrhaus so gründlich besprochen, daß die Bötin nicht selten an einem Tage zehn bis zwölf Mal zwischen Beiden mit den oft ganz hitzigen Briefen hin- und hereilen mußte. Im Zeitraum eines Jahres, versichert der genannte Berichterstatter, verbreitete sich diese Correspondenz über thierischen Magnetismus, über die Philosophen Locke, Kant und Schelling, über die Theologen Schleiermacher und de Wette, über specielle Vorsehung, Unsterblichkeit, positive Religion, Stolberg’s Uebertritt, Reform des Universitätswesens, Ursprung der alten Aegypter, und außerdem über eine Unzahl von Tagesfragen. – In vielen Briefen des Grafen äußert sich eine sehr lebhafte Sympathie für die Bourbons und die Schicksale der Emigranten nach dem Sturze Napoleon’s. Dabei sei gleich bemerkt, daß alle Briefe weder Datum noch Unterschrift trugen. Gesiegelt waren sie in der Regel mit Oblaten und einem quarrirten Petschaft; nur zwei Male fand der Pfarrer ein charakteristisches Siegel, das drei Lilien im Felde zeigte.

Besondere Lieblingsstudien des Grafen waren Meteorologie (nach seinen Wetterprophezeiungen, die er dem Kammerdiener und dem Pfarrer mittheilte, richteten sich sogar die Bauern mit ihren Feldarbeiten) und – Medicin, die er mit Hülfe einer kleinen Hausapotheke auch – natürlich nur im eigenen Hause – ausübte. Einen Arzt nicht zu bedürfen, war allerdings für die Sicherheit seines Geheimnisses von Bedeutung.

Die Correspondenz ließ sich aber auch zu den Angelegenheiten des Dorfes herab und erging sich hier oft in köstlichem Humor über Familienverhältnisse, deren Kenntniß dem Grafen Niemand zugetraut hätte, und über Personen, wie des Müllers schöne Tochter und des Schulmeisters noch schönere Tochter, die er nur mittelst des Fernrohrs kennen gelernt haben konnte. – Am innigsten äußerte sich aber die Correspondenz über jedes Ereigniß, jedes Fest im Pfarrhause, an denen der Graf stets den augenscheinlich herzlichsten Antheil nahm.

Aber trotz all dieses freundschaftlichen Verkehrs hütete der Graf auch gegen den Pfarrer sein Geheimniß auf das Strengste. Nie ist in seinen Briefen von einer weiblichen Person im Schlosse die Rede; nur einigemal deutet er durch „man“ an, daß noch Jemand bei ihm lebe. „Man hat, wegen der Unruhe in der Nähe des Schlosses, die Nacht schlaflos zugebracht und fühlt sich sehr angegriffen“ – so schreibt er nach einer Neujahrsnacht, in welcher die Bauernbursche nach landüblicher Polizeiwidrigkeit ihre Mädchen besonders kräftig „angeschossen“ hatten.

Ja noch mehr: die Vorsicht gegen den Pfarrer ging so weit, daß dieser von der Jahre lang geführten Corrrspondenz auch nicht ein einziges Zettelchen mit des Grafen Handschrift zurückbehalten durfte. Die Bötin, welche die gräflichen Schriftstücke (und zwar stets mit weißen Glacéhandschuhen!) überbrachte, mußte sie, sammt der Antwort des Pfarrers, auch sogleich wieder mit zurücknehmen.

Und trotz der brieflichen Versicherung des Grafen: „wenn Friede wird, so werde ich das Vergnügen Ihrer persönlichen Bekanntschaft suchen“ – ist auch dies nicht in Erfüllung gegangen. Die beiden Männer, welche vierzehn Jahre lang im engsten geistigen Verkehr leben, der ihnen zu einem Lebensbedürfniß geworden, welche von ihren Fenstern aus sich mit bloßen Augen sehen und grüßen können, diese beiden Männer grüßen sich mit stummer Verneigung, wenn der Graf am Pfarrhaus vorüber fährt oder der Pfarrer am gräflichen Wagen vorüber reitet, – diese beiden Männer, die sich vierzehn Jahre lang und oft täglich zehn Mal schreiben und bis zum erbitterten Meinungskampf die Geister aneinander reiben, haben im Leben nie ein Wort mit einander gesprochen!

Im Februar 1827 starb der Pfarrer. Dieser Todesfall ergriff den Grafen tief. Er fragte Niemand nach der Bedeutung des Glockenläutens am Morgen nach der Todesnacht, aber als die Bötin die Zeitungen ihm uneröffnet zurückbrachte, sah sie Thränen in seinen Augen. Er verließ seine bisherigen Wohnzimmer und bezog andere, die abgewendet vom Pfarrhause lagen. Sein Trauer- und Trostwort an die Wittwe schloß mit der Versicherung: „mit dem Pfarrer sei das letzte Band mit der Welt für ihn zerrissen.“ – Später trug er jedoch das Vertrauen vom Pfarrer auf die Wittwe über und setzte mit ihr seine Correspondenz fort bis zu seinem Tode. –

Warum, müssen wir hier fragen, schloß der Graf sich gerade von dem einzigen Manne seiner Umgebung, der ihm geistig ebenbürtig war, so streng, ja so ängstlich ab? Verschiedene andere Männer von Eishausen, namentlich einen Schreiner, Namens Christ, ließ er nicht selten zu sich rufen und freute sich sichtlich der Unterhaltung mit ihnen, wie denn diese wiederum seine Freundlichkeit und „die erstaunliche Macht seiner fließenden Rede“ nicht genug rühmen konnten. Warum zog er nicht auch mit dem Geistlichen die mündliche Unterhaltung bisweilen der schriftlichen vor? Schrieb er doch selbst einmal: „Manches im Leben läßt sich bei weitem besser mündlich, als schriftlich behandeln; ja es bedarf sehr häufig erst eines durch persönliches Zusammensein zuwege gebrachten Berührungs- und Anknüpfungspunktes.“ Und dennoch dieses schroffe Betragen gegen den Mann, den er als „das einzige Band zwischen ihm und der Welt“ schätzt! War das nicht verletzendes, kränkendes Mißtrauen? – Ja, Mißtrauen war es, aber ich erkenne darin kein Mißtrauen des Grafen gegen den Pfarrer, sondern gegen sich selbst. Dem ehrwürdigen Geistlichen gegenüber, der ihm schon brieflich oft das Herz tief zu ergreifen verstand, mochte er für sein Geheimniß fürchten. In einem Briefe an des Pfarrers Wittwe sagt er einmal von sich selbst: „Es geht mir wie den Nonnen: wenn sie einmal sprechen dürfen, sprechen sie zu viel.“ – Und fürchtete er nicht für sein Geheimniß, so war ihm sicherlich sein Verhältniß zum Pfarrer zu kostbar, um es der Gefahr auszusetzen, durch einen bei seiner Reizbarkeit so leicht möglichen persönlichen Anstoß gestört oder gar zerrissen zu werden.

Wie brachte aber sie ihr Leben dahin, um derentwillen dies Alles erduldet werden mußte?

Der Blick hinter diesen Vorhang fällt auf ein trauriges Bild. Während der Graf in edlen geistigen Genüssen wahrhaft schwelgte, war es des armen Weibes Zeitvertreib, mit Hunden und Katzen, Drehorgeln und Geldbeutelchen zu spielen. Eine höhere geistige Entwickelung scheint ihr nicht vergönnt worden zu sein, nicht der Trost und die Erhebung, welche die Tonkunst gewährt, nicht die stille Freude irgend einer andern Kunst. Es ist wirklich so: eine Drehorgel war das einzige Instrument, das je im Schloß gehört wurde, und ein beliebter Zeitvertreib soll es gewesen sein, Katzen in einen Wagen zu setzen und von angespannten Hunden durch die Säle und Zimmer des Schlosses fahren zu lassen. Eine Unterhaltung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_310.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2019)