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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

noch dazu, da bei der Berührung Alles untereinander fiel. Die Anzahl der Leichen wurde nach den Köpfen bestimmt.

Hart am Schachte sitzend fand und erkannte man den Steiger Krüger und den Fahrgehülfen Keller, Ersteren hauptsächlich an seinem Notizbuche, der Lachterkette und der Blende, Letzteren hauptsächlich an der neben ihm liegenden bekannten Tabakspfeife. Das Notizbuch des Ersteren hätte vielleicht durch Aufzeichnungen in demselben über die letzten Stunden dieser Unglücklichen einige Aufklärungen bringen können, aber die Blätter in demselben waren vollständig vom Moder vernichtet, nur die Schalen sind erhalten und mit aufbewahrt. Außer diesen beiden Beamten wurden noch die Leichen der beiden Gebrüder Heinrich von ihrem Vater an den Schnürstiefeln erkannt, und zufällig erkannte auch der Werksarzt einen Dritten, gleichen Namens, mit den Vorhergenannten aber nicht verwandt, an den Narben seines bei Lebzeiten in der Grube wiederholt gebrochenen Beines, und einen Vierten an der außergewöhnlichen Bildung der Zähne (Doppelzähne).

Als Beruhigung und als Beweis dafür, daß der Tod dieser Unglücklichen kein allzulangsamer und vom Hunger herbeigeführter gewesen ist, fand man alle mit Pfropfen noch verschlossenen Oelhörner, Oelfläschchen und Lampen mit reichlichem Oelvorrath gefüllt, so daß also die Lampen nicht lange gebrannt und nicht lange Oel verzehrt hatten. Durch den Zusammensturz des Schachtes war zunächst der Wetterschachttrumen aufgerissen und dadurch die Wettercirculation aufgehoben worden. Nachher hatte die Verspreizung und der dichte Versack über derselben vollends allen Luftzutritt nach unten abgehalten, und so mußte ja bei der starken Ausdünstung der bloßgelegten Kohle in den Grubenräumen die Luft bald so verschlechtert sein, daß die Lampen und mit ihnen oder bald nach ihnen das Lebenslicht der Verunglückten verlöschte. Spuren von besonderem, etwa sehr schmerzhaftem Todeskampfe haben sich nicht gefunden, ebensowenig irgend welches Zeichen oder irgend welche Nachricht von den letzten Stunden dieser Unglücklichen. Bis zum letzten Augenblicke, bis zum letzten Funken von Bewußtsein, haben sie wohl die Hoffnung auf Rettung nicht verloren, dafür spricht die ruhige, gleichsam wartende Lage, in der sie gefunden wurden.

In den Kleidern und hauptsächlich in den Lichttaschen, in der bergmännischen Ausrüstung der Patronentasche des Soldaten entsprechend, fanden sich noch mehrere Uhren und bei einigen auch Geldmünzen, zusammen ein Thaler einundzwanzig Neugroschen und ein Pfennig, vor. Die Uhren sind ganz aufgelöthet und als solche werthlos. Vielleicht bezahlt sie der Raritätensammler noch gut. In der Tasche der einen Leiche wurde ein Fläschchen gefunden, welches noch auf dem Schachte aufbewahrt wird, und von dem man den Inhalt nicht recht erkennen kann. Oel ist dies entschieden nicht, ebensowenig scheint es Schnaps zu sein. Wäre es vielleicht das Arzeneifläschchen, das der Schreiber des ersten Briefes über das Lugauer Unglück in der Gartenlaube erwähnt? Das gefundene Oel und auch der Inhalt dieser Flasche hat einen ganz pestilenzialischen Geruch.

Die zweiundachtzig Leichen, welche man zuerst auf dem oberen Füllorte und dem sich an das Füllort anschließenden Querschlage gefunden, wurden, nachdem sie vorher so viel als möglich mit in Wasser aufgelöster Carbolsäure begossen waren, vom Montag den 8. bis Dienstag den 9. dieses Monats über Tage geschafft und mit ihren zwei früher gefundenen Cameraden Donnerstag den 11. Juli Abends, in zwölf Särgen, im Beisein des königlichen Amtshauptmanns in aller Stille beerdigt.

Auf dem Beerdigungsplatze, dem Lugauer Kirchhofe, steht schon seit Jahren ein vom früheren Hülfscomité errichtetes Denkmal (Obelisk), das die Namen sämmtlicher Verunglückten trägt. Die Enthüllungsfeier und eine größere bergmännische Leichenfeier soll erst vorgenommen werden, wenn sämmtliche Verschüttete gefunden sind. Das weitere Aufsuchen derselben wird jetzt dadurch aufgehalten, daß in dem erwähnten Querschlage bei dreißig Meter Entfernung vom Schachte ein Bruch vorliegt, der erst vorsichtig beseitigt werden muß und unter und wahrscheinlich auch hinter welchem man die noch fehlende Leiche zu finden hofft.

Der Eindruck, den die herausgeschafften menschlichen Ueberreste auf den Beschauer machten, war zwar ein schrecklicher, aber er wirkte doch nun weniger erschütternd, als dies würde geschehen sein, ehe die lindernde Zeit das Ihre zur Verringerung des Schmerzes beigetragen hatte. Die Verhältnisse, unter denen die Hinterlassenen jetzt leben, sind bei vielen andere geworden. Wittwen haben wieder geheirathet, Kinder sind herangewachsen und für Alle hat ja die Opferwilligkeit der ganzen civilisirten Welt in humanster Weise gesorgt.

Möge dieses und das noch größere Unglück, welches zwei Jahre später wieder den sächsischen Kohlenbergbau betroffen hat, vor Allem dazu beitragen, die Gefahren immer besser erkennen zu lernen, die der Abbau und die Gewinnung dieses unentbehrlichen schwarzen Diamanten – des vergrabenen Sonnenscheins der Urzeit und der vergrabenen Ueberreste des ersten vegetabilischen Lebens – mit sich bringt! Möge in den jetzigen Zeiten von den Kohlenbergleuten recht verständig daran gedacht werden, daß gerade der Bergbau und speciell der in vieler Beziehung gefährlichste, der Kohlenbergbau, ebenso wenig wie die Seeschifffahrt fortbestehen und sich fortentwickeln kann, wenn nicht neben der besten Ausbildung des Führers auf den strengsten Gehorsam des Untergebenen gehalten wird und gehalten werden kann! Der Kohlenbergmann steht mit den Elementen in fortwährendem Kampfe: möge er sich immer des Sieges, aber auch des der Gefahr und dem Werthe seiner Diamantengräberei entsprechenden Lohns erfreuen!

E. F.




Blätter und Blüthen.


Ein wahrhaft „Hochwürdiger“. Da liegt ein starkes Heft, und zwar das dritte, eines periodischen Werkes vor uns, welches den Titel führt: „Lichtstrahlen für das in den dunklen Räumen der Religion und Kirche nach Wahrheit suchende Volk“. (Jena, bei Friedr. Mauke). Wir schlagen das Titelblatt um und finden Lessing’s Ausspruch: „Eine Religion kann, so lange deren Priester das Denken ersticken, durchaus nicht zur Wahrheit führen, sondern nur verwirren“ als Ueberleiter zu einem Vorworte, das in Gestalt eines Briefes sich an einen jener Halben im Priesteramt richtet, die den Muth zur ganzen Wahrheit nicht haben. Diesem sagt der Verfasser u. A.:

„Du machst mir den Vorwurf, daß ich mit einer allzu harten und scharf zugespitzten Feder schreibe … Hast Du, der Du die auch in unserer protestantischen Kirche vorhandenen Mängel und Gebrechen nur leichthin gleichsam mit einem Flederwisch berührst und überstreichst, etwas Wesentliches zur Förderung der Aufklärung bewirkt? Hat nicht eine lange Erfahrung uns erwiesen, daß …halbernste und schüchterne Angriffe auf die kirchlich-religiösen Vorurtheile nicht zum Ziele führen? Ist es jetzt, wo die Intelligenz immer stärker wird und wo man in allen Fächern der Wissenschaft sich der Wahrheit immer mehr nähert, nicht hohe Zeit, muthig und ohne Rückhalt dem religiös-kirchlichen Aberglauben die Stirn zu bieten und mit geschärfter Waffe und offenem Visir gegen Die in die Schranken zu treten, welche sich als die Zionswächter der alten Kirche immer noch geschäftig zeigen? Mußt Du von Deinem Standpunkte aus, bei Deinen Ansichten und Deinem Benehmen nicht unsern Luther tadeln, daß er seine Thesen an die Schloßkirche in Wittenberg anschlug, daß er die päpstliche Bulle verbrannte und vor Kaiser und Reich die Worte sprach: ‚Ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen!‘ –? … Wer den Muth nicht hat, mit mir zu gehen, der bleibe auf seiner angenommenen Stellung, lasse mich aber, so lange ich den Weg zum Lichte der Wahrheit nicht verlasse, ungehudelt!“

Wie alt, oder vielmehr wie jung ist der Mann, der so frisch mit seiner Ueberzeugung heraus und so fest auf sein Ziel los geht? Die Hand, welche die Feder zu obigen Worten geführt, ist sehr alt, aber sie zittert nicht, es ist ohne Zweifel die älteste Schriftstellerhand unseres Vaterlandes, ja wohl unserer Gegenwart: der deutsche Mann, dessen Geist so stark und klar und dessen Herz so warm und tapfer nach mehr als einem halben Jahrhundert redlichen Kampfes und Wirkens sich erweist, ist ein Greis von vierundneunzig Jahren!

Hut ab vor solch einer deutschen Kernnatur des Leibes und der Seele! Wenn wir unter seinem Namen lesen: „Ritter des weimarischen Hausordens“, so freut es uns in diesem Falle, denn ein wahrer Ritter ist dieser Dr. E. L. Hagen, einer der echten Ritter vom Geiste. Nachdem er wohl länger, als das goldene Jubiläum erfordert, zu Rothenstein im Saalthale sein Pfarramt verwaltet hatte, wählte er Jena zu dem, was Andere ihren Ruhesitz nennen. Für ihn war es nur ein Versetzen seines Arbeitstisches aus einem stillen Dorfe in eine alte feste Burg des Protestantismus und des freien Geistes. Sollte es in dem heutigen deutschen Reiche so gleichgültig sein, was eine solche alte ehrwürdige Erfahrung spricht? Wir weisen in dem vorliegenden Hefte nur auf Abtheilungen hin wie: „Eine Dichtung“ – „Mannigfaches aus meinem Tagebuche“ – „Nachtgedanken“ – „Der heilige Geist, betrachtet im Lichte der gesunden Vernunft“ und „Non possumus“ – und sind überzeugt: wer diesen seine Aufmerksamkeit geschenkt, wird dem Manne und seinen übrigen Schriften die Theilnahme zuwenden, die nicht blos sein Alter, sondern die der Mensch – und „Mensch sein, heißt ein Kämpfer sein!“ – verdient.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_530.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)